Gagern. Pioniere der deutschen Demokratie - Torsten Weigelt - E-Book

Gagern. Pioniere der deutschen Demokratie E-Book

Torsten Weigelt

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Beschreibung

Einst berühmt, heute fast vergessen. Als die Abgeordneten des ersten deutschen Parlaments 1848 in die Frankfurter Paulskirche einziehen, befinden sich unter ihnen mit den Brüdern Max und Heinrich, der zum Präsidenten gewählt wird, gleich zwei Mitglieder der Familie von Gagern. Schon zuvor wirkten Angehörige der Adelssippe an vielen bedeutenden Ereignissen und Weichenstellungen der deutschen Politik mit – vom Ende des Alten Reiches (Rheinbund) über die "Befreiungskriege" gegen Napoleon bis hin zur national-liberalen Oppositionsbewegung des Vormärz. Gleiches gilt für die Vorgeschichte des heutigen Bundeslandes Hessen (Großherzogtum Hessen-Darmstadt, Herzogtum Nassau). Dennoch ist der Name von Gagern heute fast vergessen. Diese Familienbiografie möchte ihn wieder in Erinnerung rufen. Im Zentrum steht die Frage nach dem Beitrag des Vaters Hans Christoph von Gagern und seiner "politischen Söhne" Friedrich, Heinrich und Max zur nationalen und regionalen Demokratiegeschichte, thematisiert werden darüber hinaus ihr Verhältnis zu Liberalismus und Nationalismus sowie ihre Haltung zur sozialen Frage. Autor Torsten Weigelt lebt in Kelkheim/Taunus, wo die Familie von Gagern fast 50 Jahre lang – von 1818 bis 1866 – ein Hofgut bewohnte. Mit 30 Abbildungen

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Torsten Weigelt

GAGERN

Pioniere der deutschen Demokratie

Porträt einer politischen Familie

Der Autor

Torsten Weigelt (*1971) lebt als Journalist und Autor in Kelkheim bei Frankfurt. Nach einem Studium der Politikwissenschaften und Germanistik an der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität hat er 15 Jahre als Zeitungsredakteur für die Frankfurter Rundschau gearbeitet. Weitere berufliche Stationen waren die Taunuszeitung und das Höchster Kreisblatt. „Gagern – Pioniere der deutschen Demokratie“ ist seine erste Buchpublikation.

Impressum

Copyright © mainbook Verlag, Frankurt 2022

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 9783948987-58-9

Covermotive: Hans-Christoph, Max, Friedrich und Heinrich von Gagern (von oben links im Uhrzeigersinn); Stadtarchiv Kelkheim (2), HHStAW, Wikimedia.

Gestaltung und Satz: Anne Fuß

Bildquellen: siehe Bildunterschriften

Besuchen Sie uns im Internet: www.mainbook.de

INHALT

Einleitung

Prolog: Schwur auf dem Staufen

I.Aufstieg

1.Reichsritter, Reformminister, Diplomat: Hans Christoph von Gagern

2.Von der Hofdame zur Landadligen: Charlotte von Gagern

3.Offizier mit „mathematischem Kopf“: Friedrich von Gagern

4.Diener dreier Herren: Hans Christoph von Gagern auf dem Wiener Kongress

5.Vorkämpfer für den Verfassungsstaat: Hans Christoph von Gagern am Bundestag

6.England als Vorbild: Hans Christoph von Gagerns liberale Wende

II.Neue Wege

1.Burschenschaft und radikale Gedanken: Heinrich und Friedrich von Gagern als Studenten

2.Neubeginn während der Restauration: Hornau, Darmstadt und Belgien

III.Opposition

1.Heinrich von Gagerns Weg in den Landtag

2.Berufliches Scheitern, privates Glück: Max von Gagern in den Niederlanden

3.In die rheinhessische Provinz: Heinrich von Gagern wird Gutsverwalter

4.Max von Gagerns Karriere in Nassau

5.Java-Jahre: Friedrich von Gagern und das niederländische Kolonialsystem

6.„Wie eine Bombe geladen“: Heinrich von Gagerns Rückkehr in die Politik

IV.Revolution

1.„Der Blitz hat gezündet“: Aufruhr in Darmstadt und Wiesbaden

2.Max von Gagern auf nationaler Mission

3.Spaltung der Oppositionsbewegung: Liberale vs. Demokraten

4.Der Tod des Friedrich von Gagern

V.Parlament – Hoffnung

1.Einzug in die Paulskirche: Heinrich von Gagern wird Parlamentspräsident

2.Mit „kühnem Griff“ zur Reichsregierung

3.Max von Gagern und der Schleswig-Holstein-Krieg

4.Barrikadenkampf und Abgeordneten-Mord: September-Aufstand in Frankfurt

VI.Parlament – Scheitern

1.Ringen um die Reichsverfassung: Heinrich von Gagerns Pakt mit den Linken

2.Das Aus für Reichsregierung und Nationalversammlung

VII.Rückzug

1.Das Erfurter Unionsparlament: Versuch der Nationalstaatsbildung von oben

2.Mäandern zwischen Preußen und Österreich

3.Erst Schmähen, dann Vergessen: Die Familie von Gagern in Forschung und Erinnerungskultur

VIII.Liberal, national – demokratisch?

1.Die politische „Farbe der Familie“

2.Von halben und ganzen Demokraten

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Personenverzeichnis

Abkürzungen

Anteil

Hans Christoph von Gagern „Mein Antheil an der Politik“

HHStAW

Hessisches Haupstaatsarchiv Wiesbaden

HStAD

Hessisches Staatsarchiv Darmstadt

Leben

Heinrich von Gagern „Aus dem Leben des Generals Friedrich von Gagern“

Jugenderinnerungen

Max von Gagern „Jugenderinnerungen aus dem Gebiete der Nationalität“

NA

Nassauische Annalen

Nationalgeschichte

Hans Christoph von Gagern „Nationalgeschichte der Deutschen“

Sittengeschichte

Hans Christoph von Gagern „Resultate der Sittengeschichte“

StAK

Stadtarchiv Kelkheim

„Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen –

abgesehen von all den anderen Formen,

die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“

Winston Churchill1

Gewidmet meinem Urgroßvater Melchior Schrimpf,einem aufrechten Demokraten

Einleitung

Dieses Buch erzählt Familiengeschichte und es erzählt politische Geschichte. Beides ist im Fall der Familie von Gagern nicht zu trennen. Zwischen zwei Revolutionen (1789/1848) und über zwei Generationen hinweg waren Angehörige der aus dem niederen Reichsadel stammenden Sippe an fast allen bedeutenden Ereignissen und Weichenstellungen der deutschen Politik beteiligt – beginnend mit dem Ende des Alten Reiches über die „Befreiungskriege“ gegen Napoleon, den Wiener Kongress und die national-liberale Oppositionsbewegung des Vormärz bis hin zur Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. In dieses erste frei gewählte deutsche Parlament zogen mit Heinrich und Max von Gagern gleich zwei Mitglieder der Familie als Abgeordnete ein; Heinrich von Gagern gehörte als Präsident der Paulskirchenversammlung und Reichsministerpräsident zu den bekanntesten und einflussreichsten Persönlichkeiten des Revolutionsjahres 1848/49, dessen 175. Jubiläum 2023 begangen wird.

Das Scheitern der Nationalversammlung beim Versuch, einen einheitlichen deutschen Staat mit freiheitlich-demokratischer Verfassung zu schaffen, markierte nicht nur einen Wendepunkt in der deutschen Geschichte, sondern auch in der Gagernschen Familienhistorie. Danach gelang es keinem Angehörigen der Familie mehr, eine ähnlich herausragende öffentliche Rolle zu spielen wie zuvor Hans Christoph von Gagern und seinen drei „politischen Söhnen“ Friedrich, Heinrich und Max.

Auf diese vier Vertreter der Familie möchte ich mich denn auch in diesem Buch konzentrieren. Als ideale Lesende habe ich Menschen vor Augen, die sich für Politik und Geschichte interessieren, dazu aber nicht unbedingt eine akademische Abhandlung durcharbeiten möchten. Deshalb habe ich die Form der Familienerzählung gewählt, die nicht nur das politische Denken und Handeln der Protagonisten beleuchtet, sondern auch ihre wechselseitigen persönlichen Beziehungen. Ergänzt wird die Erzählung durch analytische Passagen, in denen einzelne Ereignisse oder Entwicklungen genauer erläutert werden, die zum Verständnis und zur Einordnung wichtig sind.

Die Bedeutung der Familie von Gagern insbesondere in den Jahren 1848/49 belegt Paul Bürdes Lithografie der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Darauf sind gleich drei Mitglieder der Familie zu identifizieren: Heinrich von Gagern als Parlamentspräsident in der Bildmitte, sein Bruder Max unter den Abgeordneten vor der Besuchergalerie und Hans Christoph von Gagern als Zuschauer auf dieser Galerie (beide im linken Bildbereich).

