Immer bin ich allein - Lieselotte Immenhof - E-Book

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Lieselotte Immenhof

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Beschreibung

In der völlig neuen Romanreihe "Fürstenkinder" kommt wirklich jeder auf seine Kosten, sowohl die Leserin der Adelsgeschichten als auch jene, die eigentlich die herzerwärmenden Mami-Storys bevorzugt. Ihre Lebensschicksale gehen zu Herzen, ihre erstaunliche Jugend, ihre erste Liebe – ein Leben in Reichtum, in Saus und Braus, aber oft auch in großer, verletzender Einsamkeit. Große Gefühle, zauberhafte Prinzessinnen, edle Prinzen begeistern die Leserinnen dieser einzigartigen Romane und ziehen sie in ihren Bann. Martin hatte nur auf den Augenblick gewartet, da Fräulein von Gatows Kopf ein wenig vornüber fiel, der sicherste Beweis dafür, daß sie eingeschlafen war. Das frohlockende Grinsen im Gesicht des aufgeweckten Jungen vertiefte sich. Nach einem letzten Blick auf die hagere Gestalt Fräulein von Gatows wandte sich Martin ab und lief aufgeregt über den kurzgeschnittenen Rasen in den Vorgarten. Er hatte den Möbelwagen schon vor einer halben Stunde vorfahren hören, doch es war ihm nicht gelungen, seiner Erzieherin zu entwischen. Immer wieder hatte er heimlich das Buch beiseite gelegt, das ihn heute ganz besonders langweilte, und hatte versucht, etwas von den Geschehnissen zu erhaschen, die draußen auf der Straße vor sich gingen. »Das Haus von nebenan ist wieder vermietet«, hatte Vater vor einiger Zeit gesagt, und Mutter hatte erwähnt, daß sie Maler und Installateure gesehen hätte, die das verwahrloste Haus renovierten. Martin hätte damals gern gefragt, wer wohl in das Haus einziehen würde, das jenseits des Parks schon immer seine Neugierde geweckt hatte. Aber er hatte nicht gewagt, beim Mittagessen eine Frage zu stellen, denn er wußte, daß er während der Mahlzeiten nur reden durfte, wenn er gefragt wurde. Jetzt stand er vor der dichten Hecke, die das riesige Grundstück des Großindustriellen Ulrich von Wernecke gegen die Straße abschirmte, und bemühte sich, die Zweige auseinanderzubiegen, um bessere Sicht zu haben. Nebenan war ein Gewirr von Stimmen, mehrere Packer und Möbelträger gingen aus und ein, Rufe erklangen, Hundegebell und fröhliches Gelächter. Mit offenem Mund sah Martin zu, wie die hellen, einfachen Möbelstücke ins Haus getragen wurden, die viel schlichter und armseliger aussahen als die schweren antiken Möbel, mit denen Ulrich von Wernecke sein Haus eingerichtet hatte. Ein dunkelhaariges Mädchen und ein sommersprossiger Junge hopsten neben den Möbelleuten einher und riefen einander fröhliche Scherzworte zu, bis eine junge Frau aus dem Haus kam, die beide Kinder an die Hand nahm und mit heiterer Strenge hineinführte. »Ihr steht hier draußen nur im Weg herum, Kathi und Detlev!« sagte sie mit sanfter Stimme, die doch so viel Energie besaß, daß die Kinder nicht widersprachen. Ein übermütiger Pudel sprang zwischen ihren Beinen hin und her, ab und zu aufgeregt bellend. »Pucki kommt auch mit hinein ins Haus!« bestimmte die junge Frau, und Kathi faßte sofort gehorsam den Hund am Halsband. Mit den beiden Kindern und ihrem schwarzen Pudel möchte ich spielen! dachte Martin plötzlich sehnsüchtig und stieß einen unterdrückten Seufzer aus.

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Fürstenkinder – 19 –

Immer bin ich allein

Ein kleiner Baron sehnt sich nach Liebe

Lieselotte Immenhof

Martin hatte nur auf den Augenblick gewartet, da Fräulein von Gatows Kopf ein wenig vornüber fiel, der sicherste Beweis dafür, daß sie eingeschlafen war.

