Gebrauchsanweisung fürs Museum - Konrad O. Bernheimer - E-Book

Gebrauchsanweisung fürs Museum E-Book

Konrad O. Bernheimer

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Beschreibung

Wie wird ein Gemälde zum Klassiker? Wohin sollte man bei einem Bild als Erstes sehen? Wie viel Zeit für eine Epoche einplanen? Konrad Bernheimer, einer der größten Kunstkenner, lädt dazu ein, den Blick fürs Detail zu üben und mehr zu entdecken, die Intensität der Kunstbetrachtung zu fördern und zu erkennen, was Bilder alles verraten. Er öffnet dem Museumsbesucher die Augen, um sich wirklich mit dem einzelnen Gemälde zu befassen, statt nur die Bildbeschreibungen zu lesen. Er verrät, wann man in weltbekannten Sammlungen, die sonst total überlaufen sind, fast allein ist. Zeigt, welche berühmten Kunstwerke überschätzt sind - und welche zu Unrecht übersehen werden. Warum Kirchen oft die besseren Museen sind. Was Kunsttempel sonst noch zu bieten haben: kühne Architektur, originelle Museumsshops oder raffinierte Küche. Er stellt Mäzene, Sammlerpersönlichkeiten und eine kurze Geschichte der Hängung vor und erzählt von der aufregenden Logistik von Wanderausstellungen.

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© Piper Verlag GmbH, München 2019Redaktion: Rainer Wieland, BerlinCovergestaltung: Birgit KohlhaasCovermotiv: Bombaert Patrick / Getty Images

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Vorbemerkung

Der Besuch im Museum

Die Kunst der Kunstbetrachtung

Alte Meister oder Die Schule des Sehens

Historien und Geschichten

Die Hinrichtung der Lady Jane Grey

Drei Verkündigungen

Die Kreuzabnahme Roger van der Weydens

Apollo und Marsyas

Echte und falsche Rembrandts

Das Bad der Diana

Madonna im Blumenkranz

Der Liebesgarten

Was Porträts erzählen

Zweimal Karl V.

Die Gesandten

Las Meninas

Dürers Selbstporträt

Rembrandts Selbstporträt mit den zwei Kreisen

Wie aus Alltagsszenen große Kunst entsteht

Murillo: Die Trauben- und Melonenesser

Jean-François de Troy: Das Austernfrühstück

Vermeers Milchmädchen

Das Schokoladenmädchen

Im Lichte der Natur

Vermeer: Ansicht von Delft

Canaletto in Venedig und London

Bellottos Veduten

Claude Lorrains Landschaften

Caspar David Friedrich: Das Eismeer

Was ist still am Stillleben?

Stillleben mit Käse und eine Blumenvase

Mit einem Wimpernschlag: Vanitas-Stillleben

Ist Picasso ein Klassiker?

Große Museen – große Architektur

Klenze und seine Nachfolger

Der Bilbao-Effekt

Renzo Pianos Museumsbauten

Los Angeles und seine Museen

Washington, D. C.

New York

London, Paris

Rund ums Museum: Restaurants, Shops, Websites

Die Kunst in der Welt des Massentourismus

Große Ausstellungen: Eventkultur oder Eye-Opener?

Sind Kirchen die besseren Museen?

Private versus staatliche Museen

Zum Schluss

Nachwort und Dank

Empfohlene Literatur

Einführende Literatur und Museumskataloge:

Zu den einzelnen Künstlern:

Vorbemerkung

Sicher werden mich viele Hinweise erreichen, ich hätte im vorliegenden Buch dieses oder jenes bedeutende Bild oder Museum beziehungsweise diesen oder jenen wichtigen Künstler vergessen. Ich bitte darum, es mir nachzusehen, wenn ich vollkommen subjektiv vorgegangen bin und tatsächlich nur Bilder beschreibe, die ich gut kenne, und Museen, die ich auch selbst besucht habe. Ich weiß, dass jeder Weltreisende in Sachen Kunst seine eigenen Prioritäten haben kann – und sicherlich andere als meine.