Quelle: bpk/Deutsches Historisches Museum/Sebastian Ahlers

Besonderes Augenmerk möchte ich auf zwei Fragenkomplexe legen: Der erste betrifft das politische Zusammenwirken der Familienmitglieder, Heinrich von Gagern nannte es die „Farbe der Familie“. In dem 1856 von ihm veröffentlichten Buch „Das Leben des Generals Friedrich von Gagern“ stellte er sich und seine Brüder in eine direkte Traditionslinie zum Vater, indem er erklärte, Hans Christoph von Gagern habe „an dem Lose des zerstörten Vaterlandes“ gearbeitet und diese Aufgabe an die Söhne übertragen; an anderer Stelle bezeichnete er die „parlamentarische Entwicklung“ als gemeinsames Ziel beider Gagern-Generationen. Diese Selbstbeschreibung möchte ich jedoch nicht einfach übernehmen, sondern einer kritischen Prüfung unterziehen. Gab es so etwas wie ein gemeinsames politisches Projekt der Brüder? Und wenn ja: Haben die Söhne versucht, das politische Werk ihres Vaters zu vollenden? Oder haben sie sich im Gegenteil von dessen Vorbild gelöst und sind eigene Wege gegangen?

Der zweite Fragenkomplex bezieht sich auf das Verhältnis der Familie von Gagern zur Demokratie und ihre Rolle in der deutschen Demokratiegeschichte. Wobei ich neben der nationalen auch die regionale und die europäische Ebene in den Blick nehmen möchte. Denn die Geschichte der Familie ist nicht nur eng verbunden mit dem Versuch, einen deutschen Nationalstaat zu schaffen, sondern auch mit der Entstehung des Herzogtums Nassau und der Entwicklung des Großherzogtums Hessen – beides staatliche Vorläufer des heutigen Bundeslandes Hessen. Hinzu kommt Hans Christoph von Gagerns Rolle in der internationalen Diplomatie sowie die Beteiligung von Vater und Söhnen an den Geschicken der Niederlande im frühen 19. Jahrhundert.

Mit meinem demokratiehistorischen Ansatz greife ich eine aktuelle Tendenz in Geschichts- und Politikwissenschaft auf, die Entwicklung der modernen Demokratie neu in den Blick zu nehmen und zu bewerten.2 Parallel dazu bemühen sich seit einigen Jahren Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und politischer Bildung um eine Neuausrichtung der deutschen Erinnerungskultur mit dem Ziel, die bislang dominierende Orientierung an der Diktaturgeschichte (NS-Zeit, DDR) durch die Vergegenwärtigung demokratischer Traditionen zu ergänzen. „In den Fokus rückt nunmehr auch das, was vorbildhaft ist – ohne dass dadurch vergessen wird, was sich nicht wiederholen darf.“3

2021 hat der Bundestag die Stiftung „Orte der deutschen Demokratiegeschichte“ ins Leben gerufen, verbunden mit dem Ziel, insbesondere die Paulskirche – und damit die Erinnerung an die Nationalversammlung von 1848/49 – stärker im kollektiven Gedächtnis zu verankern. Bereits zwei Jahre zuvor hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einem Gastbeitrag für die Wochenzeitung „Die Zeit“ die Frage aufgeworfen: „Gibt es nicht auch Ereignisse und Vorbilder in unserer Demokratiegeschichte, die uns inspirieren, die Ansporn geben und Mut machen können? […] Errungenschaften, die unsere Demokratie bis heute prägen und stark machen; Heldinnen und Helden, auf die wir stolz sein können?“4 War Heinrich von Gagern als Präsident der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche ein solches Vorbild? Welches Demokratieverständnis hatten er, sein Vater Hans Christoph und seine Brüder Max und Friedrich? Und welchen Beitrag haben sie in ihrer Zeit zur Demokratisierung der politischen Verhältnisse geleistet? Oder waren sie im Gegenteil „Verräter“ und „Totengräber der deutschen Revolution von 1848“, wie der taz-Journalist Klaus-Peter Klingelschmitt 1998 in seiner Streitschrift „Der Anti-Gagern“ behauptet hat?5 Diesen – keineswegs einfach zu beantwortenden Fragen – möchte ich im Verlauf dieses Buches nachgehen, um sie im Schlusskapitel noch einmal zusammenfassend zu diskutieren.

Stützen konnte ich mich bei meinen Recherchen auf die Vorarbeit einiger – weniger – Historiker, die sich bereits in verschiedener Weise mit den Biografien einzelner Mitglieder der Familie von Gagern befasst haben. Allerdings ist es frappierend, wie gering das Interesse der deutschen Geschichtswissenschaft an dieser Familie insgesamt war und ist. Den aktuellen Stand der Forschung markiert die Habilitationsschrift von Frank Möller „Heinrich von Gagern. Eine Biographie“ aus dem Jahr 2004. Davor gab es lediglich Mitte bis Ende der 1950er eine kurze Gagern-Konjunktur, verbunden mit dem Namen Paul Wentzcke: 1957 veröffentlichte Wentzcke den schmalen Band „Heinrich von Gagern. Vorkämpfer für deutsche Einheit und Volksvertretung“; zwei Jahre später brachte er gemeinsam mit Wolfgang Klötzer eine Quellenedition mit Briefen und Reden Heinrich von Gagerns heraus („Deutscher Liberalismus im Vormärz“).6 Unabhängig davon legte Hellmuth Rößler 1957 unter dem Titel „Zwischen Revolution und Reaktion“ eine umfangreiche Lebensbeschreibung Hans Christoph von Gagerns vor. Der persönlichen Bekanntschaft des „Geschichtsschreibers der Päpste“ Ludwig von Pastor mit Max von Gagern schließlich verdankt sich das „Leben des Freiherrn Max von Gagern“ aus dem Jahr 1912, eine Biografie, die trotz ihres Alters immer noch sehr wertvoll ist, vor allem wegen der zahlreichen Zitate, die Pastor dem „begnadeten Erzähler“ Max von Gagern in persönlichen Gesprächen abgelauscht hat, und die nirgendwo anders festgehalten sind.

Wobei an Originalquellen ansonsten kein Mangel herrscht. Vor allem Hans Christoph von Gagern war ein überaus fleißiger Schreiber, wie nicht zuletzt seine fünf Bände umfassenden Memoiren „Mein Anteil an der Politik“ oder seine in sieben Bänden veröffentlichten „Resultate der Sittengeschichte“ belegen. Um das Selbstverständnis seiner Söhne nachvollziehen zu können, ist das bereits erwähnte „Leben des Generals Friedrich von Gagern“ eine wichtige Quelle. Die Reden Heinrich von Gagerns in der Paulskirche (sowie die einzige seines Bruders Max) sind im „Stenographischen Bericht über die Verhandlungen der deutschen konstituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main“ dokumentiert. Bedeutendste Fundgrube für eine Analyse der Gagern-Geschichte ist zweifellos das Familienarchiv, das im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt verwahrt wird. Angesichts eines Bestands, der eine Regalfläche von 24 laufenden Metern umfasst (verpackt in 185 Kartons), war mir im Rahmen dieses Buchprojekts allerdings nur eine gezielte und stichprobenartige Sichtung möglich.

Das Verwenden von Originalquellen hat den Vorteil der Authentizität. Da es sich jedoch weitgehend um subjektive Aussagen und Selbstbeschreibungen handelt, besteht immer die Gefahr, dass Unangenehmes weggelassen oder schöngefärbt wurde oder Äußerungen interessengeleitet einen bestimmten Zweck verfolgten. Ganz davon abgesehen, dass sie die Perspektive einer bestimmten Gesellschaftsschicht in einer bestimmten Zeit widerspiegeln; im Falle der Familie von Gagern die des niederen Reichsadels, der im frühen 19. Jahrhundert in Staatsdienst und Politik eine Möglichkeit erkannte, seinen sozialen Status zu verbessern oder zumindest zu halten. Deshalb habe ich mich bemüht, die Geschichte der beiden Gagern-Generationen, von denen dieses Buch handelt, nicht nur in den Kontext der politischen, sondern auch der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung ihrer Zeit zu stellen. Der Historiker Reinhart Kosellek hat die Periode zwischen 1750 und 1850 als „Sattelzeit“ bezeichnet, um so ihren Übergangscharakter von der ständisch-feudalen zur bürgerlichkapitalistischen Gesellschaftsformation deutlich zu machen – ein Prozess, der sich in seinen Widersprüchen, aber auch Kontinuitäten am Beispiel der Familie von Gagern gut nachvollziehen lässt.

Meine Motivation dieses Buch zu schreiben, beruht neben einem allgemeinen Interesse an historischen und politischen Themen auch auf einem guten Schuss Lokalpatriotismus. Als gebürtigen Kelkheimer verbindet mich eine fast lebenslange Beziehung zur Familie von Gagern: Der Gagernring ist eine der meistbefahrenen Straßen der Stadt, es gibt eine Gagern-Anlage und einen Gagern-Rundweg. Grundschülerinnen und -schüler besuchen die Max-von-Gagern-Schule und verdiente Bürgerinnen und Bürger erhalten für ihr ehrenamtliches Engagement als höchste Auszeichnung die Heinrichvon-Gagern-Plakette in Gold und Silber. Damit erinnert die Stadt daran, dass die Familie für ein knappes halbes Jahrhundert – von 1818 bis 1866 – in Kelkheim gelebt hat; genauer: im Dorf Hornau, einem von heute sechs Kelkheimer Stadtteilen.