Das frohlockende Grinsen im Gesicht des aufgeweckten Jungen vertiefte sich. Nach einem letzten Blick auf die hagere Gestalt Fräulein von Gatows wandte sich Martin ab und lief aufgeregt über den kurzgeschnittenen Rasen in den Vorgarten.

Er hatte den Möbelwagen schon vor einer halben Stunde vorfahren hören, doch es war ihm nicht gelungen, seiner Erzieherin zu entwischen. Immer wieder hatte er heimlich das Buch beiseite gelegt, das ihn heute ganz besonders langweilte, und hatte versucht, etwas von den Geschehnissen zu erhaschen, die draußen auf der Straße vor sich gingen.

»Das Haus von nebenan ist wieder vermietet«, hatte Vater vor einiger Zeit gesagt, und Mutter hatte erwähnt, daß sie Maler und Installateure gesehen hätte, die das verwahrloste Haus renovierten.

Martin hätte damals gern gefragt, wer wohl in das Haus einziehen würde, das jenseits des Parks schon immer seine Neugierde geweckt hatte. Aber er hatte nicht gewagt, beim Mittagessen eine Frage zu stellen, denn er wußte, daß er während der Mahlzeiten nur reden durfte, wenn er gefragt wurde.

Jetzt stand er vor der dichten Hecke, die das riesige Grundstück des Großindustriellen Ulrich von Wernecke gegen die Straße abschirmte, und bemühte sich, die Zweige auseinanderzubiegen, um bessere Sicht zu haben.

Nebenan war ein Gewirr von Stimmen, mehrere Packer und Möbelträger gingen aus und ein, Rufe erklangen, Hundegebell und fröhliches Gelächter.

Mit offenem Mund sah Martin zu, wie die hellen, einfachen Möbelstücke ins Haus getragen wurden, die viel schlichter und armseliger aussahen als die schweren antiken Möbel, mit denen Ulrich von Wernecke sein Haus eingerichtet hatte.

Ein dunkelhaariges Mädchen und ein sommersprossiger Junge hopsten neben den Möbelleuten einher und riefen einander fröhliche Scherzworte zu, bis eine junge Frau aus dem Haus kam, die beide Kinder an die Hand nahm und mit heiterer Strenge hineinführte.

»Ihr steht hier draußen nur im Weg herum, Kathi und Detlev!« sagte sie mit sanfter Stimme, die doch so viel Energie besaß, daß die Kinder nicht widersprachen.

Ein übermütiger Pudel sprang zwischen ihren Beinen hin und her, ab und zu aufgeregt bellend.

»Pucki kommt auch mit hinein ins Haus!« bestimmte die junge Frau, und Kathi faßte sofort gehorsam den Hund am Halsband.

Mit den beiden Kindern und ihrem schwarzen Pudel möchte ich spielen! dachte Martin plötzlich sehnsüchtig und stieß einen unterdrückten Seufzer aus.

Er hatte noch nie mit anderen Kindern spielen dürfen. Schon jetzt wurde er mit unnachgiebiger Strenge als der künftige Erbe des Konzernherrn Ulrich Baron von Wernecke erzogen.

Martin hatte gelernt, die kostbaren Minuten, in denen die Erzieherin ein Nickerchen machte, für sich zu nützen.

Sehnsüchtig lauschte Martin auf das helle Kinderlachen und das lustige Hundegebell, unterbrochen von der freundlichen, warmen Frauenstimme.

Während er noch überlegte, wie er es anstellen könnte, die beiden Kinder, die etwa in seinem Alter sein mochte, kennenzulernen, wurde seine Aufmerksamkeit plötzlich abgelenkt.

Ganz deutlich hatte Martin das leise Miauen gehört, das von der Straße zu kommen schien.

Martin beugte sich weit über die Hecke und blickte nach der anderen Straßenseite. »Miez! Miez!« rief er lockend und ahmte das Miauen der Katze nach, die er nun schon seit einigen Tagen kannte.