Der Besuch im Museum

Wahrscheinlich können nicht viele Menschen von sich behaupten, sie seien im Museum aufgewachsen. Bei den meisten Bewohnern einer Großstadt, die ein mehr oder weniger bedeutendes Kunstmuseum beherbergt, verhält es sich in der Regel so: Als Schüler werden sie (wenn sie das Glück haben, einen guten Kunstlehrer zugeteilt zu bekommen) ab und zu in das Museum ihrer Stadt geführt werden. Dort wird der Lehrer versuchen, der verlangten Allgemeinbildung des bürgerlichen Bildungsideals gerecht zu werden und seinen Schülern die ausgestellte Bilderwelt des Abendlandes näherzubringen. Oder man führt sie in Ausstellungen der örtlichen Kunsthalle, je nach Neigung des Erziehungspersonals. Das kann Erfolg haben oder auch nicht. Die meisten Schulklassen, die man im Museum beobachtet, zeigen sich nur mäßig interessiert. Sie umlagern einzelne Bilder und versuchen Skizzen davon anzufertigen, was manchem gefällt, den anderen verzweifeln lässt und manchen sogar für immer von der Kunst fernhalten wird. Aber die frühe Saat kann durchaus auch aufgehen, und es wachsen Künstler oder Kunsthistoriker heran.

Die meisten Zeitgenossen jedenfalls »entdecken« das Museum erst dann, wenn sie ihr touristisches Programm auf einer Auslandsreise in das dortige Museum führt, weil es zur obligatorischen Stadtbesichtigung gehört. So mancher Italienurlauber war schon öfter in den Uffizien als in seinem heimischen Museum.

Mir war ein anderes Schicksal beschieden.

Als ich sechs Jahre alt wurde und eingeschult werden sollte, befand mein Großvater: Jetzt, da ich lesen und schreiben konnte (irgendwie scheint er nicht daran gedacht zu haben, dass man mit dem Schuleintritt erst damit beginnt, Lesen und Schreiben zu lernen; er ging einfach davon aus, dass man es bereits kann), sei es an der Zeit, mit der Arbeit zu beginnen. Damit meinte er, ich solle das Geschäft des Kunst- und Antiquitätenhandels, wie er es betrieb, von der Pike auf lernen.

Unter der Woche musste ich mehrmals am Nachmittag in Großvaters Geschäft antreten, um von seinen Abteilungsleitern in den verschiedenen Disziplinen des Hauses unterrichtet zu werden, von den antiken Möbeln zu den Porzellanen über die Skulpturen zu den antiken Orientteppichen. Und an den Wochenenden ging es regelmäßig in eines der Münchner Museen. Meistens in das Bayerische Nationalmuseum, mit dessen Direktor mein Großvater befreundet war, seltener in die Alte Pinakothek. Das änderte sich jedoch, als ich meinen eigenen Willen durchsetzen konnte. Denn mich interessierten mehr die Gemälde, wohl auch deshalb, weil es im großväterlichen Kunsthaus keine Bilder gab. Jedenfalls hatte ich als kleiner Bub das Gefühl, ich hätte mich durchgesetzt, wenn wir statt der Möbel und Skulpturen im Nationalmuseum die Gemälde in der Pinakothek aufsuchten. Mein Großvater ließ mich in dem Glauben, ich hätte einen Sieg errungen.

In der Pinakothek angekommen, wurde ein Saal ausgesucht, auf den wir uns konzentrierten – eine Stunde lang, dann war es auch genug. Mein Großvater wusste genau, was und wie viel er seinem kleinen Enkel zumuten konnte. Ich wuchs ganz natürlich und ohne Berührungsängste mit den regelmäßigen Museumsbesuchen auf, sie gehörten von Anfang an zu meinem Leben. Und so ist es bis heute geblieben. Vor allem hat sich mir vieles von diesen frühen Besuchen unauslöschlich eingeprägt – wie der Satz meines Großvaters: »Wenn du ins Museum gehst, schau dir nicht das Museum an, sondern überlege dir vorher, was du dir ansehen willst.«

Das ist natürlich leicht gesagt, wenn man in einer fremden Stadt zu Besuch ist und zum ersten Mal das Kunstmuseum besuchen will. Da wird man sich zunächst einen Überblick darüber verschaffen wollen, welche Schätze das Museum birgt. Man ist versucht, gegen das Postulat des Großvaters zu verstoßen – das gilt auch für mich. Aber man kann, ja man sollte Schwerpunkte setzen. Ohnehin wird einen auch nicht alles auf die gleiche Weise interessieren. Der Satz des Großvaters bedeutet im Grunde genommen, dass man einige Bilder oder Kunstgegenstände genauer betrachten sollte statt sehr viele nur oberflächlich.

