e-tot - Uwe Post - E-Book

e-tot E-Book

Uwe Post

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Beschreibung

Mind Upload Complete! Der Traum vom ewigen Leben wird wahr. Nach dem Tod auf einem Server weiterleben, was wird daran problematisch sein? Der neue Roman von Uwe Post entwirft ein facettenreiches Bild vom serverseitigen Jenseits und Überraschungen, die eine digitale Existenz mit sich bringt:  Paul ist tot. Als er die Augen öffnet, befindet er sich im Paradies – digital und erschwinglich für jedermann. Die permanente Werbung auf seinem Billigserver nervt zwar ein bisschen, aber was soll' s: Das Leben geht weiter!   Doch in der scheinbar perfekten Fassade werden schnell Risse sichtbar: Nicht nur Spam, Viren und Malware erschweren ihm das Leben im digitalen Jenseits, auch mit seinen Erinnerungen scheint etwas nicht zu stimmen. Ist er noch Herr seiner Daten? Die Suche nach der Wahrheit bringt nicht nur sein eigenes Leben nach dem Tod in Gefahr  … 

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UWE POST

DAS LEBEN NACH DEM UPLOAD

© 2020 Polarise

Ein Imprint der dpunkt.verlag GmbH

Wieblinger Weg 17

69123 Heidelberg

www.polarise.de

1. Auflage 2020

Autor: Uwe Post

Lektorat: Dr. Benjamin Ziech

Copy-Editing: Irina Sehling

Illustration Cover: licarto

Hintergrundbild Cover: ID 50771168 © Madmaxer Dreamstime.com

Printed in Germany

ISBN (Buch) 978-3-947619-57-3

ISBN (PDF) 978-3-947619-58-0

ISBN (ePub) 978-3-947619-59-7

ISBN (mobi) 978-3-947619-60-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über www.dnb.de abrufbar.

Uwe Post wohnt am Rand des Ruhrgebiets, hat ein Diplom in Physik und Astronomie, eine Games-App-Firma, ist IT-Berater und schreibt Fachbücher sowie satirische Science Fiction. Er erhielt 2011 den Deutschen Science Fiction-Preis und Kurd-Laßwitz-Preis für seinen Roman »Walpar Tonnraffir und der Zeigefinger Gottes«. Sein Lieblingsthema ist die POSTapokalypse und deren Verhinderung durch schwarzen Humor.

… Always Look

on the Bright

Side of Death

(Monty Python)

Inhalt

PROLOG

PAUL 1

NELE 1

LEO 1

ELISABETH 1

RANDYS BAR: BOND …

PAUL 2

LEO 2

KALTHOR 1

JULIUS 1

HENRICHS 1

NELE 2

RANDYS BAR: CHAN

ELISABETH 2

JULIUS 2

PAUL 3

DAVID 1

KALTHOR 2

PAUL 4

SAPHIRA 1

NELE 3

RANDYS BAR: DIE SÄNGERIN

LEO 3

PAUL 5

RANDYS BAR: PAUL

DAVID 2

PAUL 6

SAPHIRA 2

JULIUS 3

RUFUS 1

PAUL 7

LEO 4

KALTHOR 3

LEO 5

SAPHIRA 3

NELE 4

PAUL 8

HEINZ 1

LEO 6

TOM 1

NELE 5

DAVID 3

TOM 2

RANDYS BAR: LEO

EPILOG

PROLOG

Als du aufwachst, weißt du: Du bist tot.

Nicht weil du plötzlich Hunger auf Gehirne verspürst. Oder weil du mit dem Kopf an den Sargdeckel stößt. Oder weil ein Typ mit Heiligenschein dich durchdringend anschaut und murmelt: Hm, Himmel oder Hölle, wo haben wir ein Plätzchen für dich frei?

Nein – du weißt, du bist tot, weil du die Pixel zählen kannst, aus denen die Wand deines Apartments besteht.

Die Texturen auf dem Billigserver sind nicht gerade 4K, aber dafür genügt dein Erspartes, um ein paar hundert Jahre hier zu leben.

Besser gesagt: installiert zu bleiben. Nicht gelöscht zu werden. Zu existieren.

Willkommen auf dem Server gruft07 von e-tot.de. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Tod.

Verrottete Scheiße!

In miesen Hollywoodstreifen haben die Helden ungefähr bis zur zweiten Filmrolle Zeit, um sich zu erinnern, was ihnen widerfahren ist. Dich trifft es wie ein Tritt in den Magen am Morgen.

Du würdest gerne kotzen, aber der Server unterstützt diese Funktion aus hygienischen Gründen nicht.

Ruhig, Paul, ruhig.

Laut Systemuhr ist heute Mittwoch. Montag hast du dein Gehirn auf den Server gewuppt, wie jede Nacht. Also musst du Dienstag gestorben sein. Dein Körper ist vielleicht gerade unterwegs zum Krematorium, und du …

Du sitzt in deinem digitalen Wohnzimmer an einem 1800 Pixel breiten Tisch. Darauf liegt ein Büchlein, direkt vor dir. Zu auffällig, um unwichtig zu sein. Du schlägst es auf. Die ersten Seiten sind voller Lizenzvereinbarungen, es folgt eine Kurzanleitung, dann das ausführliche Handbuch, endlich auch persönliche Daten. Dein Todesbericht erinnert an amerikanische Idioten-Sitcoms: betrunken vom Balkon gestürzt, und das vor den Augen der Freundin.

Mann, bist du ein erbärmlicher Versager.

Das Büchlein klärt dich pflichtschuldig über Dinge auf, die du längst weißt: Im Standardtarif eingeschränkter Telefonsupport, dein Pass wurde eingezogen und falls du deine Memoiren schreibst, gehen neunzig Prozent der Einkünfte an e-tot.de. Na gut, die würde eh keiner kaufen. Es folgt eine rot leuchtende Empfehlung, bei mentalen Schwierigkeiten mit deinem Zustand mögest du dich an eines der zahlreichen Community-Foren wenden: Klicken Sie hier!

Du findest weiter hinten eine bunt bebilderte Seite mit der Überschrift »Ihr persönlicher Organspendenachweis«. Fein säuberlich ist alles aufgelistet, mit Querverweisen zu den Empfängerprofilen. Deine Niere hat ein 22-jähriges Model aus Heidelberg (nicht schlecht!), deine Leber ein Herr Neumann aus Schweinfurt. Hoffentlich kein Säufer, die machen die nur kaputt.

