Gefährliche Allianz - Clive Cussler - E-Book

Gefährliche Allianz E-Book

Clive Cussler

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Beschreibung

Seine einzige Unterstützung sind skrupellose Piraten – in Kurt Austins 19. Action-Abenteuer.

Kurt Austin und sein Team wollen eigentlich einen Piratenschatz im Westpazifik bergen. Da wird der Tauchspezialist überraschend auf die Suche nach einem untergegangenen Frachter mit einer gefährlichen Ladung geschickt: beispiellos leistungsfähige Supercomputer. Schnell wird ihnen jedoch klar, dass sie sich mit einem Mal inmitten eines gigantischen Täuschungsmanövers befinden, bei dem nur wenig so ist, wie es scheint. Ihre einzigen Verbündeten gegen schier übermächtige Russen und Chinesen sowie ein undurchsichtiges Hacker-Kollektiv sind ausgerechnet Piraten. Und Kurt Austin weiß nicht, wie weit er ihnen trauen kann …


Jeder Band ein Bestseller und einzeln lesbar. Lassen Sie sich die anderen Abenteuer von Kurt Austin nicht entgehen – zum Beispiel »Projekt Nighthawk«, »Das Jericho-Programm« oder »Die Antarktis-Verschwörung«.

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Seitenzahl: 572

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Buch

Kurt Austin und sein Team wollen eigentlich einen Piratenschatz im Westpazifik bergen. Da wird der Tauchspezialist überraschend auf die Suche nach einem untergegangenen Frachter mit einer gefährlichen Ladung geschickt: beispiellos leistungsfähige Supercomputer. Schnell wird ihnen jedoch klar, dass sie sich mit einem Mal inmitten eines gigantischen Täuschungsmanövers befinden, bei dem nur wenig so ist, wie es scheint. Ihre einzigen Verbündeten gegen schier übermächtige Russen und Chinesen sowie ein undurchsichtiges Hacker-Kollektiv sind ausgerechnet Piraten. Und Kurt Austin weiß nicht, wie weit er ihnen trauen kann …

Autoren

Seit er 1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand, ist jeder Roman von Clive Cussler ein »New-York-Times«-Bestseller. Auch auf der deutschen SPIEGEL-Bestsellerliste ist jeder seiner Romane vertreten. 1979 gründete er die reale NUMA, um das maritime Erbe durch die Entdeckung, Erforschung und Konservierung von Schiffswracks zu bewahren. Er lebt in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.

Der leidenschaftliche Pilot Graham Brown hält Abschlüsse in Aeronautik und Rechtswissenschaften. In den USA gilt er bereits als der neue Shootingstar des intelligenten Thrillers in der Tradition von Michael Crichton. Wie keinem zweiten Autor gelingt es Graham Brown verblüffende wissenschaftliche Aspekte mit rasanter Nonstop-Action zu einem unwiderstehlichen Hochspannungscocktail zu vermischen.

Die Kurt-Austin-Romane bei Blanvalet

1. Tödliche Beute

2. Brennendes Wasser

3. Das Todeswrack

4. Killeralgen

5. Packeis

6. Höllenschlund

7. Flammendes Eis

8. Eiskalte Brandung

9. Teufelstor

10. Höllensturm

11. Codename Tartarus

12. Todeshandel

13. Das Osiris-Komplott

14. Projekt Nighthawk

15. Die zweite Sintflut

16. Das Jericho-Programm

17. Geheimfracht Pharao

18. Die Antarktis-Verschwörung

19. Gefährliche Allianz

Weitere Bände in Vorbereitung

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Clive Cussler

& Graham Brown

GEFÄHRLICHE

ALLIANZ

Ein Kurt-Austin-Roman

Aus dem Englischen

von Michael Kubiak

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Dark Vector (Kurt Austin 19)« bei Putnam, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2022 by Sandecker RLLLP

By arrangement with Peter Lampack Agency, Inc.

551 Fifth Avenue, Suite 1613

New York, NY 10176 - 0187 USA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023 by Blanvalet Verlag,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung von Motiven von andrej pol / stock.adobe.com

und einer Illustration von Max Meinzold

Redaktion: Jörn Rauser

HK · Herstellung: sam

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN: 978-3-641-30653-3V001

www.blanvalet.de

Handelnde Personen

CHINA 1808

Zi Jun Chu – Eigner einer Dreimastdschunke, die auf Handelsrouten des Ostchinesischen Meeres verkehrt.

KAPITÄNVONJUNSSCHIFF

Ching Shih – Chinesische Piratin, deren Flotte Anfang des neunzehnten Jahrhunderts das Südchinesische Meer beherrschte.

GEGENWART

WASSER-RATTEN (PIRATENBANDE)

Lucas Teng (Teng Kung-Lu) – Anführer der Diebesbande, die sich selbst die Wasser-Ratten nennt.

Vincent Uhr – Stellvertretender Anführer der Wasser-Ratten.

Callum Zhen – Mitglied der Wasser-Ratten.

HONGKONG

Kinnard Emmerson – Britischer Exilant und Anführer einer Gangsterbande in Hongkong.

Guānchà (The Watcher) – Emmersons Leutnant und vertrauenswürdigster Auftragsmörder.

Yan-Li – Schifffahrtshistorikerin und Tauchexpertin bei der Marine der Volksbefreiungsarmee. Ihre akademische Disziplin ist die Meeresarchäologie.

Degra – Einer der Anführer von CIPHER, einer berüchtigten in China ansässigen Internet-Verbrecherorganisation.

Ferret – Einer der Hacker, die für CIPHER arbeiten.

NATIONALUNDERWATERANDMARINEAGENCY (NUMA)

Kurt Austin – Direktor der Abteilung für Spezialprojekte und Sonderaufgaben, außerdem Bergungsexperte und begeisterter Segelsportler.

Joe Zavala – Kurt Austins Assistent und bester Freund, Hubschrauberpilot und technisches und mechanisches Genie.

Rudi Gunn – Stellvertretender Direktor der NUMA, Absolvent der Naval Academy, leitet die meisten Routine-Operationen der NUMA.

Hiram Yaeger – Direktor für Informationstechnologie bei der NUMA. Computerexperte und genialer Designer von Hochleistungsrechnern.

Paul Trout – Chefgeologe der NUMA und Absolvent des Scripps Institute.

Gamay Trout – Leitende Meeresbiologin der NUMA und ebenfalls Scripps-Absolventin.

Winterburn – Erster Offizier der NUMA-Jacht Sapphire.

Stratton – Ingenieur bei der NUMA und Spezialist für den Einsatz und die Bedienung von Unterwasserdrohnen.

U.S. NAVYWETTERSTATIONINNAHA, OKINAWA

Lieutenant Callie Baker – Sonarexperte in der Naha Weather Station.

Lieutenant Commander Aaron Stewart – Leitender Offizier der Naha Station.

WASHINGTON, D.C.

Anna Biel – Beraterin des Präsidenten und Chefin der National Security Agency.

Elliot Harner – Stellvertretender CIA-Direktor.

Konteradmiral Marcus Wagner – Chef der Naval Intelligence für den West-Pazifik.

Arthur Hicks – U.S. Cyber Command.

TAIWAN R.O.C.

Steven Wu – CIA-Verbindungsoffizier in Taipeh.

HYDRO-COMCORPORATION

Sunil Pradi – Gründer und Eigentümer der Hydro-Com Corporation.

Sabrina Lang – Chefin der Digital Security der Hydro-Com Corporation.

