Gasgeschäfte - Mark Stichler - E-Book

Gasgeschäfte E-Book

Mark Stichler

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Beschreibung

Aus dem Neckar wird die Leiche von Enzo Fischer gezogen. Der Tote war ein stadtbekannter Trinker und Störenfried. Rocco Marino, Hauptkommissar der Ludwigsburger Kriminalpolizei, vermutet zunächst einen Unfall oder eine Kneipenschlägerei hinter dem Unglück. Doch nach der Leichenschau steht fest: Fischer - der selbsternannte freie Journalist - wurde vor seinem Tod gefoltert. Wem war Fischer mit seinen Recherchen zu nahe gekommen?

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Mark Stichler

Gasgeschäfte

Kriminalroman

Impressum

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www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2015

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Gudellaphoto – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4752-5

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1

Es regnete die ganze Nacht. Der Regen fiel stetig, nicht zu heftig, geradlinig und monoton. In der Halle, in der Enzo saß, erzeugte er ein leichtes Rauschen im Hintergrund. Es schien, als würde er niemals enden. Und für Enzo war es auch so. Oder zumindest würde er nichts anderes mehr hören als dieses eintönige Rauschen, und wenn der Tod das Ende der individuellen Zeit markiert, dann endete der Regen für ihn niemals oder für immer. Scheißegal.

Vor ihm standen zwei Männer und sahen zu, wie er starb. Weiter hinten lehnte ein dritter an der kahlen Betonwand.

»Na ja«, sagte er. »Vlad. Ingo. Scheiße. Bringt ihn weg, ihr Idioten.«

Vlad und Ingo lösten behutsam die Drähte, die an Enzos Finger und Zehen angeschlossen waren. Seine Hand rutschte schlaff von seinem Schenkel.

»Scheiße«, flüsterte Vlad. Seine Halbglatze und seine dunkle Lederjacke schimmerten unstet im Licht einer gelben Glühbirne, die weiter hinten in dem großen, niedrigen Raum von der Decke baumelte.

»Scheiße«, flüsterte Ingo. Er war sehr dünn und trug ebenfalls eine dunkle Lederjacke. Nervös strich er sich über seinen schmalen Schnauzer. »Scheiße.«

»Ja, scheiße. Hab ich doch schon gesagt.«

»Halt die Klappe und nimm ihn an den Schultern.« Ingo fasste Enzos Beine an den Kniekehlen.

»Ich will ihn nicht an den Schultern nehmen. Nimm du ihn doch an den Schultern«, sagte Vlad gereizt.

»Mann.« Abrupt ließ Ingo Enzos Beine wieder los. »Nimm ihn an den Schultern, hab ich gesagt. Verdammt noch mal.«

»Du hast mir gar nichts zu sagen.«

»Jungs«, sagte der Mann, der immer noch an der Mauer lehnte. Er klopfte eine Zigarette auf ein silbernes Etui und zeigte damit auf Enzo. »Wenn der Mann nicht in zwei Minuten draußen im Auto und unterwegs an einen mir unbekannten Ort ist, dann ist mir alles scheißegal. Dann liegt ihr neben ihm. Diese Scheiße habt ihr beide verbockt, und …«

»Er war es«, sagte Vlad und zeigte auf Ingo. »Er hat den Schalter betätigt.«

»Halt bloß die Schnauze«, rief Ingo und trat mit dem Fuß nach ihm.

»Haltet beide die Schnauze. Ich kann gar nicht glauben, was die mir für Trottel geschickt haben.« Der Mann an der Mauer zündete sich die Zigarette an. »Bringt ihn bitte raus und … entsorgt ihn. Du«, er deutete auf Vlad, »nimm ihn an den Schultern, und du«, er zeigte auf Ingo, »an den Beinen. Und dann will ich euch heute Nacht nicht mehr sehen.«

»Siehst du«, flüsterte Ingo. »Nimm ihn bei den Schultern.«

Vlad starrte einen Augenblick düster vor sich hin. Anschließend nahm er den Toten an den nackten Schultern und zusammen schleppten sie ihn nach draußen. Im spärlichen Licht des Parkplatzes glänzte Enzos regennasse Haut wie die Lederjacken und Vlads Glatze.

»Warum muss es immer regnen?«, fragte Vlad und schaltete den Scheibenwischer ein.

»Das darfst du mich nicht fragen.« Ingo saß auf dem Beifahrersitz und drehte sich eine lange, dünne Zigarette.

»… darf ich dich nicht fragen«, brummte Vlad vor sich hin und schaltete das Radio ein. Es lief ›She Works Hard For The Money‹ von Donna Summer. »Was ist das für ein Scheiß? Ist das eine CD? Ist die von dir?«

»Ziehen?« Ingo hielt ihm die Zigarette hin. Vlad nahm sie, zog daran und hielt den Atem an. Dann reichte er sie Ingo zurück.

Auf der Straße waren nur wenig Autos unterwegs. Vlad steuerte den Wagen durch die Stadt und am Schloss vorbei hinunter zum Fluss.

»Du hättest auch hinten rum fahren können«, sagte Ingo gedehnt. Er hatte die Rückenlehne etwas zurückgedreht, war auf dem Beifahrersitz nach unten gerutscht und starrte an die Decke. Der Moderator im Radio hatte noch mehr Hits aus den 80ern angekündigt, was ihn veranlasste, lauter zu drehen. Vlad drehte wieder leiser.

»Ich hätte auch vorne rum fahren können«, sagte er.

»Machst du ja.« Ingo nahm einen tiefen Zug. »Auch noch mal?«

Vlad zog kräftig an der Zigarette und verbrannte sich fast die Lippe. »Au«, schrie er und ließ die Kippe fallen.

»Hey, hey.« Ingo rappelte sich auf und beugte sich nach vorn, um das Ding zu suchen. Vlad klatschte wie wild auf seinen Schenkeln und dem Fahrersitz herum. Es gab einen kleinen Lichtblitz, auf den die beiden aber nicht achteten. Sie hatten die wildesten Gerüchte darüber gehört, wie Autos wegen glimmender Zigaretten auf dem Fahrersitz oder dem Boden in Windeseile abbrannten, explodierten, alles im Wageninneren innerhalb von Sekunden in Schutt und Asche gelegt wurde. Wild schlingerten sie über die zweispurige Fahrbahn, vorbei an der Tankstelle und an einem Mann, dessen Hund immer unglaublich früh Gassi gehen wollte. Unbewusst hatte sich der Mann mit der Zeit dem Diktat des Hundes untergeordnet, ohne dass jemals eine vernünftige Unterhaltung zwischen den beiden stattgefunden hätte – wie auch? – oder er den Vorgang hinterfragt hätte. Der Mann sah dem schlingernden Wagen erstaunt hinterher.

