Gebrauchsanweisung für Schweden - Antje Rávik Strubel - E-Book

Gebrauchsanweisung für Schweden E-Book

Antje Rávik Strubel

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Beschreibung

Pippi Langstrumpf, Männer mit Kinderwagen und leuchtend rote Holzhäuser – die Autorin spürt ihrer Sehnsucht nach und verrät, wie Wintersport in Schweden zum Volksfest wurde und womit Köttbullar und Safrankuchen am besten schmecken. Weshalb es hier kaum Ikea-, aber so viele Antikmärkte gibt. Was Gotland zum Paradies für Alleinreisende macht und was bei dreimonatiger Dunkelheit gegen Schwermut hilft. Wieso der Wodkagürtel so locker sitzt und der Polarkreis gleichzeitig in zwei Richtungen wandert. Dass bei den Schweden schon die Nationalhymne von der Liebe der Natur erzählt. Wie es wirklich um die supersoziale Marktwirtschaft bestellt ist. Und was Sie tun sollten, wenn Sie beim Himbeerpflücken von einem Elch überrascht werden.

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Aktualisierte Neuausgabe 2022

© Piper Verlag GmbH, München 2008, 2013, 2018 und 2022

Alle Rechte vorbehalten

Karte: cartomedia, Karlsruhe

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Covermotiv: Bethel Fath / LOOK-foto

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Karte Schweden

Sehnsucht

Nähe und Distanz

Was wir in Schweden suchen

Verbindung nach Europa

Auf der Fährte der Urahnen

Eine Überfahrt im Winter

Die sozialistischen Nachbarn

Stolz und Nachsicht

Postskriptum

Rot ist nicht nur eine Farbe

Land der Geschichten und Sagen

Rot hält länger

Autonome Kinder

Liebe macht blind

Was der Rasenmäher mit Sex zu tun hat

Schweigsame Makler und umzugsfreudige Käufer

Das Böse kommt aus der Stadt

Stadt der Lichtspiegelungen

Stadt im Glanz der Gegenwart

Vorgärten im Meer

Der amerikanische Killerkrebs

Poshe Partyinsel oder einsames Literateneiland?

Schweden und die anderen

Amerika, Amerika!

Fucking Åmål!

Stadt der Hoffnung

»Kanakendemokraten«

Insel der Eigenbrötler

Sehen Sie, was Gotland für eine Wirkung hat?

Findet Bergman!

Vom Entschlüpfen und Entkommen

Von Algen und Trottellummen

Erzähl mir was vom Elch

Postskriptum

Postskriptum II

Die Guten gehen in die Natur

Die standhafte Fichte

Erlebnis Armut

Nicht das Wetter ist schlecht, sondern deine Kleidung!

Geliebte Einsamkeit, subtiles Gelächter

Jedermann hat ein Recht

Norwegerwitze

Überleben in der Wildnis

Nachtrag

Auffallen verboten!

Königlicher Neid

Mysteriöse Alma

Was da ist

Arbeiterliteratur

Mord und Totschlag

Was noch passiert

Postskriptum

Postskriptum II

Unternehmergeist und Schnaps

Alkohol tut keinem was

Kleiner Nachtrag

Kleiner Tipp

Toben im Verein

Im Schatten der blau-gelben Fahne

Die Zwanzigerjahre

Glückliche Väter, arbeitende Mütter

Allianzen

Alles kommt irgendwoher

Schön wie Nebel

Schule ohne Zensuren

Gelbe Sonne vor blauem Himmel

In den Norden? Wozu?

Die wandernde Stadt

Graues Gold

Wandernde Menschen

Auf Nahrungssuche

Gehängtes Brot

Der wandernde Strich

Grenzenlosigkeit

Anbetung des Lichts

Kleine Auswahl zum Weiterlesen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Karte Schweden

Sehnsucht

Noch immer sehe ich sie stehen. Am Kai. Auf der Mole. Am Leuchtturm in Sassnitz. Am Strand.

Menschen in bunten Hemden, mit flatternden Hosenbeinen, schief gewehten Hüten, Menschen in DDR-Niethosen, die Hosenbeine bis zum Knie aufgerollt. Ich sehe sie stehen, ich sehe sie mit einer Hand die Augen abschirmen und den Fähren nachschauen. Fähren, die über die Ostsee fuhren, nach Trelleborg und weiter. Ich sehe sie aufs Meer hinausschauen, der Schwedenfähre nach, die aus dem Sassnitzer Hafen auslief. Die Fähre fuhr in greifbarer Nähe vorbei, Reling, Rettungsboote, Rauch und Bullaugen waren für das bloße Auge sichtbar. Die Blicke aber waren auf Unsichtbares gerichtet: auf schwimmende Paläste, die das schnöde Hier mit einem Traum verbanden, mit der anderen, unbekannten Seite der Welt, mit dem Westen. Die Fähren waren real und irreal zugleich und entzündeten Wahnvorstellungen. Die Menschen winkten ihnen nach und malten sich aus, wie es wäre, in einem Werkzeugkasten in den Maschinenraum geschmuggelt zu werden, als Matrose verkleidet an Bord zu gehen oder sich, an den Unterboden eines Lkws gekettet, als Frachtgut verladen zu lassen. Manche übten sich im Weitspucken. Einmal, das wussten sie, würde die Spucke die Bordwand treffen und dort hängen bleiben, und dann würde das Ungeheuerliche geschehen: Die Spucke würde in weniger als fünf Stunden das ersehnte Ufer erreichen; ihre Spucke. Ein Teil ihrer selbst. Sie aber mussten jede dieser Fähren davonziehen lassen.