PROLOG

DIE ROTE FLAGGE

SÜDCHINESISCHES MEER

SEPTEMBER 1808

Jun Chu stand auf dem Deck der Dreimastdschunke, die den glückverheißenden Namen Seidener Drache trug. Mit seinem smaragdgrünen Rumpf, den goldenen Verzierungen und den blutorangefarbenen Segeln war das Schiff ein wahres Fest für die Augen.

Es lag in einer ruhigen Bucht vor Anker. Klares aquamarinblaues Wasser befand sich unter seinem Rumpf, und auf einer weiter entfernten Insel erhob sich ein steiler Berggipfel.

Der Berg hatte ihnen zunächst etwas morgendlichen Schatten gespendet. Nun stand die Sonne bereits hoch über ihnen, und die Temperatur war deutlich gestiegen. Wären sie nicht von einer kühlen Brise – die aus dem Westen kam – lebhaft umfächelt worden, die Hitze wäre unerträglich gewesen. Hinzu kam ein deutlich wahrnehmbarer schwefliger Geruch in der Luft. Für einen kurzen Augenblick fragte sich Jun verwirrt nach seinem Ursprung, aber in diesem Moment hatte er andere Probleme, die er möglichst schnell und gründlich lösen musste.

Er zog ein Messingfernrohr aus einer Lederhülle. Das wunderschöne Instrument war poliert und glänzte. Ins Gehäuse eingravierte Schriftzeichen erinnerten ihn daran, dass es ein Geschenk der mächtigen Piratenkönigin Ching Shih war.

Der Kapitän des Schiffes trat neben ihn. »Was seht Ihr?«

Jun blickte durch das Fernglas. Grimmig verzog sich sein Gesicht. »Es scheint, als sei unsere Flucht aus Macau nicht unbemerkt geblieben. Drei Schiffe kommen näher.«

»Wir befinden uns auf einer Handelsroute«, erinnerte ihn der Kapitän. »Viele Schiffe verkehren in diesen Gewässern. Vermutet daher nicht gleich Gefahr.«

»Ich vermute gar nichts«, erwiderte Jun. »Nehmt das Fernglas, und Ihr werdet sehen, dass ich nicht ohne Grund skeptisch bin. Diese Schiffe fahren unter der roten Flagge von Madam Ching. Sie sind Jäger, ausgesandt, uns zu töten oder uns nach Macau zurückzubringen, wo uns Strafen erwarten, die ich mir lieber nicht ausmale.«

Jun konzentrierte sich auf das nächste der sich nähernden Schiffe. Es war größer als die Seidener Drache. Mit vier Segeln hatte es eins mehr als seine drei, und einen Toppmast, an dem Banner flatterten, so rot wie Blut.

Die anderen Schiffe der Schwadron hingen weiter zurück, zu weit, um irgendwelche Details zu erkennen, aber sie hatten den gleichen Kurs.

Der Kapitän äußerte eine Hoffnung: »Es heißt, Madam Ching verschont die Mannschaft eines Schiffes, wenn ihr der Kapitän seine Ladung kampflos überlässt.«

Jun ließ das Teleskop sinken. Ching Shih hatte in der Tat einen Ehrenkodex begründet, an den sich ihre Piraten zu halten pflegten. Solche Überlegungen hatten für Jun jedoch keinerlei Bedeutung und waren ihm fremd. »Ihr Kodex gilt nicht für uns. Wir sind Diebe und Verräter, keine ehrenhaften Gegner.«

Mehr brauchte nicht gesagt zu werden. Der Schatz in ihrem Frachtraum war bereits von Madam Chings Schiffen geraubt worden, aber anstatt der Beute einverleibt und regelgerecht aufgeteilt zu werden, hatte ein habgieriger Kapitän aus ihrer Gefolgschaft einen großen Teil seiner Beute für sich behalten. Er hatte sie an Jun verkauft und ihm versichert, niemand würde die Wahrheit erfahren.

»Euer Freund ist offenbar erwischt worden«, sagte der Kapitän.

Jun erschauerte, als er an das Schicksal des Mannes dachte. »Beute zurückzuhalten wird mit dem Tod bestraft«, sagte er. »Sie zu stehlen … Geköpft zu werden wäre das gnädigste Schicksal, das sich der Mann erhoffen kann. Zweifellos ist er getötet worden – wenn auch nicht schnell genug, um nicht vorher noch unsere Namen zu nennen.«

»Wir können ihnen nicht entkommen«, sagte der Kapitän. »Jedes ihrer Schiffe ist größer und schneller.«

»Dann müssen wir kämpfen«, entschied Jun. »Wir haben Kanonen, die wir von der East India Company gekauft haben. Wir besitzen Armbrüste und Arkebusen.«

»Aber wir sind mindestens fünf zu eins in der Unterzahl.«

»Schließlich können sie nicht alle gleichzeitig herüberkommen«, sagte Jun. »Und ihre großen Schiffe sind kaum in der Lage, das Riff zu überqueren. Wenn wir hier ausharren, werden sie sich mit kleinen Booten nähern und versuchen müssen, mit Leitern und Haken zu entern. Nach meiner Erfahrung sind grenadoes und brennende Pfeile auf eine solche Entfernung ziemlich wirkungsvoll.«

Die Miene des Kapitäns entspannte sich. »Ihr hofft also, sie jeweils in kleinen Gruppen zu besiegen.«

Jun nickte. Diese Taktik war wirklich ihre einzige Hoffnung. »Und wenn sie genug geblutet haben, lassen sie von uns ab und kehren nach Macau zurück, wo sie dann Madam Ching berichten werden, dass wir das Schiff verbrannt haben, anstatt uns zu ergeben und dem Tod ins Auge zu schauen.«

Der Gesichtsausdruck des Kapitäns war unergründlich. Er nahm das Fernglas wieder an sich und blickte zu den rot beflaggten Schiffen hinüber, die gerade dabei waren, Kurs auf die Bucht zu nehmen. »Ihr habt eine silberne Zunge, Master Jun. Fast bringt Ihr es fertig, dass ich glaube, wir könnten am Leben bleiben.«

Während sich die Männer an Bord der Seidener Drachen für den Kampf wappneten, näherte sich Chings Flotte dem Riff und zog sich gleich wieder zurück. Kleinere Boote waren vonnöten, und der größere Teil jeder Schiffscrew bereitete sich darauf vor weiterzusegeln.

Bisher hatte sich jede von Juns Prophezeiungen als zutreffend erwiesen – alle bis auf eine. Unter keinen Umständen würde die kleine Flotte mit einer nicht zutreffenden Schilderung nach Macau zurückkehren, da Madam Ching sich an Bord des größten Schiffes befand und ihr Zorn sich mittlerweile zu einem rasenden Feuer gesteigert hatte.

Zheng Yi Sao – oder Ching Shih, als die man sie besser kannte – schritt auf dem Deck vor ihren Männern auf und ab. Eine Frau von mittlerer Größe mit breiten Schultern und stechenden Augen, deren Gesicht noch immer so ebenmäßig und schön war wie an dem Tag, als Lord Cheng sie zur Frau genommen hatte.

Zusammen hatten sie eine Dynastie gegründet und die Kontrolle über die Städte rund um Macau mit eiserner Faust an sich gerissen. Nach Chengs Tod erlangte Ching Shih dann die volle Kontrolle, vergrößerte ihr Imperium, gewann unterworfene Gegner als Verbündete und brachte Ordnung in das Chaos.

Ein Großteil dieser Ordnung beruhte auf dem Kodex, der die Grundlage ihrer Herrschaft war. Dazu gehörte eine allzeit faire Behandlung von Mannschaften, Gefangenen und Konkubinen. Er sah strenge Strafen für Offiziere vor, die ihre Untergebenen schlecht behandelten. Außerdem forderte er eine schnelle und unbarmherzige Vergeltung für jede Form von Verrat, wenn er sich zum Schaden der Flotte unter dem blutroten Banner auswirkte.