»Hier, hier. Ich hab sie. Ich hab sie«, rief Vlad aufgeregt und trat mit vernichtender Wucht auf die Kippe, die unter ihm im Fußraum glomm.

»Nimm sie hoch«, rief Ingo. Er sah aus dem Fenster. »Nein, schau auf die Straße, Mann. Du fährst wie ein Bekloppter. Mann. Ich nehme sie.« Er kroch zwischen Vlads Beine, hob die Kippe auf und warf sie aus dem Fenster.

»Mach das Fenster zu. Es zieht.« Vlad hatte den Wagen wieder unter Kontrolle. Am Neckar unten bog er in die Uferstraße ein und fuhr ein Stück, bis er den Wagen auf einem kleinen Parkplatz stoppte.

»Hier«, sagte er.

»Hier?«, fragte Ingo und tippte sich an die Stirn.

»Ja. Wir tragen ihn da rüber zum Fluss und werfen ihn rein. Er treibt weg. Fertig. Er hat nichts an. Er ist ein elender Penner. Wie sollen sie jemals rausfinden, wer das war?«

»Mhm.« Ingo schien nicht überzeugt, aber er zerrte Enzo zusammen mit Vlad aus dem Laderaum. Gemeinsam trugen sie ihn einen kleinen Weg entlang, an der Fußgängerbrücke vorbei und bis zum Ufer. Sie kletterten die Böschung hinunter und suchten sich einen guten Stand, was bei dem durchweichten Boden gar nicht so einfach war. Dann nahmen sie Enzo an Beinen und Armen, schwangen ihn ein-, zweimal hin und her und warfen ihn mit einem lauten Platsch in den zäh dahinfließenden Fluss. Das Geräusch scheuchte ein paar Ratten am Ufer auf, die mit einem Glucksen im Wasser verschwanden. Ein paar Meter flussabwärts kletterten sie wieder an Land.

Vlad und Ingo sahen Enzo nach, bis er langsam in der Dunkelheit und im gelben Dreckwasser verschwand. Nur wenige hundert Meter flussabwärts lief er auf einen weit herausragenden Ast des Ufergestrüpps auf und blieb daran hängen. Sein rechter Arm wedelte im Wasser umher, als würde er etwas suchen. Aber das sahen Vlad und Ingo nicht. Sie stiegen wieder in den Wagen.

»Und?«, fragte Vlad. »Trinken wir noch einen?«

»Ich muss ins Bett«, sagte Ingo. »Obwohl … warum eigentlich nicht?« Er drehte eine lange, dünne Zigarette.

Kurz nachdem Vlad und Ingo weggefahren waren, kam auch der dritte Mann aus der Lagerhalle. Einen Moment stand er in der kleinen Tür, anscheinend der einzige Ausgang aus dem großen, kahlen Gebäude, in dem Enzo gestorben war. Vor ihm lag der große Parkplatz. Weiße Linien markierten die einzelnen Plätze. Nur wenige Autos standen um diese Zeit herum. Der Regen fiel immer noch sanft und gleichgültig. Seufzend warf der Mann seine Kippe in eine Pfütze und ging zu seinem Wagen.

Kapitel 2

Rocco saß in der Küche und sah der schwarzen Brühe in seiner Espressokanne beim Brodeln zu. Es war früh am Morgen und er hatte schlecht geschlafen. Das Rauschen des Regens hatte ihn lange nicht einschlafen lassen. Es erinnerte ihn an etwas im Dämmerlicht, an die Zeit nach dem Sturm, aber das Wetter wurde nicht besser und alle starrten auf die graue Wand, als müsste ES jeden Augenblick daraus hervorkommen … Und dann war er immer wieder aufgeschreckt und grübelte im Halbschlaf darüber nach, was dieses ES denn eigentlich sein sollte, bis es am frühen Morgen endlich aufgehört hatte zu regnen.

Er hasste solche Träume, weil er sich nicht erklären konnte, was sie bedeuteten. Und er wollte es auch gar nicht. Er dachte an Anna, und nachdem er sich Kaffee eingeschenkt hatte, griff er zum Telefon. Die Nummer hatte er von Julia. Anna hatte mit ihr zusammengewohnt, bevor sie plötzlich aus der Stadt verschwunden war. Es war nicht so, dass Rocco etwas von Anna wollte … Sie war lediglich seine Kollegin. Aber er hatte ein schlechtes Gewissen. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass ihr plötzliches Verschwinden mit ihm zusammenhing, obwohl Julia ihm versichert hatte, dass es nicht so war. Anna gehe es einfach schlecht, hatte sie gesagt. Schon lange.

Warum Rocco sie ausgerechnet jetzt anrufen wollte, wusste er gar nicht so genau. Und würde sie rangehen, würde ihm womöglich nicht einmal einfallen, was er sagen sollte. Er hielt den Hörer ans Ohr und lauschte dem Freizeichen. Dann drückte er einen Knopf und unterbrach den Anruf. Mit einem Schulterzucken warf er den Hörer auf den Küchentisch und goss sich Kaffee nach. Niemand zu Hause, dachte er, als plötzlich sein Telefon klingelte. Rocco spürte ein leichtes Kribbeln in der Magengegend. Rief sie zurück?

»Marino«, meldete er sich.

»Rocco. Sie haben einen Nackten aus dem Fluss gezogen. Du musst kommen.« Es war das Präsidium.

»Hm«, machte Rocco. »Ist er tot?«

»Natürlich ist er tot. Sonst hätten wir den Notarzt gerufen. Es ist unten am Uferweg, kurz vor der Kläranlage. Du siehst es dann schon.«

»Ja, gut. Ich komme.« Rocco legte auf und warf einen Blick aus dem Fenster.