Die Fähren zogen schmerzhaft langsam dahin. Sie wurden zu weißen Punkten, sie standen noch lange am Horizont, bevor sie verschwanden. Mit ihnen verschwanden teurer Sekt und glitzernde Pools auf dem Oberdeck, coole Musik, glänzende Zeitschriften und Düfte, die schwindlig machten und in der salzig-öligen Ostseeluft beinahe schon zu wittern waren. Es verschwanden lässige Kellner, lässige Eltern, rosenlippige Mädchen und schmalbrüstige Jungs und vor allem eines: echte Jeans. Stonewashed.

Erst als auch die letzte Fähre hinter dem Horizont verschwunden, als sie abgetaucht war hinter der unsichtbaren Grenze, die irgendwo zwischen den Kreidefelsen, der Mole und dem fernen gelobten Land verlief, war man nicht mehr so sicher, dass es alles das auch tatsächlich dort gab. Man hatte es zwar vor dem inneren Auge gesehen, in vagen Bildern, flüchtig und wie aus der Erinnerung. Aber die Erinnerung wurde durch nichts gestützt. Schließlich war niemand je dort gewesen. Und wenn es einem doch gelungen sein sollte, mit einem Segler, einem Schlauchboot oder auf der Luftmatratze lebend die Grenze zu überqueren, dann war er nie zurückgekehrt, um davon zu berichten.

Der Himmel reichte nicht weiter als der Blick. Was dann kam, glich so sehr dem Nichts, dass man sich sagte, die Sehnsucht lohne vielleicht nicht. Vielleicht waren auch die Fähren nur Gaukelei, Hitzebilder der Ostseeluft. Dieser Gedanke war tröstlich. Allerdings hielt er nicht lange, weil er so durchschaubar war. Sogar der Trost schmeckte schal.

Ich sehe sie stehen.

Ich selbst stand auch da. Aber ich war zu jung, als dass alle diese Erinnerungen meine eigenen sein könnten. Erinnerungen an ein Schweden im Kopf, das in einem gleißenden Licht erschien.

Ein Licht, in dem es leuchtend rote Häuser, gepflegte Straßen, wohlhabende, ausgeglichene Menschen gab, riesige, gesunde Wälder, ABBA und Lachs; ein Luxus, der meine Vorstellungskraft gänzlich überstieg.

Ich war zu jung. Aber jedes Mal, wenn heute die Fähre in Sassnitz ablegt und ich auf dem Weg nach Schweden bin, sehe ich sie da stehen und winken.

Wenn über diesem Buch eine silberne Melancholie hängt, wenn sich ein tief stehendes, blendendes Licht wie ein Weichzeichner über die Landschaft der Sätze legt, wenn der Holzgeruch des Sommers zu intensiv aus den Zeilen strömt und der Himmel größer wird, als er es in Wirklichkeit je sein könnte, dann vergeben Sie mir.

Noch immer entzündet jede Fähre die Sehnsucht in mir erneut, und seit die Grenzen offen sind, bin ich häufig an Bord gegangen. Ich habe die eisklaren Dalsland-Seen mit dem Kanu befahren, das Klirren der Segelstangen in den Stockholmer Schären gehört, ich habe im Schatten der Stadtmauer von Visby auf Gotland gesessen und schlaflos im unermüdlichen Junilicht in Lapplands Nächten gelegen.

Die Sehnsucht hat sich nach der Wende verändert und wurde zunächst zu einer Kindersehnsucht, zu einer Sehnsucht nach Abenteuer und am Lagerfeuer gebratenem Fisch, was ich mir unter dem rauen Leben draußen so vorstellte, das auf den mittlerweile geordneten Campingplätzen an der Müritz nicht mehr zu haben war.

Später hatte ich genug Westen im Kopf, im Blut und im Portemonnaie, um mich wieder nach einer besseren Welt zu sehnen.

Was ich hier fand, war eine Ahnung davon. Was ich hier fand, war eine Gesellschaft, die einer real existierenden Utopie am nächsten kam.

Ich weiß: Die Sehnsucht bildet immer Übertreibungen aus. Aber erst die Übertreibung lässt die Gegenstände der Sehnsucht am Ende Wirklichkeit werden.

»Nähme ich Flügel der Morgenröte und machte mir eine Wohnung zuäußerst am Meer«, ließ Astrid Lindgren in »Ferien auf Saltkrokan« ihre Hauptfigur im Rausch der Begeisterung rufen; ein Bibelvers übrigens, der in der DDR in ein Protestlied einging.