Man kann dieses Postulat aber auch auf die Spitze treiben: Einmal war ich mit dem Freundeskreis der Londoner National Gallery in Florenz unterwegs. Gleich am ersten Abend genossen wir das Privileg, abends, nach der offiziellen Schließung der Uffizien, in die heiligsten Hallen der italienischen Kunst eingelassen zu werden. Am nächsten Morgen rief ich meine Frau an, um ihr begeistert von diesem Erlebnis zu berichten. Wir seien über dreieinhalb Stunden in den Uffizien gewesen.

»Und, was habt ihr alles gesehen?«

»Vier Bilder!«

Meine Frau konnte es nicht glauben, aber genau so war es. Wir sahen die Verkündigung von Simone Martini, die große Ognissanti-Madonna von Giotto, die Primavera von Botticelli und die Geburt der Venus, ebenfalls von Botticelli. Vier Gemälde – aber die sehr intensiv. Einer der Kuratoren und der Direktor der National Gallery referierten abwechselnd vor einem dieser vier Bilder, und zwar so gründlich und so spannend, dass es mir ein unvergessliches Erlebnis blieb. Ich weiß nicht, wie oft ich in meinem Leben schon vor der Primavera oder der Geburt der Venus gestanden habe, aber so wie an diesem Abend hatte ich die Bilder noch nie wahrgenommen. Wir kamen in den folgenden Tagen noch einmal wieder, und es lief ähnlich ab. Diesmal konzentriert auf Caravaggio und Artemisia Gentileschi.

Man mag einwerfen: »Das ist ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann, ich will ja vom Museum so viel wie möglich mitbekommen!« – Ja, ich gebe zu, ein solcher Museumsbesuch, bei dem man viele Bilder auslässt, ist ein Luxus. Aber, und das ist die andere Seite der Medaille, die Bilder, die man derart intensiv betrachtet hat, bleiben unvergessen.

Und ich gebe auch gerne zu, dass diese Vorgehensweise hauptsächlich für Wiederholungstäter sinnvoll ist. Wenn man weiß, man wird wahrscheinlich nicht so schnell wiederkommen, erliegt man viel leichter der Versuchung, die Quantität der Qualität vorzuziehen.

Beobachten Sie in einem beliebigen Museum die Besucher: Die meisten verbringen viel Zeit damit, die Label, also die Bildbeschreibungen, zu lesen, statt sich die dazugehörigen Kunstwerke anzusehen. Ganz zu schweigen von der relativ neuen Angewohnheit vieler Museumsbesucher, mit ihren Smartphones filmend durch die Säle zu eilen und überall Selfies zu schießen, als seien die Bilder, vor denen sie sich ablichten, Trophäen, die man damit abgehakt hätte. Immerhin gehen mehr und mehr Museen dazu über, Selfiesticks zu verbieten, und in etlichen Museen sind mittlerweile Fotografieren und Smartphones generell untersagt.

Als Kunsthändler war ich beruflich viel in den Museen unterwegs, und manchmal steuerte ich ganz gezielt ein einzelnes Gemälde an, weil ich den unmittelbaren Vergleich zu einem Bild suchte, mit dem ich mich gerade in meiner Galerie beschäftigte. In diesen Momenten erinnerte ich mich immer wieder an meinen Großvater, der mir als kleinem Jungen das Sehen beizubringen versuchte.

Die Kunst der Kunstbetrachtung

Mit Professor Willibald Sauerländer zu reisen war eine einzige große Freude. Der berühmte Kunsthistoriker und langjährige Direktor des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München war ein wundervoller Lehrer, und er beherrschte die Kunst der Kunstbetrachtung in Perfektion. Er war in allen Disziplinen der Kunst zu Hause (wovon in seinen letzten Jahren insbesondere die Leser der Süddeutschen Zeitung profitieren konnten, wo seine unvergleichlichen Ausstellungsrezensionen erschienen). Aber es war doch etwas ganz Besonderes, mit ihm die großen Kathedralen Frankreichs zu besuchen. Von tiefem Wissen zeugten seine Bücher über die gotischen Kathedralen und die gotische Skulptur in Frankreich, die heute in der Kunstgeschichte als Standardliteratur gelten.