Er parkte seinen Wagen neben einer Reihe von Einsatzfahrzeugen. Ein schmaler, schlammiger Trampelpfad führte über die Wiese bis an die steil abfallende Böschung und hinunter zum Fluss. Missmutig starrte Rocco auf seine Schuhe und zog dann ein Paar dieser Plastiküberstreifer aus der Seitenablage der Fahrertür. Auch wenn man damit auf dem feuchten, glitschigen Boden kaum gehen konnte, seine Schuhe würden die Tatortbesichtigung doch wenigstens überleben. Es war einer dieser Momente, in denen Rocco sich fragte, warum er sich überhaupt einen Tatort ansah. Der Fotograf machte Fotos. Die Spurensicherung nahm Spuren, die Gerichtsmediziner besahen sich die Leiche … Was sollte er dort? Er könnte genauso gut alle Fakten in seinem Büro zusammentragen und dort begutachten. Rocco schüttelte den Kopf. Er kannte diese Unlust an sich gar nicht. Erst seit … Ja, ja, dachte er, schüttelte genervt den Kopf und machte sich vorsichtig auf den rutschigen Weg.

Dr. Mahler stand am Ufer. Rocco konnte sie von Weitem kaum erkennen zwischen dem Gestrüpp und hatte den starken Eindruck, sie früher gerochen als gesehen zu haben. Vielleicht bereitete sich aber auch seine Nase nur auf den olfaktorischen Frontalangriff vor, der ihr bevorstand. Denn eins war sicher: Menschen wurden ermordet, zerstückelt, erschossen, erdolcht, gemeuchelt auf jede nur erdenkliche Art und Weise und zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit, aber Dr. Mahler erschien nie ohne ihr Make-up und eingehüllt in ein Parfum, dessen Duft sämtliche Tropenpflanzen vor Neid erblassen ließ. Und wahrscheinlich dazu diente, den an ihr klebenden Leichengeruch zu überdecken. Anna und Julia hatten immer versucht zu erraten, welche Marke Dr. Mahler wohl benutzte. Vergeblich …

Die Gerichtsmedizinerin hatte natürlich Gummistiefel dabei. Weiße, hohe Gummistiefel, aus denen sich ihre Hosen herausbauschten. Ein Assistent hielt einen großen, weißen Regenschirm über ihren Kopf, der auch noch die letzten verirrten Regentropfen von Dr. Mahlers mit chemisch duftendem Haarspray festzementierter Frisur fernhalten sollte. Ein weißer Regenschirm … Rocco blieb staunend oben an der Böschung stehen. Sie sah aus wie ein Maharadscha, der auf dem morgendlichen Spaziergang in seinem Garten Unkraut entdeckt hat.

»Eins steht fest«, sagte Dr. Mahler mit einem Blick auf Roccos mit Plastikhüllen geschützte Schuhe. »Ertrunken ist der nicht.« Sie zeigte auf einen bleichen, haarigen Körper, der vor ihr im Schlamm der Uferböschung lag. Der Mann war nackt und sah aus, als komme er direkt aus einer Wäscherei, so weiß und sauber schien die Haut. Nur die Lippe war aufgeplatzt wie von einem Schlag. Seine Augen waren geschlossen und Rocco war dankbar dafür. Wo hat sie nur die Gummistiefel her?, dachte er.

»Wieso?«, fragte er.

»Keine typischen Spuren wie Abwaschungen. Kaum Kratzspuren von Steinen, Ästen, Gestrüpp oder Ähnlichem. Er sieht zwar ziemlich sauber aus, aber das liegt hauptsächlich an dem Schlamm um uns herum. Er war nur kurz im Wasser, und alles deutet darauf hin, dass er nach seinem Tod hineingeworfen wurde. Vielleicht etwas weiter flussaufwärts, aber nicht sehr weit.« Dr. Mahler schnaufte und reichte Rocco die Hand, damit er ihr ein Stück die Böschung hinaufhalf. Rocco zögerte. Noch nie hatte er sie berührt, da war er sicher. Und eigentlich hatte er es auch nicht vor … Doch seine anerzogene Höflichkeit war stärker: Er griff zu, zog sie zu sich hinauf und bekam einen Duftschwall verwelkender Lilien in die Nase. Er schnappte nach Luft.

»Wo ist denn Ihre kleine Kollegin?«, fragte Dr. Mahler unbeteiligt.

»Sie ist nicht klein.«

Dr. Mahler zog eine gemalte Braue hoch. »So? Wie definieren Sie klein?«

»Sie ist … Sie hat Urlaub«, sagte Rocco. »Auf unbestimmte Zeit.«

»Das habe ich mir gedacht«, erwiderte Dr. Mahler.

»Was? Was haben Sie sich gedacht?«

»Na, dass sie es nicht schafft.« Dr. Mahler zuckte mit den Schultern. Rocco trat einen Schritt zurück. »Das ist einfach kein Job für sie.«

»Das hat überhaupt nichts mit dem Job zu tun …«, rief Rocco. »Sie ist …« Er winkte ab. Er würde hier doch nicht mit Dr. Mahler – Dr. Mahler – über Annas Befindlichkeiten diskutieren. Und außerdem wusste er ja selbst nicht genau, was mit ihr los war.

»Hat die Spurensicherung außer dem Toten noch etwas gefunden? Kleider, Brieftasche, Schmuck …?«, fragte er.

Dr. Mahler schüttelte den Kopf. Inzwischen hatte sich auch ihr Assistent aus eigener Kraft die Böschung hinaufgearbeitet. Das Weiß des Regenschirms war dabei etwas in Mitleidenschaft gezogen worden. Dr. Mahler warf ihm einen missbilligenden Blick zu.

»Nicht, dass ich wüsste. Aber fragen Sie die.« Sie deutete auf drei Männer, die drüben auf dem Parkplatz Zigaretten rauchten. »Wenn es allerdings um die Identität des Toten geht, so dürfte das nicht allzu schwierig sein.«

Rocco sah sie erstaunt an und musterte den Toten genauer, der jetzt ganz allein am Ufer lag und auf seinen Abtransport wartete. Auf den ersten Blick waren keine außergewöhnlichen Erkennungsmerkmale zu sehen. Keine Tätowierung, keine Narben, das Gesicht eingefallen und hager, aber nicht auffällig … Er trug einen Bart, der etwas zottelig und ungepflegt wirkte. Aber wenn man in einer solchen Situation aufgefunden wurde, mochte das nicht unbedingt ungewöhnlich sein.

»Aha?«, sagte er.

