Future Fiction Magazine Nr. 3 - Uwe Post - E-Book

Future Fiction Magazine Nr. 3 E-Book

Uwe Post

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Beschreibung

Die dritte Ausgabe unseres Magazins bringt wieder ein rundes Paket Artikel und Kurzgeschichten über unsere Zukunft mit großartigen deutschen Story-Erstveröffentlichungen von Lisa J. Krieg und Jol Rosenberg sowie Übersetzungen internationaler Geschichten von bemerkenswerten Autor:innen: Vina Jie-Min Prasad (Singapur), Xia Jia (China), Alexy Dumenigo Aguila (Kuba) Außerdem ein Artikel über exotische Physik und ein Interview von und mit Bestsellerautor Brandon Q. Morris Cover dieser Ausgabe und das Magazin an sich sind nominiert für den Kurd-Laßwitz-Preis 2023

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Intro

Zum dritten Mal können wir dem deutschsprachigen Publikum eine Auswahl von faszinierenden, exotischen oder hochaktuellen Zukunftsvisionen vorlegen. Freilich darf man sich das nicht allzu einfach vorstellen: Die Suche nach thematisch und erzählerisch geeigneten Geschichten nimmt den größten Teil der Herausgeber-Arbeit ein. Zwar hatten wir in Ausgabe 2 zum Mitmachen aufgerufen, aber leider waren die bisherigen Einsendungen nicht stark genug oder inhaltlich kaum geeignet, so dass wir uns einmal mehr vollständig auf akquirierte Geschichten verlassen – und auch das ist nicht so einfach: Manche unserer Mails bleiben unbeantwortet, oder auf einer Homepage ist das Kontaktformular kaputt ...

 

Natürlich haben wir trotzdem eine großartige Ausgabe zusammengestellt: Vina Prasad aus Singapur, die schon mehrmals für die großen SF-Preise Hugo und Nebula nominiert war, hat eine Story über Besonderheiten von 3D-gedrucktem Fleisch beigesteuert. Xia Jia, Professorin aus Peking, hat mehrere chinesische Nebula Silver Awards gewonnen. Ihre Geschichte in dieser Ausgabe dreht sich um würdevolles Leben im Alter – ein Thema, das früher oder später jede und jeden angeht. Auf einer anderen Geschichte von Xia Jia basiert übrigens der Comic »Parade der hundert Geister«, der soeben auch auf Deutsch unter dem Dach von Future Fiction erschienen ist (mehr dazu später).

 

Selbstverständlich können sich auch die deutschen Beiträge sehen lassen: Lisa J. Krieg und Jol Rosenberg haben beide kürzlich ihre Debütromane vorgelegt und zum passenden Zeitpunkt Kurzgeschichten eigens für unser Magazin geschrieben. Mit Brandon Q. Morris haben wir außerdem einen deutschen Bestseller-Autor an Bord, dessen SF-Romane weltweit fünfstellige Auflagen erreichen – für unser Magazin schlüpft er diesmal in die Rolle des Physikers und berichtet über seltsame Themen der aktuellen Forschung. Wir haben uns aber die Gelegenheit nicht nehmen lassen, ihn zum Interview zu bitten – und darin geht es natürlich hauptsächlich um seine SF-Werke.

 

Damit schließen wir den ersten Jahrgang der deutschen Ausgabe des Future Fiction Magazines ab – aber natürlich geht es 2023 weiter mit spannenden, exotischen und hochaktuellen Artikeln und Geschichten aus unserer nahen Zukunft. Wir freuen uns, dass ihr uns auf dieser Reise weiterhin begleitet!

 

                        Terra, Dezember 2022

                        Sylvana Freyberg       Uwe Post

 

Vina Jie-Min Prasad (Singapur): Eine Reihe Steaks

#story #ernährung #nearfuture

Alle bekannten Fälschungen sind Geschichten des Scheiterns. Die Leute, die es in die Schlagzeilen schaffen wegen ihrer brillanten Versuche, das System mit ihren Fake-Meisterwerken aus der Renaissance oder ihren Stapeln gefälschter Schecks zu betrügen, tja, die mögen zwar erfolgreiche Künstler sein – aber im Fälschen waren sie ganz offensichtlich nicht erfolgreich.