Vor vier Tagen hatte er die kleine schwarzweiß gemusterte Katze zum ersten Mal entdeckt, als sie miauend durch die Straßen strich. Sie sah so kläglich und einsam aus, daß Martins weiches Herzchen dem herrenlosen Tier sofort voll Liebe zuflog.

»Miez, Miez, komm her!«

Das Kätzchen ließ die Ohren spielen und richtete sich gespannt auf. Dann duckte es sich wieder, kam vorsichtig mit den Vorderpfoten über den Rand des Bürgersteiges und ließ sich auf die Fahrbahn hinabgleiten. Schließlich überquerte es langsam die Straße.

»Sie kommt! Die kleine Miez kommt zu mir!« jubelte Martin und klatschte erfreut in die Hände, ganz vergessend, daß seine lauten Freudenrufe den Schlaf Fräulein von Gatows stören könnten.

In diesem Augenblick geschah es.

Ein Auto bog um die Kurve. Es fuhr in raschem Tempo. Wahrscheinlich sah der Fahrer die Katze, die erschrocken stehenblieb, erst im letzten Moment. Vielleicht hatte er sie auch überhaupt nicht bemerkt. Er bremste nur kurz und gab sofort wieder Gas. Das Kreischen der gebremsten Räder klang mit dem jämmerlichen Miauen der Katze zusammen.

Martin durchfuhr eisiger Schreck. Sein Herz klopfte wie rasend. »Mein Kätzchen!« rief er bestürzt aus, während sich seine Augen bereits mit Tränen füllten. Er dachte nicht mehr an die vielen Ermahnungen und Verbote, die seine Kindheit begleiteten, sondern rannte wie gehetzt zum Gartentor und stürzte hinaus auf die Straße.

Der Wagen war bereits außer Sichtweite, aber am Straßenrand lag das junge Kätzchen, kläglich miauend und mit furchtsamen Augen zu Martin aufschauend, der sich aufgeregt und angstvoll zu dem Tierchen niederbeugte.

»Was haben sie mit dir gemacht, kleine Miez?« fragte er stammelnd. Er konnte kaum sprechen, ein dicker, würgender Kloß saß ihm in der Kehle.

Behutsam streckte er seine zitternden Hände nach der Katze aus, um sie aufzuheben.

Das Miauen des Tierchens wurde stärker und schnitt Martin ins Herz.

»Ich bin so froh, daß du lebst«, flüsterte der Junge und hob das Kätzchen vorsichtig hoch. »Wenn du mir nur sagen könntest, wo es dir weh tut!«

Die Katze schmiegte ihren Kopf an Martins Arm, während sie noch immer leises Wimmern vernehmen ließ.

»Hat er dich überfahren, meine kleine Miez?« redete Martin zärtlich auf sie ein. »Aber nein – dann würdest du sicher nicht mehr leben!« Schritt für Schritt, um dem verletzten Tierchen keine zusätzlichen Schmerzen zu bereiten, ging Martin zurück zum Gartentor. »Vielleicht hat dich das Auto fortgeschleudert, kleine Miez? Oder bist du nur erschrocken – wie ich?«

Die schwere Eingangstür des Hauses war verschlossen. Es bereitete Martin einige Schwierigkeiten, mit dem Kätzchen auf dem Arm den Klingelknopf zu drücken.

»Um Himmels willen, was hast du denn da?« rief Lilly, das Kindermädchen, erstaunt aus, als sie Martin erblickte.

»Das Kätzchen ist eben überfahren worden«, erklärte Martin mit ernster Miene und ging an dem fassungslosen Mädchen vorüber in die Diele.

»Willst du mit dem schmutzigen, toten Tier ins Haus gehen?« Lilly war ehrlich entsetzt.