Nachdem sie diese Regeln eingeführt und ihnen Gesetzeskraft verliehen hatte, schwang sie sich zur Gouverneurin der wirtschaftlich aufblühenden Region auf und galt schließlich als die gefürchtetste und daher angesehenste Piratenchefin in ganz Asien. Wer sie bestahl, hatte sein Leben verwirkt.

In einem glänzenden blaugrauen Seidengewand stand sie in stolzer Haltung auf dem Deck und lenkte die Aufmerksamkeit der gesamten Schiffscrew auf sich. Um den Hals hatte sie sich einen roten Schal geschlungen, und auf dem Kopf trug sie einen schwarzen Hut mit drei Spitzen. Nicht einen Laut gaben die einhundert Männer von sich, die vor ihr auf dem Deck standen, während sie die Treppe zum Kommandostand hinaufstieg, um sich an sie zu wenden.

»Diese Verräter haben nicht mich bestohlen«, sagte sie, »sie haben euch bestohlen.« Sie machte erst eine kurze Pause, um dieser Aussage das angemessene Gewicht zu verleihen, und stellte dann eine Frage: »Welches Gesetz gilt beim Plündern?«

Sie antworten nahezu einstimmig. »Was erbeutet wurde, muss zusammengetragen und präsentiert werden. Es muss unter allen aufgeteilt werden.«

Der Gemeinschaftssinn dieser Männer erfüllte sie mit Stolz. »Und wie lautet die Strafe für Diebstahl?«

»Prügel und Tod.«

Das gefiel ihr. In ihrer Flotte herrschte Disziplin. Ihre Männer waren eine bestens ausgebildete Armee. Da sie wusste, dass ihnen schwere Verluste drohten, machte sie ein Versprechen. »Alle, die unbeirrt vorwärtsdrängen, erhalten einen doppelten Anteil. Alle, die verletzt werden, einen dreifachen. Und sollte heute jemand sterben, so sei dessen Familie bis weit in die nächste Generation hinein versorgt.«

Sie standen still. Es war brütend heiß, kein Lüftchen rührte sich.

»Und wer mir den Verräter lebendig bringt, den erwartet ein Reichtum, der sogar die Träume eines Kaisers übersteigt.«

Die Männer applaudierten begeistert, bildeten einen Sprechchor und riefen wiederholt ihren Namen, um sich in kampfbereite Stimmung zu bringen.

»Geht jetzt«, sagte sie dann, »und holt euch, was euch von Rechts wegen zusteht.«

Vierundsechzig Männer kletterten über Leitern in vier Boote hinunter. Acht weitere Boote wurden von Chings anderen Schiffen zu Wasser gelassen. In jedem Boot griff die Hälfte der Mannschaft zu den Rudern, während sich die andere Hälfte – entweder bewaffnet oder darauf wartend, Strickleitern zu schleudern und an der Reling des verfolgten Schiffes einzuhängen – am Bootsrand drängte.

Jun beobachtete, wie die Flotte kleiner Boote das Riff überquerte und – von der Kraft der Ruderer angetrieben – auf ihn und sein Schiff zuhielt. Zwölf kleine Boote. Etwa einhundertachtzig Männer. Und er verfügte nur über fünfundsiebzig. Dafür stand er jedoch an Bord einer schwimmenden Festung.

»Sie kommen!«, rief er. »Haltet euch bereit!«

Warnungen erklangen vom Bug bis zum Heck. Juns Männer schwärmten auf dem Oberdeck der Dschunke aus, Waffen aller Art in den Händen. Die erste Gruppe stellte sich an der Reling auf, Armbrüste und Musketen waren schussbereit. Andere Gruppen drängten sich hinter ihnen, um die Lücken auszufüllen. Sie eröffneten das Feuer, sobald die Boote bis in Schussweite vorgedrungen waren.

Die Musketen waren auf jede Entfernung ungenau und – abgesehen von dem Lärm und dem Qualm, den sie erzeugten – so gut wie wirkungslos. Die Armbrüste und Bögen hingegen wirkten sich geradezu tödlich aus. Die erste Pfeil- und Bolzensalve durchbohrte mehrere Männer in den führenden Booten. Einige Ruderer wurden in den Rücken getroffen. Sie sackten nach vorn und wanden sich in Schmerzen. Zwei Männer, die eine Leiter bereithielten, wurden von Treffern in die Brust ereilt. Sie kippten über die Reling und stürzten ins Meer.

Im zweiten Boot wurden ein paar Männer in die Beine getroffen und auf die Holzplanken unter ihren Füßen genagelt. Sie schrien vor Schmerzen, aber die Flotte behielt ihre Richtung bei und kam unbeirrt näher.

Nachdem die Besatzungen der führenden Boote dezimiert worden waren, eröffneten die Männer in den nachfolgenden Booten das Feuer aus größerer Entfernung – in der Hoffnung, Juns Männer zurückzudrängen.

Jun zog den Kopf ein, als Musketenkugeln über sie hinwegpfiffen, aber dieses erwidernde Feuer war mehr ein Theaterdonner als sonderlich gefährlich. Die schaukelnden Boote und die Ungenauigkeit der Schusswaffen bewirkten einen Kugelhagel, der über ihre Köpfe hinwegrauschte, ohne ein einziges Mannschaftsmitglied zu verletzen.

Der Austausch kurzer Salven war bei Weitem wirkungsvoller, und für mehrere Minuten verlegten sich die Bootsbesatzungen und die Verteidiger auf diese Taktik, wobei jede Seite neue Opfer zu beklagen hatte.

Es war ein Zermürbungskampf, der Juns Männern zwar deutliche Vorteile verschaffte, und doch kamen mit jeder Sekunde, die verstrich, Ching Shihs Männer in ihren Booten näher. Nicht mehr lange, und sie würden die Seidener Drache umzingelt haben, wobei die meisten der Boote in Schussweite gelangten.

»Sie teilen sich auf«, rief Jun warnend. Mehrere Boote waren zur Backbordseite gewechselt. Andere steuerten in Richtung des Bugs. »Sie wollen uns von allen Seiten attackieren. Die Männer sollen sich verteilen.«

Die Verteidiger wichen auseinander und versuchten, alle Bereiche des Schiffes gleichzeitig zu schützen, während das Kampfgeschehen wieder an Heftigkeit zunahm. »Von konzentriertem Feuer unsererseits kann keine Rede mehr sein«, stellte der Kapitän fest.

Jun zückte seine Steinschlosspistole und spannte den Hammer. »Noch müssen sie erst einmal an Bord kommen.«

Erste Versuche wurden bereits unternommen. Enterhaken waren an der Backbordseite auf dem Oberdeck gelandet. Erste wacklige Leitern hingen an der Steuerbordseite von der Reling herab.

»Treibt sie zurück«, befahl der Kapitän.

Juns Männer wehrten sich mit Äxten, holten damit aus und schlugen unbarmherzig zu. Sie zielten jedoch nicht auf die Männer, sondern hatten es auf die Haken und die Leinen abgesehen. Die Axtklingen durchtrennten die Seile und gruben sich tief in die bunt lackierte Holzreling des Schiffes ein.

Auf der anderen Seite des Schiffes wurden Leitern mit langen Stangen zurückgestoßen, bis sie das Übergewicht bekamen und die Männer, die sie zum Teil bereits erklettert hatten, ins Meer stürzten.