»Ja«, sagte Dr. Mahler und lächelte schräg. Immer wenn sie ihre Mimik einsetzte, fürchtete Rocco, dass etwas von ihrem Make-up abbrechen könnte. Weniger der Vorfall an sich ängstigte ihn, als das wahre Gesicht der Gerichtsmedizinerin, das dann eventuell zum Vorschein kommen könnte. Er hatte nie den Versuch gemacht, auch nur annähernd zu schätzen, wie alt sie war. Jahrhunderte, schoss es ihm durch den Kopf.

»Sie kennen den Mann?«, fragte er so professionell wie möglich.

»Kennen ist vielleicht übertrieben«, antwortete Dr. Mahler. »Aber ich habe ihn schon gesehen. In der Fußgängerzone. Ich war dort mit einem Bekannten unterwegs.« Sie drehte sich um und ging den Trampelpfad zum Parkplatz zurück. Rocco und der Assistent folgten ihr.

»Ja, und?«, fragte Rocco.

»Nichts und. Die beiden haben sich kurz unterhalten. Es war keine sehr erquickliche Unterhaltung. Sie sind kurzzeitig etwas laut geworden.«

»Darf man erfahren, um was es in dieser Unterhaltung ging?« Rocco blieb höflich. Erstens würde er aus Dr. Mahler sonst gar nichts herausbekommen, da war er sicher. Und zweitens kannte er sie nicht anders. Sie gab Informationen grundsätzlich nur ungern preis und nie am Stück …

»Nicht von mir. Ich stand etwas abseits und habe nichts gehört.«

Rocco verdrehte die Augen. »Darf ich vielleicht den Namen Ihres Bekannten erfahren oder muss ich Sie in Beugehaft nehmen?«, fragte er unvorsichtigerweise. Dr. Mahler blieb abrupt stehen und drehte sich zu ihm um.

»Beugehaft«, hauchte sie. Rocco stockte der Atem. Was hatte er getan? Er musste sich unbedingt besser konzentrieren, wenn er mit Frauen wie ihr sprach. Solche Scherze könnten ihn sonst einiges kosten … einiges.

»Ach, kommen Sie … Ich … Sie …«, stotterte er und wurde rot. »Geben Sie mir schon den Namen.«

Sein Erröten schien Dr. Mahler zumindest vorläufig zu befriedigen. Sie lächelte wieder, drehte sich um und ging weiter.

»Dr. Spilden. Er ist der Verleger der hiesigen Zeitung«, sagte sie über die Schulter. »Nicht, dass ich sein Blatt lesen würde … Aber er kann sehr charmant sein.«

Die Männer von der Spurensicherung hatten nichts gefunden. Keine Brieftasche, keine Kleidung, keinen Schmuck und erst recht keinen Ausweis. Sie bestätigten Dr. Mahlers Theorie, dass der Tote weiter flussaufwärts ins Wasser geworfen worden war. An der Fundstelle waren keinerlei Fußspuren festgestellt worden.

»… und bei dem Wetter und auf diesem Grund ist es unmöglich, keine zu hinterlassen«, sagte einer von ihnen.

Rocco konnte die Kollegen der Spurensicherung nie auseinanderhalten. Er traf sie so gut wie immer in ihren weißen Ganzkörperanzügen an, die für ihn alle gleichmachten. Er wusste von einem Charlie und einem Pat, aber wer wer war, konnte er nicht sagen. Und für die Ermittlungen war es unerheblich.

»Wir sehen uns bei mir«, sagte Dr. Mahler. »Nach der Obduktion …« Sie winkte und stieg mit ihrem Assistenten in ein silbernes Mercedes-Sportcoupé.

»Ja«, murmelte Rocco und atmete tief durch, als sie weg war. »Dann machen wir uns mal auf die Suche.«

Schweigend folgten Charlie, Pat und der dritte Kriminaltechniker Rocco. Sie gingen den asphaltierten Spazierweg entlang, der nahe dem Ufer flussaufwärts führte. Rocco war froh, endlich die Plastiksäcke an seinen Schuhen loszuwerden. Die Männer von der Spurensicherung dagegen schienen sich in ihren weißen Ganzkörperanzügen wohlzufühlen. Wahrscheinlich kannten sie keine andere Kleidung mehr, dachte Rocco. Sie bewegten sich ganz natürlich.

Nur einer, wahrscheinlich Pat, streifte nach einem prüfenden Blick in den Himmel seine Kapuze ab.

Rocco war froh, dass die drei dabei waren. So konnte er in Ruhe seinen Gedanken nachhängen, während sie die Böschung nach Spuren absuchten. Auf einer der Bänke, die am Wegrand standen, war mit silberner Farbe in krakeligen Buchstaben ›Fuck Cops‹ geschrieben. Rocco überlegte, ob es wohl ein Hinweis, eine Schmähung von den Tätern sein könnte. Allerdings, so musste er zugeben, hatten sie eher versucht, den Toten unbemerkt verschwinden zu lassen. Es wäre also ziemlich bescheuert, den Tatort mit einem Graffiti zu markieren.

Manchmal hasste er sich und seine Gedanken, wenn auch nur kurz. Auf jeden Fall vermisste er Anna, ihren klaren Verstand, ihre nüchterne, norddeutsche Art. Aber sie saß in irgendeinem Kaff in der Lüneburger Heide bei ihrer Mutter oder Tante, um sich selbst zu finden. Oder ihre Vergangenheit zu verlieren … Rocco wusste es nicht.

Sie mussten nicht weit gehen. Die drei Kollegen – Rocco fiel schlagartig ein, an wen sie ihn erinnerten: an Woody Allen als Spermium in ›Was Sie schon immer über Sex wissen wollten …‹ – die drei hatten kurz vor der Fußgängerbrücke nach Neckarweihingen tiefe Eindrücke von schweren Schuhen in der nassen Wiese entdeckt. Die Spuren kamen vom Parkplatz, führten hinüber zum Fluss und wieder zurück.

»Das waren entweder sehr schwere Männer oder sie haben jemanden getragen. Nach der Art der Spuren hat einer wohl die Beine, der andere die Arme gehalten«, meinte Pat, kniete sich nieder und tastete die Abdrücke ab wie ein Fährtensucher die Spuren eines Büffels in der amerikanischen Wildnis. »Und hier sind sie zurückgekommen. Die Eindrücke sind wesentlich weniger tief.«

»Also zwei Täter«, sagte Rocco. Die anderen nickten. Sie folgten den Spuren vorsichtig bis zum Ufer.