Wenn man mit ihm vor dem Hauptportal einer Kathedrale stand, wurde zuerst der Gesamteindruck gewürdigt, der architektonische Aufbau besprochen, um sich dann dem Skulpturenschmuck des Portals und der Fassade im Detail und Figur für Figur zu widmen und zu diskutieren, wie die Heiligengeschichte jeder einzelnen Figur in das Gesamtkonzept des Fassadenschmucks zu integrieren sei. Das konnte gut und gerne zwei Stunden dauern, bevor man auch nur einen Fuß in das Innere der Kirche gesetzt hatte. Sauerländers Kenntnis der Heiligenlegenden war unerschöpflich – und das, obwohl er bekennender Agnostiker war!

War die Kirche dann nur von einem Seitenportal aus zu betreten, musste man zunächst ganz nach hinten gehen, um den Gesamteindruck des Kircheninnern vom Hauptportal aus zu erfassen. Hier wiederholte sich die Vorgehensweise: Zuerst wurde der Gesamtaufbau besprochen: Wie viele Kirchenschiffe waren zu sehen; wie waren diese miteinander verbunden; wie entwickelten sich daraus die Seitenkapellen; und auf welche Weise führte das Hauptschiff auf die Vierung zu und ließ den Raum des Hauptaltars wirken. Dann erst wandte man sich den Details zu.

Diese Vorgehensweise öffnete dem eifrigen Zuhörer die Augen, dem auch nach stundenlanger Einführung nie langweilig wurde, weil der Professor mit einer solchen Begeisterung und Hingabe erzählte. In das Kirchenschiff einfach mal so einzutreten, wie es sich ergab, weil der Eingang sich beispielsweise auf der Seite befand, war von da an nicht mehr möglich.

Betrat man mit Sauerländer ein Museum mit einer Bildergalerie, war seine Methode ähnlich, wenn nicht noch konsequenter. Er stellte sich in die Mitte des Saales und ließ seinen Blick über die Wände streifen, um sich dann nach einer Weile, dabei immer laut denkend, den einzelnen Bildern zuzuwenden. Sich die Texte der Label durchzulesen war verpönt. Man musste sich das Bild erst nach und nach erschließen, vor dem eigenen Auge beschreiben, was man sah, die Geschichte, die das Bild erzählen wollte, zu entziffern versuchen, dabei auf einzelne Figuren eingehen, ihre Haltung, ihren Gesichtsausdruck, ihre Kleidung schildern, um auf diese Weise ihren gesellschaftlichen Stand zu erkennen. Erst ganz zum Schluss, wenn man versucht hatte, alle Details zu würdigen, durfte man sich der Frage zuwenden, wer denn das Bild gemalt haben könnte. Aber ja nicht auf das Label schauen! Man musste versuchen, die Identität des Künstlers herzuleiten, indem man weitere Fragen beantwortete: In welchem Jahrhundert bewegen wir uns? An wen könnte diese Malweise erinnern und warum? Und wenn man schließlich erkannt hatte, wer der Schöpfer war (oder man doch insgeheim das Label gelesen hatte), folgte der Versuch, dieses Bild zeitlich in das Œuvre des Meisters einzuordnen.

Diese Vorgehensweise war der meines Großvaters gar nicht so unähnlich, wenn er sich mit seinem kleinen Enkel in der Pinakothek in die Mitte eines Saales stellte und ich ihm aus der Entfernung die Namen der Künstler nennen sollte. Erst dann durften wir an die einzelnen Bilder herantreten.

Wer schon einmal in Wien im Gartenpalais der Fürstlichen Sammlungen von Liechtenstein war, wird sich erinnern, dass es dort neben den Kunstwerken keine Labels gibt, sondern nur kleine Nummern. Das bedeutet zwangsläufig, dass der Besucher die Exponate intensiver betrachtet; er kann auch das Informationsblatt, das in jedem Saal ausliegt, zu Hilfe nehmen. Mir ist dort einmal etwas Peinliches passiert: Anlässlich einer Veranstaltung wurde ich gebeten, eine Gruppe von Gästen in den Rubens-Saal zu führen. Das war im Prinzip kein allzu großes Problem; ich dachte, über den Rubens-Zyklus von der Geschichte des Decius Mus würde mir bestimmt irgendetwas einfallen – unvorbereitet, wie ich war.

Dann jedoch holte mich meine eigene Eitelkeit ein. Auf dem Weg in den Saal kamen wir an einem Gemälde vorbei, das ich einige Jahre zuvor an die Sammlungen des Fürsten verkauft hatte. Und ich begann meinen Vortrag mit diesem Gemälde.