Du stehst auf und untersuchst den Raum. Das ist also deine Krypta: eine Wohnküche, billiges Sims-Design – einfarbige Texturen, die aus nächster Nähe ihre pixelige Beschaffenheit offenbaren. Für Gigapixel-Bilder, die nur mit dem Mikroskop von der Realität zu unterscheiden sind, hat’s nicht gereicht.

Aber lieber billige Unsterblichkeit als ewiger Tod.

Im Schrank liegen Junkfood und Fusel. Ist nicht mal ungesund. Nahrung ist überflüssig, wir E-Toten beziehen unsere Energie aus der Steckdose, hundert Prozent Ökostrom, Ehrensache!

Essen ist eine Gewohnheit, die wir nicht ablegen können, um uns weiterhin menschlich zu fühlen. Alkohol wirkt dank eines umstrittenen Softwarepatents wie bei Lebenden, ist aber im Standardtarif streng rationiert. Als ob du dich hier ein weiteres Mal zu Tode saufen könntest.

Drüben steht unterm Panoramafenster ein Bett mit blauen Kissen und Leselampe, der Großbildschirm an der Wand gegenüber zeigt ein Entspannungsvideo mit Fischen.

Mia mochte Fische. Du nicht. Aber du mochtest Mia.

Du bewegst den Arm, und die Fische tauchen ab. Das Hauptmenü erscheint. Du kannst im Netz surfen, E-Mails schreiben und empfangen ([email protected]), Chaträume besuchen und Online-Games spielen. Am besten schreibst du Mia gleich eine Mail. Dass es dir gut geht und dass du immer noch auf sie stehst.

Das Gesicht deines Avatars wird zum Grinse-Smiley. Alles ist fast wie früher, auch dieses … Prickeln.

Du fasst dir vorsichtig zwischen die Beine, weil du schlimme Dinge über puritanische E-Tod-Server in den USA gehört hast.

Zum Glück ist alles noch da.

Wenn auch hinter einem breiten schwarzen Balken.

Ob es einen Hack dagegen gibt?

Ganz sicher gibt es den. Es muss ihn einfach geben. Oder …?

Wichtiger Hinweis deines persönlichen E-Tod-Beraters

Hallo Paul, im Namen von e-tot.de heiße ich dich überaus herzlich willkommen! Gemeinsam mit meinem Team aus fähigen Entwicklern und Administratoren sorge ich dafür, dass du dich bei uns lebendig und heimisch fühlst. Du kannst dich zu 100 % auf uns verlass [message too long, maxLength=255]

PAUL1

Keine Frage, Paul fühlt sich pudelwohl: Das blaue Sofa ist weich und im Gegensatz zu seinem alten fleckenfrei, und er muss beim Bingewatching nicht mehr an der besten Stelle dringend pinkeln gehen.

Wozu auch die unangenehmen Dinge des Lebens im digitalen Tod simulieren?

Nach dem Staffelfinale von »Doktor Sonderbär übt Vergeltung« sitzt Paul etwas ratlos da. Unentschlossen navigiert er durch die Menüs seines Videosystems. Er verharrt kurz bei der Aufzeichnung seiner Beerdigung, aber die sieht er sich lieber ein andermal an. Ah, in ein paar Minuten beginnt die Übertragung eines Fußballspiels. Wuppertal gegen Rot-Weiss Essen. Eine Art Derby, Randale garantiert, auch wenn es um nichts geht. Ist Amateurliga. Für höhere Klassen ist das Abo zu teuer. Da muss Paul sich mit Aufzeichnungen begnügen.

Pauls Blick fällt auf die Küchenzeile. Zeit für einen Imbiss!

Er erhebt sich, freut sich, dass im E-Tod weder Gliedmaßen einschlafen noch Muskeln durch langes Herumfläzen ermüden, und läuft auf Socken zum Kühlschrank. Paul schnappt sich eine Flasche Erdbeerjoghurt und nippt genüsslich. Er wirft einen Blick auf das Label. Detailliert bis hin zu den Nährwertangaben und der Unbedenklichkeitserklärung für digitale Geschmacksstoffe. Künstliches Aroma, natürlich – echte Erdbeeren kann man hier kaum erwarten. »Du schmeckst gar nicht übel«, murmelt Paul.

Er nimmt noch einen Schluck, dann stellt er den Joghurt wieder in den Kühlschrank. Bis zum nächsten Mal wird sich die Flasche aufgefüllt haben. Paul grinst. Probleme mit Plastikmüll gibt es hier unten nicht.

»Unten«? Hat er das wirklich gerade gedacht?

Paul tritt ans Panoramafenster. Gerade geht die Sonne auf. Das tut sie immer auf diesem Server, die ewige Morgenstimmung kennt Paul aus der Werbung. Sanftes, goldenes Licht flutet die Straßen der Stadt. Sieht ein bisschen aus wie SimCity, aber wirkt echt total echt.

Pauls Wohnung liegt in einem Haus an einem Hügel, wie alle anderen auch. Die Aussicht ist phänomenal. Er stellt sich vor, dass in den anderen Häusern auch gerade Menschen an ihren Fenstern stehen und die Aussicht genießen. Sicher wird Paul hier neue Freunde finden. Vielleicht sogar …

Es klingelt.

Irritiert dreht Paul sich um. Er erwartet keinen Besuch. Er kennt niemanden hier … oder doch?

»Herein«, sagt Paul. Es wird schon kein Räuber oder Staubsaugervertreter sein.

Die Wohnungstür klappt auf, und eine Frau tritt ein. Paul hat sie noch nie zuvor gesehen. Schminke, Kleidung und Oberweite lassen allerdings keine Zweifel an den Absichten der Besucherin aufkommen.

»Hallo, ich bin Emma.« Eine tiefe Stimme, ein Hauch von Duft. Dunkle, gelockte Haare, silberne Armreife, exotisch, eindeutig.

»Ich …« Paul lächelt verlegen. »Ich habe eine Freundin.«

Emma nähert sich, hinter ihr schließt sich die Wohnungstür automatisch. »Glaubst du, sie wird uns hier überraschen?«

»Wohl kaum«, sagt Paul. »Sie lebt noch.«

»Dann musst du ja ganz einsam sein«, flüstert Emma.