In diesem Augenblick wurde die Tür vom Wohnzimmer aufgerissen. Fräulein von Gatow, die Martin auf den ersten Blick nicht entdeckte, stürzte aufgeregt herein. »Lilly, haben Sie den Jungen nicht gesehen? Ich muß wohl einen Moment unaufmerksam gewesen sein, und dann ist der Knabe heimlich ausgerissen! Ich hab’ den ganzen Garten nach ihm abgesucht! Wohin mag der Bengel nur gelaufen sein?«

»Dort ist er ja«, sagte Lilly schon an der Küchentür und zeigte auf Martin, der das Kätzchen vorsichtig auf das dicke Bärenfell in der Halle gelegt hatte und ihm behutsam das Köpfchen kraulte.

»Wo?« Fräulein von Gatow machte eine verzweifelte Geste.

»Hier bin ich«, sagte Martin trocken und richtete sich ein wenig auf. »Ich habe ein kleines Kätzchen gerettet, das beinahe überfahren worden wäre.« Er kniete sich wieder neben dem Tierchen nieder und streichelte das Fell der Katze. »Wir müssen einen Arzt holen. Die kleine Miez ist bestimmt verletzt worden. Sie hat furchtbar miaut, als sie am Straßenrand lag.«

Mit steifen Schritten kam Fräulein von Gatow näher und betrachtete indigniert die hilflose kleine Katze. »Du bist auf die Straße gelaufen?« fragte die Erzieherin fassungslos.

Martin nickte wortlos, ohne den Blick von dem Tierchen zu wenden.

»Weißt du nicht, daß dir das strengstens verboten ist?« Fräulein von Gatows Stimme zitterte vor Erregung. »Du sollst das Grundstück nicht verlassen, Martin, hörst du? Und auf gar keinen Fall darfst du so eine fremde, schmutzige Katze anfassen! Wer weiß, was für eine Krankheit sie hat!«

Abwehrend streckte das Fräulein die Hände aus.

»Ich sag’s ja. Die Katze ist verletzt worden! Wir müssen ihr ganz schnell helfen!« erwiderte Martin drängend.

»Geh weg von dem Tier! Du könntest dich anstecken! Vielleicht hat es eine schlimme Krankheit!«

»Quatsch!« antwortete Martin heftig und sah Fräulein Gatow böse an.

Wenige Augenblicke später stand Claudia von Wernecke in einem duftigen Negligé auf dem oberen Treppenabsatz.

Martin hob den Kopf, und sekundenlang hatte er wieder den Eindruck, einer zauberhaften Fee gegenüberzustehen, als er den fragenden dunklen Augen seiner Mutter begegnete. Seine Sicherheit schwand plötzlich dahin. Am liebsten wäre er seiner Mutter entgegengelaufen und hätte sich mit dem armen, verletzten Kätzchen in ihren Armen geborgen.

Claudia von Wernecke kam langsam die Stufen herab. Sie wirkte unendlich zart und zerbrechlich. Ihr dunkles Haar floß in weichen Wellen um ihr ovales Gesicht, das trotz seiner Schönheit immer ein wenig traurig wirkte. »Martin, mein Liebling, was gibt es?« fragte sie leise und zärtlich.

»Sehen Sie, gnädige Frau, diese Katze hat er von der Straße aufgelesen!« ereiferte sich Fräulein von Gatow, die Claudia gefolgt war. »Ich finde das unmöglich, aber der Junge läßt sich ja von mir nichts sagen!«

Claudia von Wernecke warf der Erzieherin einen flüchtigen Blick zu. Ein kaum merkbares spöttisches Lächeln lief über ihre Züge. »Seit wann gehorcht Ihnen Martin nicht mehr, Fräulein von Gatow?«

»Seit heute – eh, ich meine, er gehorcht überhaupt nicht, wenn er nicht will!« Die Erzieherin schwieg verwirrt.

Martin hielt es für unter seiner Würde, sich zu verteidigen. Wortlos sah er seine Mutter an.

Claudia von Wernecke trat zu ihrem Söhnchen und strich ihm über den blonden Haarschopf. »Zeig mir das Kätzchen, mein Liebling«, bat sie leise.