Die Piraten griffen im Feuerschutz ihrer Gefährten auf dem Piratenschiff an und nutzten einen wilden Hagel von Pfeilen, Gewehrkugeln und sogar Wurfspeeren, um Juns Männer am Kappen der Seile zu hindern. Für jeden abgeschnittenen Enterhaken und jede abgewehrte Leiter verlor Jun einen, zwei oder drei Verteidiger. Und Ching Shihs Männer kamen näher und näher.

Zusätzliche Enterhaken verfingen sich an der Reling, und schon erreichten die ersten Eindringlinge das Schiffsdeck. Die Angreifer waren von kleinerem Wuchs und dank der Geschwindigkeit, mit der sie klettern konnten, auf diese Aufgabe spezialisiert. Sie turnten an dem jadegrünen Schiffsrumpf empor, schwangen sich über die Reling, wobei sie aus ihren Pistolen wild um sich feuerten und mit ihren Schwertern und Säbeln auf alles einschlugen, was sich in ihrer Reichweite befand.

Da er mit einem solchen Angriff gerechnet hatte – und außerdem wusste, dass die Männer der ersten Angriffswelle sehr oft mit nackten Füßen kletterten, weil sie auf diese Weise an den Seilen schneller und sicherer an Höhe gewannen –, hatte Jun auf dem Deck Krähenfüße ausstreuen lassen: scharfkantige Metallsplitter, die sich in die Fußsohlen der Männer gruben, die über die Reling sprangen.

Aber Ching Shih kannte all diese Tricks. Ihre Männer trugen dicksohlige robuste Stiefel. Die Krähenfüße konnten sie nicht aufhalten. Mit Kurzschwertern und Dolchen in den Fäusten strömten sie auf das Deck.

Einen von ihnen erschoss Jun mit seiner Pistole und ließ den Mann mit einer tiefen Brustwunde auf den Decksplanken liegen. Danach schaltete ein Armbrustpfeil einen zweiten Angreifer aus. Und der Kapitän tötete einen dritten mit einem Schwerthieb. Aber weitere kletterten hinter ihnen über die Reling. Beide Seiten des Schiffes wurden jetzt auf die gleiche Weise bedroht, während eine Gruppe von Ching Shihs Männern in der Nähe des Bugs an Bord gelangt war, der sich dichter über dem Wasser befand und darum leichter zu erklettern war.

Ein heftiger Kampf Mann gegen Mann entbrannte. Zwar konnten Pistolen benutzt werden, aber es war nicht möglich, sie nachzuladen. Musketen waren nutzlos – außer vielleicht als stumpfe Schlagwaffen, um einen Schwerthieb zu parieren oder dem Gegner damit den Schädel einzuschlagen.

Juns Männer wurden auf allen Seiten zurückgedrängt, von der Reling getrennt und auf das erhobene Heck getrieben, wo sie sich zum letzten Gefecht aufstellen mussten.

Eine weitere Salve Armbrustpfeile wurde abgefeuert und riss Lücken in die Reihen der Angreifer, aber weitere Piraten erklommen die Seile und Leitern.

»Offenbar sind sie bereit, ihre Boote bis auf den letzten Mann zu leeren!«, rief der Kapitän.

Jun war deshalb nicht wenig geschockt, aber der Kapitän hatte recht. Mehrere Boote trieben in der Nähe des Bugs mit niemandem an Bord, der verletzt oder tot war.

»Bildet zwei Reihen«, rief Jun.

Die Mannschaft befolgte den Befehl, aber die Reihen hielten nicht lange stand. Die Überlebenden waren gezwungen, immer weiter zurückzuweichen und Boden auf dem mit Blut besudelten Deck preiszugeben.

Sie zogen sich die Treppe hinauf zum Heckkastell zurück. Weniger als dreißig Männer waren noch am Leben, und etwa die doppelte Anzahl verfolgte sie.

Ching Shihs Piraten formierten sich für den letzten Angriff und stürmten die Treppe hinauf. Schulter an Schulter überwanden sie die Stufen, eine solide Wand aus Männern und Schwertern. Im letzten Augenblick rief Jun aus vollem Hals einen Befehl.

Seine Leute wichen zu beiden Seiten zurück, ließen sich auf das Deck fallen und gaben den Blick auf vier Kanonen und eine gleiche Anzahl Arkebusen frei, die auf ihren Lafetten und Dreibeinen darauf warteten, abgefeuert zu werden. Die Waffen waren nicht nach außen, sondern auf das Schiffsinnere und nach unten ausgerichtet. Ihre gähnenden Mündungen zielten auf die Treppe, die in diesem Augenblick von angreifenden Piraten dicht bevölkert war.

Die Kanonen gingen mit dem ohrenbetäubenden Knall explodierender Schwarzpulverladungen los. Der Lärm allein reichte aus, um jeden Mann zu Boden zu werfen, aber die eigentlich vernichtende Wirkung wurde von der Munition in den Waffen ausgelöst.

Die glatt gezogenen Rohre waren mit Ketten, zerbrochenen Schwertklingen und anderen Trümmern aus Metall und Glas gefüllt. Diese Splitterwolke flog den angreifenden Männern entgegen. Sie blähte sich auf ihrem Weg auf. Die Ketten verwandelten sich in fliegende Peitschen, und das Glas und die Metalltrümmer erschienen wie eine Geschosssalve aus einhundert gleichzeitig abgefeuerten Musketen.

Innerhalb eines kurzen Augenblicks wurde die Schar der Angreifer halbiert. Und von denen, die diese geballte Salve überlebt hatten, war mindestens die Hälfte verwundet. Und selbst die Unversehrten stürzten in einem Zustand halb betäubten Unglaubens zu Boden.

Als Nächstes feuerten die Gewehre auf ihren Drehlafetten. Zwar nicht so tödlich und vernichtend, aber wirkungsvoll genug, um die Masse der angreifenden Piraten weiter zu verringern.

»Macht ein Ende mit ihnen!«, rief Jun.

Der Kapitän setzte seinen Sturmlauf mit gezücktem Schwert fort. Die überlebenden Mannschaftsmitglieder schlossen sich ihm an: um sich schlagend und hackend.

Jun stand inmitten des Kampfgetümmels, stolz auf seinen Geniestreich. Indem er mit dem Einsetzen seiner stärksten Waffe gewartet hatte, bis sich Madam Chings Soldaten an einem Ort dicht zusammengedrängt hatten, hatte er die meisten auf einen einzigen Schlag niedergemacht.

Als seine Männer zum Gegenangriff übergingen, wurden Chings Piraten vom Schiff vertrieben und sprangen nun über die Reling und hinab in die Bucht. Einige versuchten, schwimmend die Sicherheit der Insel zu erreichen, andere schwammen zu den herrenlos treibenden Booten hinüber oder sogar zu dem Riff hinter ihnen.

Während er zu der achtern gelegenen Reling rannte, deutete Jun durch den Qualm auf eines der abdrehenden Boote. »Dreht die Kanonen herum«, rief er. »Zerstört die Boote, damit sie uns nicht mehr angreifen können.«

Zwei seiner Männer machten sich daran, eine der Kanonen zu wenden. Ein dritter lud sie dabei schon mit Pulver und festen Projektilen. Aber bevor sie die Lunte in Brand setzen konnten, ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Er erschütterte die Bucht und war lauter als jede Kanone oder jeder Donnerschlag – oder überhaupt als irgendetwas, das Jun jemals gehört oder gespürt hatte.

Die Druckwelle warf ihn auf das Deck, fegte mehrere Männer vom Schiff herunter und zerbrach einen der Masten. Die Seidener Drache neigte sich zur Seite und drohte, sich in der Bucht auf den Rücken zu rollen.