Paul hebt abwehrend die Hände. Das geht ihm dann doch zu schnell. »Ehrlich«, sagt er, »da muss ein Missverständnis vorliegen.«

»Wir können uns auch einfach nur unterhalten«, sagt Emma mit normaler Stimme. »Ich bin ein Multifunktions-Bot.«

»Oh«, staunt Paul. »Du bist … gar nicht echt?«

»So echt wie das Joghurt auf deinem T-Shirt, Süßer.«

Erleichtert zeigt Paul auf das Sofa. Mit Joghurt sprechen, das traut er sich gerade noch zu. »Sollen wir uns setzen?«

»Natürlich«, sagt Emma. »Soll ich dir die Füße massieren? Das entspannt!«

»Nein!«, ruft Paul. »Das kitzelt!«

Emma lächelt den Einwand fort. »Du bist süß.« Sie zeigt zum Tisch. »Das Handbuch hast du vollständig gelesen?«

»Natürlich«, lügt Paul.

»Dann weißt du, dass das Anfänger-Tutorial nur an den ersten drei Tagen zur Verfügung steht.«

»Welches Anfänger-Tutorial?«

Emma lacht kurz und hell. »Du bist wirklich süß. Ich bin das Anfänger-Tutorial.«

»Ach so«, brummt Paul. »Und ich dachte schon, wir könnten vielleicht Freunde werden.«

»Sweetheart«, sagt Emma, »such dir dafür lieber echte Menschen. Bots sind als Freunde in etwa so hilfreich wie Erdbeerjoghurt.«

Paul schaut sich betreten das Teppichmuster an. Es erinnert ihn an etwas, aber er kommt einfach nicht drauf.

Dann spürt er Emmas Hand auf seinem Knie. Er sieht sie an, findet Mitgefühl in ihrem Lächeln, ganz ohne Spott oder Überheblichkeit. »Es gibt Stammtische, Sportvereine und Selbsthilfegruppen«, sagt sie ruhig. »Such dir was aus und geh durch diese Tür hinaus in die Welt. Keine Sorge, sie ist tausendmal lebendiger als ein Friedhof. Aber den ersten Schritt musst du selbst tun, niemand nimmt ihn dir ab.«

»Verstehe ich«, murmelt Paul. »Früher habe ich gerne gekickt. Hat Spaß gemacht mit den Jungs.«

Emma nickt. »Das ist doch ein Anfang.« Dann hält sie ihm ein Tablet hin, dessen Bildschirm ein fröhliches Emoji zeigt. »Bitte bewerte dieses Tutorial!«

»Aber es gibt nur eine Option!«

»Oh, das muss ein Fehler sein«, sagt Emma und lächelt unverbindlich. »Aber wolltest du wirklich …?«

»Nein, nein!«, versichert Paul und tippt auf das Emoji.

»Danke«, sagt Emma. »Und wenn du mich in den nächsten Tagen nochmal brauchst …«

»Dann rufe ich an?«

»Nein«, versetzt Emma, »du musst dich nur einsam fühlen. Tschüssi!«

Damit lässt sie ihn stehen und geht.

Paul starrt die geschlossene Tür noch lange an. Er hat den dringenden Verdacht, dass ihm der Server seine Traumfrau geschickt hat. Maßgeschneidert gewissermaßen, schließlich kennt das System alle seine Vorlieben.

Und was hat er mit ihr gemacht? Nur geredet.

Das hier ist der E-Tod, wieso sollte jemand mit der perfekten Frau nur plaudern, statt ins Bett zu gehen?

Paul hat das unbestimmte Gefühl, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Aber diesen Gedanken wischt er fort. Er sucht im Handbuch nach Links zu Freizeit-Fußballmannschaften und findet einen gewissen FC Südfriedhof.

Im Handumdrehen hat er ein Probetraining vereinbart. Paul geht hinunter auf die Straße und wartet auf den Bus. Eigentlich könnten E-Tote ja ohne Zeitverlust reisen, so ähnlich wie Avatare in einem Rollenspiel. Aber auf e-tot.de ist das ein Premium-Feature: Der Bus ist kostenlos, die U-Bahn immerhin für zwei Fahrten pro Woche, aber für jeden Tür-zu-Tür-Eiltransport verlangen sie zwei Coins neunzig.

Zum Glück hat Paul jede Menge Zeit.

Der Bus ist rot und doppelstöckig. Über die Außenseite flimmert Reklame für die neue Netflix-Serie mit Arnold Schwarzenegger. Unten sitzt eine Art Kegelclub und trinkt Eierlikör um die Wette. Paul sucht sich einen Platz auf dem Aussichtsdeck, das bis auf einen auf der Rückbank pennenden Trottel leer ist.

Paul genießt die Tour durch die sommerliche Stadt und kann sich nicht sattsehen: Apartments, Parks, Shops und Spielhallen folgen in buntem Wechsel, während der Bus sich dem Viertel namens Südfriedhof nähert.

Als er am Sportplatz eintrifft, nimmt Paul sofort ein Fußballer mit Bart und Glatze in Empfang. »Leo!«, ruft er.

»Nein, Paul«, sagt Paul.

»Witzig«, sagt Leo. »Du kommst genau richtig.«

»Was heißt das?« Verwirrt sieht Paul sich um. Am Spielfeldrand machen sich einige Fußballer warm, und ungefähr die Hälfte trägt nicht die schwarzbraunen Trikots des FC Südfriedhof, sondern blau-weiße.

»Schnell, zieh dich um, gleich ist Anstoß und ohne dich wären wir nur neun!«

»Aber …« Paul zögert, schaut sich den Gegner an. Hauptsächlich ältere Herren, viele davon mit beträchtlichem Übergewicht. Die schnaufen jetzt schon, als hätten sie 90 Minuten in den Knochen.

»Wo ist die Kabi…«

»Keine Zeit!«, drängt Leo und drückt ihm einen Satz Spielkleidung in die Hand. »Mach schon, dir guckt schon keiner den schwarzen Balken weg. Kannst du links hinten spielen?«

»Äh«, macht Paul und schält sich aus seinen Klamotten. »Ich hoffe es«, gibt er zurück.

Kaum steckt Paul im Friedhofsbraun seines Teams, beginnt das Spiel.