Martin hob das Tierchen behutsam hoch, das ein klägliches Miauen ausstieß, sich aber dennoch vertrauensvoll in Martins Hand schmiegte. »Ich wäre sowieso zu dir gekommen, Mami«, sagte der Junge und sah seine Mutter fest an. »Ich weiß, daß du mir helfen wirst. Wir müssen einen Tierarzt anrufen.«

Claudia von Wernecke ging in das Arbeitszimmer ihres Mannes und drehte die Wählscheibe. Martin folgte ihr zögernd, das Kätzchen immer noch auf dem Arm haltend.

»Wir sollen sofort mit dem Tierchen in die Sprechstunde kommen«, sagte Claudia von Wernecke und lächelte ihrem Söhnchen beruhigend zu. »Warte hier auf mich, Martin. Ich ziehe mich rasch an.«

Fünf Minuten später stieg Martin mit dem Kätzchen auf dem Arm in den Sportwagen seiner Mutter und genoß es, an ihrer Seite durch die Stadt zu fahren und sie wenige Minuten für sich allein zu haben. Obwohl er sich Sorgen um das verletzte Kätzchen machte, waren diese Minuten dennoch für ihn ein seltenes, beglückendes Erlebnis. Schon lange hatte er sich seiner Mutter nicht so nahe gefühlt wie in dieser Stunde.

*

Das junge Kätzchen hatte keine inneren Verletzungen, aber ein Beinchen war gebrochen. Der Arzt hatte das kranke Bein geschient und die Katze der Obhut des kleinen besorgten Jungen anvertraut, der das Tierchen nach der Behandlung wieder liebevoll in den Arm nahm.

»Darf ich das Kätzchen behalten, Mami?« fragte Martin auf der Rückfahrt.

»Ja, mein Liebling«, antwortete Claudia von Wernecke mit fester Stimme.

Ulrich wird es nicht erlauben, dachte sie gleichzeitig, doch sie war entschlossen, sich diesmal gegen den unbeugsamen Willen ihres Mannes durchzusetzen.

Als sie in die Straße einbog, in der sie wohnte, sah sie schon von weitem den hellen Mercedes ihres Mannes. Sie hob den Kopf und warf mit einer hastigen Bewegung das halblange dunkle Haar zurück. Sie wollte mutig und entschlossen sein und konnte doch nicht verhindern, daß ihr Herz aufgeregt klopfte.

Ulrich von Wernecke hatte die Haustür ins Schloß fallen hören. Mit raschen, elastischen Schritten kam er aus der Bibliothek und blieb in der geöffneten Tür stehen, seine Frau und Martin, der die Katze an sich preßte, fassungslos anstarrend. »Seit einer halben Stunde warte ich auf dich, Claudia«, sagte er mit seiner kühlen, metallischen Stimme. »Wo warst du?«

Claudia ging mit weichen Bewegungen auf ihn zu und legt ihre Arme um seinen Hals. »Verzeih, Lieber«, sagte sie leise. Sie spürte seine Nervosität an den angespannten Zügen seines Gesichts und an der unruhigen Art, mit der er den Rauch der Zigarette ausstieß.

»Schau, Papi, ich habe ein Kätzchen«, sagte Martin arglos und zeigte dem Vater das Tierchen.

Ulrich von Wernecke runzelte die Brauen. »Was soll das bedeuten? Möchtest du mir nicht erklären, Claudia, weshalb du mich hast warten lassen? Du weißt, daß wir zum Fünf-Uhr-Tee bei Hyssens erwartet werden. Jetzt ist es bereits viertel vor fünf.« Er blickte verärgert auf seine Armbanduhr. »Diese Einladung ist keine harmlose Teestunde, in der nur geplaudert wird, sondern es geht um hochwichtige geschäftliche Dinge. Ich dachte, du wüßtest das!«

»Verzeih«, sagte Claudia noch einmal und senkte die Lider. Dann holte sie tief Luft und straffte sich. »Ich war mit Martin beim Tierarzt, um das Kätzchen, das fast überfahren worden wäre, untersuchen zu lassen. Das Tierchen hat ein Bein gebrochen, und Martin wird es behalten, um es gesund zu pflegen.« Sie hielt inne und blickte gespannt auf ihren Mann, angstvoll seine Reaktion erwartend.