»Da, sehen Sie. Sie sind hier durchs Gestrüpp getrampelt.« Während Pat Rocco die abgeknickten Zweige zeigte, gingen Charlie und der Kollege nach unten zum Ufer.

»Hier ist es«, riefen die beiden anderen von unten. »Es sieht so aus, als hätten sie sich hier aufgestellt, den Körper ein paarmal hin- und hergeschwenkt und dann in den Fluss geworfen. Es gibt Schleifspuren zwischen den Fußabdrücken. Hätten sie es ein bisschen weiter in die Mitte geschafft oder die Fließgeschwindigkeit wäre höher gewesen, wäre er wer weiß wo gelandet.«

»Ziemliche Dilettanten«, sagte Pat. »Wir müssen die Gegend hier absperren.« Er sah Rocco an. »Sie haben ihn wahrscheinlich nur hierher gebracht, um ihn loszuwerden. Ich gehe zum Parkplatz und sehe nach, ob noch verwertbare Spuren von Schuhen und Reifen zu finden sind. Kommen Sie mit?«

»Mhm.« Rocco war nicht ganz bei der Sache. »Sie finden das schon allein raus. Vielleicht lässt sich ja eine Reifenspur feststellen. Oder mehrere, sodass sich der Wagentyp wenigstens eingrenzen lässt. Ich muss los. Schickt mir doch ein Foto von der Leiche aufs Handy.« Er wollte unbedingt mit dem Verleger sprechen. Er war bislang die einzige Spur zur Identität des Toten.

Dr. Spilden war in einem Meeting, als Rocco im Verlagshaus des Ludwigsburger Abendblatts nach ihm fragte. Und danach, erklärte ihm die Dame am Empfang, müsse er sofort weiter zu einem Geschäftsessen.

»Ich kenne nur eine Branche, in der noch mehr Meetings stattfinden und in der noch mehr gegessen wird wie im Zeitungsgeschäft«, sagte Rocco milde lächelnd.

»So?«, fragte die Dame an der Rezeption mit eisigem Desinteresse und starrte auf ihren Bildschirm.

»Ja«, sagte Rocco. »Rufen Sie Ihren Chef an. Ich brauche wahrscheinlich nur zwei Minuten mit ihm. Es handelt sich um eine schlichte Auskunft, danach bin ich wieder weg.«

Es war der Miene der Empfangsdame nicht anzusehen, ob sie Rocco überhaupt gehört hatte, geschweige denn, ob sie über das Angebot nachdachte. Durch die dünne Glasscheibe der kleinen Lobby – eigentlich war es mehr ein vergrößertes Büro aus den Anfangstagen des Verlags, das irgendwann in stillschweigendem Einverständnis der Besitzer zur Lobby befördert worden war – waren Straßengeräusche zu hören. Stumpf betrachtete Rocco das dreckige Beige des Teppichbodens und die kleine Sitzecke mit einstmals schicken, jetzt etwas abgewetzten Ledersesseln und einem niedrigen Tischchen, auf dem einige Exemplare der heutigen Zeitung ausgelegt waren.

»Okay«, sagte die Dame hinter ihrer Theke. »Ich versuche es mal.« Während sie telefonierte, spielte sie mit den Fingern an einer dünnen, goldenen Kette, die sie um ihren Hals trug. Rocco überlegte, ob sie wohl ein Geschenk von Dr. Spilden war. Er ging hinüber zur Sitzecke und blätterte in einer Zeitung.

Es dauerte nicht lange, und aus einer schmalen Glastür kam ein hochgewachsener, hagerer Herr in einem teuren, aber schlecht sitzenden dunkelblauen Anzug. Seine dünnen, grau melierten Haare waren sorgfältig zurückgekämmt. Eine schmalrandige Brille baumelte an einem goldenen Kettchen um seinen braunen Hals. Sonnenstudio, dachte Rocco. Kein Zweifel, das musste Dr. Spilden sein.

Die Dame am Empfang war von ihrem Drehstuhl aufgestanden und beugte sich über die Theke. Sie lächelte und zuckte entschuldigend mit der Schulter, als sie auf die Sitzecke zeigte. Rocco sah, wie der Herr sie mit einem Nicken beruhigte und zu ihm kam.

»Dr. Spilden«, stellte er sich vor, nachdem sie sich die Hände geschüttelt hatten, und sah Rocco mit leeren, grauen Augen durchdringend an.

»Hauptkommissar Marino. Guten Tag«, sagte Rocco.

»Setzen wir uns doch.« Dr. Spilden deutete auf einen Sessel. Einen Augenblick kam die Sonne zwischen den Wolken hindurch und verlieh dem Anzug des Verlegers einen schimmernden Glanz. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ja, Dr. … Spilden«, begann Rocco. »Im Grunde komme ich wegen einer Kleinigkeit zu Ihnen. Andererseits ist es auch wieder eine heikle Sache.«

»Ich verstehe.« Dr. Spilden sagte das, als würde er vollkommen verstehen. Tatsächlich verstand er überhaupt nichts. Das war seit Langem seine Art, Wissen vorzutäuschen. Eines der wenigen Dinge, die er sehr gut beherrschte. Sein Blick gab nichts preis, wenn er sein Gegenüber scharf fixierte, aber er verursachte bei vielen Menschen ein gewisses Unbehagen, das meist aus der Art des Blicks und seiner Stellung resultierte. Er wirkte stets souverän und immerhin stand er einem erfolgreichen Medienunternehmen vor. Die Zeitung war seit drei Generationen im Besitz seiner Familie.

Wenige Leute nahmen bei Dr. Spildens Anblick an, der Erfolg seines Unternehmens gründe darauf, dass seine Zeitung in der Gegend sehr wenig Konkurrenz fürchten müsse. Außerdem waren die meisten Anzeigenkunden mittelständische, oft handwerkliche Betriebe, die schon mit seinem Vater zusammengearbeitet hatten und, solange Dr. Spilden die richtige Partei unterstützte und bei diversen Vereinen und Unternehmertreffen eine Rede hielt oder einen Innovationspreis ausschrieb, auch keinen Grund sahen, ihre Anzeigen bei einem Konkurrenzblatt zu schalten, dessen politische Ausrichtung vielleicht weniger, nun ja, geradlinig war.