Die Zeit vergeht wie im Flug, aber der Gegner ist stärker als erwartet. Kurz vor Schluss steht es 0 : 0 und der Torwart wirft den Ball zu Paul. »Alles nach vorne!«, ruft Lasse, der Kapitän. Paul schlägt die Pille mit aller Kraft Richtung gegnerischer Strafraum. Der hochgewachsene Südfriedhof-Mittelstürmer streckt sich, erwischt den Ball und schießt.

Das Kunstleder fliegt knapp am Tor vorbei.

»Der hätte doch drin sein müssen!«, schreit Kevin. »Scheiß Simu!«

Kurz darauf ertönt der Schlusspfiff.

Während Kevin zum Schiri rennt und anfängt, ihn wüst zu beschimpfen, klopft Leo Paul auf die Schulter. »Gar nicht schlecht!«

»Danke«, bringt Paul hervor und stöhnt.

»Warst du früher ein bekannter Profi? Paul … Pogba vielleicht?«

Paul lacht, dann hält er sich die Seite. Der Server ist da gnadenlos: Kein Training, ergo Seitenstiche. »Nochmal danke«, sagt er. »Paul Stein. Der Pogba lebt meines Wissens noch. Hab ihn letztens als Experten bei irgendeinem Europapokalspiel gesehen.«

Hinter Paul gibt es Geschrei, er dreht sich um und sieht, dass mehrere Kameraden Kevin davon abhalten müssen, dem Schiri eine runterzuhauen.

»Schlechter Verlierer«, kommentiert Leo. »Jeder will gewinnen. Aber er nimmt das Spiel einfach zu ernst. Wir spielen in der elften E-Dead-Liga, nicht um die Weltmeisterschaft.«

»E-Sport für Tote«, nickt Paul. »Es fühlt sich echt an, mitsamt Pech in der Nachspielzeit.«

»Es ist so echt wie dein Durst.« Leo grinst. »Gehen wir nach dem Duschen noch was trinken?«

Paul lacht. »Klarer Fall!«

Sie kehren schräg gegenüber in die Fußball-Kneipe ein. Die Einrichtung ist pixelig, das Bier billig. Auf einem Bildschirm läuft irgendein Spiel der thailändischen zweiten Liga. Die Sportsfreunde vom FC Südfriedhof setzen auf das Team mit den schöneren Trikots: lila und gelb gestreift.

Inzwischen hat sich sogar Kevin beruhigt. »Hinterher ist ihm das immer total peinlich«, sagt Leo. »Dass er das Tor nicht getroffen hat – und dass er so ein mieser Verlierer ist.«

»Hat trotzdem Spaß gemacht«, entgegnet Paul entspannt. »Wäre gern der Neue in eurem Team. Wenn ihr mich wollt, obwohl ich kein Pogba bin.«

»Klar. Du warst nicht schlecht.«

Paul verzieht das Gesicht. »War mal besser«, meint er.

»Der Ball fliegt anders in simulierter Luft«, behauptet Leo.

»Das erklärt natürlich alles«, grinst Paul. »Oder es liegt an den pixeligen Schuhen.«

»Gute Ausreden erfinden zu können, zeichnet den echten Profi aus«, versetzt Leo und hebt das Glas. »Prost!«

»Prost.«

Beim dritten Bier erzählt Leo, dass er ein 10.000-Jahre-Abo hat.

»Woher hast du die Kohle?«, staunt Paul.

Leo nimmt einen weiteren Schluck. »Ich war pleite«, sagt er dann. »Plötzlich bot mir ein reicher Russe viel Geld für meine Organe. Anscheinend habe ich eine seltene Blutgruppe oder so. Hatte.«

Paul umklammert das Glas, als wäre es sein Leben. »Du hast dich … verkauft? Für … eine Ewigkeit im E-Tod?«

»Jepp«, macht Leo. »Ich hatte echt Glück.«

Tutorial für E-Tod-Newbies: Telefonieren

Dein Abo umfasst selbstverständlich eine Flatrate für Anrufe in die gesamte EU. Beachte die Sonderregelungen für Großbritannien und Nordirland. Du kannst ebenfalls angerufen werden, aber da an E-Tote leider keine SIM-Karten ausgegeben werden können, verfügst du nur über eine virtuelle Festnetznummer. Wir empfehlen die Kommunikation über Sprach- oder Videochat. Mit unserer Immer-nah-App kannst du eine permanente Verbindung mit einem Smart-Home- oder Cloud-Lautsprechersystem bei deinen Hinterbliebenen erleben. Der Preis in den ersten drei Monaten beträgt nur 4,99 Coins, und nur heute schenken wir dir ein Startguthaben von 19,99 Coins!

NELE1

»Wo ist bloß dieses verdammte …?«

Nele Haerter hastet durch die Wohnung wie eine Kugel im Flipper. Sie sucht allerdings weder Ausgang noch Highscore, sondern ihr Smartphone. Im Schlafzimmer durchwühlt sie Decken und Kissen – erfolglos.

»Hast du es angerufen?«, fragt ihr Mann.

»Ja, verdammt! Es steht auf lautlos.«

»Es gibt eine App, mit der …«

»Tom, Schatzi!«, ruft Nele und läuft ins Bad. Das Handy liegt im Handtuchregal neben dem Klo. »Bingo«, sagt Nele und nimmt sogleich ein Handtuch, um sich den Schweiß abzuwischen. Es herrschen hochsommerliche Temperaturen hier im oberen Rheintal, Mitte April. Nele wirft einen Blick in den Spiegel. Sie überlegt, ob die Zeit reicht, um ihre Haare anders zu bändigen, entscheidet sich jedoch dagegen. Es wird niemanden kümmern.

»Ich wusste, dass du es findest«, sagt Tom.

»Aber wo ist meine verfluchte Handtasche?«

»Die hat keine Telefonnummer, oder?«

»Nein«, sagt Nele und grinst. »Aber sie ist himbeerrosa und kaum zu übersehen. Falls du sie irgendwo siehst …«

»Witzig«, sagt Tom. »Hast du auf der Kommode nachgeschaut?«

Nele verlässt das Bad und steht im Flur. Toms Stimme kommt aus Bad, Wohnküche und Schlafzimmer. Gleichzeitig.

Im Flur klingt das seltsam. Hier steht kein Interface, genauso wenig wie in Stevens Zimmer. Der Junge will seinen Vater nicht ständig um sich haben.

Nele schüttelt den Kopf. Was hat sie gerade nochmal gesucht?