»Eine Katze kommt nicht ins Haus!« sagte Ulrich von Wernecke ruhig, aber bestimmt. »Du wirst das Tier wieder zu seinem Besitzer zurückbringen, Martin.« Er wandte sich an seine Frau. »Bitte, zieh dich jetzt um, Claudia. Ich möchte mich nicht noch mehr verspäten!« Ungeduld schwang in seiner Stimme.

Martin sah hilflos seiner Mutter nach, die ihn plötzlich wieder im Stich ließ. »Warum darf ich das Kätzchen nicht behalten, Papi?« fragte er. »Es gehört niemandem, ich weiß es, denn ich habe es schon einige Tage beobachtet.«

»Wir brauchen nicht darüber zu diskutieren, Martin«, entgegnete Ulrich von Wernecke freundlich, aber mit entschiedener Stimme. Seine blauen Augen waren kühl auf den Sohn gerichtet. Ohne Anteilnahme betrachtete er das Kätzchen. »Ich habe gesagt, daß ich keine Katze im Haus dulde, und dabei bleibt es. Außerdem will ich nicht, daß du mit einem solchen Tier spielst, statt dich mit wichtigeren Dingen zu beschäftigen. Du bist ein Junge und sollst einmal ein tüchtiger Mann werden, der ein großes Unternehmen leiten soll. Meinst du, du wirst es zu etwas bringen, wenn du deine Zeit mit solchen Tändeleien vertrödelst?«

Martins Augen füllten sich mit Tränen. »Mami hat gesagt, man soll alle Tiere und Menschen liebhaben. Warum darf ich das Kätzchen nicht liebhaben?« Unterdrückter Trotz lag in seiner Stimme.

»Du darfst es liebhaben, und du hast ihm ja auch geholfen. Aber das Kätzchen soll ebenso wenig verweichlicht werden wie der kleine Baron von Wernecke, der ein harter und energischer Mann werden soll. Die Katze ist von Natur aus ihre Freiheit gewöhnt. Ein Körbchen mit einem weichen Kissen macht sie für das Leben untüchtig. Und ein kleiner Junge, der mit Katzen spielt oder verträumt die Schmetterlinge und Blumen im Garten betrachtet, wird ebenfalls im Lebenskampf untergehen.« Er sah seinen Sohn eindringlich an. »Verstehst du das, Martin?«

Der Junge schüttelte traurig den Kopf. »Nein, ich hab’ die Blümchen gern und auch die Schmetterlinge. Und das kleine Kätzchen auch. Warum soll ich kämpfen? Ich will nicht kämpfen.«

»Das Leben ist Kampf«, sagte Ulrich von Wernecke ernst.

Martin blickte angstvoll zu ihm auf. »Kannst du uns nicht beschützen, Papi?«

»Doch. Aber einmal wirst du selbst eine Familie beschützen müssen. Deshalb mußt du jetzt schon lernen, daß das Leben kein Spiel ist.«

»Aber andere Kinder spielen doch auch!« widersprach Martin unglücklich.

»Andere Kinder sind für dich kein Maßstab, Martin. Du bist der künftige Erbe. Von dir wird man erwarten, daß du mehr leistest als alle anderen.«

»Muß ich soviel arbeiten wie du, Papi?«

»Ja. Vielleicht noch mehr.«

Martin wandte sich ab und beugte sich traurig über das Kätzchen. »Dann will ich kein Erbe sein, sondern lieber wie die anderen Kinder oder wie Mami. Sie arbeitet doch auch nicht.«

Ulrich von Wernecke drückte hastig die Zigarette in einem bereitstehenden Aschenbecher aus. »Deine Mutter ist eine Frau und nicht zum Kämpfen geboren«, sagte er schnell. »Deshalb muß ich sie beschützen, und später sollst du sie beschützen.«

»Bist du dann tot, Papi?«

Ulrich von Wernecke preßte die Lippen aufeinander. »Ich hoffe, daß ich noch sehr lange für deine Mutter sorgen kann.«

»Kann ich bis dahin nicht spielen, Papi?« fragte Martin hoffnungsvoll. »Solange du noch nicht tot bist?«