Dennoch hat es auch bei mir geraume Zeit gedauert, bis ich angefangen habe, mich eingehender mit den „Freiherren von Gagern“ zu beschäftigen, wie sie hier noch vielfach genannt werden. Erst nachdem ich als Journalist mehrfach über die Aktivitäten der Stadt und des lokalen Museumsvereins in Sachen Gagern berichtet hatte, wurde meine Neugier geweckt, mehr über die Familie zu erfahren, als die offiziellen Verlautbarungen hergaben. Bei den Recherchen stellte ich dann zu meiner großen Überraschung fest, dass es so gut wie keine neuere Literatur über sie gibt (die Arbeit von Frank Möller ist bislang nicht als Buch erschienen). Das hat in mir nach und nach die Idee reifen lassen, diese Lücke selbst zu füllen. Das Ergebnis halten Sie nun in Ihren Händen.

Angaben zu Zitaten aus den Originalquellen erfolgen im Text nach dem Schema (Leben: XY). Verweise auf Zitate aus anderen Quellen sowie auf die Sekundärliteratur werden als Endnoten durch hochgestellte Ziffern markiert und im Anmerkungsapparat im Anhang dokumentiert. Der besseren Lesbarkeit wegen habe ich Rechtschreibung und Zeichensetzung der Originalzitate an die heutige Schreibweise angepasst.

Mein besonderer Dank gilt Professor Friedrich Battenberg, Gregor Maier, Dr. Beate Matuschek, Andrea Rost und Julian Wirth für ihre konstruktive Kritik und hilfreichen Hinweise; Hans Grimm, Dietrich Kleipa, Christa Wittekind und Astrid Zura für ihre Unterstützung bei Recherche und Übersetzung; Andreas Scholz vom Staatsarchiv in Darmstadt für die freundliche und kundige Betreuung im Lesesaal; Anne Fuß für die gute Zusammenarbeit bei der Gestaltung des Buches und nicht zuletzt meinem Verleger und Freund Gerd Fischer.

Prolog: Schwur auf dem Staufen

An einem Oktobertag des Jahres 1838 brechen die Brüder Friedrich, Heinrich und Max von Gagern zu einer gemeinsamen Wanderung auf. Ihr Ziel ist der Staufen, eine Anhöhe im vorderen Taunus, nicht weit vom Hofgut der Familie in Hornau entfernt. Den Weg kennen sie gut, besonders Max. Fünf Jahre zuvor hatte er sich immer wieder auf den Staufengipfel zuückgezogen, während er – romantisch schwankend zwischen Liebesglück und Todesgedanken – auf die Entscheidung der Eltern zur Heirat mit seiner Verlobten Franzina wartete.

Dass die Brüder zu dritt an einem Ort zusammentreffen, ist keine Selbstverständlichkeit. Friedrich hat es in der niederländischen Armee zum General gebracht, Heinrich bewirtschaftet das zweite Familiengut in Monsheim bei Worms, und Max lehrt seit Kurzem als Dozent an der Bonner Universität. Doch was sie über alle räumliche Entfernung hinweg verbindet, ist ihr Frust über die politischen Verhältnisse in Deutschland und der Wille, diese zu verändern. Zuwider ist ihnen die Kleinstaaterei in dem aus 40 souveränen Territorien bestehenden Deutschen Bund und dessen repressive Politik unter der Regie des österreichischen Staatskanzlers Metternich. Und so erfreuen sie sich auf ihrem Weg zum Staufengipfel nicht nur an der herbstlichen Natur, sondern besprechen „lebhaft die Lage Deutschlands und unser aller Zukunft“. (Jugenderinnerungen: 23)

Darum dürften sich in den Tagen zuvor auch viele Gespräche der Brüder mit ihrem Vater Hans Christoph gedreht haben, der als Teilnehmer am Wiener Kongress einer der Architekten des von seinen Söhnen verachteten Deutschen Bundes war. Für den Vater spricht jedoch in ihren Augen, dass er sich bereits in Wien intensiv darum bemüht hatte, alle deutschen Einzelstaaten auf Verfassungen mit Volksvertretung zu verpflichten, wenn auch mit begrenztem Erfolg. Während Hans Christoph von Gagern die Hoffnung auf eine Reform des Deutschen Bundes noch nicht aufgegeben hat und seine „politischen Söhne“, wie er sie nicht ohne Stolz nennt, immer wieder zur Mäßigung mahnt, sind diese weit weniger optimistisch. Besonders Heinrich, der als liberaler Oppositionsführer im Landtag des Großherzogtums Hessen selbst erlebt hat, wie eng die Grenzen für die Meinungsfreiheit in den deutschen Staaten gezogen sind, verstrickt sich immer wieder in hitzige Auseinandersetzungen mit dem Vater. Zentrales Ziel des späteren Präsidenten des Paulskirchen-Parlaments und seiner Brüder ist der Nationalstaat. Dieser soll den Deutschen nicht nur Einheit, sondern auch Freiheit bringen – durch eine Verfassung, bürgerliche Rechte und eine gewählte Volksversammlung.

So stehen den drei Brüdern bei einer Rast auf einem Felsvorsprung, dem Großen Mannstein, nicht nur der Taunuskamm und die elterlichen Ländereien, sondern auch diese politischen Perspektiven vor Augen. Um ihren gemeinsamen Willen zu bekräftigen, dafür einzutreten, geben sie sich das Wort, „dass was auch kommen möge, wir brüderlich einig bleiben wollen und wenn es nottäte, unser Ältester aus Holland zu uns kommen müsse“. (Jugenderinnerungen: 23)

Die Gefühle, die bei diesem Staufenschwur mitschwingen, hält Friedrich von Gagern nach seiner Rückkehr in die Niederlande in dem Gedicht „Dem Bruder“ fest:

„Doch was der Brüder Eintracht sich versprach, –

Das klingt noch immer in der Seele nach,

Und wie die Inschrift, in den Stein gegraben,

Besteht das Wort, das wir zum Bund uns gaben […]

Wo ist die Zeit, da wir mit jungem Mute,

Des Kampfes für Vaterland und Freiheit froh,

Das Schwert umgürtet, und mit unserm Blute

Getränkt das durst’ge Feld von Waterloo! […]

Nur eine deutsche Fahne sollte wehen

Vom Ostseestrand bis zu der Alpen Höhen;

Und unsre Losung war: Ein Deutschland sei,

Ein Vaterland, – groß, mächtig, einig, frei!“

(zit. n. Leben Bd. 2: 306ff.)

Zehn Jahre später, 1848, scheint sich mit der Märzrevolution die Hoffnung der Brüder Gagern zu erfüllen. In den Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes werden rasch freiheitliche Reformen umgesetzt. Und die Wahl zur deutschen Nationalversammlung scheint den Traum vom einigen Vaterland Wirklichkeit werden zu lassen. Doch schon bald ziehen dunkle Wolken auf: Friedrich von Gagern erlebt die Konstituierung des ersten nationalen Parlaments in der Frankfurter Paulskirche nicht mehr mit. Dass er beim Einsatz gegen bewaffnete Republikaner im badischen Kandern den Tod findet, ist nicht nur eine Familientragödie, sondern markiert auch die Spaltung der national-liberalen Bewegung, die in der Opposition gegen den Deutschen Bund noch gemeinsame Sache gemacht hat.7

I. Aufstieg (1780 – 1819)

Es war eine unsichere und verwirrende Zeit, in die Friedrich (*1794), Heinrich (*1799) und Max von Gagern (*1810) hineingeboren wurden. Eine Zeit, die überschattet war von der Französischen Revolution und ihren Folgen. Eine Zeit, in der die auf Ungleichheit basierende feudal-ständische Gesellschaftsordnung durch innovative Ideen erschüttert wurde (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit). Aber auch eine Zeit, die neue Formen von Unterdrückung hervorbrachte, mit der Guillotine als blutigem Symbol. Als Personifizierung dieser Periode galt vielen Zeitgenossen Napoleon, der als Kaiser der Franzosen ganz Europa unter seine Herrschaft zwingen wollte, ihm mit dem „Code civil“ aber auch ein freiheitliches Rechtssystem bescherte. Im Zuge seines scheinbar unaufhaltsamen Aufstiegs brach im Zentrum des Kontinents das fast 1000 Jahre alte Heilige Römische Reich Deutscher Nation endgültig zusammen und machte Platz für den modernen Staat.