Und Olof Palme sagte: »Wir sind mutig genug, Veränderungen zu wollen, weil Veränderungen Utopien wirklich machen können.«

Was ich hier fand, waren Menschen, die mich manchmal an meine Kindheit erinnerten. Ihre Rücksicht und ihre Eckigkeit waren mir vertraut. Die Selbstverständlichkeit, mit der Frauen Berufe ausübten und Kinder in Kindergärten gingen, hatte ich im vergleichsweise rückschrittlichen Gesamtdeutschland beinahe vergessen, bevor ich sie hier wiederfand. Hier fiel mir auch wieder ein, dass ich Small Talk früher nicht hatte ertragen können: In Schweden wird nicht herumgelabert. Manche mögen die Schweden deshalb für schwer zugänglich halten, für wortkarg und unfreundlich. Es gibt Witze, in denen Schweden vorkommen, die nur dann mit ihren Nachbarn reden, wenn sie sich aus ihrem eigenen Haus ausgesperrt haben und den Nachbarn um den hinterlegten Ersatzschlüssel bitten müssen. Peter Berlin schreibt in seinem »Xenophobe’s Guide to the Swedes« ironisch: »Das Image, das die Schweden weltweit haben, ein bisschen eckig zu sein, täuscht; sie sind definitiv quadratisch. Der Autor Herman Lindquist fasst das folgendermaßen zusammen: Die Schweden betrachten die Welt durch einen Rahmen, der zusammengenagelt wurde von Martin Luther, Gustav Vasa, der Abstinenz-Bewegung und hundert Jahren Sozialismus. Luther steuerte die schwedische Vorliebe für Einfachheit bei, Vasa das Nationalgefühl, die Abstinenz-Bewegung die Frömmelei und der Sozialismus die arbeitsame Bescheidenheit.«

Eigentlich machen die Schweden nur nicht gern viel Aufhebens um sich. Niemand scheint mit aufgepumptem Ego herumlaufen zu müssen. Was nicht heißt, dass sie schüchtern wären oder voller Selbstzweifel. Im Gegenteil. Die meisten scheinen so zufrieden zu sein, dass sie es in den letzten zweihundert Jahren nicht nötig hatten, auch nur ein einziges anderes Land zu überfallen und auszurauben; und diese Unterlassung scheint mir, wenn ich mir die geopolitische Weltkarte so ansehe, nicht gerade die einfachste Übung einer Nation zu sein … Das wiederum macht den schwedischen Nationalstolz so ungewöhnlich und erklärt vielleicht, warum sich die Schweden – natürlich nur insgeheim und ohne es an die große Glocke zu hängen – sogar für überlegen halten: Sie sind immerhin weltweit die Ersten, die es sich leisten können, gerade auf das Nichtkriegerische ihrer Geschichte stolz zu sein.

Ihre still vorausgesetzte Überlegenheit mag auch darin begründet liegen, dass sie es in hundert von diesen zweihundert Jahren geschafft haben, die Balance zu halten zwischen Kapitalismus und Sozialismus, zwischen Fortschritt und Menschlichkeit, dass es ihnen irgendwie immer noch gelingt, zwischen extremem privaten Reichtum und Armut auszugleichen und ein ausgeprägtes Gemeinschaftsbewusstsein mit einem ebenso ausgeprägten Freiheitswillen in Einklang zu bringen. Olof Palme, der, um gesellschaftliche Hierarchien zu durchbrechen, das Duzen gesellschaftsfähig machte, sagte dazu: »Gemeinsam Verantwortung zu tragen und das Gefühl, eine Gemeinschaft zu sein, stellen wir über Egoismus und einen rauen Individualismus.«

Zyniker gibt es immer. Zyniker sagen, jeder Schwede würde zwar frei geboren, aber dann zu Tode besteuert. Zyniker sagen, Schweigen sei in Schweden nicht nur Gold, sondern würde jede Diskussion auch unter dem Gewicht dieses Edelmetalls begraben. Die Beobachtung ist richtig. Man könnte das Ganze aber auch folgendermaßen betrachten: Geredet wird nur, wenn es etwas Sinnvolles zu sagen gibt. Alles andere ist kallprat, kaltes Gerede, oder auch dödprat, totes Gerede. Zyniker werfen natürlich sofort ein, das diene alles nur der Kaschierung des Ketchupeffekts: Erst komme tatsächlich lange nichts, aber dann die volle Ladung.

Zyniker sagen, schlimmer, als in Schweden reich zu sein, sei nur noch eines: berühmt zu sein. Berühmtheit ist nur gestattet, wenn der Glanz auf jeden Einzelnen im Land ein bisschen abfärbt; Sieger im Biathlon zu sein ist okay, solange sich dadurch ganz Schweden über das Skifahren international ins Gespräch bringen kann. Ingmar Bergman und Lukas Moodysson (Fucking Åmål) sind okay, weil ihre Filme die schwedische Psyche mit ihrer svårmod, der dunklen Melancholie, außerhalb Schwedens berühmt gemacht haben. Wer sich allerdings als Star behaupten will, lebt gefährlich. Rapper werden ihr Glück lieber in Hollywood suchen als in Malmö, der Fußballer Zlatan Ibrahimović hat Probleme, sein Ego auf der Bank zu lassen, und auch Ingrid Bergman hat sich ihre Eskapaden leider nicht gut genug überlegt; um ihre Landsleute nicht zu verprellen, hätte sie wenigstens auf jedem amerikanischen roten Teppich vehement auf ihre schwedischen Wurzeln hinweisen müssen …