Die besten Fälschungen sind die, die unbemerkt bleiben – ein zweitklassiges Stillleben, das in einer Galerie verrottet, ein abgenutzter alter 50-Yuan-Schein auf dem Boden einer Kassenschublade – oder sogar ein gedruckter Streifen Matsusaka-Rindfleisch, der jemandem zwischen die Lippen gerutscht ist.

 

Beim Fälschen von Rindfleisch ist es ähnlich wie bei der Drucktechnik: jeder Schritt des Prozesses muss mit dem endgültigen Druckergebnis im Hinterkopf erfolgen. Ein zu dunkles Rot sieht faulig aus, ein zu reines Weiß wirkt künstlich. Rindfleisch soll von einer Kuh stammen, also betupfen Sie das Rot mit Punkten, Flecken und weißen Linien, um Unterschiede in den Muskelfaserbereichen vorzutäuschen. Kühe sind einander ähnlich, aber Kühe sind nicht einheitlich – verwenden Sie Fraktale, um die Marmorierung zufällig zu verteilen, nachdem Sie das grundlegende Aussehen festgelegt haben. Schneiden Sie die Rindfleischstücke von Hand, um eine authentische, zerklüftete Kante zu erhalten, statt sich faul auf den Bioprinter zu verlassen.

Tagelange Recherchen, Kalibrierungen und Verfluchen des Druckers sind in Sekundenschnelle vergessen, wenn die Arbeit richtig gemacht wird.

Helena Li Yuanhui von Splendid Beef Enterprises ist eine Expertin darin, die Arbeit richtig zu machen.

Der Trick ist, nicht zu ehrgeizig zu werden. Die meisten Fälscher lassen sich durch kleinste Fehler ertappen – eine winzige Menge an Pigment aus dem verkehrten Jahrhundert, ein Riss in der Ölfarbe, der zu künstlich aussieht, oder ein falsch platziertes Wasserzeichen in einem Pass. Wenn man etwas Großes druckt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit eines fatalen Fehltritts. Bleiben Sie bei kleinen Aufträgen, bleiben Sie bei einer kleinen Gruppe von Stammkunden, und mit der Zeit wird Splendid Beef Enterprises so viel Gewinn machen, damit Helena eine echte Namensänderung bekommen kann, Nanjing verlassen und dieses ganze traurige Unternehmen vergessen kann.

Während Helena das Rindfleisch für die Auslieferung per Drohne in Kühlboxen verpackt, wird eine Benachrichtigung auf ihrer iKontakt-Brille eingeblendet. Helena seufzt, dreht die Lautstärke ihrer Ohrstöpsel runter und nimmt den Anruf entgegen.

»Hi, Mr. Chan, könnten Sie auf eine sichere Leitung umschalten? Sie müssen nur auf die Taste mit dem Schlosssymbol tippen, das ist ganz einfach.«

»Blödsinn!«, brummt Mr. Chan. »Wenn die Regierung uns erwischen wollte, hätte sie das schon längst getan! Jedenfalls habe ich nur angerufen, um dir zu sagen, wie zufrieden ich mit der letzten Lieferung bin. Aber es ist eine Schande, dass all das Talent und deine Arbeit in Sekundenschnelle verschlungen werden – wie wäre es, wenn ich bei der nächsten Rindfleischspezialität allen Leuten erzähle, dass das Rindfleisch von einer dieser schicken vertikalen Farmen stammt? Ich bin mir sicher, dass die Leute dann nette Dinge zu sagen hätten!«

»Bitte nicht«, sagt Helena, die darauf achtet, dass ihr kantonesischer Akzent nicht durchscheint. Der kommt immer dann zum Vorschein, wenn sie lange Zeit nicht mit Menschen zu tun hatte, was eine treffende Zusammenfassung der letzten Monate ist. »Es ist am besten, wenn niemand darauf achtet.«