Auch die Familie von Gagern blieb von den Unruhen nicht verschont, die seit dem Ausbruch der Revolution im Nachbarland die Grenzregion links und rechts des Rheins aufwühlten. „Von 1795 bis 1800 habe ich die Kinderjahre in der Emigration zugebracht“, notierte Friedrich von Gagern in seinem Gedenkbuch. (zit. n. Leben Bd.1: 1) Gerade einmal ein Jahr alt war er, als französische Truppen in seine Geburtsstadt Weilburg einrückten und Hans Christoph und Charlotte von Gagern ihre damals noch kleine Familie nach Bayreuth in Sicherheit bringen mussten. Dort hatte der König von Preußen dem nassauweilburgischen Hof eine – allerdings äußerst komfortable – Asylunterkunft zur Verfügung gestellt, das Lustschloss Neue Eremitage.

Eine Armee, die den französischen Revolutionstruppen ernsthaft etwas hätte entgegensetzen können, gab es in dem geographisch zerrissenen und gerade einmal 35.000 Einwohner zählenden Mini-Fürstentum Nassau-Weilburg nicht, in dem Hans Christoph von Gagern damals die Regierungsgeschäfte führte. Im März 1787 als einfacher Regierungsrat in den nassauischen Staatsdienst eingetreten, hatte ihn der junge Fürst Friedrich Wilhelm nur zwei Jahre später zum Leiter seines Kabinetts gemacht. Nach einem weiteren Jahr war Gagern zusätzlich Präsident sämtlicher Regierungskollegien und Geheimer Rat geworden. Damit hielt er mit gerade einmal 23 Jahren alle Fäden von Politik und Verwaltung des Fürstentums in seinen Händen.

1.Reichsritter, Reformminister, Diplomat: Hans Christoph von Gagern

Hans Christoph von Gagern entstammte einem Geschlecht, das zum alten, aber nicht zum hohen Adel gehörte. Die nachweisbaren Wurzeln der Familie reichen zurück in die Zeit um 1400 und räumlich bis nach Rügen, wo noch heute ein Ort nach ihr benannt ist.8 Im 18. Jahrhundert war die sogenannte Moyßelbritzer Linie, der Hans Christoph von Gagern und seine Söhne angehörten, im deutschen Südwesten sesshaft geworden. „Meine Vorfahren waren schwedischpommersche Edelleute aus Rügen, die, als Berufssoldaten, außer den Schweden auch Holland, der Republik Venedig und dann Frankreich dienten, bis sie im Anfange des vorigen Jahrhunderts zur Aufnahme in die rheinische Reichsritterschaft durch Heirat mit einer Erbtochter gelangten“, berichtete Max von Gagern in seinen „Jugenderinnerungen“. (Jugenderinnerungen: 5) Verantwortlich dafür war sein Ururgroßvater Claudius Mauritius, der 1731 durch die Ehe mit Maria Jakobäa von Steinkallenfels – der von Max angesprochenen Erbtochter – in den Besitz des freiadligen Gutes und Schlosses Morschheim in der Rheinpfalz gekommen und in die oberrheinische Ritterschaft aufgenommen worden war.

Das Familienwappen der Freiherren von Gagern.

Quelle: Privat

Das hatte der Familie einen erheblichen Statusgewinn beschert. Zwar gehörte sie weiterhin nicht zum Hochadel, doch ihre „Reichsunmittelbarkeit“ hob sie nun vom einfachen landsässigen Adel ab. In der politischen Hierarchie des Reiches waren ihre Angehörigen allein dem Kaiser Gehorsam schuldig, aber keinem Landesherrn. Das bestimmte auch das Selbstverständnis Hans Christoph von Gagerns. So verlangte er vom Nassau-Weilburger Fürsten Friedrich Wilhelm ausdrücklich die Feststellung, „er sei, obgleich sein Minister, doch nicht sein Untertan“. (Leben Bd.1: 40)

Eine reale Basis hatte dieses reichsadlige Standesbewusstsein Ende des 18. Jahrhunderts jedoch kaum mehr. Im Kampf um die Wahrung ihrer traditionellen politischen Rechte standen die Reichsritter gegen aufstrebende Territorialstaaten wie Preußen, Bayern und Baden auf verlorenem Posten. Auch wirtschaftlich gaben sie ein trauriges Bild ab: Um 1800 gehörten der Reichsritterschaft noch etwa 350 Familien an, die jedoch vielfach verarmt und verschuldet waren.9 Die Familie von Gagern hatte von den Einnahmen aus ihrem Landbesitz ohnehin nie leben können. So waren die Männer seit jeher gezwungen, sich als Offiziere oder Beamte in den Dienst höher gestellter und reicherer Adliger zu begeben, und die Frauen mussten sich einen Ehemann suchen, der sie standesgemäß versorgen konnte.10

Nichtsdestotrotz blieb Hans Christoph von Gagern zeitlebens emotional eng mit seinem Herkunftsstand und dem Alten Reich verbunden. Noch 1813, sieben Jahre nach dessen Untergang, betonte er in der Einleitung zum ersten Band seiner „Nationalgeschichte der Deutschen“, seine Vorfahren und er selbst seien „Glieder und Vorsteher jenes unmittelbaren Adels, der keinem Land angehörte, aber allen“. (Nationalgeschichte: VIII) Ein wenig spöttisch kommentierte Heinrich von Gagern diese Anhänglichkeit des Vaters: „Im Leben rief er bei himmelschreienden Vorfällen unwillkürlich nach dem Reich.“ Allerdings konzedierte Heinrich, dies seien nur „vorübergehende Launen“ gewesen: „In der Regel stand er mit beiden Füßen in der Gegenwart.“ (Leben Bd.1: 39f.)

Die Ideen der Aufklärung

Dafür sorgte eine andere wichtige Prägung Hans Christoph von Gagerns: die Ideen der Aufklärung. In ihrer freigeistigen Form hatte er sie schon am Hof von Pfalz-Zweibrücken kennengelernt, wo sein eigener Vater Karl Christoph Gottlieb Oberhofmeister war. Entscheidend war dann Hans Christophs Studienzeit: Drei Jahre verbrachte der junge Reichsritter in Leipzig und weitere drei Semester in Göttingen, dessen Reformuniversität als fortschrittlichste im ganzen Reich galt. Dort lernte er eine Form des aufgeklärten Denkens kennen, das die Orientierung an der Vernunft mit einer historischen Perspektive verknüpfte. „Die Geschichte überhaupt, das Staatsrecht meines Landes lernte ich gründlich kennen. Weltweisheit, die populäre vorzüglich, zog mich immerdar an; die alten Klassiker wurden fortan die Unterhaltung, der Trost, der Schmuck meines Lebens und meine bessern Lehrmeister“, beschrieb Hans Christoph von Gagern selbst die Früchte seines Studiums. (Anteil Bd.1: 14)

Hinzu kamen die Praxis religiöser Toleranz – in Göttingen studierten protestantische und katholische Studenten gemeinsam – und ein Reichspatriotismus, der sein weiteres Denken und Handeln prägen sollte. Besonders habe ihn „Das Leben des Cicero“ des britischen Autors Conyers Middleton beeindruckt, betonte Gagern in seinen Memoiren. „Der Sensus recti, der von Natur in mir war, befestigte sich. Das Gefühl wurzelte, dass man sich der menschlichen Gesellschaft und besonders seinem Lande schuldig sei. Freiheitsliebe, und ich glaube wohl die echte und edelste, exaltierte meine Seele; die Idee des Vaterlandes wurde mein Idol.“ (Ebda.) Kosmopolitismus und Nationalgefühl waren für Hans Christoph von Gagern keine Gegensätze, sondern ergänzten sich. Dazu dürfte auch die Lektüre der „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ von Johann Gottfried Herder beigetragen haben. Darin weist Herder jedem Volk einen spezifischen Beitrag zur Entfaltung der gesamten Menschheit zu, gerade indem es auf der Basis seines je eigenen „Volksgeistes“ seine Individualität, seinen „Nationalcharakter“, entfaltet; ein Gedanke, an den Hans Christoph von Gagern mit seiner „Nationalgeschichte“ unmittelbar anknüpfte.

Entgegen kam dem jungen Reichsritter zudem die Ausrichtung der Göttinger Staatsrechtslehre auf das ständefreundliche, partikularistische Reichsrecht im Gegensatz zum territorialen Staatsrecht. Auch dies ergänzte Gagern durch die Lektüre eines „modernen“ Autoren, des französischen Philosophen Charles de Montesquieu, einem Kritiker des Absolutismus, von dem er die Ideen der Gewaltenteilung und der Mischverfassung aus Monarchie, Aristokratie und Demokratie übernahm.