Zyniker führen auch gern die Leichen im schwedischen Nationalkeller an. Die Neutralität Schwedens während des Zweiten Weltkriegs beispielsweise, als man Soldaten der deutschen Truppen, die Norwegen besetzt hielten und auf Heimaturlaub gingen, durchs Land reisen ließ, trübt das schwedische Nationalbewusstsein noch immer. Auch die Neutralität der schwedischen Regierung Stalin gegenüber, die dazu führte, die Flüchtlinge aus dem Baltikum, die in Schweden Schutz gesucht hatten, dem Diktator wieder in die Arme zu treiben, stört die nationale Gelassenheit.

Die Wikinger waren ebenfalls nicht unbedingt nur Unschuldsknaben. Ironischerweise ist jedoch gerade auf sie einiges von dem zurückzuführen, was die schwedische Gesellschaft heute so ausgeglichen macht. »Lagom« beispielsweise ist eine der magischen Formeln, die die Wikinger erfunden und ins kollektive schwedische Unterbewusstsein eingeschrieben haben. Wenn sie, vom Kämpfen und Rauben durstig, ums Lagerfeuer saßen und das Trinkhorn kreisen ließen, trank jeder nur so viel Met, dass das Horn erst geleert war, nachdem alle getrunken hatten: eben laget om, reihum, gegangen war.

Lagom bedeutet »maßvoll, angemessen, im richtigen Verhältnis« und sorgt als eines der gesellschaftlichen Grundprinzipien bis heute für die berühmte Zurückhaltung der Schweden. Es sorgt allerdings auch für eine inzwischen kritisch betrachtete Vereinheitlichung der Gesellschaft. Im Zuge der sozialen Reformen in den 1970er-Jahren nahm der Gleichheitsgedanke extreme Formen an. Beispielsweise waren Zensuren an Schulen verpönt. Schüler wurden erst ab der neunten Klasse überhaupt benotet. Jeder sollte eben gerade so gut sein wie der andere; nicht mehr und nicht weniger. Talente wurden auf diese Weise allerdings eher behindert als gefördert.

Obwohl die Gesellschaft relativ konform wirkt, wird doch ein erstaunlich radikaler Individualismus gelebt. Dem großen Gemeinschaftsbewusstsein steht ein ebenso großes Bedürfnis nach Unabhängigkeit entgegen. Um beides unter einen Hut zu bekommen, gilt es als höchstes Gebot der offenen schwedischen Gesellschaft, den Freiraum des anderen zu achten. Ein eindrückliches Beispiel dafür liefert die Universität Uppsala. Während andere Länder ihre Leute mit Verbotsschildern und Strafandrohung gängeln, um zu verhindern, dass Zigarettenqualm in die passiven Lungen der Nichtraucher dringt, oder Raucher gleich zum Sündenbock aller gesellschaftlichen Probleme stigmatisieren, sind schwedische Raucher offenbar von allein so zurückhaltend, dass man sie vor dem Aussterben retten muss. An der Universität Uppsala wurden zu diesem Zweck Schilder aufgestellt, auf denen es ausdrücklich heißt: Rauchen erlaubt!

Einen ruppigen Umgangston, die Ellenbogenmentalität deutscher Großstädte und lautes Geschimpfe über hohe Preise oder die Verspätung der Bahn sollte man sich vor Antritt der Reise abgewöhnen, um nicht sofort als Fremdling geoutet zu werden. Aber schon mischen sich wieder die Zyniker ein und behaupten, das Bedürfnis nach Unabhängigkeit könne mitunter so groß sein, dass die Bereitschaft zur Geselligkeit an überraschende Grenzen stoße: Eine Person mögen Schweden noch als Begleitung betrachten, zwei dagegen gelten schon als Menschenauflauf.

In Deutschland würde man diesen scheinbar unüberwindbaren Widerspruch zwischen Kollektiv und Individuum mit Verordnungen und Gesetzen zum Allgemeinwohl lösen, die das persönliche Besitzstreben hier und da stutzen. In Schweden scheint es sich von allein herumgesprochen zu haben, dass man den Ast, auf dem man sitzt, besser nicht absägt.

Begeistert eröffnete ich in diesem utopischen Land ein Konto und kaufte mir 2003 ein Haus.

Begeistert entdeckte ich, dass ein Gericht, das während meiner Kindheit unter dem abfälligen Namen Hoppelpoppel dadurch entstand, dass man Essensreste in eine Pfanne warf und mit Ei vermischte, hier pytt i panna heißt und als ernst zu nehmende Speise sogar in Restaurants erhältlich ist.

Begeistert ging ich davon aus, Land und Leute wären mir so ähnlich wie die deutsche Sprache dem Schwedischen. Noch hatte ich keine Ahnung, dass sich besonders im stümperhaften Sprachenvergleich die blutige Anfängerin zeigt.