Mit dem Gesicht nach unten auf den Holzplanken liegend, spürte Jun, wie glühend heiße Finger seinen Nacken streichelten. Eine Woge heißer Luft brannte in seiner Nase und trocknete gleichzeitig seine Augen aus. In panischer Angst, Feuer gefangen zu haben, wälzte er sich herum und versuchte, die eingebildeten Flammen zu ersticken.

Er brannte nicht, sondern wurde nur von glühend heißen Windböen herumgeworfen und war einem Trommelfeuer kleiner Steine ausgesetzt, die in einem dichten Schauer vom Himmel regneten. Als er aufschaute, sah er, dass die Sonne hinter einer dunklen Wolke verschwunden war.

Erst jetzt begriff er, was geschehen war. Der Berg war explodiert. Ein Vulkanausbruch hatte das obere Drittel seines Gipfels pulverisiert. Eine pilzförmige Aschewolke stieg in den Himmel. Felsbrocken, groß wie Häuser, flogen wie Vögel durch den Himmel. Bäume und Büsche, die meisten in hellen Flammen stehend, ragten vom Boden auf. Blitze zuckten durch den tobenden Mahlstrom.

»Mein Gott«, flüsterte Jun.

Inzwischen war der Kampf zum Erliegen gekommen. Die Schlacht hatte keinerlei Bedeutung mehr, der Schatz war unwichtig. Ein einziger Gedanke beherrschte jeden noch lebenden Geist: Nichts wie weg von der Insel, sonst drohte der Tod.

»Spannt die Segel auf!«, rief Jun. »Und kappt die Ankertaue!«

Die Männer beeilten sich, die Befehle auszuführen. Draußen, jenseits des Riffs, verließen die Schiffe mit den Roten Bannern ihre Positionen und überließen ihre rudernden Kameraden dem sicheren Untergang.

Riesige Felsbrocken und Steine fielen vom Himmel. Wo sie landeten, wurden Türme weißer Gischt hochgeschleudert und überschütteten das jeweilige Schiff und seine Insassen.

Vom Anker befreit und die Segel vom Wind aufgebläht, setzten sich die Schiffe in Bewegung.

Asche rieselte ringsum herab und legte sich wie grauer Schnee auf das Deck. Als er sich umdrehte, begriff Jun, welchem gnädigen Schicksal sie es zu verdanken hatten, dass sie überhaupt noch am Leben waren: Die Eruption hatte sich auf die andere – ferne – Seite der Insel beschränkt. Die Explosion war nach Osten gerichtet, also nach außen, weg von der Insel. Die Asche und das Lavagestein hatten sich zwar weiter ausgebreitet, aber die ständigen Passatwinde hatten auch die Aschewolke nach Osten geschoben. Selbst die Seidener Drache nahm schneller Fahrt auf, als er sich jemals hätte träumen lassen.

»Vielleicht schützt der Drache uns auch weiterhin«, sagte Jun.

Der Kapitän, der sich eine Verletzung an seinem Bein zugezogen hatte und humpelte, schüttelte den Kopf. »Die Bucht leert sich«, sagte er.

Jun starrte durch die Schwaden des Ascheregens. Große Korallenformationen tauchten in der Bucht auf und stiegen wie eine Barriere aus triefenden Zähnen aus dem Wasser weiter auf. Streifen nassen Sandes erschienen, und zwischen ihnen wurden winzige Wassertümpel sichtbar, in denen verzweifelte Fische zappelten.

»Was ist hier los?«, fragte Jun.

»Die Insel steigt auf«, sagte der Kapitän. »Der Vulkanausbruch ist noch nicht zu Ende.«

Das Schiff stoppte knirschend, und die Planken im Rumpf barsten, als sie mit den Riffs kollidierten.

In den letzten Wasserresten kam es schließlich zur Ruhe, sank noch tiefer und tiefer und legte sich am Ende auf eine Seite, als wäre es bei Hochflut auf einem Strand auf Grund gelaufen.

Ein weiteres Zittern lief jetzt durch den Untergrund, und die Gase und die Magma, die sich in einer Kammer unterhalb der Insel angesammelt hatten, wurden nun schlagartig freigesetzt.

Die Reste des Berges zerbarsten. Der Untergrund unter dem Schiff gab ganz nach, und die See füllte die Senke aus. Im gleichen Augenblick ergoss sich der pyroklastische Strom aus Feuer, Asche und Schlamm die Reste des Berges hinunter. Die beiden Ströme – Wasser und Magma – trafen über dem sinkenden Schiff wie ein Paar gigantischer applaudierender Hände aufeinander und entfernten die Seidener Drache aus der Geschichte.

1

DREIHUNDERT MEILEN NORDÖSTLICH VON TAIWAN

GEGENWART

Die Canberra Swift segelte von Taiwan mit Kurs nach Norden durch die Nacht. Sie war ein mittelgroßes Frachtschiff mit hoher Bordkante und einem aerodynamischen Schild, der die vordere Hälfte des Schiffes überdeckte. Die Kommandobrücke erhob sich hinter dem Schild etwa in der Mitte des Schiffes, während dahinter zwei scharf nach achtern geneigte Schornsteine aufragten.

Ein führendes nautisches Magazin beschrieb ihr Äußeres als nach nautischen Gesichtspunkten unattraktiv, wenn nicht gar hässlich und meinte, sie sehe aus, als hätten ein japanischer Bullet Train und eine hochseetüchtige Fähre gemeinsam einen Nachkommen gezeugt. Aber die seltsame Form hatte ihren praktischen Sinn.

Das Schiff war dafür konstruiert, überdimensionale Fracht in Roll-on/Roll-off-Konfiguration ähnlich einer Fähre zu transportieren. Fracht und Ausrüstung wurden über eine Rampe, die etwa sechs Fahrspuren breit war, vom Heck aus in das Schiff eingeladen. Geparkt oder gelagert wurde die Fracht in einer riesigen durchgehenden Ladehalle, die sich auf dem Hauptdeck vom Bug bis zum Heck erstreckte. Am Bestimmungsort angekommen, konnte die Fracht dann einfach über eine andere Rampe nach vorn aus dem Schiff herausgefahren werden.

Wegen ihrer Größe, ihrer äußeren Form und ihrer Geschwindigkeit war die Canberra Swift eingesetzt worden, um alles Mögliche – von Rumpfabschnitten von Großraumflugzeugen bis hin zu Raketenteilen und sogar zu radioaktiven Abfällen – durch die Weltgeschichte zu bewegen, Letztere in versiegelten, mit Blei ausgekleideten Spezialcontainern. Sollte ein Krieg ausbrechen, war sie bereits vertraglich verpflichtet, überdimensionales Kriegsmaterial zu Stützpunkten in der Nähe welcher Kriegsgebiete auch immer zu bringen.

Aufträge wie diese wurden an die Swift nicht nur deshalb vergeben, weil sie für den Transport ungewöhnlicher Lasten konstruiert worden war, sondern auch weil sie – wie ihr Name andeutete – eins der schnellsten Frachtschiffe war, die je auf Kiel gelegt worden waren. Sie schaffte vierzig Knoten im Sprint-Modus und fünfunddreißig im Dauerbetrieb. Sie konnte den Pazifik in sieben Tagen überqueren, also in einem Drittel der Zeit, die ein Containerschiff mit durchschnittlicher Leistung brauchte.