Reformer im Kleinstaat

Mit der zeitgenössischen Praxis des Absolutismus kam Hans Christoph von Gagern am Hof von Pfalz-Zweibrücken in Berührung, wohin ihn sein Weg nach dem Studium kurzzeitig zurückführte. Auf Vermittlung seines Vaters fing er dort als Assessor an. Doch das Gebaren Herzog Karls II. widersprach eklatant den Vorstellungen des jungen Universitätsabsolventen über aufgeklärtes Fürstentum. „Unverständige Bauten, kostbare Möblierung, zahllose Liebhabereien, alles was nur dem Gelde weh tat, tausend Pferde im Marstall, noch mehr Hunde in den Zwingern, das ganze Land ein Tiergarten zum Verderben der Untertanen!“, zürnte Hans Christoph von Gagern noch Jahrzehnte später. (Anteil Bd.1: 16)

Und so wechselte er – erneut mit Hilfe des Vaters – in die Verwaltung von Nassau-Weilburg, wo er Verhältnisse vorfand, in denen er sich weitaus wohler fühlte. Das lag auch an der freundschaftlichen Beziehung zu Fürst Friedrich Wilhelm, den er beim gemeinsamen Studium in Leipzig kennengelernt hatte, und mit dem ihn nicht nur das Alter – Friedrich Wilhelm war noch zwei Jahre jünger als Gagern – sondern auch ähnliche Vorstellungen von der Modernisierung von Politik und Verwaltung verbanden.

Bildung und persönliche Beziehungen – dieses Karrieremuster versuchte Hans Christoph von Gagern später auch auf seine Kinder zu übertragen. Um ihnen einen Startvorteil gegenüber der adligen und zunehmend auch bürgerlichen Konkurrenz zu verschaffen, schickte er sie nicht nur auf die bestmöglichen Bildungseinrichtungen, sondern bemühte sich auch, ihnen frühzeitig auf dem politischen und gesellschaftlichen Parkett die nötigen Kontakte zu verschaffen. „Es war System des Vaters, die Söhne überall in den diplomatischen Zirkeln einzuführen“, so sein Sohn Heinrich. (Leben Bd.1: 222)

Doch zunächst einmal musste Hans Christoph von Gagern sich selbst bewähren. Was nach seiner eigenen Aussage nicht schwierig war: „Als ich diese Stelle antrat, herrschte in der Landes-Administration bereits vortreffliche und musterhafte Ordnung […] Es war also keine große Kunst diesen kleinen Staat so fortzuführen.“ (Anteil Bd.1:31) Eine Einschätzung, mit der er die tatsächlichen Verhältnisse jedoch ein wenig geschönt hat. Laut der neueren Forschung fand Gagern bei seinem Amtsantritt im Nassau-Weilburger Regierungskollegium keineswegs eine mustergültige Ordnung vor, sondern ein „Kompetenzwirrwarr“, das er durch Dezentralisierung zu entflechten versuchte.11 Darüber hinaus verfolgte er das Ziel, durch eine Modernisierung der Landwirtschaft die Finanzkraft des Fürstentums zu steigern.

Hans Christoph von Gagern.

Quelle: Stadtarchiv Kelkheim

Als aufgeklärter Reformbeamter war Hans Christoph von Gagern Teil einer bürokratischen Verwaltungselite, die sich schon vor der großen Revolution in Frankreich daran gemacht hatte, die deutschen Staaten und Territorien politisch und sozial zu erneuern. Ihr ging es unter anderem darum, komplizierte Entscheidungswege und undurchsichtige Verwaltungsstrukturen zu vereinfachen und die Wirtschaft durch fortschrittliche Methoden anzukurbeln. Dafür waren die Reformer bereit, alte Zöpfe abzuschneiden und überkommene Privilegien zu begrenzen. Im Unterschied zu Frankreich geschahen die Veränderungen in den deutschen Ländern jedoch durch eine „Revolution von oben“ – nicht zuletzt, um eine Revolution von unten zu verhindern. Dennoch schufen auch die deutschen Reformer so Grundlagen für den modernen Staat, der nicht mehr auf persönlicher Herrschaft, sondern auf dem (geschriebenen) Recht beruhte und in dem die Beherrschten zu Staatsbürgern mit gleichen Rechten und Pflichten wurden. In diesem Prozess waren laut der Historikerin Hedwig Richter bereits „wesentliche Wurzeln der Demokratie“ angelegt.12

Im Vergleich zu radikalen Erneuerern wie Maximilian von Montgelas in Bayern oder Sigismund von Reitzenstein in Baden war Hans Christoph von Gagern jedoch ein „Verwaltungstraditionalist“, der versuchte, seine aufgeklärten Ideen in traditionellen Strukturen zu verwirklichen.13 So kam es in Nassau-Weilburg zunächst nicht zu einer Trennung der Justiz- und Kirchenverwaltung von der allgemeinen Verwaltung. Auch den neumodischen Ideen von Gleichheit und Volkssouveränität, wie sie seit dem 14. Juli 1789 in Frankreich propagiert wurden, stand der junge Reichsfreiherr skeptisch bis verständnislos gegenüber. Wenn es um Partizipation und Mitbestimmung ging, dachte er nicht an allgemeine, gleiche Wahlen oder an ein Parlament als Vertretung des gesamten Volkes, sondern an die traditionelle Ständevertretung, in der Adel und Klerus das Sagen hatten. „Wo besaß der Westerwälder Bauer, wo der Weilburger Ackerbürger die Erfahrung für politisches Handeln? Waren nicht Einsicht der Fürsten und Treue der Bürger und Bauern die beste Garantie für das Glück eines Landes? Wurde diese Garantie nicht immer wieder von der Aristokratie der adligen und bürgerlichen Ratgeber verwirklicht, angeregt von den Bedürfnissen des Volkes, angeführt durch die im Fürsten repräsentierte politische Freiheit der Entschließung? Vertraten nicht in anderen Ländern die Landstände die Interessen des Volkes?“, lässt ihn sein Biograf Hellmuth Rößler sinnieren.14

Während der Zeit der Revolutionskriege dürfte der nassau-weilburgische Minister für solche theoretischen Überlegungen jedoch nur wenig Muße gefunden haben. Zunächst musste er sich als Krisenmanager um Einquartierungen und Proviant für die preußischen und österreichischen Truppen kümmern. Nach deren Niederlage gegen die französische Revolutionsarmee in der Schlacht von Valmy im September 1792 hatte er wiederum alle Hände voll zu tun, die Not der Flüchtlinge zu lindern, die aus den französisch besetzten Gebieten über den Rhein strömten.

Immerhin fand er 1794 Zeit, in einer Flugschrift („Ein deutscher Edelmann an seine Landsleute“) für einen Bund der deutschen Fürsten mit den „klügsten Männer(n) der Nation“ zu werben. Dazu zählte er unter anderen Goethe, Wieland – und sich selbst. Kurz zuvor hatte er in einer der skurrilsten Episoden seines Lebens versucht, die gefangengesetzte französische Königin Marie Antoinette zu „retten“. In einem Brief vom 4. Januar 1793 bot er sich als ihr Verteidiger an. „Sie war Deutsche, da hielt ich es der Ehre meiner Nation angemessen, mich anzutragen, die Gefahren überschauend; und schrieb nicht nur an sie, sondern zugleich an die Convention nationale.“ (Anteil: 52) Als Überbringer des Briefes hatte er sich jedoch ausgerechnet einen der radikalsten Mainzer Jakobiner, Merlin de Thionville, ausgesucht. Bevor er von diesem festgenommen und nach Paris verschleppt werden konnte, schwang sich Hans Christoph gerade noch rechtzeitig auf sein Pferd und floh über den zugefrorenen Rhein ans rettende Ufer.15

Kurzes Familienglück

Etwa zur gleichen Zeit knüpfte der draufgängerische Minister eine amouröse Beziehung an, die große Bedeutung für sein weiteres Leben haben sollte. Am Hof zu Mannheim hatte er die 16 Jahre alte Karoline von Gaugreben kennengelernt; Karoline, genannt Charlotte, fungierte dort als Hoffräulein der aus Zweibrücken geflohenen Herzogin Marie Amalie. Die beiden jungen Adligen blieben per Brief in Kontakt; in einem der Schreiben gestand Charlotte Hans Christoph freudig: „In allen meinen Geschäften habe ich Dich vor Augen und alles gelingt mir besser.“16

Karoline von Gagern, als Freiin von Gaugreben ihrem künftigen Ehemann vom Stand her ebenbürtig, wurde bereits als junges Mädchen im Kloster der englischen Damen zu Lüttich auf die Aufgaben einer Hofdame vorbereitet. So war für sie „eine vollkommene Übung in der englischen und französischen Unterhaltung“ selbstverständlich.17 Nicht ganz so wichtig war „eine schöne und richtige deutsche Sprache und Schrift“, die sie aber nach Angabe ihres Sohnes Heinrich ebenfalls beherrschte. Hinzu kam „eine fast vollendete musikalische Durchbildung, ein ungewöhnlicher Wohllaut der Stimme, der auch den wohlgeschulten und höchst lieblichen Vortrag im Gesange vermittelte“. (Leben Bd.1:6)

Ein Jahr nach ihrem Kennenlernen feierten Hans Christoph und Charlotte von Gagern Hochzeit, auf eigenen Wunsch. Allerdings genügte ihre Verbindung auch den Kriterien traditioneller adliger Familienpolitik: Charlottes Familie war zwar nicht vermögend, hatte aber politischen Einfluss. So gehörte ihr Graf Franz Albert Leopold von Oberndorff, regierender Minister des pfalzbayerischen Kurfürsten Karl Theodor, an. Einziger Schönheitsfehler war Charlottes katholischer Glaube. Doch dabei half die religiös tolerante Gesinnung des Hauses Gagern. Im Ehevertrag wurde geregelt, dass die Söhne nach dem Glauben des Vaters protestantisch und die Töchter katholisch erzogen werden sollten. Anfang Dezember 1793 heirateten Charlotte von Gaugreben und Hans Christoph von Gagern in Mannheim. Die Trauung nahm ein katholischer Priester vor.