»Vielleicht ist sie runtergefallen«, ruft Tom.

Nele bückt sich, und tatsächlich liegt ihre rosa Handtasche unter der Kommode. »Wenn ich dich nicht hätte«, brummt Nele. Sie geht in die Küche. Nimmt einen Schluck aus der Kaffeetasse, verzieht das Gesicht.

»Der Kaffee ist sicher kalt«, sagt Tom. Seine Stimme kommt aus dem schwarzen, handtellergroßen Lautsprecher, der auf der Anrichte liegt. Nele überlegt. Tom hat keinen Zugriff auf Kameras. Dass sie ihr Gesicht verzogen hat, kann er nicht gesehen haben. Er muss gehört haben, dass sie zur Tasse greift und trinkt. »Respekt«, murmelt Nele. Sie kippt den grässlichen Kaffeerest weg und schaut aus dem Fenster. Draußen rollt gerade Schröders rot-gelb gestreifter Mini-Roboter vorbei, der mit Köter Kalle Gassi geht.

In ihrer Hosentasche summt das Handy und erinnert sie an ihren Termin. Sie schreckt hoch, merkt, dass sie die leere Kaffeetasse an sich drückt, stellt sie weg und seufzt. »Jetzt fehlt nur noch …«

»Eine Frisur?«, vermutet Tom.

Nele schüttelt energisch den Kopf. »Steven.«

Sie eilt über den Flur zu Stevens Zimmertür und hämmert mit der Faust dagegen. »Stevie! Ich muss los!«

»Mir doch egal!«, tönt es von innen.

Mit einem Stöhnen drückt Nele die Tür auf. Ihr dreizehnjähriger Sohn sitzt vor einem Game. Natürlich. »Ich muss zum Dienst«, sagt Nele. »Du kommst klar, oder?«

Steven tut so, als hätte er nichts gehört. Auf dem großen Bildschirm vor ihm mäht er gerade mit einer Laserkanone vierarmige olivgrüne Zombies nieder. Zwischen umherfliegenden Gliedmaßen poppen Schriftzüge auf:

Kühl! Episch! Party!

»Du bist ja nicht alleine«, sagt Nele. Sie zögert, dann fügt sie sicherheitshalber hinzu: »Papa ist ja da.«

Steven dreht sich zu Nele um, seine blauen Augen funkeln. »Ist er nicht«, zischt er.

»Doch, er …«

»Mama!«, entfährt es dem Jungen. »Papa ist tot! Die Stimme aus dem Lautsprecher ist eine beschissene Software!«

Nele wendet sich ab. »Wenn irgendwas ist, kann Papa mich anrufen.«

Steven zeigt auf das Smartphone, das auf dem Tisch neben ihm liegt. »Das kann ich selbst, Mama.«

»Denk dran, dass die Osterferien bald vorbei sind«, sagt Nele. »Vielleicht solltest du zwischen zwei Angriffswellen mal in ein paar Bücher schauen.«

Der Junge klammert sich an seinen Gamecontroller. »Ich wäre gerne tot! Dann müsste ich nicht in die Schule oder später mal arbeiten und könnte den ganzen Tag machen, was ich will.«

»Hätte ich früher rund um die Uhr bloß Zombies gekillt, hätte ich sicher nicht Polizistin werden können«, murmelt Nele.

»Ich bin stolz auf euch beide«, ertönt Toms Stimme aus der Wohnküche. Er hat mitgehört, obwohl er nicht im Raum ist. Die Mikrofone an den Interfaces sind ziemlich empfindlich. Nele tritt wieder in den Korridor und nimmt ihre weinrote Jacke vom Haken. »Vielleicht hilft Papa dir ein bisschen bei den Schulsachen«, sagt sie noch. »Bis nachher dann, ich hab euch lieb!«

Statt einer Antwort hört Nele an den Todesschreien der Zombies, dass Steven das Spiel wieder gestartet hat.

Auf dem Weg zu ihrer Dienststelle schießt Nele im Bus ein Selfie. Mit einer App montiert sie ein altes Bild von Tom daneben und ein Gartenfoto in den Hintergrund. Das Resultat sieht so aus, als würden die beiden gerade fröhlich in der Frühlingssonne tanzen.

Nele lächelt zufrieden und postet das Bild in ihrer Timeline.

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LEO1

Leo schwankt nach Hause. War wieder cool mit den Sportskameraden, und der neue Kumpel – wie hieß er doch gleich? – kickt gar nicht übel. Uuh … das war doch vielleicht ein Bier zu viel.

Leo kotzt an einen Baum, es blinkt und glitzert. Tja, Luxus-Features halt, nicht jeder erbricht reines Gold. Der Schatz versickert im Boden, ist alles nur Deko, nichts wert, aber der Effekt unbezahlbar.

Paul! Paul Aber-nicht-Pogba heißt der Knabe. Voll grinsend macht Leo, dass er nach hause kommt, da wartet frisches Goldkotz-Bier im Kühlschrank, und ein paar Upper müssten auch noch da sein. Auf das Zeug, das wie Libellen aussieht, fährt Leo besonders ab. Du lutschst sie, sie zappeln, vibrieren mit den Flügeln, auch noch im Bauch, ein echt geiles Feeling. Dagegen sind die echten Drogen, drüben im Reallife, wie trocken Brot, und noch dazu voll gefährlich.

Wobei – es hatte ja auch ein paar Vorteile, das olle Leben. Leo fallen allerdings gerade keine ein. Damals musste Leo sich mit der Stütze und mit Kleinkriminalität über Wasser halten. Hier mal eine Oma verarscht, dort mal heimlich einen Kryptominer auf den PC eines Freundes geschmuggelt, ach ja, nicht zu vergessen die Karre. Parkte einmal vor dem Aldi und Leo sah, dass der Besitzer vergaß, sein E-Bike Marke Oberteuer Classic anzuketten. Ganz spontan klaute Leo das Teil, fuhr einfach los, ganz gemütlich. Schon cool, so ein Elektromotor. Ein überraschend lukrativer Job, noch dazu völlig abgasfrei.