Der Kapitän der Canberra Swift stand auf der Kommandobrücke und studierte das Radar. Kein anderes Schiff, dem besondere Aufmerksamkeit hätte geschenkt werden müssen, war in der Nähe zu sehen. »Volle Kraft voraus«, befahl er. »Ein Sturm ist an der kanadischen Küste entlang von Alaska zu uns unterwegs, und ich würde die Bucht von San Francisco gern noch vor ihm erreichen.«

Der Rudergänger bestätigte den Befehl mit einem Kopfnicken und leitete ihn an den Maschinenraum weiter, wo die Gasturbinen auf maximale Reiseleistung geschaltet wurden.

Nachdem der Maschinenraum geantwortet hatte, lächelte der Kapitän zufrieden. Er wandte sich an seinen Ersten Offizier. »Das Schiff gehört Ihnen. Ich bin in meiner Kabine, wenn Sie mich brauchen sollten.«

Der Erste Offizier nickte, während der Kapitän die Kommandobrücke verließ. Er ließ sich in den Kommandosessel sinken, während die Canberra Swift Tempo zulegte.

Mit magnetischen Hand- und Knie-Pads auf der Außenseite des Schiffes klebend, konnte Teng Kung-Lu – für seine Männer nur Lucas – dem Zuwachs an Geschwindigkeit nicht allzu viel Positives abgewinnen. Die elektromagnetische Kraft, die ihn an Ort und Stelle fixierte, mochte beachtlich sein, aber jedes bisschen an zusätzlicher Geschwindigkeit verstärkte den böigen Fahrtwind noch, der den magnetischen Halt schwächen konnte.

Er zog sich dicht an den Rumpf heran und tat alles, was er tun konnte, um zu verhindern, dass sich der Luftstrom zwischen ihn und das Schiff schob. Das Gesicht aus dem Wind drehend, blickte er zur Seite und nach unten. Die acht Männer seines Teams machten das Gleiche, was er tat, indem sie wie Wasserschnecken am Schiffsrumpf klebten. Jeder war schwarz gekleidet, und ihre Maschinenpistolen waren unter breiten Klettbandstreifen gesichert.

Er konnte die Anstrengung in ihren Armen erkennen und die Anspannung in ihren Gesichtern, da diese Phase des Überfalls schon viel länger dauerte als beabsichtigt.

Er blickte nach oben und zählte die Sekunden, bis die Hauptbeleuchtung des Schiffes schließlich erlosch. Die dritte Wache hatte begonnen. Mit dem Daumen aktivierte er einen Lichtpunkt im Magnet-Pad unter seiner linken Hand. Drei Punkte waren ein Befehl, die Kletterpartie fortzusetzen. Sie müssten sich beeilen, den Rumpf hinter sich zu bringen, ehe der Wind sie von dort herunterwehte.

Mit dem rechten Daumen drückte er auf einen Knopf, der mit einer Manschette verbunden war, die seinen rechten Arm umschloss. Der Magnet wurde ausgeschaltet, sodass er ihn vom Schiffsrumpf lösen und weiter nach oben schieben konnte. Nachdem er sich so weit wie möglich gestreckt hatte, ließ er den Knopf wieder los.

Der Elektromagnet zog seinen Arm sofort auf die Stahlplatte zurück, wo er sich in Position festsaugte. Indem er einen zweiten Knopf drückte, konnte er sein rechtes Bein nach oben schieben. Danach wiederholte er diese Prozedur auf der linken Seite. Langsam, aber stetig kletterte er zu einer Luke hinauf.

Seine Männer folgten seinem Beispiel. Sie waren wie eine Ameisenfamilie, die zum Zuckervorrat innerhalb des Schiffes wollte. Als er die Luke erreichte, wagte er es, die linke Hand lange genug von der Rumpfwand zu lösen, um gegen den Stahl zu klopfen. Nichts geschah. Er klopfte lauter, indem er den metallenen Teil der Manschette benutzte und ein lautes Klirren erzeugte.

Diesmal hörte er etwas. Ein Riegel wurde zurückgeschoben, dann wurde innen an einem Rad gedreht. Gott sei Dank, dachte Lucas.

Eine Luke, groß genug, um eine Laufplanke hineinzuschieben und auf diesem Weg die Schiffsvorräte aufzufüllen, schwang nach innen, als die Luke geöffnet wurde. Ein Mannschaftsmitglied, das die Uniform der Schifffahrtslinie trug, erschien. Der Mann hatte schwarzes Haar, mit einem seltsamen weißen Streifen in der Mitte. Er sah Lucas fragend an und reichte ihm eine Hand.

Lucas ergriff sie, löste den anderen Magneten und wurde ins Schiff gezogen. Das Mannschaftsmitglied zog sich in den Schatten zurück, während Lucas seinen Männern nacheinander durch die Lukenöffnung in den Schutz eines kleinen Abteils half.

Alles ging gut, bis zum letzten Mann. Dieser Mann schaltete seinen Magneten ein wenig zu früh aus. Sein Bein rutschte ab, und er stürzte.

Lucas streckte sich und bekam den Gurt seiner Maschinenpistole zu fassen. Die Waffe verklemmte sich unter der Schulter des Mannes und verhakte sich dort sogar, während Lucas an Deck gezogen wurde und fast aus der Lukenöffnung rutschte.

»Callum!«, rief Lucas. Trotz ihrer chinesischen Herkunft wählten die Mitglieder seiner Gruppe ausnahmslos westliche Namen, wenn sie zusammenkamen. Niemand kannte den anderen bei einem anderen Namen, sodass sie im Fall einer Gefangennahme keinen ihrer Gefährten verraten konnten.

»Fass noch mal nach!«, rief Lucas. »Benutz die Koppler.«

Als er erkannte, dass Callum starr vor Angst war und befürchtete, über den Rand der geöffneten Luke gezogen zu werden, schaltete Lucas sein eigenes Magnetsystem ein und sicherte sich auf dem Deck.

»Klettere über mich hinweg«, rief er.

Der Mann schaute hoch.

»Beeil dich«, sagte Lucas, »bevor du mir den Arm ausrenkst.«

Mit mehreren anderen Männern, die sich bereithielten, um zu helfen, zog sich Callum hoch, wobei er Lucas als Strickleiter benutzte. Sobald sie an ihn heranreichen konnten, packten sie Callum und zogen ihn durch die Lukenöffnung ins Schiff.

Lucas entspannte sich, schaltete die Magneten aus und zog sich von der Luke zurück. Callum bot ihm eine Hand an und half ihm auf die Füße.

Seine Schulter massierend und sich streckend, rutschte Lucas näher an Callum heran. »Das war ziemlich dumm«, sagte er und musterte den Mann, der beinahe abgestürzt wäre. »Wenn du noch mal so nachlässig bist, lasse ich dich sterben.«

Die Worte klangen hart, aber die Männer wussten es besser. Lucas war der Anführer einer Bande von Brüdern – Piraten, die sich umeinander sorgten. Im Gegensatz zu dem berühmten alten Piraten-Kodex hatte Lucas noch nie einen seiner Männer im Stich gelassen.

Callum senkte den Kopf und wagte nicht, ihn anzusehen. Er schämte sich. Während er zurücktrat, wandte sich Lucas an den Mann, der sie hereingelassen hatte. »Du hattest dich verspätet.«

»Es ging nicht anders«, sagte das Mannschaftsmitglied. »Der Kapitän blieb eine halbe Stunde länger als üblich auf Wache. Jetzt liegt er in seiner Koje und schläft.«

Lucas nickte. »Gibt es noch etwas, das wir wissen sollten?«

Das Besatzungsmitglied schüttelte den Kopf. »Die Sicherheitssysteme sind lahmgelegt. Ihr solltet keine Probleme haben, in den Maschinenraum oder in die Funkzentrale zu gelangen.«

»Gut«, sagte Lucas. Er schickte drei Männer in den Maschinenraum und zwei weitere in die Funkzentrale, wo sich die Satellitenempfänger, die Multiband-Funkgeräte sowie die Kontrollen für die diversen automatischen Peilsender befanden.