Obwohl Charlotte schon bald das erste Kind – den kleinen Friedrich – erwartete, konnte das junge Paar sein Familienglück nur kurz genießen. Nachdem die französische Revolutionsarmee die Gebiete links des Rheins okkupiert hatte, rückte sie weiter vor und nahm auch Weilburg ein. Folge war die bereits geschilderte Flucht nach Bayreuth. Erst im Jahr 1800 kehrte die inzwischen sechsköpfige Familie wieder in die Residenzstadt an der Lahn zurück. Zunächst wohnten der leitende Minister und die Seinen dort in unmittelbarer Nähe zur Fürstenfamilie auf dem Prinzessinnengang im Schloss; 1803 zogen sie in ein repräsentatives Haus in der Stadt. Das Gebäude dient heute als Amtsgericht.

Das heutige Amtsgericht in Weilburg. In diesem Gebäude lebte die Familie von Gagern von 1803 bis 1816.

Quelle: Torsten Weigelt

Sprung auf die europäische Bühne

In Weilburg mussten die Kinder nun häufig auf ihren Vater verzichten. Denn auf einer Konferenz des Hauses Nassau – zu dem neben den „walramischen“ Linien Nassau-Weilburg und Nassau-Usingen auch der Zweig Nassau-Oranien gehörte – wurde beschlossen, einen der Minister in diplomatischer Mission nach Paris zu schicken, wo er den Kontakt mit dem neuen starken Mann in Europa, Napoleon, und seinem Außenminister Talleyrand suchen sollte. Die Wahl fiel auf Hans Christoph von Gagern. Für ihn habe gesprochen, „dass ich der französischen Sprache wohl kundig und Weltmann war“, begründete er das später selbst. (Anteil Bd.1: 97)

Auslöser für die diplomatische Offensive der Nassauer Fürsten war der Friedensvertrag von Lunéville, den der deutsche Kaiser Franz II. im Jahr 1801 mit Frankreich geschlossen hatte. Darin wurde das gesamte linksrheinische Gebiet dem französischen Staat zugeschlagen. Für das Weilburger Fürstentum bedeutete das den Verlust seiner pfälzischen Ämter Kirchheimbolanden, Alsenz und Stauf; die Usinger Linie musste das Saargebiet, das ihm erst 1797 zugefallen war, schon wieder aufgeben. Noch ärger hatte es zuvor bereits den oranischen Vetter getroffen: Die nördlichen Niederlande, denen er als Erbstatthalter vorstand, waren 1795 von Frankreich besetzt und annektiert worden.

Die Nassauer Fürsten und ihre leitenden Minister waren hin und her gerissen. Auf der einen Seite befürchteten sie, bei einem erneuten französischen Vorstoß auch ihre rechtsrheinischen Territorien einzubüßen. Andererseits konnten sie sich sogar Hoffnung auf Zugewinn machen. Denn der Vertrag von Lunéville enthielt neben der Preisgabe der linksrheinischen Gebiete auch eine Entschädigungspflicht des Reiches für die betroffenen Fürsten. Dazu sollten die geistlichen Fürstentümer aufgelöst und unter ihnen verteilt werden. Die Begehrlichkeit der Nassauer richtete sich vor allem auf Teile von Kurtrier, Kurköln und Kurmainz – verbunden mit dem Ziel, ihre bislang verstreut liegenden Gebiete in ein geschlossenes Staatsgebiet, ein „Territorium clausum“, zu verwandeln. Dazu sollte auch die bereits angebahnte Fusion von Nassau-Weilburg und Nassau-Usingen beitragen: Karl Wilhelm von Nassau-Usingen war ebenso wie sein Bruder Friedrich August, der ihm 1803 auf den Thron folgte, ohne männlichen Nachfolger. Nach Friedrich Augusts Ableben sollte die Herrschaft an die Weilburger Verwandten übergehen.18

Für den zum nassauischen Chefdiplomaten ernannten Hans Christoph von Gagern war die Reise aus dem beschaulichen Weilburg in die französische Metropole, die er im August 1801 antrat, mehr als nur ein Ortswechsel. Von einem Tag auf den anderen wurde der junge Reichsfreiherr aus der Amtsstube eines deutschen Provinzfürstentums auf die große europäische Bühne katapultiert. Als sehr hilfreich erwies sich dabei sein familiäres Netzwerk. Hans Christophs Vater Karl Christoph Gottlieb hatte einst als Offizier im Regiment Royal Suède für Frankreich gekämpft und die Kontakte, die er damals geknüpft hatte, weiter gepflegt. Seinem Sohn öffnete sich dadurch in Paris manche Tür, die Gesandten aus bedeutenderen Staaten verschlossen blieb.

Gagern rannte diese Türen jedoch nicht ein, sondern ließ sich Zeit. Mit dem Anmieten einer zentral gelegenen, großzügigen Wohnung, einem guten Koch und edlen Pferden wollte er zunächst die gesellschaftliche Elite von Paris auf sich aufmerksam machen. Das gelang. Monsieur de Sainte Foy, einer der Bekannten seines Vaters, führte Gagern schließlich an den Whisttisch Talleyrands, dessen Wohlwollen und Respekt der nassauische Gesandte sich während gemeinsamer Spielabende erwerben konnte. „Den Glauben habe ich ihm wohl nach und nach beigebracht, dass ich meinen Handel oder Handwerk verstehe (que je sçais mon auffaire)“, beschrieb Gagern die Kontaktaufnahme mit dem berühmt-berüchtigten Außenminister, „so wie ich in langem Umgang mich von den liberalen Absichten seiner völkerrechtlichen Verbindungen und seines Bestrebens überzeugt habe.“ (Anteil Bd.1: 106)

Parallel dazu stellte Gagerns Begleiter, der elsässische Oberst Pivollote, einen Kontakt zu dem in Napoleons Regierung mit den deutschen Fragen betrauten Unter-Staatssekretär Jakob Matthieu her. Dieser gewährte ihnen mehr als einmal Einblick in Napoleons Pläne, bevor andere Diplomaten davon erfuhren. Dabei half wohl auch die ein oder andere finanzielle Zuwendung, auch wenn Hans Christoph von Gagern später beteuerte: „Das Nassauische Haus hat nicht einen Kreuzer an Geschenken gegeben, als nach dem gänzlichen Abschluss zu Regensburg.“ (Anteil Bd. 1: 122) Was Talleyrand persönlich betrifft, versicherte er ebenfalls, „dass es zwischen mir und ihm, weder direkt noch indirekt, sowohl was die nassauischen als die zahlreichen anderen Fürsten betrifft, die ich in den Rheinbund aufnehmen ließ, zu irgend einem Handel, Bedingung oder Bieten gekommen sei“. (Anteil Bd.5-2: 204) Dabei verschwieg er jedoch elegant die 100.000 Livres, die der Naussauer Geschäftsträger in Paris, Karl Friedrich Heinrich von Fabricius, für „Geschenke“ anforderte; davon waren allein 70.000 für die mit Talleyrand liierte Madame Grant vorgesehen.19

Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord.

Quelle: Wikimedia

Was auch immer dazu beigetragen haben mag: Jedenfalls gehörten die Nassauer Fürsten zu den Gewinnern des großen Landschachers, der als „Reichsdeputationshauptschluss“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Ihr Herrschaftsbereich war nun sogar erheblich größer als vor dem Verlust der linksrheinischen Gebiete. Alles in allem konnten sie einen Zuwachs von 1400 Quadratkilometern an Land, 30.000 Untertanen und 275.000 Gulden an Einkünften verbuchen. Die Verwandten des Zweigs Nassau-Oranien, deren Interessen Gagern mitvertreten hatte, gingen ebenfalls nicht leer aus. Sie gewannen eine Fläche von 1800 Quadratkilometern, 86.000 Untertanen und Einnahmen in Höhe von 400.000 Gulden hinzu; ihre wichtigste „Beute“ war das Fürstentum Fulda.