Tja, mit 22 hat man noch Träume. Tolle Träume. Also, wenn du die geilsten Drogen nimmst. Bloß sind die scheiße teuer. Teure Träume, die bezahlt werden wollen. Da kam der Russe gerade recht. 10.000 Jahre – wer kann dazu schon nein sagen? Also hat Leo unterschrieben, einen frischen Scan hochgeladen, und schwupp: Willkommen auf dem 1a-Luxusserver sansibar-1 von e-tot.de, deine verbleibende Mietdauer beträgt 9999 Jahre, 364 Tage, 23 Stunden und 59 Minuten.

Was danach passiert ist, also mit seinem Körper – seinem »Ex«, wie er gern sagt –, egal. Leo hofft, dass die Narkose vernünftig gewirkt hat, bevor man ihm – nein, seinem Ex! – die Organe entnahm. Keine Ahnung, was sie mit dem Rest gemacht haben. Vielleicht hat der reiche Russe alles weiterverkauft, für das er keine Verwendung hatte, schließlich hatte sein Krebs weder Hornhäute noch Zehen befallen.

Ab und zu erzählen die anderen Jungs von ihrer eigenen Beerdigung. Fast jeder hat ein Video davon, nicht jeder schaut es sich an. Leo hat kein solches Video, für ihn ist sein Erwachen auf e-tot.de seine Stunde null, das Davor: ihm doch egal.

Fühlt sich an wie in einem anderen Leben, als wäre er ein neuer Mensch, hier und jetzt mit einer Lebenserwartung von knapp 10.000 Jahren.

Leos Haustür erkennt ihn, öffnet sich mit einem warmen Grußton, drin wartet das Plätschern des Aquariums, in dem Dorie und Nemo schwimmen, ja, genau die, an die du denkst. Sie können sogar sprechen, aber im Moment sind sie auf mute, Leo will seine Ruhe. Er geht zum Kühlschrank, nimmt sich eine Dose Bier, dann geht er zum Drogenschrank und holt sich eine Libelle. Das Vieh summt und schimmert in allen Farben, ein so schöner Anblick, da möchtest du heulen.

Aber Tote heulen nicht. Wozu auch? 10.000 Jahre! Okay, 9999 und ein paar Kaputte.

Leo schluckt die Libelle runter. Ein Gefühl wie Flugzeuge im Bauch. Sie lenken ab. Lenken ab von der Angst. Von der Angst um die eigene Existenz. Nur noch 9999 Jahre, und Leo wird gelöscht. Dann ist alles vorbei. Für immer. Was sind schon 9999 Jahre? Ein Lidschlag der Weltgeschichte. Ein lächerlicher Moment, verglichen mit den zweihundert Millionen Jahren, die die Sonne braucht, um einmal ums Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße zu kreisen.

Nein, ich fange jetzt nicht mit den Dinosauriern an. Die hatten jedenfalls mehr Zeit als Leo. Okay, nicht jedes einzelne Individuum, aber … wer hat nicht alles den Untergang der Menschheit vorhergesagt! Abgesehen von den Zeugen Jehovas. Hundert Jahre, fünfzig Jahre? Diese Schwarzseher hatten ja keine Ahnung. Jetzt leben wir ewig, bloß hat auch die Ewigkeit leider ein allzu frühes Ende. Wie lang dauert denn die Ewigkeit der Götter genau? Weiß doch keiner genau, niemand wird es je herausfinden. Leben eigentlich Dinos im Paradies? Ach nee, nach ihnen war ja noch die Sintflut.

Leo grinst, schließt genüsslich die Augen, während die Libelle ihre Vibrationen in seinen ganzen e-toten Körper schickt. Hier zuckt ein kleiner Finger, da der Bauchnabel – dass der das kann! – und nicht zuletzt … Du weißt schon.

Als die Vibrationen nachlassen, geht Leo in seinem Haus spazieren. Es ist riesig, es hat einen Park, einen Teich, einen Patio, drei Ecken zum Grillen. Boah, letzte Woche, mit den Kumpels, da brannten alle drei Grills und die Steaks waren der Hammer!

Im Wohnzimmer stützt sich Leo auf die Stuhllehne, schaut auf den Wandbildschirm, der gerade Werbung für einen neuen Arznei-Shop für E-Tote zeigt.

»Zeig mir den Shop«, sagt Leo, und das Haus gehorcht wortlos. Sofort verwandelt sich die Wand in eine Glastür, deren rechter Flügel einladend aufschwingt.

Leo tritt ein und süßliche Düfte und Musik heißen ihn willkommen. Vielleicht ein chinesischer Shop. Das ist gut, die haben laxere Kontrollen, die EU überwacht hier die Inhaltsstoffe nicht. Spaßbremsen!

Neben einem Regal voller bunter Bonbons steht eine lächelnde Chinesin in einem traditionell gemusterten roten Kleid – natürlich ein Bot, aber was soll’s, sie soll ja bloß was verkaufen.

»Heute Marken-Antidepressiva gratis, Sie zahlen nur die Versandkosten!«, säuselt die Chinesin mit deutlich hörbarem Akzent.

»Steuerfrei, hm?«

»Gut, dass uns das egal sein kann, nicht wahr?«, grinst die Chinesin.

»Ich bin natürlich nicht depressiv«, sagt Leo.

»Das macht nichts, unsere hochwertigen Medikamente wirken trotzdem!«, sagt die Verkäuferin. »Garantiert! Garantiert! Garantiert! Garantiert! Garan…«

»Schon gut. Haben Sie Arcanum Premium Verum Extra?«

»Selbstverständlich! Selbstverstän…«

»Ich nehme eine Packung.«

Die Chinesin hüpft vor Freude, vor ihr erscheint in einer bunten Sternchenwolke eine Packung mit einem weißbärtigen Zauberer darauf. Sie fängt die Schachtel auf, als sie vollständig materialisiert ist und anfängt, der Schwerkraft zu gehorchen, und reicht sie Leo.

»Die Versandkosten wurden soeben von Ihrem Guthaben abgebucht! Natürlich völlig anonym und …«

»Und was?« Leo will die Schachtel entgegennehmen, aber die Chinesin lässt sie nicht los. Der Bot ist mitten in der Bewegung erstarrt, zuckt ab und zu und kiekst noch einmal »und!«.

Dann löst sich die Chinesin in Luft auf. Zugleich steht Leo wieder vor seiner Wand in seinem Wohnzimmer, und der Bildschirm zeigt den lapidaren Schriftzug »Verbindung abgebrochen«.