In Wirklichkeit musste Dr. Spilden also nicht viel tun für seinen Ruf als tatkräftiger und energischer Unternehmer. In Wirklichkeit saß er oft lange Stunden in seinem Büro und sah beispielsweise aus dem Fenster. Er hatte ein Büro in dem zur Chefetage ausgebauten Dachgeschoss des Hauses und konnte von dort aus auf verschiedene Dachterrassen und Balkone blicken. Die Pflanzen, Markisen und Bewohner dort durften sich seines milden Interesses sicher sein. Sein Geist beschäftigte sich weniger mit neuen Marketingkonzepten, Innovationen und der Effektivität der Redaktionsabläufe in seinem Haus. Oft genug ertappte er sich dabei, wie er abschweifte und bei der Beschaffenheit des Rahmens seines neuen Tennisschlägers verweilte, bei der Bespannung, seiner Aufschlagtechnik und wie er darüber nachdachte, ob er wohl bei seinem nächsten Match den Leitenden Staatsanwalt Dr. Davids würde schlagen können.

»Sehen Sie«, sagte Rocco und zog sein Handy aus der Tasche. »Wir haben hier diesen Toten gefunden …«

»Mhm, mhm«, machte Dr. Spilden. »Einen Toten.«

»Ja, und wir sind uns ziemlich sicher, dass er ermordet wurde.«

Dr. Spilden seufzte. »Lieber Herr Hauptkommissar … Sie werden verstehen … Ich habe hier ein Unternehmen zu leiten. Ich bin nicht für die Polizeinachrichten verantwortlich. Bitte wenden Sie sich doch an den dafür zuständigen Redakteur. Das Fräulein am Empfang …«

»Moment, Moment«, unterbrach Rocco. Er suchte auf seinem Handy nach dem Bild, das ihm die Spurensicherung geschickt hatte. »Laut meinen Informationen kennen Sie den Mann, und ich möchte Sie bitten, mir zu sagen, wer das ist.« Er hielt Dr. Spilden das Foto des Toten aus dem Fluss vor die Nase und versuchte, mit dem Daumen den nackten Körper des Mannes zu verdecken, sodass nur sein Gesicht zu sehen war. Es gelang ihm nicht ganz.

»Um Gottes willen«, rief Dr. Spilden und wich zurück. Die Empfangsdame warf einen besorgten Blick zu ihnen herüber. Der Verleger strich sich nervös übers Haar. »W… wer ist das?«

»Ganz genau«, sagte Rocco und hielt ihm bereitwillig weiter das Handy hin. Dr. Spilden näherte sich vorsichtig wieder an und betrachtete das Bild noch einmal.

»Wer, um Himmels willen, hat denn behauptet, ich würde diesen Mann kennen?«

»Das kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Aber sie war sich ihrer Sache sehr sicher«, sagte Rocco und lächelte sanft.

»Also, wissen Sie …« Es war deutlich zu sehen, wie es hinter Dr. Spildens Stirn arbeitete. Seine Augen blickten weiter auf das Display von Roccos Handy, nachdenklich, grau und unbestimmt, so, als hätte sich sein Geist in weit entfernte Dimensionen zurückgezogen. Unbehaglich rutschte er auf seinem Sessel hin und her. Er wollte diesen Mann nicht kennen, das war offensichtlich. »Das ist ein furchtbares Bild. Ja, ich kenne ihn«, sagte er schließlich widerwillig. »Was heißt kennen. Ich habe den Mann ein-, zweimal gesehen. Er kam in meine Redaktion, ein anderes Mal hat er mich auf der Straße belästigt. Das ist alles. Wie kommen Sie darauf, ich könnte Ihnen irgendetwas über diesen Cretin erzählen?« Dr. Spilden schüttelte sich, als wäre das eine der schlimmsten Erfahrungen seines Lebens gewesen.

»Wie heißt er?«, fragte Rocco ungerührt.

»Das weiß ich nicht.«

»Was wollte er von Ihnen?«

Dr. Spilden schien mehr damit beschäftigt zu überlegen, wie er aus dieser Situation herauskommen könnte, als darüber nachzudenken, was der Mann von ihm gewollt hatte.

»Er wollte mir etwas verkaufen, Artikel … Höchstwahrscheinlich wollte er für mich arbeiten, als investigativer Journalist oder so was in der Art.«

»Na, kommen Sie, Dr. Spilden.« Rocco begann, sich über das Verhalten des Verlegers zu wundern. Der Verleger lächelte gezwungen und strich sich wieder durchs Haar.

»Ach, wissen Sie … Das ist … war ein furchtbar unangenehmer Zeitgenosse. Einmal hat er mich mitten auf der Straße angehalten und beschimpft.« Seine Augen bekamen einen eigenartigen Glanz. »Ich war mit einer Bekannten unterwegs zu …« Auf einmal schien ihm zu dämmern, woher Rocco seine Informationen bezogen hatte. »Nun ja, das spielt nun wirklich keine Rolle«, unterbrach er sich.

»Und warum hat er Sie beschimpft?« Rocco wollte sich gar nicht vorstellen, wohin Dr. Spilden mit Dr. Mahler unterwegs gewesen war, aber er konnte die langsam anlaufende Maschinerie seiner Vorstellungskraft nicht ganz zügeln.

»Er wollte mir eine Story verkaufen. Ich habe ihm hundert Mal erklärt, dass ich nicht der richtige Ansprechpartner bin. Ich habe ihm gesagt, er soll sich an meinen Ressortleiter für Lokales wenden. Aber er wollte nicht hören. Das sei eine viel größere Story, hat er gesagt. Nichts fürs Lokale …«

»Dann würde es vielleicht etwas nutzen, Ihren Ressortleiter fürs Lokale zu befragen?«

Dr. Spilden sah Rocco verblüfft an. »Ja …«, sagte er gedehnt. »Möglicherweise. Sicher.«

Der Ressortleiter war ein untersetzter Mann namens Emrich, der über dem Hemd einen karierten Pullunder trug. Seine Brille hing ihm an nur einem Bügel seitlich am Kopf herunter. Er trug einen Aktenordner, kam kurz in die Sitzecke in der Lobby und sagte, dass er den Mann kenne. Er heiße Enzo Fischer und hätte ihm die Story seines Lebens über die GALB, die Ludwigsburger Gaswerke, versprochen. Zwei-, dreimal sei er dagewesen, aber er hätte nie auch nur eine Zeile verwertbares Material bei ihm abgegeben. Emrich zuckte mit den Schultern.