Dargestellt war die Geschichte von Atalanta und Hippomenes aus den Metamorphosen des Ovid: Die Königstochter Atalanta, eine hervorragende Läuferin, wollte den Mann heiraten, der sie im Wettlauf besiegte. Wenn der Bewerber aber verlor, würde sie ihn töten. Hippomenes verliebte sich in Atalanta und hatte die Liebesgöttin Aphrodite auf seiner Seite, die ihn mit goldenen Äpfeln ausstattete. Diese sollte er seiner Angebeteten immer dann in den Weg werfen, wenn er sah, dass sie ihn überholte. Da sich Frauen anscheinend – so will es die griechische Mythologie – immer bücken, wenn sie einen goldenen Apfel vor sich liegen sehen, gewann unser Held das Rennen, entging einem grausamen Schicksal und durfte die Prinzessin heiraten. Während ich die Geschichte erzählte, merkte ich, dass mir der Name des Künstlers entfallen war. In jedem anderen Museum hilft in diesem Augenblick ein verstohlener Blick auf das Label, nicht aber hier! Ich erzählte immer weiter, wie sich die Geschichte der beiden entwickelte und dass sich unser Maler von Gemälden von Guido Reni im Prado und in Capodimonte habe beeinflussen lassen, als unweigerlich die Frage aus dem Kreis der Zuhörer aufkam: »Und wie heißt er denn, unser Maler?«

In diesem Moment hielt mir eine Angestellte des Museums, die meine Not erkannt hatte, das Informationsblatt des Saales unter die Nase, und ich war erlöst: »Es ist natürlich von Nicolas Colombel, einem französischen Maler, der nach Rom gegangen war und sich dort von Raffael, Guido Reni und Poussin beeinflussen ließ und einen gemäßigten Klassizismus …« – und so fort. Ich weiß nicht, ob die Gruppe meine Verlegenheit mitbekam, jedenfalls bescheinigte man mir später, ich hätte diese herrliche Geschichte aus den Metamorphosen ausgesprochen lebendig erzählt. Der puren Not gehorchend, hatte ich sie immer weiter ausgebaut in der Hoffnung, der Name des Künstlers werde mir schon noch einfallen. Und dabei hatte ich, ohne es zu wollen, meinen Zuhörern das Bild und seine Geschichte exakt nach der Sauerländer’schen Methode nähergebracht.

Ernst Gombrich schreibt in der Einleitung zu seiner Geschichte der Kunst sehr treffend:

»Menschen, die ein wenig Kunstgeschichte kennen, erliegen leicht einer … Versuchung. Wenn sie ein Kunstwerk sehen, halten sie sich nicht damit auf, es wirklich anzuschauen, sondern suchen gleich in ihrem Gedächtnis nach dem richtigen Etikett. Sie wissen etwa, dass Rembrandt für sein chiaroscuro berühmt ist – das ist der Fachausdruck für seine Beleuchtungseffekte –, und wenn sie einen Rembrandt zu sehen bekommen, nicken sie weise mit dem Kopf, sagen irgendetwas Tiefsinniges über sein chiaroscuro und wandern dann zum nächsten Bild. Es liegt mir viel daran, auf diese Gefahr ganz offen hinzuweisen, denn keiner von uns ist gegen eine solche Versuchung gefeit, und ein Buch wie dieses könnte noch anfälliger dafür machen. Ich möchte aber lieber, dass es die Augen öffnet, als dass es Zungen löst. Gescheit über Kunst zu orakeln ist gar nicht besonders schwer, denn Kunstkritiker verwenden viele Ausdrücke in so widerspruchsvollen Zusammenhängen, dass sie jede klar umrissene Bedeutung verloren haben. Es ist viel schwerer, ein Bild mit neuen Augen anzusehen und darin auf Entdeckungsreisen zu gehen, aber es ist auch weitaus lohnender. Es lässt sich gar nicht sagen, was man von so einer Reise mit heimbringen kann.«

Dem lässt sich kaum etwas hinzufügen.

Alte Meister oder Die Schule des Sehens

Wenn wir Museumsgänger sind und uns Bilder näher ansehen wollen, müssen wir zuerst eine Unterscheidung treffen: Ich spreche in dieser Gebrauchsanweisung vor allem von der Malerei der Alten Meister, die einen anderen Zugang erfordert als die Malerei des Impressionismus, des Expressionismus und anderer Stilrichtungen, die wir heute als »Moderne« Kunst bezeichnen – die jedoch im weitesten Sinne ebenfalls bereits den Klassikern oder, aus der Sicht der Zeitgenossen, den Alten Meistern zuzurechnen sind. Im Gegensatz dazu erfordert die Zeitgenössische Kunst vom Betrachter eine andere Herangehensweise, um das Werk verstehen oder zumindest einordnen zu können.