Mittlerweile weiß ich, dass dort, wo sich die Sprachen scheinbar besonders ähneln, die tiefsten Fallgruben sind.

Mittlerweile weiß ich, dass ich das Kino ganz sicher nicht finden werde, solange ich das Gebäude mit der Aufschrift »Bio« für ein Gewächshaus halte, in dem Ökotomaten gezogen werden. Mittlerweile weiß ich auch, dass man schwedisches öl nicht ins Auto, sondern ins Bierglas füllt, dass man schwedisches glas essen kann, jedenfalls wenn die Vanille- oder Schokokugel mit einem zweiten »s« garniert wird, ich weiß, dass blodpudding keine Nachspeise ist, sondern Blutwurstgrütze, die mit Preiselbeeren serviert wird, und dass Wegweiser zur gamla stan nicht auf einen vergammelten Stadtteil schließen lassen, sondern den Weg in die gut erhaltene Altstadt weisen. Zu einer Verabredung zum middag werde ich zukünftig nicht mehr mittags um zwölf erscheinen, sondern abends zum Dinner. Und wenn man mir sagt, dass ich mycket bra aussehe, werde ich nicht erröten. Ich werde dahinter keine Anspielung auf meinen »bra« vermuten, weil das Wort nicht Büstenhalter, sondern gut bedeutet. Ich weiß aber auch, dass es meine schwedische Verabredung kaum in Verlegenheit stürzen würde, sollte aus Versehen doch meine Unterbekleidung aus irgendeinem Spalt der oberen Textilschicht hervorlugen. Immerhin wurde in Schweden der Reißverschluss erfunden. Die Entdecker dieser Vorrichtung zur beschleunigten Entblößung werden sich durch den Anblick eines bysthållare wohl kaum aus der Fassung bringen lassen. Und ich werde nicht aus der Fassung geraten, wenn ich gefragt werde: »Vill du fika?«, weil das kein unverschämter Antrag, sondern eine Einladung zum Kaffee ist, was wiederum bedeutet, in den engeren Freundeskreis vorgedrungen zu sein. Einmal dort, wird man von nun an zu Weihnachtsfeiern, zum Krebsessen und zum smörgåsbord eingeladen, als gehörte man schon immer dazu. Bei smörgås handelt es sich glücklicherweise heute nicht mehr um die weißen Fettklümpchen, die beim Buttern im Fass oben schwimmen, wie die wörtliche Übersetzung nahelegt; aus der »Buttergans« ist ein Büfett mit regionalen Delikatessen geworden.

Meine ersten Versuche in der Fremdsprache waren jedenfalls die reinsten Blindflüge. Als man mir sagte, ich sei vacker, hielt ich das für reine Mitleidsbekundung. Erst später begriff ich, dass hier nicht das gönnerhafte Klopfen auf die Schulter der Ausländerin gemeint war, die sich im hüpfenden, korkigen Schwedisch wacker geschlagen hatte. Vacker heißt hübsch, auch wenn das Wort für meine Ohren immer noch so klingt, als sei es im Steinbruch abgebaut worden.

Ein wenig beruhigte mich, dass auch ein anderer und zudem äußerst eloquenter Schwedennarr es nicht auf Anhieb geschafft hatte. Kurt Tucholsky scheint ebenso zielstrebig und kopflos ins fremde Sprachgehege hineingerannt zu sein wie ich. Durch Karlchen, die Hauptfigur seines 1931 erschienenen Romans »Schloß Gripsholm«, lässt er auf die Frage, ob er denn gut Schwedisch spreche, verlauten: »Ich mache das so. Erst spreche ich Deutsch, und wenn sie das nicht verstehn, Englisch, und wenn sie das nicht verstehn, Platt – und wenn das alles nichts hilft, dann hänge ich an die deutschen Wörter die Endung as an, und dieses Sprechas verstehas sie ganz gut.«

Aber noch ein weiterer Irrglaube musste ausgeräumt werden, bevor ich sehenden Auges das fremde Land erkunden konnte: Der berühmte Schwedeneisbecher hat nicht das Geringste mit Schweden zu tun. Es stellte sich heraus, dass diese Eiskreation eine geschickte Erfindung von Betriebsleitern stumpfer HO-Gaststätten der DDR war. Sie brachten darin ihr Fernweh zum Ausdruck. Gleichzeitig tröstete so ein Schwedeneisbecher über den Südfrüchtemangel hinweg; je mehr Eierlikör auf der Schlagsahne war, umso nachhaltiger wirkte der Trost. Dem Schwedeneisbecher mit seinem ums Vanilleeis arrangierten Apfelmus verschaffte allein der Name jenen Hauch von Luxus, dem man sonst in Ermangelung von Pfirsich Melba und Bananensplit ganz hätte entsagen müssen. Einen Schweden nach dem Schwedeneisbecher zu fragen kann also nur dann sinnvoll sein, wenn man sich ihm gegenüber als Ostdeutsche zu erkennen geben will.