Enttäuscht starrt Leo seine leere Hand an. Er kann nur hoffen, dass sie ihm nichts dafür abgebucht haben. Vergeudung kann er sich wirklich nicht leisten. Auch wenn er Gold kotzt – sein Guthaben ist begrenzt.

Und es muss noch 9999 Jahre reichen.

Tutorial für E-Tod-Newbies: Geld und Guthaben

Leider haben Verstorbene wie Sie keinen Zugriff auf gewöhnliche Bankkonten. Solche Einlagen sind Ihren Erben zugefallen. Sicher haben Sie vor Ihrem Ableben Ihr gesamtes Kapital in Kryptowährung umgewandelt, denn dieses Konto ist mit Ihrem persönlichen Passwort gesichert, das nur Sie kennen und niemand im Reallife. Alle Dienstleistungen von e-tot.de und unseren Partnern können gebührenfrei in LifeCoins bezahlt werden, der Umtausch in US-Dollar oder Euro ist jedoch zum jeweils aktuell gültigen Wechselkurs ebenfalls möglich. Für Verluste jeglicher Art ist e-tot.de nicht verantwortlich, alle Angaben ohne Gewähr.

ELISABETH1

»Voller Hoffnung« – man kann das goldgefasste Schild am Eingangstor des Geländes nur als blanken Hohn auffassen. Denn in dem grauen Betonkomplex in einem vergessenen Industriegebiet außerhalb von Kassel residiert ein Hospiz.

Ein Übergang zwischen Diesseits und Jenseits, der Anfang vom Ende; ein Ort, den nur Pflegekräfte, Bestattungsunternehmer und gelegentliche Besucher lebendig wieder verlassen. Noch nicht ganz der Styx, aber sicher so nah dran, dass man ihn in einer stillen Nacht leise plätschern hören kann.

Wer hier auf sein Ende wartet, kann nur hoffen, dass er keine Schmerzen verspürt und der Tod nicht mitten während einer spannenden Fußballübertragung eintritt.

Wenn gerade kein Sport läuft, sitzen oder liegen die Patienten vor ihren Konsolen, um ihre Scans zu optimieren, denn die meisten möchten im E-Tod sie selbst sein und nicht bloß blasse Kopien. Rührige Praktikanten verschiedener Dienstleister unterstützen die zumeist älteren Herrschaften bei der Bedienung der Geräte – ein Service, der zumindest bei seriösen Anbietern im Preis inbegriffen ist.

So gilt für die meisten hier: zum Vordereingang rein, durch die Glasfaserleitung wieder raus.

In Zimmer 213 lebt Elisabeth.

Noch.

Sie ist 97, die Metastasen drücken auf die Organe und Gelenke, laufen kann sie längst nicht mehr.

»Meine Karre ist in der Werkstatt«, sagt der schlaksige Typ mit dem YourBackup-Poloshirt, als er Elisabeths Zimmer betritt.

»Und deshalb kommst du eine geschlagene Stunde zu spät«, kommt die gebrummte Antwort von dem kleinen, dicklichen Typ, der ebenfalls ein YourBackup-Poloshirt trägt.

Der Stoff der Shirts ist zartrosa, das Logo weiß und schon leicht verwaschen. Elisabeth findet den dicklichen Typ nett, er hat ihr vorhin einen Kaffee geholt, weil sich mal wieder kein Pflegepersonal blicken ließ, der Krankenstand ist hoch.

»Ich sag dir, Bus und Bahn! Alter! Nee.« Der Schlaksige – Oberlippenbart, Halbglatze, dunkelblond – macht den Eindruck, dass er sich aus lauter Verzweiflung über den Zustand des öffentlichen Personennahverkehrs gleich selbst backuppen wird.

»Du solltest dein Praktikum ernster nehmen, Ben«, mahnt der Dickliche. »Fahr den Scanner hoch und check die Kalibrierung.«

»Aye, aye, Sir.« Der Praktikant öffnet einen Metallkoffer, zieht ein buntes Kabelgewirr hervor und seufzt. »Dauert ’ne Minute …«

»Junge«, sagt der Dickliche, »nicht alle in diesem Raum haben beliebig viel Zeit.« Er wirft Elisabeth einen vielsagenden Blick zu. »Frau, äh …« Der Mann tastet seine Hosentaschen ab, erfolglos. »Wir scannen heute Flavor und Monkeys. Es wird Ihnen gefallen.«

»Sehr freundlich«, bringt Elisabeth hervor. So ähnlich würde sie sicher auch den Vorschlag des Fährmanns beantworten, sie zur anderen Seite überzusetzen.

Don’t Pay the Ferryman!, schießt es ihr durch den Kopf. Sie nimmt sich vor, sich beizeiten an Chris de Burghs Empfehlung zu halten.

Die Stimme des dicklichen Mitarbeiters von YourBackup reißt sie aus ihren wirren Popkultur-Erinnerungen: »Sie kennen ja schon unsere Videobrille. Sie tragen sie, um sich ausschließlich auf die Bilder konzentrieren zu können, die wir Ihnen zeigen. Das sind heute Nahrungsmittel, Haustiere und so weiter. Der Scanner misst Ihre Reaktion und zeichnet alles auf. So wird Ihr Profil für die spätere Simulation immer weiter ausgebaut. Klar so weit?«

»Ja, danke«, entgegnet Elisabeth dünn. Sie spürt, dass das Morphium ihre Sinne benebelt. Unter seiner samtenen Decke pulsiert der notdürftig betäubte Schmerz.

Als die Männer ihr die Brille überziehen, wird ihr schwindlig, weil sie keine Orientierung mehr hat. Alles ist schwarz, wie ein Blick in ihre Zukunft.

Elisabeth ist in schwierigen Zeiten aufgewachsen, tief im Ruhrpott. Lange nach der letzten Grubenfahrt fand ihr Mann endlich Arbeit in Hessen. Irgendwann sind die Kinder weggezogen, und Reinhard, ihr Mann, erlebte genau ein Jahr seiner Rente, bevor er starb. Das war vor der Erfindung der Auferstehung im Internet, und niemand hat sich je die Mühe gemacht, zu versuchen, aus den spärlichen Erinnerungen an ihn einen Sim zu konstruieren. Im Grunde war es Elisabeth ganz recht, sie vermisste ihn … na ja, um ehrlich zu sein: selten.