Indem er sich zu dem Mannschaftsmitglied der Swift umwandte, nahm er eine Änderung vor. »Nimm einen meiner Männer mit und sucht das Quartier des Kapitäns auf. Weckt den alten Mann auf und bringt ihn zu mir.«

»Ich hatte angenommen, du wolltest, dass ich dich zur Kommandobrücke führe.«

»Ich denke, die können wir auch ohne deine Hilfe finden.«

Die verschiedenen Gruppen verließen den Raum in unterschiedliche Richtungen. Lucas gab Callum ein Zeichen, ihn zu begleiten. Sie steuerten auf die nächste Treppe zu.

Mit einer lässigen Bewegung hob Lucas den Klettbandstreifen hoch, der seinen Leib in Taillenhöhe bedeckte. Ohne aus dem Tritt zu kommen, holte er eine QCW-05-Maschinenpistole darunter hervor, die quer über seine Brust geschnallt war. Er hängte sich die Waffe griffbereit über die Schulter und schraubte einen zylinderförmigen Kompressor auf den Lauf.

Die chinesische QCW verfeuerte 5,8 mm-Unterschallgeschosse, die aus gehärtetem Stahl anstatt aus weichem Blei hergestellt wurden. Sie konnten Stahl, der ein viertel Zoll dick war, durchschlagen.

Lucas hatte seine Männer darin ausgebildet, sie mit möglichst tödlicher Wirkung zu benutzen, aber wenn alles wie geplant ablief, brauchten sie keinen einzigen Schuss abzufeuern.

Als sie die Kommandobrücke erreichten, trafen sie dort den Ersten Offizier der Swift sowie zwei Mannschaftsmitglieder am Ruderstand an. Auf die Theatralik verzichtend, in den Raum zu platzen und lautstark wilde Drohungen auszustoßen, trat Lucas ruhig über die Schwelle und räusperte sich, um sich bei jedem bemerkbar zu machen.

Die Männer auf der Kommandobrücke reagierten mit Gletschergeschwindigkeit. Ihre Überraschung über das Erscheinen bewaffneter Männer in Kampfkleidung war so vollständig, dass sie vor Verwirrung erstarrten.

»Legen Sie sich lieber lang auf den Boden«, sagte Lucas vollkommen ruhig, »wenn Sie nicht in Fetzen geschossen werden wollen.«

Die beiden Mannschaftsdienstgrade gehorchten. Der Erste Offizier schien in seinem Sessel zu kleben. Schließlich brachte er es fertig zu sprechen. »Wir haben Bargeld im Safe«, sagte er, hob die Hände, rutschte aus dem Sessel und sank auf ein Knie. »Er ist offen.«

»Natürlich ist er das«, sagte Lucas.

Der Mangel an Gegenwehr und ein unverschlossener Safe zeugten von dem aktuellen Zustand der modernen Piraterie. Eine unausgesprochene Übereinkunft zwischen den verschiedenen Piraten der Welt und den Schifffahrtslinien, deren Frachter die Weltmeere durchfuhren, hatte sich im Laufe der Zeit entwickelt.

Piraten kamen an Bord der Schiffe, wann und wo sie konnten. Gewöhnlich in vielbefahrenen Küstengewässern in der Nähe armer, instabiler Nationen. Anstatt sie abzuwehren und Tod und Vernichtung zu riskieren, versteckten Offiziere und Mannschaften sich oft in Safe Rooms oder Festungen, zu denen die Piraten sich keinen Zugang verschaffen konnten, die ihnen jedoch erlaubten, die Schiffe in Ruhe nach Bargeld oder anderen Wertgegenständen zu durchsuchen. Safes wurden offen gelassen und enthielten einen mittleren Geldbetrag. Gerade genug, um die Piraten zufrieden zu stellen und zu veranlassen, das jeweilige Schiff so schnell wie möglich zu verlassen. Gelegentlich wurden Mobiltelefone und Laptops benutzt, um das Bestechungsgeschenk abzurunden, das wie ein Teller Weihnachtskekse für den Nikolaus bereitlag.

Der Deal war simpel. Piraten misshandelten oder töteten keine Schiffsbesatzungen oder stahlen keine Ladungen, die Millionen wert waren, und sie beschädigten auch nicht die Schiffe. Als Gegenleistung sicherten die Schifffahrtslinien ihr schwimmendes Kapital nicht mit bewaffneten Wächtern, insbesondere ehemaligen Angehörigen der Special Forces oder des israelischen Mossad.

Das System ähnelte eher einem Bestechungsgeschäft oder einer Schutzgelderpressung, und es funktionierte in den meisten Fällen. Aber nicht immer.

Während er in die Mündung der Waffe starrte, dämmerte dem Ersten Offizier, dass dies eine dieser seltenen Gelegenheiten war. Er studierte Lucas und seine Kameraden, begutachtete ihre Kleidung und ihre Waffen und bewertete im Stillen die professionelle Heimlichkeit, mit der sie an Bord gelangt waren. »Sie sind nicht hier, weil Sie Geld haben wollen«, stellte er fest. »Oder?«

Lucas ignorierte die Frage. »Rufen Sie die anderen Offiziere auf die Brücke«, verlangte er. »Und versuchen Sie nicht, sie über unsere Anwesenheit zu informieren. Wir kennen Ihre Code-Wörter für Sicherheitsbedrohungen.«

Der Erste Offizier erhob sich langsam und ging zur Steuerkonsole. Er schaltete die schiffsweite Sprechanlage ein und sendete seine Botschaft. »Hier spricht der Erste Offizier. Alle Offiziere melden sich sofort auf der Kommandobrücke zur Stelle. Wir haben neue Befehle erhalten.«

Während seine Stimme aus den Lautsprechern des Schiffes drang, lag in Crawfords Augen ein inständiges Flehen. »Ich musste ihnen einen Grund nennen«, versuchte er, seine zusätzlichen Worte zu rechtfertigen.

Lucas nickte. »Zumindest haben Sie nicht gelogen.«

2

BRISBANE, AUSTRALIEN

Jonathan Freeman saß in den frühen Stunden des australischen Morgens in der Funk- und Kommunikationszentrale der Canberra Shipping & Logistics. Nun absolvierte er schon in der dritten Woche die Nachtschicht, und die schlaflosen Stunden begannen, ihm zuzusetzen. Gähnend und ein Klemmbrett überfliegend – ein ziemlich drolliges Back-up für all die Computermonitore vor ihm –, vergewisserte er sich zum dritten Mal innerhalb einer Stunde, dass alle vorgeschriebenen Meldungen eingegangen waren und er nun nichts anderes zu tun hatte, als bis sechs Uhr auf seine Ablösung zu warten.

Er hoffte, dass man ihm ein Frühstück mitbrachte. Steak und Champignonpastete mit einem Korb noch warmer knuspriger Brötchen wären genau das Richtige.

»Da haben wir es wieder«, sagte er sich. »Jetzt hast du Hunger.«

Auf der Suche nach etwas, um sich vom Frühstück abzulenken, warf er einen Blick auf den Monitor, der die Wege der firmeneigenen Schiffe mithilfe der Signale ihres AIS – Automatic Identification System – verfolgte. In unterschiedlichen Fenstern des Monitors konnte er sehen, wie sie die verschiedenen Ozeane der Welt durchpflügten und genau das taten, was sie tun sollten. Alle bis auf eins, wie er in diesem Augenblick erkannte.