Nähe und Distanz

Der erste Schweden-Fanclub in Deutschland wurde von Leuten gegründet, die damals in Sassnitz standen und winkten. Aber auch aus westdeutscher Sicht scheint vieles an Schweden verheißungsvoll zu sein. So wie Italien Ende der Sechzigerjahre zum begehrtesten Reiseziel der Deutschen wurde, hat sich in den Neunzigerjahren ein Schwedenkult ausgeprägt, dessen Opfertempel Outdoorläden wie »Bannat« oder »Globetrotter« sind. In Zeiten globaler Erwärmung scheint der Norden als Urlaubsziel dem glühenden Süden den Rang abzulaufen; sehr zum Missfallen der alten Schwedenfraktion, die die klaren Seen und einsamen Wälder schon von Tausenden deutschen Turnschuhtouristen verschmutzt und zertrampelt sieht. Außerdem wirkt ein Staat mit einer vergleichsweise großen sozialen Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit in dieser von Terror, sozialer Not und grassierenden Vernichtungswellen aufgeriebenen Welt für viele irreal und ist auch deshalb nicht nur für Touristen faszinierend.

In den Achtzigerjahren wurde Schwedens Modell von den Neuen Liberalen heftig kritisiert. Die Thatchers und Reagans auf dieser Welt verteufelten das folkhem – dieses auf soziale Gleichheit, Wohlstand und Gerechtigkeit ausgerichtete Volksheim – als sozialistisch. Sie befanden, dass die Menschen dort überbürokratisiert und eingeengt wären und bevormundet würden. Im Grunde sahen sie jedoch ihr Modell eines aggressiven, freidrehenden Kapitalismus ohne staatliche Lenkung bedroht, weshalb sie jenen Staaten, die sich soeben von Diktaturen befreit hatten, das skandinavische Vorbild ausredeten und ihnen erpresserisch die Regeln eines ungezügelten Marktes diktierten. Vergeblich versuchten unter anderem die Südafrikaner und die Polen, das skandinavische Modell einer gemäßigten Marktwirtschaft auf ihr Land anzuwenden.

Mit dem Rückgang der Sozialstaatlichkeit nach der Wende fiel Schwedens Umwelt-, Gesundheits- und Sozialpolitik in Deutschland noch stärker als Vorbild ins Auge. Dieses Bild gibt es noch immer, auch wenn die Wirklichkeit längst anders aussieht. Von der Umweltpolitik, die in Schweden seit den Siebzigerjahren eine wichtige Rolle im Regierungsprogramm spielt, fiel spätestens mit der Nachricht von überalterten Atommeilern der Glanz ab. Das Gesundheitssystem mit seinem chronischen Ärztemangel, den endlosen Wartezeiten für Patienten und der Überbelegung von Krankenhäusern wird seinem eigenen Anspruch schon lange nicht mehr gerecht. Und ein Sozialsystem, das die Armen durchs Raster fallen lässt und für ein schnell wachsendes Prekariat sorgt, folgt auch nicht mehr den Idealvorstellungen des folkhem; die schwedische Hartz-IV-Version heißt »Phase 3«. Beim Thema Gleichberechtigung oder der staatlichen Kinderversorgung kann Deutschland allerdings weiterhin einiges lernen.

Was wir in Schweden suchen

Egal, ob Ost oder West und ungeachtet der politischen Weltlage: Auf den Wartespuren vor den Fähren im Rostocker oder Sassnitzer Hafen bildet sich sofort eine eingeschworene Gemeinschaft.

Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, an Bord der schnellen, teuren TT-Line oder der gemächlicheren Scandlines gehen, die Sie entweder direkt nach Trelleborg oder über Gedser und Helsingör nach Helsingborg bringen, dann haben Sie hoffentlich eine Thermoskanne und eine Tupperdose mit Schnittchen im Gepäck. Denn so stimmen sich echte Schwedenfahrer ein: kurzes Picknick in der Fährschlange, der letzte Check, ob Fahrrad, Surfbrett oder Boot auch ordentlich verzurrt sind, dann ein Plausch mit dem Nachbarn übers Reiseziel. Als stimme die Aussicht, bald unter weniger Menschen und in einem Land ohne Zäune zu sein, milde, setzen auf diesen Wartespuren eine Hilfsbereitschaft und ein freundschaftlicher Umgang ein, der noch Minuten vorher auf der deutschen Autobahn undenkbar war. Die Reise geht ja auch in eines der am dünnsten besiedelten Länder des Kontinents. Auf einer Fläche von der Größe Spaniens oder Frankreichs leben nur neuneinhalb Millionen Einwohner, die meisten von ihnen im Süden. Schon wenige Hundert Kilometer weiter nördlich kann man einen ganzen See, einen halben Wald oder eine Landschaft mit Kirche für sich allein haben. Kein Drängeln, keine fremden Schweißtropfen auf dem eigenen Handtuch, überhaupt wenig Schweiß, da die Luft, selbst wenn die Sonne scheint, meistens angenehm kühl ist.