Ihre Verwandten haben sie kürzlich überredet, ihren Tod auf Isla Dorada zu verbringen, allen voran Leo, ihr Enkel. Richtiggehend geschwärmt hat er von jener tropischen Insel, auf der es nie zu heiß ist, nie regnet und trotzdem die Blumen sprießen und das Unkraut von allein verwelkt. »Das ist genau das Richtige für dich«, hat Leo gesagt, »und natürlich werden wir dich da oft besuchen!«

Elisabeth verzieht hinter ihrer Brille den Mund. Natürlich werden sie das.

Eine Toteninsel voller Blumen, Düfte und gepflegter Gärten. Auf den YouTube-Videos, die E-Tote von Isla Dorada gepostet haben, sieht sie aus wie das Paradies. Auch wenn der Eindruck täuschen mag: In einer Hinsicht ist jener Ort auf jeden Fall besser als die wirkliche Welt: Es gibt dort keine Schmerzen.

»Schrottkasten! Sondermüll! Epic Fail!« Der Schlaksige flucht mal wieder über sein Equipment. Es klingt so, als würde er dem mitgebrachten Rack, das die aufgezeichneten Hirnscans weiterverarbeitet, einen Fußtritt nach dem anderen versetzen. »Warum bin ich nicht Bestatter geworden?«, brummt der Mann, bevor ihn sein älterer Kollege ermahnt:

»Du vergisst mal wieder, wo du dich befindest. Etwas Respekt und Contenance bitte.«

»Siehst du, jetzt läuft die Kiste. Man muss ihr nur gut zureden. Ist genau wie bei meinen Kids. Ab und zu brauchen die einen Tritt in den Hintern. Glaub mir, ich weiß Bescheid. Mein Vater hat mich auch so erzogen. Und du siehst ja, was aus mir geworden ist.«

»Ja, sehe ich«, gibt der Dickliche knapp zurück.

Elisabeth gönnt sich ein Lächeln. Dann werden die Bildschirme in ihrer Brille hell. Sie sieht das Logo von YourBackup, dann ein nacktes Paar beim Koitus.

»Ups«, sagt der Schlaksige praktisch im selben Moment. »Falscher USB-Stick. Augenblick …«

Stoisch wartet Elisabeth, bis der Dickliche damit fertig ist, seinem Kollegen das Fell über die Ohren zu ziehen. Sie ist ein bisschen enttäuscht, als dann vor ihren Augen Filmausschnitte aus einem Zoo ablaufen. Da ist ein Känguru, sie sieht Flamingos und ein Krokodil, und keines dieser Tiere wirkt im Moment viel agiler als sie selbst. Zwischendurch treten immer wieder Verwandte oder Bekannte auf. Immer wenn das überraschend geschieht, so hat man ihr erklärt, reagiert das Hirn besonders stark, so dass die Scanner überdeutliche Ausschläge empfangen. Aus all diesen Daten entsteht dann auf den Rechnern von YourBackup ein Profil, auf dem die Simulation basieren wird.

Ihre Simulation.

Ihr kommendes Ich. Die neue Elisabeth.

Version 2.0, ohne Krebs.

»War das gerade ein Esel?« Der Schlaksige kichert. »Ich mag Esel. Aua!«

Es folgt ein gemurmelter Fluch. Dann hört Elisabeth den Dicklichen sagen: »Wir bekommen eine Menge sauberer Messwerte rein. Entschuldigen Sie bitte die Unfähigkeit meines Kollegen. Ich werde das seinem Vorgesetzten melden. Ist mein Ernst!«

»Prima«, hört Elisabeth den Schlaksigen rufen, »dann kann ich mir endlich einen neuen Job suchen.«

Sie ist sich nicht ganz sicher, ob er das ironisch meint oder ernst.

Tweets der @Lieblingsregierung 1

Eure @Lieblingsregierung gibt bekannt: Die Sondierungsgespräche stehen nach nur einem Monat vor ihrem Abschluss, demnächst beginnen voraussichtlich Koalitionsverhandlungen. Wir wissen noch nicht, mit wem, vielleicht gibt es auch Neuwahlen oder eine Minderheitsregierung. Jedenfalls nichts, weswegen man sich Sorgen machen müsste! #AllesIstGut

RANDYSBAR:BOND…

»Bond. James Bond.«

»Ich weiß«, flüstert Randy.

Der Geheimagent trägt einen dunkelblauen Maßanzug, ein blütenweißes Hemd und eine dunkelrote Fliege. Es ist die Roger-Moore-Version, die gerade Randys düstere Kellerbar betreten hat, aber mit Daniel Craigs Augen.

Der Barkeeper trägt Cowboy-Look: ein grobes, ehemals blaues Hemd, eine Lederweste und eine von einem Hut plattgedrückte Sparfrisur. Die Fältchen an seiner Augenpartie verleihen ihm ein wissendes Lächeln, das Gegnern beim Poker den letzten Nerv rauben würde.

Abgesehen von Randy und Bond ist die Bar leer. Vielleicht deshalb schaut sich die 007-Inkarnation zunächst sorgfältig um. Aber weder eine lasziv gekleidete Frau noch ein von seinen Schergen umringter Superschurke plant seinen Tod oder zumindest eine Runde Poker.

Aus unsichtbaren Lautsprechern ertönt gerade You Only Live Twice, gesungen von Nancy Sinatra. Randy verkneift sich ein Grinsen, als Bond zu ihm an die Bar tritt. »Haben Sie geschlossen?«

»Nein, ich suche mir meine Gäste sehr genau aus.«

»Ungewöhnliches Geschäftsmodell für eine Bar«, quittiert Bond. »Lukrativ?«

»Ich würde eher sagen: gemütlich.«

»Also langweilig.«

»Ich bin immer für eine Überraschung gut.«

Bond zeigt zur Decke. »Der Song kommt mir bekannt vor.«

»Behalten Sie die Tür im Auge«, sagt Randy.

Der nächste Gast ist ein schlaksiger Bobby im Minirock, der gerade einen Monty-Python-Sketch hinter sich gebracht hat und jetzt auf der Suche nach seiner Straßenkleidung ist. »Schauen Sie woandershin«, sagt er, als er Bonds Augen-wie-Eis-Blick spürt. »Da hinten, ist das nicht ein apartes Regal mit Biergläsern? Und liegt da nicht sogar ein Fußball? Ein Tango, von der WM ’78, würde ich meinen.«