Die Kunstgeschichte hat immer in Hierarchien gedacht. Über Jahrhunderte hinweg, von der Antike bis zur Renaissance, haben es Kunsttheoretiker und Künstler geliebt, sich an dem Wettstreit der verschiedenen Künste, dem »Paragone«, zu beteiligen. Von Leon Battista Alberti, dem großen Denker und Humanisten der Frührenaissance, bis hin zu Leonardo da Vinci und vielen anderen haben sich Künstler und Kunsttheoretiker darüber ausgelassen, ob nun der Skulptur oder der Malerei das Primat gebühre. Auch innerhalb der Malerei hat man mehrere Gattungen unterschieden – die Historienmalerei, das Porträt, Genremalerei, Landschaftsmalerei und das Stillleben – und darüber gestritten, in welcher Rangfolge diese zueinander stehen. Aus heutiger Sicht scheinen diese Bemühungen eher sinnlos und vielleicht sogar überflüssig, zumal seit Anbruch der Moderne der Kunstbegriff als solcher immer wieder neu interpretiert und erweitert worden ist.

Gombrich, dessen Lektüre ich immer wieder empfehlen muss, weist in seiner Geschichte der Kunst darauf hin, dass der herkömmliche Kunstbegriff populärerweise mit technischer Finesse, Können und Fingerfertigkeit zu tun hatte. Das größte Vergnügen bei der Betrachtung eines Gemäldes kann die Entschlüsselung der Geschichte sein, die uns der Künstler erzählen wollte oder vielleicht auch versteckt auf dem Bild hinterlassen hat. Das Verschlüsseln von Botschaften gehörte über viele Jahrhunderte hinweg zum Handwerk des Künstlers, vor allem in der Zeit des Barock. Zur Entschlüsselung wiederum – und somit zum Verständnis des Kunstwerkes über die reine Lust an der Ästhetik hinaus – bedarf es eines Wissens, über das der gebildete Betrachter früherer Jahrhunderte selbstverständlicher verfügte als wir heute. Dazu gehört die Kenntnis einer relativ kleinen Anzahl von Schriften: die Bibel mit dem Alten und Neuen Testament; die Heiligenlegenden, wie sie etwa in der Legenda Aurea des Jacobus von Voragine erzählt werden; die Metamorphosen des Ovid, um Kenntnis zu erlangen über die Verwandlungen und die Liebschaften der antiken Götter; und schließlich die Iconologia des Cesare Ripa: Wenn es um die Entschlüsselung von Symbolen und Allegorien geht, ist dieses Werk seit seiner Entstehung Ende des 16. Jahrhunderts das ikonografische Lexikon schlechthin.

Die Kenntnis dieser Bücher verhilft dem Betrachter der Alten Meister, die Geschichte hinter dem Bild zu verstehen, und das in nahezu allen Fällen. Aber selbstverständlich gilt auch hier der alte Spruch meines Französischlehrers, der zu sagen pflegte: »Du musst nicht alles wissen, du musst nur wissen, wo du nachschlagen kannst!« Heute hat es der Suchende dabei viel einfacher, er braucht nur Wikipedia zu konsultieren. Zumindest mag das für das schnelle Nachschlagen unterwegs gelten; in meinen Augen ist das gedruckte Buch mit seinen optischen und haptischen Eigenschaften und Vorzügen schwerlich zu überbieten. Ganz abgesehen davon, dass die konzentrierte Atmosphäre einer Bibliothek, ja schon der schiere Anblick von mit Büchern gefüllten Regalen der Arbeitslust und Konzentration nur guttut.

Was ich allerdings tatsächlich empfehlen möchte: Wenn in dieser Gebrauchsanweisung auf bestimmte Bilder hingewiesen wird, mag es durchaus hilfreich sein, sich dazu eine Abbildung aus dem Internet zu holen. Ich werde der Einfachheit halber zu den jeweiligen Bildern einen Link zur Website hinzufügen, die das beschriebene Bild zeigt.