»Weißt du, Helena, du leistest gute Arbeit, aber ich mache mir große Sorgen um dein Selbstwertgefühl. Also, wenn ich so etwas drucken könnte, würde ich wollen, dass jeder es zu schätzen weiß! Lass mich dir von einem Artikel erzählen, den mir meine Tochter geschickt hat. Du weißt ja: Untersuchungen zeigen, dass Menschen, die keine Freunde haben, dazu neigen ...« Mr. Chan schwafelt weiter, während Helena die Etiketten auf die Kartons klebt – Grilliam Shakespeare, Gyuuzen Sukiyaki, Fatty Chan's Restaurant – und legt zum Glück auf, bevor Helena in weitere Depressionen versinkt. Sie schaltet ihr iKontakt aus, bevor sie sich auf den Weg zum Drohnen-Lieferbüro macht, um sich von Mr. Chans unermüdlicher Fröhlichkeit zu erholen.

Als sie zurückkommt, zeigt das Gerät fünf verpasste Anrufe an. Ein rotes Telefonsymbol blinkt in ihrem Blickfeld auf, bevor es erlischt und durch die Benachrichtigung über eingehende Anrufe ersetzt wird. Der Anruf ist gesichert und anonymisiert, was eine ziemliche Abwechslung zu sonst ist. Sie steckt sich die Ohrstöpsel rein.

»Ja, Mr. Chan?«

»Hier ist nicht Mr. Chan«, sagt jemand. »Ich habe einen Auftrag für Splendid Beef Enterprises.«

»In Ordnung, Sir. Könnte ich Ihren Namen erfahren und was Sie brauchen? Wenn Sie mir den Termin nennen könnten, wäre das auch hilfreich.«

»Ich ziehe es vor, anonym zu bleiben«, sagt der Mann.

»Ja, ich verstehe, Geheimhaltung ist sehr wichtig.« Helena unterdrückt den Drang, die Augen darüber zu verdrehen, wie unnötig kryptisch dieser Mann ist. »Darf ich etwas über die Frist und den Auftrag erfahren?«

»Ich brauche zweihundert T-Bone-Steaks bis zum 8. August. Jedes Steak muss zwischen 38,1 und 40,2 Millimeter dick sein.«

Eine Benachrichtigung zum Herunterladen von t-bone_info.KZIP erscheint auf Helenas Linsen. Das ehrgeizigste Unterfangen, das sie in den letzten Monaten unternommen hat, waren die marmorierten Sukiyaki-Streifen aus Gyuuzen, und selbst das war schon ein bisschen übertrieben. Ein ganzes Steak? Auf keinen Fall.

»Es tut mir leid, Sir, aber ich glaube nicht, dass mein Geschäft das leisten kann. Vielleicht könnten Sie versuchen ...«

»Ich denke, Sie werden sich für diesen Job interessieren, Helen Lee Jyun Wai.«

Shit.

 

Ein Sculpere 9410S lässt sich in nur dreißig Minuten zerlegen, wenn man die richtigen Tricks kennt. Werfen Sie die Zellpatronen manuell aus, schieben Sie das äußere Gehäuse zur Seite, um die inneren Schrauben freizulegen, und nehmen Sie die Druckköpfe ab, bevor Sie das Netzteil demontieren. Manchmal gibt es ein paar zusätzliche Schritte, z. B. müssen die Aufkleber mit der Aufschrift »Property of Hong Kong Scientific University« und »Bioprinting Lab A5« entfernt werden, aber ein wenig Anti-Haft-Spray sorgt dafür, dass alles nach Plan verläuft. Am liebsten würde Helena einen neuen Drucker kaufen, aber sie muss ihr Geld für die Namensänderung sparen, sobald sie in Nanjing ist.

Es ist kein Rauswurf, wenn man geht, bevor man rausgeschmissen wird, redet sie sich ein, aber selbst sie weiß, dass das eine Lüge ist.