Und auch die eigene Familie hatte Hans Christoph von Gagern nicht vergessen: Nachdem er seinen in der Emigration in Hanau lebenden Vater nach Paris geholt und Talleyrand vorgestellt hatte, konnte Karl Christoph Gottlieb nur wenig später auf sein linksrheinisches Landschlösschen Gauersheim zurückkehren, musste sich allerdings damit abfinden, französischer Staatsbürger zu werden. Sein Sohn wiederum erhielt die Verfügung über das Familiengut in Monsheim zurück. Das Hofgut war über Hans Christophs Mutter Susanne Esther in die Familie gekommen, Karl Christoph Gottlieb von Gagern hatte es schließlich seinem Schwiegervater Friedrich Freiherr von La Roche-Starkenfels abgekauft. Ohnehin hatte Karl Christoph Gottlieb einen schwunghaften Immobilienhandel betrieben, indem er „minder wertvollen Besitz gegen wertvolleren mehrmals vertauschte“ (Leben Bd.1: 12): Das Schloss zu Kleinniedesheim, in dem Hans Christoph geboren worden war, verkaufte sein Vater zu Gunsten des Gutes Waterloos zwischen Hanau und Aschaffenburg und dieses wiederum für die Mückenhäuser Höfe bei Worms, bis er schließlich 1780 das Gut in Monsheim erwarb.20

Gesellschaftlicher Höhepunkt während seiner Zeit als Diplomat in Paris war für Hans Christoph von Gagern die Teilnahme an der Selbstkrönung Napoleons zum Kaiser 1804 in der Kathedrale Notre-Dame, zu der er mit seiner Frau Charlotte und dem nassau-weilburgischen Fürstenpaar eingeladen war. Anders als zu Tallyerand fand der nassauische Gesandte trotz mehrfacher Begegnungen und Audienzen zu Napoleon keinen persönlichen Zugang. Dennoch war er dem frisch gekrönten Kaiser gegenüber zunächst voller Bewunderung. „Wohltaten, Wohlwollen, Achtung werden wir erkennen, sie preisen, und was noch mehr ist, sie in unsern Herzen bewahren. Der Größe des Mannes huldigen wir“, schrieb er 1808 im ersten Band seiner „Sittengeschichte“, den er Napoleon sogar ausdrücklich widmete – allerdings verbunden mit der Mahnung, dass Monarchen vor den von ihnen regierten Völkern Rechenschaft ablegen müssten. (Sittengeschichte Bd.1: 149)

Auch nachdem er sich von ihm abgewandt hatte, ja selbst nach Napoleons Niederlage und Verbannung, bemühte sich Gagern im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen noch um ein differenziertes Urteil: „In seiner Hand war es, der größte der Sterblichen zu sein […] Die Kunst, zu herrschen, war ihm gleichsam angeboren. Für alles Große war er empfänglich, die Fähigkeit der Menschen wusste er meisterhaft zu unterscheiden, zu finden, zu gebrauchen, zu belohnen. Aber vieles bewog ihn später zu dem Irrtum, sie zu verachten. Dieser Irrtum hat ihm die Grube gegraben. Freundlichkeit und angeborenes Wohlwollen fehlte ihm, jenes königliche Öl, womit der Himmel selbst die Bessern salbt, oder das er in ihre Züge und Handlungen gießt.“ (Anteil Bd.1: 103)

Todesstoß für das Alte Reich: der Rheinbund

Nachdem Hans Christoph von Gagern kurzzeitig nach Weilburg zurückgekehrt war, erreichte ihn Anfang 1806 die alarmierende Nachricht des in Paris verbliebenen Geschäftsträgers Fabricius von einer „drohenden Beschädigung des nassauischen Hauses“. (Anteil Bd.1: 140) Sofort eilte Gagern wieder in die französische Hauptstadt. Und erneut kamen ihm seine guten Kontakte in den Beamtenapparat zu Hilfe; diesmal zu Christian Friedrich Pfeffel, einem langjährigen Freund der Familie, der als enger Berater des französischen Außenministeriums an der Ausarbeitung der Rheinbundakte mitwirkte. Zwar blieb Gagern wie alle anderen Gesandten der deutschen Höfe lange im Unklaren über die Pläne, die im Kabinett des Kaisers hinter verschlossenen Türen ausgearbeitet wurden. Doch durch Pfeffels Informationen konnte der nassauische Chefdiplomat seinen Fürsten bereits wenige Tage nach Fertigstellung des noch geheimen Vertragsentwurfs ausführlich über dessen Inhalt berichten.21 Das änderte jedoch nichts daran, dass es sich dabei um ein Angebot handelte, das weder er noch die Nassauer Fürsten ablehnen konnten. Eine Weigerung hätte mit ziemlicher Sicherheit den Einmarsch französischer Truppen in ihre Territorien zur Folge gehabt – so wie es ihrem oranischen Vetter kurz zuvor mit seinen deutschen Gebieten ergangen war, nachdem er sich im dritten Koalitionskrieg mit Preußen gegen Frankreich verbündet hatte.

Der Rheinbund (Confédération du Rhin) war ein Zusammenschluss von zunächst 16 Fürsten und Städten unter dem Protektorat Napoleons, der ihnen staatliche Souveränität bescherte, jedenfalls formal, und den meisten der Herrscher eine Rangerhöhung. Dafür gerieten sie in ein militärisches Abhängigkeitsverhältnis zu Frankreich und verpflichteten sich, Napoleon im Kriegsfall Soldaten zur Verfügung zu stellen. Das Kalkül des französischen Kaisers war es, mit dem Rheinbund ein Gegengewicht zu Österreich und Preußen zu schaffen und einem weiteren Koalitionskrieg der deutschen Staaten gegen Frankreich vorzubeugen.

Als loyalem Staatsdiener blieb Hans Christoph von Gagern nichts anderes übrig, als den Rheinbundvertrag im Namen des Hauses Nassau zu unterzeichnen. Gleichzeitig versetzte er damit dem Alten Reich, mit dem er und seine Familie so eng verbunden waren, den Todesstoß. Denn parallel mit ihrem Beitritt zum Rheinbund traten dessen Mitglieder aus dem Reichsverband aus; kurz darauf legte Kaiser Franz II. am 6. August 1806 die deutsche Kaiserwürde nieder.

Sein Vater habe damals „nicht als Patriot, nach freier Wahl, sondern zunächst im Interesse eines der kleineren, wenn auch berühmtesten Fürstengeschlechter“ gehandelt, rechtfertigte Heinrich von Gagern das Verhalten seines Vaters. (Leben Bd.1: 44) Auch Friedrich fand entschuldigende Worte: „Der Diener und Ratgeber eines kleineren Fürsten konnte diesem das Opfer seiner Existenz nicht aufdringen, unter den gegebenen Verhältnissen nicht dazu raten. In seiner Stellung war es daher nicht auf Kosten des Ganzen, dass er dem Fürsten, dem er verpflichtet war, mit Einsicht und Erfolg diente, dessen Vergrößerung und Erhebung bewirkte.“ (zit. n. Leben Bd.1: 48) Da ging Hans Christoph von Gagern selbst sogar kritischer mit sich ins Gericht. „In der Reihe meiner Handlungen habe ich nichts zu rechtfertigen oder zu entschuldigen, als die Unterschrift der rheinischen Bundesakte“, notierte er in seinen Memoiren. (Anteil Bd.1: 3) Und noch in seinem Testament bezeichnete er seine Unterschrift als „tadelnswerte Handlung, die nur durch die Notwendigkeiten der Stellung konnte verteidigt werden“. (zit. n. Leben Bd.1: 49)

Allerdings verwies er darauf, dass er auf eine größere persönliche Belohnung durch die Nassauer Fürsten verzichtet habe. Was von dieser Aussage zu halten ist, hängt indes davon ab, was man unter „größer“ versteht: Immerhin überschrieben ihm seine Dienstherren als Belohnung für seine erfolgreiche Arbeit in Paris zwei Hofgüter im Rheingau, den Draiser und den Steinheimer Hof, die nach Hans Christoph von Gagerns eigenen Angaben 4000 Gulden Pachteinnahmen pro Jahr einbrachten.22

Geburtshelfer des Herzogtums Nassau

Für die walramischen Nassauer bedeutete ihr Beitritt zum Rheinbund einen weiteren territorialen Zugewinn, darunter die Grafschaft Wied-Neuwied und das Fürstentum Diez. Vor allem aber standen sie nun souveränen Staaten vor. Diese Gelegenheit nutzten sie, um ihre alten und neuen Gebiete zum Herzogtum Nassau zu vereinen. Der neue Staat umfasste eine Gesamtfläche von 5520 Quadratkilometern und hatte 270.000 Einwohner, womit er allerdings immer noch zu den kleineren der 16 Rheinbundstaaten zählte. Verbunden war das Ganze mit der Rangerhöhung Friedrich Augusts zum Herzog. Friedrich Wilhelm wurde sein Stellvertreter und blieb „Fürst“, sollte aber nach dem Tod seines Verwandten dessen Nachfolger werden.

Mit der Gründung des Herzogtums wurden auch die Regierungen der beiden Fürstentümer Nassau-Usingen und Nassau-Weilburg zusammengelegt. In der sogenannten Vorläufigen Punktation vom 5. September 1806 einigten sich die beiden Fürsten auf die Einrichtung eines gemeinschaftlichen Ministeriums mit zwei gleichberechtigten Ministern, was bedeutete, dass Hans Christoph von Gagern sich nun enger mit seinem Nassau-Usinger Pendant Ernst Marschall von Bieberstein abstimmen musste. Beide gerieten nun in ein direktes Konkurrenzverhältnis zueinander.