»Wie auch?«, fragte er leichthin. »Es war ganz offensichtlich, dass der Mann starker Alkoholiker war. Und in seinen lichten Momenten war er unausstehlich. Halluzinationen nicht ausgeschlossen. Betrunken habe ich ihn, Gott sei Dank, nie erlebt.« Er machte eine kurze Pause. »Vielleicht fragen Sie mal bei der GaStro, der Gas- und Strominitiative, nach. Zumindest hat er behauptet, er würde mit denen eng zusammenarbeiten.«

»Gas- und Strominitiative?« Rocco und Dr. Spilden sahen Emrich ratlos an.

»Eine Organisation, die sich aus Stromkunden der GALB zusammensetzt, die zwar Strom beziehen, dabei aber der Meinung sind, per se zu viel zu bezahlen und ihre Rechnungen immer nur teilweise begleichen. Sie kämpfen für mehr Transparenz auf dem Strom- und Gasmarkt.«

»Die können doch den Anbieter wechseln, wenn sie wollen«, wandte Rocco ein.

»Ja«, sagte Emrich mäßig geduldig. »Aber sie wollen trotzdem mehr Transparenz im Markt. Offene Bilanzen und so weiter … Sie verstehen?«

Rocco nickte, obwohl er nicht sicher war. Das fiel mehr in Annas Gebiet. Aber die war ja nicht hier. Er versuchte, einen halbherzigen Witz zu machen. »Anarchisten?«

Emrich sah ihn streng an und Dr. Spilden schaltete auf unergründliches Grau. Es war offensichtlich, dass beide seinen Witz bestenfalls für geschmacklos hielten. Hatte überhaupt schon irgendjemand dieses Wort in den heiligen Hallen dieser Redaktion in den Mund genommen, außer vielleicht im Zusammenhang mit linken Chaoten und Randalierern?

»Das sind meistens ehrbare Bürger, die in dieser Beziehung vielleicht einen kleinen Spleen entwickelt haben«, sagte Emrich schließlich.

Rocco verbot sich weitere Scherze, ließ sich die Adresse des GaStro-Vorstands geben und verabschiedete sich von Emrich und Dr. Spilden.

Er hatte die Lobby kaum verlassen, als der Verleger sich erhob und zur Theke der Empfangsdame ging.

»Geben Sie mir ein Telefon«, sagte er. Er wählte eine Nummer und sprach leise in den Hörer: »Ja, Dr. Spilden hier. Geben Sie mir Dr. Davids.« Er hörte der Stimme am anderen Ende nur kurz zu und unterbrach sie dann: »Es ist wichtig. Dringend. Stellen Sie mich sofort durch.« Wieder wartete er kurz, bis Dr. Davids am Telefon war. Dieser begrüßte Dr. Spilden offensichtlich überschwänglich, wurde aber ebenfalls sofort unterbrochen. »Davids, pass auf. Bei mir war gerade eben die Polizei … Die Polizei, ja … Wegen Enzo Fischer … Das ist dieser dämliche Penner, von dem ich dir erzählt habe … Nein … Ja … Nein …« Dr. Spilden wurde immer nervöser, so, als würde ihm die Tragweite von Roccos Besuch erst so langsam klar. »Nein«, rief er und rannte in der Sitzecke auf und ab. »Du musst etwas unternehmen … Der Kerl ist tot.«

Kapitel 3

Lenny Grünspan stand vor seinem Kleiderschrank und sah auf die Fototapete an der Wand. Sie stellte einen klassischen roten Sonnenuntergang an einem der berühmten Surferstrände in Hawaii oder Kalifornien dar. Der Sand und das Meer schimmerten golden und die Wellen brachen sich weiß am Strand. An der gegenüberliegenden Wand war das Zimmer mit barocken, blaugrünen Mustern und goldenen Ornamenten tapeziert.

Lenny hätte sich Gedanken darüber machen können, welcher halbwegs geschmackvolle, alleinstehende junge Mann heutzutage noch eine Fototapete an der Wand hängen hatte. Er hätte mit Sehnsucht an den Strand denken können, wäre er je dort gewesen, oder an sein Surfbrett, hätte er eines gehabt. Er hätte an die Welle denken können, die er sicher geliebt hätte, an die Brandung, wenn er ein Surfer gewesen wäre. Aber er war kein Surfer. Lenny war Referendar am Landgericht in Stuttgart und überlegte, welchen Anzug er heute anziehen sollte. Und außerdem dachte er darüber nach, warum er nie eine Chance bekam, sich auszuzeichnen. Denn hatte er nicht hochfliegende Pläne? Und war er nicht der Geeignetste für die wirklich kniffligen Fälle?

Seit vollen drei Monaten war Lenny jetzt schon in der Abteilung für Kapitaldelikte beschäftigt, ohne jemals auch nur einen einzigen wichtigen Fall auf den Schreibtisch bekommen zu haben. Ach, was heißt schon Fall? Er hatte eigentlich nur damit zu tun, staubige Akten durch trockene Gänge zu schleppen und in eierschalenfarbenen Büros abzulegen oder wieder einzusammeln. Eierschalenfarben nicht etwa deshalb, weil sich irgendjemand im Haus Gedanken zur Farbgebung der Büros gemacht hätte, nein. Die Farbe war allein dem Nikotinkonsum früherer Generationen zu verdanken.

Ob diese dezente Missachtung seiner Fähigkeiten damit zusammenhing, dass er während der Begrüßungsrede des Leitenden Staatsanwalts für die neuen Referendare versucht hatte, aus dem Automaten im Gang einen Kaffee zu holen? Aber wie hätte der Mann das merken sollen? Lenny war katzengleich durch die angelehnte Tür geglitten, das konnte er nicht mitbekommen haben. Auch der Kaffeeduft hatte ihn nicht auf Lenny aufmerksam gemacht, denn es hatte keinen gegeben. Trotz hartnäckiger Versuche und gutmütigem Klopfen hatte der Apparat keinen Kaffee herausgegeben. Fast so, als hätte er den Befehl bekommen, während der Rede des Leitenden Staatsanwalts eine Pause einzulegen.

Wie auch immer, Lenny wartete auf seine Chance. Er war sicher, dass sein Potenzial eines Tages erkannt werden würde. Eines Tages würde sein Telefon klingeln – nun gut, das seines Referatsleiters, Lenny selbst hatte keinen eigenen Apparat zugeteilt bekommen – und der Leitende Staatsanwalt würde dran sein.