Es ist möglich, die Prioritäten eines Kunden allein anhand der Dokumente zu erahnen, die er schickt. Herr Chan zum Beispiel erwähnt gewöhnlich einige Rezepte, die er in Betracht zieht, und Frau Huang aus Gyuuzen neigt dazu, Beispiele für die von ihr gewünschten Marmorierungsmuster beizufügen. Dieser neue Kunde jedoch hat ein ganzes Dokument über die jüngsten Änderungen des Strafgesetzbuchs beigefügt, wobei die für Helena relevanten Änderungen (»fünfjährige Verjährungsfrist«, »mögliche Todesstrafe«) in neongelb hervorgehoben sind.

Leider setzt sich diese Detailgenauigkeit nicht auf das Datenblatt mit der gewünschten Steak-Spezifikation fort.

»Hallo nochmal, Sir«, sagt Helena. »Ich habe gelesen, was Sie mir geschickt haben, aber ich brauche mehr Details, bevor ich mit dem Auftrag beginnen kann. Könnten Sie mir die vollständigen Maße zur Verfügung stellen? Ich benötige neben der Dicke auch die voraussichtliche Länge und Breite.«

»Das steht schon da. Lernen Sie lesen.«

»Ich weiß, dass Sie den Teil ausgefüllt haben, Sir«, sagt Helena und knirscht mit den Zähnen. »Aber wir sind eine Druckerei, kein Bauernhof. Ich brauche mehr Details als 16-18 Monate alte Kuh, mit Getreide gefüttert, Hereford-Rasse, um den Job richtig zu machen.«

»Sie haben doch studiert, nicht wahr? Ich bin sicher, dass Sie so etwas Grundlegendes herausfinden können, selbst wenn Sie keinen Abschluss hätten.«

»Ha ha. Aber natürlich.« Helena widersteht dem Drang, ihren Ohrstöpsel herauszureißen. »Ich kümmere mich gleich darum. Außerdem ist da noch die Sache mit der Bezahlung ...«

»Ah, ja. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Familie Yuen immer noch darauf brennt, den Fall zu verfolgen. Wie wäre es, wenn Sie Ihren Job machen und ich den Yuens im Gegenzug nicht verrate, wo Sie sich verstecken?«

»Tut mir leid, Sir, aber selbst dann brauche ich eine Anzahlung für die Druckkosten, und dann ist da natürlich noch die Sache mit den Hereford-Proben.« Die ich bereits im Bioreaktor habe, aber das werde ich Ihnen auf keinen Fall verraten.

»Gut. Ich erwarte täglich detaillierte Berichte«, sagt Mr. Anonym. »Ich weiß, wie Sie mit Deadlines umgehen. Vermasseln Sie es nicht.«

»Natürlich nicht«, sagt Helena. »Außerdem, was den Abgabetermin angeht: Wäre es möglich, ihn zu verschieben? Vier Wochen sind ziemlich kurz für diesen Job.«

»Nein«, sagt Mr. Anonym knapp und legt auf.

Helena holt tief Luft, um nicht zu schreien, und nimmt sich einen Moment Zeit, um Mr. Anonym und seine ganze Familie auf Kantonesisch zu verfluchen.

Es ist physisch unmöglich, die Renderings und den Druck in vier Wochen fertig zu stellen, es sei denn, sie findet einen Weg, ihren Drucker in eine Zeitmaschine zu verwandeln, und wenn das möglich wäre, könnte sie genauso gut zurückgehen und die letzten paar Jahre oder vielleicht ihr ganzes Leben noch einmal durchgehen. Hätte sie Kunst studiert, wäre sie jetzt vielleicht Designerin – oder, verdammt, wenn sie schon träumt, könnte sie sogar die nächste Raverat, die nächste Mantuana sein – anstatt eine gescheiterte Künstlerin, die in einer beschissenen Betonkiste lebt und sich an die Trümmer all ihrer vergangenen Fehler klammert.