Lassen Sie uns also einige herausragende Bilder der verschiedenen Gattungen der Malerei betrachten mit Tipps, wie sie zu »lesen« sind. Viele von ihnen zählen zu den großen Meisterwerken ihres Faches, in jedem Falle gehören sie zu meinen Lieblingsbildern. Ich will nicht behaupten, dass man sie alle gesehen haben muss, aber mein Leben wäre sicherlich ärmer ohne sie. Sie alle erzählen ihre eigene Geschichte – eine Schule des Sehens.

Historien und Geschichten

Unter Historienmalerei dürfen wir uns nicht nur Bilder mit der Darstellung historischer Begebenheiten vorstellen. Es gehören auch Mythologien und religiöse Darstellungen dazu.

Die Hinrichtung der Lady Jane Grey

Ein Gemälde aus der Londoner National Gallery mag hier am Anfang stehen, nicht nur weil es eine historische Begebenheit auf einen exakten Moment verdichtet, sondern auch weil es in der National Gallery von Anbeginn zu den populärsten Bildern zählte und auch heute noch ständig umlagert ist: Die Hinrichtung der Lady Jane Grey von Paul Delaroche von 1833.[1]

Die Gründe für die nicht enden wollende Popularität dieses großformatigen Historienbildes sind vielfältig: Zunächst wird man feststellen, dass Delaroche, einer der bekanntesten französischen Historienmaler der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in beeindruckend realistischem Stil eine brutale Szene abbildet. Lady Jane Grey war 16 Jahre alt, als sie im Jahr 1554 für genau neun Tage Königin von England war, bevor sie im Tower von London hingerichtet wurde. Als Spielball der Politik zwischen den Katholiken und Protestanten Englands wurde sie zunächst als Nachfolgerin von Edward VI. auf den Thron gesetzt. Doch schon wenige Tage später wurde sie wieder abgesetzt, um ihrer Cousine Mary Tudor Platz zu machen, jener Mary, die als »Bloody Mary« in die Geschichte einging, die Tochter Heinrichs VIII. und Vorgängerin Elisabeths I. Die kleine Jane endete grausam auf dem Schafott. Die Tragödie dieses unschuldigen Kindes ist ergreifend und ebenso herzzerreißend dargestellt. Es ist ein gutes Beispiel für ein Historienbild, das den beschriebenen Augenblick aus dem großen geschichtlichen Kontext herauszulösen vermag und auf die Ebene einer individuellen menschlichen Tragödie übersetzt.

Drei Verkündigungen

Auch religiöse Themen gehören in diese Kategorie, und eine der beliebtesten Darstellungen zu allen Zeiten ist die Verkündigung Mariens. Die großen Meister vermochten es, die Geschichte immer wieder gänzlich anders zu interpretieren.

Eine meiner Lieblings-Verkündigungen befindet sich in München in der Alten Pinakothek, ein Gemälde, mit dem ich sozusagen aufgewachsen bin: die Verkündigung von Fra Filippo Lippi (um 1443/45).[2]

Fra Filippo Lippi war – wie man aus dem Präfix »Fra« für Frater erkennen kann – ein Mönch. Er lebte und arbeitete in der Florentiner Frührenaissance. Ihm sind einige der schönsten Bilder zu verdanken aus der Zeit, als die Renaissance noch im Entstehen war und sich dann in der Mitte des 15. Jahrhunderts von einem Höhepunkt zum nächsten entwickelte. Florenz, das vom Reichtum und der Großzügigkeit der führenden Familien der Stadt, allen voran der Medici, profitieren konnte, war ihr Zentrum. In den Künstlerwerkstätten nutzte man die neuen Möglichkeiten der Maltechnik, um »nicht nur die heiligen Geschichten packend nachzuerzählen, sondern damit auch ein Stück Welt zu spiegeln«, wie es Gombrich treffend beschreibt. In der Stadt wimmelte es nur so von großen Künstlern, die ansehnliche Aufträge erhielten – von den Florentiner Familien, den Zünften und Innungen und natürlich von den Kirchen und Klöstern. Diese Konkurrenz war ungeheuer beflügelnd. Jedem Künstler war es wichtig, seinen eigenen, unverkennbaren Stil zu entwickeln und dabei einen eigenen Kreis von Schülern aufzubauen. Jeder einzelne von ihnen wollte unverwechselbar sein, was vielen auch gelang. Masaccio, Uccello, Fra Angelico, Benozzo Gozzoli wetteiferten dabei mit den großen Bildhauern, mit Donatello, Ghiberti und vielen anderen.