»Herr Grünspan«, würde er ernst sagen, »wir haben hier einen außerordentlichen Fall, eine ganz vertrackte Sache. Etwas für Spezialisten. Es handelt sich um eine Verschwörung, deren Ausmaß noch gar nicht abzusehen ist. Es sind bereits Menschen zu Tode gekommen. Mord, Herr Grünspan, getarnt als natürliche Todesfälle. Immobilien, Grundwasser, der Regenwald … ich kann hier am Telefon nicht mehr sagen … Kommen Sie sofort in mein Büro. Wir müssen reden. Wir müssen unbedingt reden …«

Lenny zog einen hellbraunen Anzug aus dem Schrank. Seine beigefarbenen Schuhe würden dazu gut passen. Das Telefon klingelte. Lenny suchte ein Hemd aus und nahm den Hörer ab.

»Herr Grünspan, warum sind Sie nicht im Büro?« Es war sein Chef. Es war der Leitende Staatsanwalt. Unwillkürlich nahm Lenny Haltung an.

»Ich hab heute frei, Sir.« Kurzes Schweigen.

»Ich bin Ihr Chef … Dr. Davids.« Als würde das etwas erklären. Lenny hörte ein kurzes Seufzen am anderen Ende der Leitung. Oder bildete er sich das nur ein? Au Mann, dachte er und sah hinüber zu seinem Couchtisch, auf dem eine leere Pizzaschachtel lag und darauf der Stummel einer dünnen Zigarette und eine gebogene Klammer. Was für einen Film hatte er gestern nur gesehen?

»Hallo?«, fragte Dr. Davids.

»Hallo«, sagte Lenny.

»Grünspan, kommen Sie ins Büro. Es ist dringend. Sofort. Ich erwarte Sie.« Es machte Klick in der Leitung. Lenny hielt den Hörer weiter an sein Ohr gepresst.

»In Ordnung. Ich komme. Auf Wiedersehen.« Es war passiert.

Es war nach Mittag, als Lenny zaghaft an die Tür von Dr. Davids klopfte. Er hatte sorgfältig Morgentoilette gemacht und war sich in Bezug auf seinen Anzug auf einmal nicht mehr ganz sicher gewesen. Zuerst wechselte er zu einem taubenblauen Jackett, das ihm in Kombination mit der hellbraunen Anzugshose aber zu mondän fürs Büro wirkte. Also wechselte er wieder zurück zum ursprünglichen Jackett. Lenny war sicher, dass sein Chef es zu schätzen wüsste, wenn er auch in den kleinen Dingen des Lebens die Sorgfalt an den Tag legte, die er von ihm in seinem Job, im großen Spiel um Gerechtigkeit, erwartete.

»Grünspan, wo bleiben Sie denn?« Dr. Davids wühlte in irgendwelchen Akten, von denen Berge auf seinem Schreibtisch und auf einem Beistelltisch lagen. »Setzen Sie sich«, sagte er, ohne den Blick zu heben, und deutete auf einen Stuhl.

Lenny durchquerte das große Büro und setzte sich. »Ich wollte …«, fing er an, aber Dr. Davids unterbrach ihn mit einer Handbewegung.

»Ich hab’s gleich«, sagte er. »Einen Augenblick noch.«

Ein Moment geräuschvoller Ruhe trat ein. Lennys Blick schweifte ab, während Dr. Davids in seinen Unterlagen kramte. Draußen vor dem Fenster fristeten ein paar dunkle Efeupflanzen ihr schattiges Dasein im Innenhof. Leise drangen von der Neckarstraße Geräusche des Straßenverkehrs herein. Dr. Davids klappte den Aktendeckel zu und sah Lenny durch seine dicke Hornbrille zum ersten Mal an.

»So«, sagte er und lehnte sich zurück. Lenny nickte. »Grünspan, Sie sind jetzt seit ein paar Wochen bei uns und ich führe mit allen unseren Referendaren von Zeit zu Zeit ein kleines Orientierungsgespräch.« Das war Lenny neu. »Sie wissen natürlich, dass wir von der Staatsanwaltschaft bei Straftaten einen Ermittlungsauftrag haben. Meistens geben wir die Ermittlungen an die Polizei ab. Das muss aber nicht immer sein. Wir haben durchaus auch die Möglichkeit, eigene Ermittlungen anzustellen. Oder die Untersuchungen der Polizei zu überprüfen. Denn schließlich müssen wir im Zweifel Anklage erheben und möglichst einen erfolgreichen Prozess durchfechten. Das sind wir der Gesellschaft und vor allem den Steuerzahlern schuldig. Und hier kommen Sie ins Spiel.« Lenny war wieder hellwach. Zugegeben, er hatte nach den ersten Sätzen des Staatsanwalts schon fast abgeschaltet. Das lag nicht an seinem Mangel an Konzentrationsfähigkeit, sagte er sich, sondern vor allem an der monotonen Stimme Dr. Davids’. Außerdem hatte er den Eindruck, sein Chef setze zu einem grundsätzlichen Monolog über das Rechtswesen in der Demokratie an, was für ihn durchaus eine ausreichende Rechtfertigung fürs Abschalten gewesen wäre. Von wegen Orientierungsgespräch.

»Grünspan, mir geht es um eine heikle Angelegenheit, und ich kann sie nicht irgendeinem x-beliebigen Beamten anvertrauen. Ich brauche einen neuen Mann mit einem unverbrauchten Blick, dem ich hundertprozentig vertrauen kann.« Dr. Davids beugte sich über den Tisch und sah Lenny zwischen seinen Aktenbergen hindurch eindringlich an. »Grünspan, kann ich Ihnen vertrauen?«

Lenny nickte eifrig. »Sicher, Dr. Davids. Hundertprozentig.«

»Sehr schön. Das hatte ich gehofft.« Der Staatsanwalt legte seine Fingerkuppen aneinander. »Denn ehrlich gesagt, bis jetzt haben Sie sich noch nicht sehr hervorgetan, mein Lieber. Man hat von Ihnen noch nicht viel gesehen … Und, nun ja, da war eine Sache ganz zu Anfang Ihrer … Arbeit hier …« Er kramte in seinen Akten und nahm schließlich einen Notizzettel zur Hand. »Ah ja.« Er legte ihn wieder beiseite, ohne näher darauf einzugehen.