Zunächst fiel das noch nicht allzu sehr ins Gewicht. Denn kaum war die Tinte unter der Rheinbundakte getrocknet, forderte Napoleon bereits die von seinen Bündnispartnern zugesagten Soldaten an. Da der Herzog von Nassau das Präsidium der Fürstenbank des Rheinbundes übertragen bekommen hatte, war er auch für die Koordination der Truppen der kleinen Mitgliedstaaten zuständig. Für Hans Christoph von Gagern hieß das, erneut die Koffer zu packen. Wie zahlreiche andere Vertreter aus den Rheinbundstaaten reiste er nach Berlin in Napoleons Hauptquartier und folgte diesem im weiteren Verlauf der Kämpfe zunächst nach Posen, dann nach Warschau. In dieser Zeit kam er dem französischen Außenminister Talleyrand noch näher als bei ihren Begegnungen in Paris. Täglich speisten die beiden Männer miteinander, abends saßen sie zusammen am Spieltisch. Talleyrand „habe gern Fremde um sich [gesehen], an die er gewöhnt war, mit denen er sich unterhalten und die tägliche Lebensweise fortsetzen konnte“, so Gagern in seinen Memoiren. (Anteil Bd.1: 156)

Während dieser Zeit machte sich der Nassauer Minister nicht nur für sein Herzogtum nützlich, sondern fungierte auch als Fürsprecher anderer deutscher Fürstentümer, denen er dabei half, durch einen Eintritt in den Rheinbund der Annexion durch Napoleon zu entgehen, darunter die Häuser Coburg und Sachsen-Weimar. Ein Engagement, das sich später noch für seine Söhne auszahlen sollte. So revanchierte sich der aus dem Hause Coburg stammende belgische König Leopold in den 1850er Jahren, indem er Max von Gagern eine Anstellung im österreichischen Außenministerium verschaffte.

Entfremdung von Napoleon

Nach Napoleons Sieg bei Friedland im Juni 1807 reiste Hans Christoph von Gagern aus Warschau ab und kehrte nach Weilburg zurück. Dort fiel ihm die unangenehme Aufgabe zu, auf Anweisung Napoleons die nassauischen Güter des von diesem geächteten Freiherrn Karl vom und zum Stein zu beschlagnahmen. Gagern bemühte sich, dabei so zurückhaltend wie möglich vorzugehen und wies seine Beamten an, die Einkünfte aus Steins Gütern auf ein Konto in der Staatskasse einzuzahlen und allein die Verwaltungsausgaben abzuziehen.23

Auch ansonsten bereitete Gagern die Verwaltung des Herzogtums inzwischen mehr Verdruss als Vergnügen. Als er und Marschall von Bieberstein noch getrennt agierten, hatten sie ein vertrauensvolles Verhältnis zueinander entwickelt und sich sogar gegen Altvordere wie den ehemaligen Regierungspräsidenten von Nassau-Usingen, Karl Friedrich von Kruse, verbündet. Zwar verfolgten Marschall und Gagern auch jetzt ein gemeinsames Ziel: die heterogenen Gebiete des neuen Staates zusammenzuführen. Eine gewaltige Aufgabe, zumal ihnen dafür kein großer Beamtenapparat zur Verfügung stand. Doch es zeigte sich nun auch immer deutlicher, wie unterschiedlich die beiden Minister tickten: Während der geschickte Organisator und Planer Marschall im Stile des bürokratischen Absolutismus möglichst schnell einheitliche Strukturen schaffen und überkommene Privilegien beseitigen wollte, plädierte der stärker an der Tradition haftende Gagern für eine größere Rücksichtnahme auf historisch gewachsene Rechte und ständische Ansprüche.24

1809 rückte Marschall an die Spitze der nassauischen Regierung, Gagern musste sich mit der Rolle des zweiten Mannes begnügen. Aus Reibereien, die es auch zuvor schon gegeben hatte, wurden nun immer heftigere Auseinandersetzungen zwischen den beiden Rivalen. Diese bezogen sich auch auf die Rheinbundpolitik. Während Marschall Napoleon weiterhin bereitwillig Truppen zur Verfügung stellen wollte, versuchte Gagern dies hinauszuzögern. Auf den Streit in der Sache folgten persönliche Angriffe. Im August 1809 beklagte sich Hans Christoph von Gagern öffentlich, dass Marschall seine Vorschläge in Finanzfragen mehrfach übergangen habe – woraufhin dieser umgehend seine Demission anbot. Ob das ernst gemeint war, muss offen bleiben. Jedenfalls war es ein erfolgreicher Schachzug, denn der Herzog lehnte Marschalls Entlassungsgesuch ab, was wiederum Gagern nicht anders deuten konnte, als dass er den Machtkampf verloren hatte.

Bezeichnenderweise blendete Hans Christoph von Gagern dieses unerfreuliche Kapitel in seinen Memoiren komplett aus. Stattdessen begründete er darin seinen Abschied aus dem nassauischen Staatsdienst ausschließlich mit einem Dekret Napoleons, in dem dieser am 26. August 1811 alle im gegenwärtigen französischen Staatsgebiet Geborenen zu Franzosen erklärte und deren Beschäftigung außerhalb Frankreichs von einer Genehmigung abhängig machte. Ein Problem, das Gagern durch seine Ausbürgerung nach Nassau und die Übernahme einer ausländischen Beamtenstelle hätte lösen können. Doch er tat es nicht.

Und so endete seine „25-jährige Administration“ in nassauischen Diensten mit einem schalen Beigeschmack. Immerhin blieb die gute persönliche Beziehung zu „seinem“ Fürsten Friedrich Wilhelm bestehen. Dieser schrieb ihm: „Vergessen Sie nicht, dass ich Abschied nehme vom Minister, aber nicht vom Freunde Gagern.“25 Außerdem erlaubte Friedrich Wilhelm diesem und seiner Familie, das Haus in Weilburg zunächst weiter zu bewohnen.

2.Von der Hofdame zur Landadligen: Charlotte von Gagern

Dort hatte sich Charlotte von Gagern in der Rolle der Ministergattin und Mutter einer immer größer werdenden Kinderschar eingerichtet. Von ihr selbst ist leider keine Lebensbeschreibung vorhanden; auch eigene Aussagen über ihr Rollenverständnis gibt es kaum. Sich ihrer Persönlichkeit anzunähern, ist deshalb fast ausschließlich durch den Filter des – männlichen (und kindlichen) – Blicks ihrer Söhne möglich. 1829 schrieb Max von Gagern in den „Data aus meinem Leben“: „Der Mutter klarer und besonnener Verstand, ihre sanfte, ruhige Natur, ihr einfach würdevolles Wesen prägten sich jedem, der ihr näher trat, ein […] Solange ich lebe, wenigstens meines Gedenkens, habe ich von meiner Mutter niemals ein böses Wort bekommen, und solches ohne Schwäche; daher ist ihr Bild allezeit meiner Einbildungskraft gegenwärtig in unzertrennlicher Verbindung mit den Begriffen von Religion, Reinheit des Gewissens, Pflicht und Aufopferung […] Die Erinnerung an sie leitete von jeher meine Gedanken und Handlungen stärker als die mahnende Stimme eines Lehrers, und hätte er neben mir gestanden; die Übertretung seiner Verbote verantwortete ich mit Leichtigkeit und ohne Gewissenszwang; wenn ich aber dachte ‚wenn das die Mama wüsste‘, dann kam es auf meine Rechnung und Gewissen.“26

Im „Leben des Generals Friedrich von Gagern“ heißt es über sie: „Ihr Urteil, wo es sich berufen hielt, war treffend richtig, bei gewöhnlichen Vorkommenheiten zu großer Milde geneigt. Sobald aber die Pflicht ihr sagte, dass in den gegebenen Verhältnissen der Ihrigen ein Entschluss gefasst werden müsse, und dass dieser, wenn auch der härteste, durch ihr Zutun gefördert werden könne, so ruhte sie nicht, sondern fasste Mut, und ergriff dann zu gelegener Stunde das Wort; oder sie schrieb den Abwesenden in früher Morgenstunde, noch in den letzten Jahren zuweilen vor 5 Uhr bei Lichte im Bette sitzend, ihre ganze Meinung, mild in Worten, aber bestimmt und in schweren Fällen schonungslos. Außerhalb des Familienkreises haben sich gewiss nicht viele Frauen ihres Standes durch ihr einfach würdevolles Wesen und einen sicheren Charakter eine allgemeine Achtung aller, und auch der höchsten Klassen erworben; es durfte von ihr gesagt werden: Sie hatte keinen Feind, viele Bewunderer, und alle nahten sich ihr respektvoll. So konnte sie über ein halbes Jahrhundert die Seele des heimischen Herdes bleiben.“ (Leben Bd.1: 7f.)

Charlotte von Gagern.

Quelle: Stadtarchiv Kelkheim

Ehe mit Krisen

Diese Beschreibungen belegen, dass zwischen Mutter und Kindern eine emotionale Bindung bestand, die für eine adlige Familie zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht selbstverständlich war.27