Wie vieles, was man im Leben neu und ganz für sich allein zu entdecken meint, war allerdings auch die Schwedenbegeisterung schon vor einem da. Tucholsky hat bereits in den Zwanzigerjahren festgestellt: »Es gibt kein deutsches Normalgehirn, das bei dem Gedanken ›Schweden‹ andere als angenehme, freundliche, gute Gedanken hätte.«

Eingefleischte Schwedenfahrer erkennt man an ihrer Fleecepullover-Kultur, an Goretex-Sandalen, wetterfesten Jacken und Funktionshosen mit eingearbeiteten Reißverschlüssen auf Höhe der Oberschenkel.

Man erkennt sie an unkomplizierten Haarschnitten und farbenfrohen Hüten, die so praktisch gearbeitet sind, dass selbst die Krempe noch Platz für eine kleine Tasche bietet oder für ein ausklappbares Mückennetz. Die Mückennetze sind allerdings eher ein Zeichen für Neulinge, die sich von dem Gerücht haben in die Irre führen lassen, die einzigen in Schweden lebenden Tiere seien Mücken und Elche. Das ist nicht ganz korrekt. Es gibt auch Füchse, Steinadler, Trottellummen, Schafe, Biber, Waldschnepfen, die gemeine Stubenfliege und hin und wieder einen Bären. Außerdem sind mir nie mehr Mücken begegnet als auf einer beliebigen Wiese in Brandenburg. Und für die Sommer in Nordschweden, nahe der finnischen Grenze, wo das Land sumpfig ist und die Luft von kondensierendem Schmelzwasser und häufigen Regengüssen feucht gehalten wird, hilft nur stoische Gelassenheit. Gegen das gern und massenhaft verwendete Autan sind die Mücken inzwischen immun, und wie es sich mit den Elchen verhält, dazu später.

Unter den Schwedenfahrern gibt es mehrere Fraktionen. Auch das ist für den Neuling nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Jede Fraktion betreibt das, wofür sie sich entschieden hat, mit großer Hartnäckigkeit. Die Radel- und Badefraktion verteilt sich entlang der Süd- und der südlichen Westküste und genießt es, auf dem Rad jeden Tag ein schönes Ausflugsziel wie die stolze Festung Varberg oder die Ruine der Festung Falkenberg anzusteuern oder sich auf der Schlösserroute treiben zu lassen, vorbei an Herrenhäusern wie Häckeberga. Es wäre nun falsch anzunehmen, dass jeder mit Radl auf dem Dach zur Radlfraktion gehört. Da gibt es entscheidende Unterschiede! Für die Radsportler mit regendichter Komplettverkleidung ist eine Festung höchstens ein markanter Punkt an der Strecke, wo sie die Zwischenzeit nehmen, um festzustellen, ob sie sich gegenüber dem Vorjahr verbessert haben (unwahrscheinlich), und sich kurz darüber austauschen, ob sie auf den Radwanderweg Sverigeleden abbiegen und dann gleich bis zum Polarkreis durchradeln sollen (wahrscheinlich). Die Triathlonfraktion wird sich in Mittel- und Ostschweden eine Ferienhütte suchen, vor der sie laufen, schwimmen und Rad fahren kann, und Familien mit Kindern reisen gern nach Småland oder nach Sörmland, weil es dort so viele Töpfereien, Glasbläsereien und Gutshöfe anzusehen und eine Museumsstraßenbahn gibt und zwischen Lönneberga und Vimmerby all die Orte, die man aus Astrid Lindgrens Kinderbüchern kennt.

Es kommt vor, dass die Fraktionen aufeinandertreffen; dann begegnen sie sich mit Respekt und Verständnislosigkeit. Beispielsweise kann eine in Sörmland Pilze suchende Familie leicht einem keuchenden, wegen des riesigen Aufbaus auf dem Rücken von einem Käfer kaum zu unterscheidenden Geschöpf begegnen, dem eine leere Sigg-Flasche gegen die Kniekehle schlägt und dem, wenn der Wind gut steht, eine leicht säuerliche Duftnote vorausgeht. Das ist ein Wanderer, unterwegs auf dem 1000 Kilometer langen Sörmlandsleden, der schon seit Wochen nur in offenen Schutzhütten geschlafen hat und von den Kindern um sein wüstes Haar und die Abende am Lagerfeuer beneidet wird.

Nach Schonen fahren die, die auf Reiterhöfen reiten wollen, und auf einem Dampfer auf dem Götakanal schauen die, die lieber zuschauen als mitmachen, den anderen bei all dem zu.

Motorradfahrer und Mittelalterfreaks erkennt man an ihren verwegenen Bärten, ihr Ziel ist Gotland oder Östergötland, und wenn sie im Winter auf ihren Maschinen mit geheizten Lenkergriffen bis nach Lappland fahren, dann nennen sie sich nicht, wie man jetzt vermuten könnte, Huskys, sondern Elefanten. Die Wohnwagenfahrer sind die Wackelkandidaten unter den Schwedenfans. Die können sich nicht entscheiden, weshalb man sie überall findet, außer bei den Elefanten.