Sie lehnt sich eine Weile an die Wand, atmet aus, klebt sich ein Pflaster mit Aufputschmittel auf und beginnt, eine Stellenausschreibung zu verfassen.

 

Lily Yonezawa (Darknet-Nutzername: yurisquared) kommt um 8:58 Uhr im Nanjing High-Tech Industrial Park an. Sie ist eine kleine Frau mit langen schwarzen Haaren und kreisförmigen iKontakts. Sie trägt ein lockeres, fließendes Kleid, glatte Linien in Weiß mit gelb-grünen Reflexen, und an ihrem Arm schimmert ein großes Prismenarmband. Im Vergleich dazu trägt Helena ihre löchrige schwarze Bluse und ein Paar Jeans, was ein Fortschritt ist gegenüber ihrer üblichen Kleidung aus mit Myoglobin beflecktem T-Shirt und Boxershorts.

»Also«, sagt Lily in schnellem, leicht akzentuiertem Mandarin, als sie ins Büro stürmt. »dieser Ort ist ein Rindfleisch-Ort, richtig? Ich habe mir ein paar Unterlagen besorgt, nachdem ich die Adresse bekommen habe, ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus – wie auch immer, was soll ich für Sie drucken oder rendern oder entwerfen oder so? Ich hab zwar gesagt, ich habe Erfahrung in Süßigkeiten und Backen, aber ich bin für alles offen!« Sie pumpt entschlossen mit der Faust. Das locker sitzende prismatische Armband rutscht auf und ab.

Helena blinzelt Lily mit der Müdigkeit von jemandem an, der die meiste Zeit der Nacht damit verbracht hat, sein Büro vorzeigbar zu machen. Sie beschließt, den größten Teil der Besprechung zu überspringen, da Lily nicht der Typ zu sein scheint, der in irgendetwas eingeweiht werden muss.

»Wie viel wissen Sie über Rindfleisch?«

»Ich habe mit meiner Ex eine ganze Reihe von Dokumentarfilmen über Landwirtschaft gesehen, zählt das?«

»Nein. Hier bei Splendid Beef Enterprises ...«

»Ach, übrigens, haben Sie ein Logo? Ich habe Ihre Firmenregistrierung durchsucht, aber da war nichts zu finden. Soll ich eins entwerfen?«

»Hier bei Splendid Beef Enterprises stellen wir gefälschtes Rindfleisch her und verkaufen es an Restaurants.«

»Also so ein Soja-Linsen-Zeug?«

»Selbstgezüchtete geklonte Zelllinien«, sagt Helena. »Hauptsächlich Matsusaka, aber auch Hereford, wenn die Kunden es wünschen.« Sie deutet auf den Bioreaktor, der in einer Ecke vor sich hin brummt.

»Moment mal, sind diese gefälschten Eier nicht auch aus Kalziumkarbonat hergestellt? Wenn Sie Kuhzellen verwenden, scheint mir das hier ziemlich echt zu sein.« Offensichtlich hat Lily eine praktischere Definition von Fälschung als die chinesische Lebensmittel- und Arzneimittelbehörde.

»Es ist eher so wie ... sagen wir, Sie haben ein Gemälde in einer Galerie und behaupten, es sei von einem berühmten Künstler. Viele Leute würden es sich allein wegen des Namens ansehen und Kritiken schreiben, in denen sie über den exquisiten Einsatz von Chiaroscuro sprechen, wie man es von den alten Meistern erwartet, ich kann nicht glauben, dass es so echt aussieht, obwohl es vor Jahrhunderten gemalt wurde. Aber wenn Sie sagen, hey, dieses großartige Gemälde stammt von irgendeinem unbekannten Verlierer, ich habe nur gelogen, woher es kommt ... nun, es wäre immer noch dasselbe Gemälde, aber die Leute würden ihr ganzes Geld zurückverlangen.«