Kanuten fahren in den Glaskogen oder nach Värmland mit seinen vielen Seen. Värmland ist nicht nur das Land der Märchen, sondern auch Schwedens Ausnahmezustand. Ein zerknirschter in Berlin gestrandeter Exilschwede sagte mir: »Värmland ist nicht Schweden! In Värmland sind die Leute freundlich und haben Humor!« Von Trelleborg aus erreicht man diese Gegend in sechs bis sieben Stunden, wenn man sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen hält. Und das ist ratsam, seit vor ein paar Jahren die großen Bundesstraßen, die anstelle von Autobahnen quer durchs Land führen, flächendeckend mit Blitzern ausgerüstet wurden. Alle paar Kilometer stehen die schlanken Silbersäulen am Straßenrand. Man wird allerdings vorher freundlich darauf hingewiesen.

Wer nach Schweden fährt, egal, ob zum Kanufahren oder Wandern, macht Urlaub von Deutschland, indem er in seiner Wunschvorstellung von Deutschland lebt. Die Sehnsucht eingefleischter Schwedenfahrer entzündet sich nicht am Exotischen, wie es bei Fernreisezielen in Asien oder Afrika der Fall sein mag, nicht am Erlebnis einer Fremdheit, die durch mangelnde Vergleichsmöglichkeiten mit dem Eigenen nur umso deutlicher wird. In Schweden befindet man sich in einem fremden Land und kann sich doch im Bekannten bewegen. Unterschiede fallen inmitten der Ähnlichkeiten deutlich auf. Beispielsweise scheint die Landschaft mit ihren tiefen Wäldern und Seen so ursprünglich, wie es in Deutschlands gehegten Auen nie denkbar wäre, gleichzeitig erinnert sie mit Fauna und Flora an das, was man kennt. Auch das schwedische Lebensmodell wird mit seiner lässigen, unhierarchischen, offenen Art leicht zum ins Ideal verschobenen Eigenen.

Oder wie Aris Fioretos, der ehemalige schwedische Kulturbotschafter in Berlin, es formulierte: »Wir sind gewissermaßen das, was die Deutschen am liebsten morgens im Spiegel sehen würden: sich selbst minus die Geschichte des 20. Jahrhunderts.«

Verbindung nach Europa

Für Skandinavier sind die Fähren so selbstverständlich wie für uns die Deutsche Bundesbahn. Ob es kleine Autofähren sind, die zwischen vorgelagerten Inseln und in den Schären verkehren, oder Seilwindefähren, die wie auf dem Stora Le in Dalsland zwei Ortsteile an gegenüberliegenden Seeufern verbinden, oder ob es die großen Fracht- und Passagierfähren auf Ostsee und Nordsee sind, die Unterhaltungsprogramme und Kapitänsmenü anbieten und mit Sauna und Bibliothek ausgestattet sind; der Anblick von Fähren löst bei Skandinaviern Zufriedenheit aus. Für ein Wochenende bucht man sich gern mal in einer der Luxuskabinen von Viking Line oder Stena Line ein, um nach der Überfahrt nach Rostock, Oslo oder Kopenhagen ausgeschlafen einen Stadtbummel zu machen. Auch das Trinken macht duty free mehr Spaß.

Ebenso umstritten wie bei uns die Privatisierung der Deutschen Bahn war der Verkauf der großen Fährreederei Scandlines, die zunächst der Deutschen Bahn AG und dem Dänischen Ministerium für Transport und Energie gehörte. Seit Juni 2007 ist ein Konsortium unter Führung von Allianz Capital Partners GmbH, München, der neue Eigentümer. Mit der Finanzkrise hat sich allerdings auch die Lage im Fährgeschäft verschlechtert. Immer wieder werden Überlegungen zu möglichen Anteilsverkäufen laut, und im Sommer 2012 hat die schwedische Konkurrenz, Stena Line, schon mal fünf Ostseefährrouten von Scandlines übernommen.

Diese Unruhe in den Eigentumsverhältnissen wird nicht gern gesehen, denn die Fähren stellen trotz Billigflieger und Öresundbrücke immer noch die verlässlichste Verbindung zum kontinentalen Europa dar. Ohne sie käme man sich noch abgelegener vor.

1909 wurde mit der Königslinie die erste regelmäßige Schiffsverbindung über die Ostsee eröffnet. Dieses Ereignis war so wichtig, dass der schwedische König höchstpersönlich zur Schiffstaufe erschien, gemeinsam mit dem deutschen Kaiser. Beide Länder waren sich jetzt einen großen Schritt näher gerückt. Die Schwedenfähre von Sassnitz nach Trelleborg war nach der Linie Rostock – Gedser die erste Eisenbahndampffähre in den Norden und brachte neuen Schwung in die deutsch-schwedischen Handelsbeziehungen. Zuvor hatten nur Postschiffe diese Strecke befahren.

In den Fünfzigerjahren wurde auf der Königslinie die erste viergleisige Großfähre mit separatem Autodeck für den Verkehr zwischen der DDR und Schweden eingesetzt, seither zählt Sassnitz zu einem der wichtigsten Umschlagplätze für alle Frachten, die nach Nord- und Osteuropa gehen. Sowohl europäische Normalspurwaggons als auch russische oder finnische Breitspurwaggons können hier abgefertigt werden.