»Oh, ich verstehe«, sagt Lily und betrachtet den Bioreaktor genau. Sie klopft mit den Fingerknöcheln auf das glänzende Polymergehäuse, und ihr Armband stößt dagegen. Helena versucht, nicht zusammenzuzucken. »Und überhaupt, wie legal ist das? Diese Fleischfälschungssache?«

»Noch ist es nicht illegal«, sagt Helena. »Es ist eine Art Grauzone, wirklich.«

»Toll!« Lily schlägt ihre Faust in ihre offene Handfläche. »Also, wie kann ich helfen? Ich bin für alles zu haben! Du kannst mich sogar bitten, das Büro zu putzen, wenn du willst – wow, hier ist es wirklich staubig, vielleicht sollte ich es nur putzen, um sicherzugehen ...«

Helena erinnert sich daran, dass es gar nicht so schlecht ist, eine Assistentin zu haben. Wolfgang Beltracchi war nur mit Hilfe seiner Assistentin in der Lage, groß angelegte Fälschungen durchzuführen, und sie verstanden sich sogar so gut, dass sie heirateten und ein Kind bekamen, ohne sich gegenseitig umzubringen.

Andererseits wurden die Beltracchis beide erwischt, also sollte sie vielleicht nicht zu optimistisch sein.

 

Kühe, die während des Wartens auf die Schlachtung extremem Stress ausgesetzt sind, werden als »Dark Cutter« bezeichnet. Der Stress führt dazu, dass sie ihre gesamten Glykogenreserven aufbrauchen, und wenn sie geschlachtet werden, färbt sich ihr Fleisch dunkelschwarz-rot. Das Fleisch von Dark Cutters gilt allgemein als minderwertig.

Als minderwertige Person, die auf ihre Schlachtung wartet, versteht Helena, wie sich diese Kühe fühlen. Mr. Anonym, der von den regelmäßigen Durchsuchungen des Industrieparks nach Peilsendern und externen Kameras genervt ist, schickt Helena inzwischen körnige Luftaufnahmen von ihr zusammen mit der Aufforderung, härter zu arbeiten. Das ist zwar nichts Neues – sie wusste bereits, dass er ihre Daten hat, und Drohnen sind ziemlich billig –, aber trotzdem. Wenn Lily morgens an die Tür klopft, schreckt Helena manchmal panisch auf, bevor sie merkt, dass es nicht Mr. Anonym ist, der sie abholt. Da hilft es auch nicht, dass Lilys sanftes Klopfen den K.O.-Schlägen anderer Leute zu entsprechen scheint.

Inzwischen hat Helena Lily in die Grundlagen eingeführt, und sie lernt erstaunlich schnell. Sie braucht nicht lange, um herauszufinden, wie man die Fettmarmorierung mit Fractalgenr8 randomisiert, und sie hat ihr die Aufgabe übertragen, die Rindfleischstreifen für Gyuuzen und Fatty Chan zu drucken und sie dann für den Drohnenversand zu verpacken. Das ist nicht ideal, aber so kann sich Helena auf das Basismodell für das T-Bone-Steak konzentrieren, das das komplizierteste ist, das sie je zu rendern versucht hat.

Ein T-Bone-Steak ist eine Kombination aus zwei Fleischstücken, dem mageren Tenderloin und dem fetten Strip-Steak, die durch einen harten Rücken aus Wirbelknochen getrennt sind. Schon das Anschneiden eines solchen Steaks ist ein fast religiöses Erlebnis: Das rote Fleisch löst sich unter dem Messer und gibt den Blick auf den glatten weißen Knochen frei, während das Rinderfett auf den Teller tropft. Zumindest behaupten das die Food-Blogs der Prominenten. Um genau zu sein, sagen sie eher so etwas wie »omg das ist sooooooooo gut«, »this bones giving me a boner lol« und »haha das werde ich sowas von ultraschallgereinigt meiner Sammlung hinzufügen!!!«, aber Helena tut so, als ob sie tatsächlich etwas Kohärenteres mitteilen wollten.

---ENDE DER LESEPROBE---