Gegen den Bildschirm tippend, zoomte er den westlichen Pazifik heran, wo eine kurz zuvor noch grün gewesene Linie nun bernsteinfarben zu blinken begonnen hatte.

»Was haben wir denn da?«

Abermals auf den Bildschirm tippend, rief er die ID-Daten des Schiffes auf.

»Canberra Swift«, las er laut vor. »Jetzt gar nicht mehr so schnell, oder?«

Im Informationsfenster auf dem Bildschirm war zu verfolgen, wie die Geschwindigkeit des Schiffes von fünfunddreißig Knoten auf weniger als zehn Knoten abfiel und weiter sank. Freeman verfolgte, wie das Tempo bis 9,2 Knoten absackte und dort blieb.

Indem er sich mit beiden Füßen abstieß, rollte er mit seinem Sessel zur Sat-Com-Station. Im Prinzip nicht mehr als ein zweiter Computer, weckte er den Bildschirm mit einem Fingertippen auf und suchte die richtige Vorwahl aus, um mit der Canberra Swift Kontakt aufzunehmen.

»Canberra Swift, Canberra Swift«, sagte er laut. »Hier ist Operations, was ist bei Ihnen los?«

Er rückte das schlanke weiße Plastikmikrofon vor ihm auf dem Tisch zurecht.

»Hier spricht der Erste Offizier Crawford«, antwortete eine Stimme aus den Lautsprechern. »Fahren Sie fort, Operations.«

»Wir sehen, dass Sie langsamer werden. Wir messen eine Geschwindigkeit von 9,2 Knoten. Haben Sie irgendwelche Schwierigkeiten?«

»Messung korrekt«, erwiderte die Stimme. »Wir hatten Probleme mit der Treibstoffpumpe der Gasturbine. Zurzeit benutzen wir den Diesel-Back-up. Unsere Techniker befassen sich bereits mit dem Problem. Von dort habe ich soeben die Information erhalten, dass die Reparatur des Hauptantriebs bereits im Gange ist und er in etwa einer Stunde wieder laufen wird.«

Freeman musste immer wieder über die Ruhe und Gelassenheit der Kapitäne und Mannschaften staunen. Im vergangenen Monat hatte er geholfen, ein Schiff unbehelligt durch einen Sturm der Stärke 5 mitsamt einem Wellengang, der das gesamte Deck überspülte, und einem schwergängigen Ruder zu manövrieren. Dem Tonfall des Kapitäns nach zu urteilen hatte es nach einer harmlosen vorübergehenden Störung geklungen.

»Wird vermerkt«, sagte Freeman und schrieb die Information auf sein Klemmbrett. »Soll ich San Francisco benachrichtigen und die voraussichtliche Ankunftszeit korrigieren?«

»Nicht nötig, Operations. Wir holen die Verzögerung auf, sobald das Problem beseitigt ist.«

Freeman notierte die Anweisung auf seinem Klemmbrett und trug die Uhrzeit ein. »Bestätigt«, sagte er. »Geben Sie uns Bescheid, wenn sich irgendwas ändern sollte.«

Der Erste Offizier meldete sich höflich ab, und Freeman rollte mit seinem Sessel zum Hauptcomputer zurück, in den er die erhaltenen Informationen und das Gespräch über das Keyboard eintippte.

Er saß noch immer an seiner Workstation, als eine Stunde später Signal und Signatur der Canberra Swift vom Bildschirm verschwanden.

Achttausend Seemeilen entfernt gönnte sich der Kapitän des südkoreanischen Frachters Yeongju auf der Backbord-Brückennock der Kommandobrücke seines Schiffes eine Pause. Erfahrener Weltreisender, der er war, bevorzugte er wegen ihres kräftigen Aromas indonesische Zigaretten und rauchte langsam und methodisch, um jede Phase dieses Vergnügens seiner selbst gewählten Sucht auszukosten und diesen kurzen Augenblick des Nichtstuns so lange wie möglich auszudehnen.

Er machte einen letzten Zug und schnippte die Kippe über die Reling hinaus in die Nacht. Die Glut leuchtete für einen Moment auf, angefacht von dem herrschenden Wind, ehe sie wie eine ausgebrannte Leuchtkugel verschwand.

Er war gerade dabei, den inhalierten Rauch auszuatmen, als ein doppelter Blitz den nördlichen Horizont aufhellte. Er war lautlos und funkelte. Und er hatte eine seltsame blau-weiß leuchtende Farbe.

Er flackerte nicht oder verblasste allmählich, sondern war einfach plötzlich da und gleich wieder verschwunden.

Der Kapitän blickte lange in die Richtung und bemerkte, dass der Blitz ein grünes Nachbild auf seiner Netzhaut hinterlassen hatte. Ein plötzlicher Druck in seiner Brust erinnerte ihn daran, dass er die Luft angehalten hatte. Er atmete eine Rauchwolke aus und kehrte dann auf die Kommandobrücke zurück.

»Irgendeine Wetteränderung?«, erkundigte er sich beim Rudergänger.

»No, Sir«, antwortete der Steuermann sofort. »Nicht vor morgen Nachmittag.«

Seltsam, dachte der Kapitän. Vielleicht war es das Wetterleuchten eines Wärmegewitters. Manchmal hatte die Atmosphäre die seltsamsten optischen Tricks auf Lager. »Vermerken Sie es im Logbuch«, sagte er. »Sehr heller Doppelblitz nördlich unserer momentanen Position. Entfernung unbekannt. Ursprung unbekannt.«

3

M.V. CANBERRA SWIFT

Auf der Kommandobrücke des verdunkelten Schiffes zählte Lucas Teng die Minuten – dies war einfacher, als die Stunden zu zählen. Zweihunderteinunddreißig Minuten waren verstrichen, seit sie das Schiff übernommen hatten. Einhundertsiebzig Minuten, seit sie es verdunkelt und den Kurs geändert hatten. Noch einhundert Minuten mehr, und er befände sich in Position für das Rendezvous und den größten Zahltag seines Lebens.

Zwanzig Millionen Dollar, aufgeteilt zwischen ihm und seinen Männern. Nach Abzug von Spesen und Schmiergeldern an Angestellte der Schifffahrtsgesellschaft, die ihm Insiderinformationen hatten zukommen lassen, bliebe noch immer mehr als genug übrig, um ihm den Ausstieg aus dem kriminellen Leben zu ermöglichen.

Was wirst du dann tun?, fragte er sich. Ein wenig leben. Und das Geld schnell ausgeben. Er kannte sich selbst gut genug, um zu wissen, dass es die Jagd und die damit verbundene Spannung war, die ihn reizten – mehr als das Geld. Aber beide Verlockungen würden ihn zurückholen. Es dauerte vielleicht ein oder zwei Jahre. Dann wäre das Geld weg, und das Leben würde langweilig werden. Aber auf die eine oder andere Art würde er wieder einen solchen Job planen.

Ein weiterer Blick auf die Uhr sagte ihm, dass der Countdown-Zähler um eine Ziffer geschrumpft war. Noch neunundneunzig Minuten. Es wurde Zeit, einen Rundgang durchs Schiff zu machen.

»Halte uns auf Kurs«, sagte er zu Callum. »Wachwechsel alle zwanzig Minuten. Ich möchte nicht, dass die Boys müde werden.«

Einer der Männer stand am Ruder, zwei andere hatten auf beiden Seiten der Brückennock Posten bezogen und beobachteten den Horizont durch Nachtsichtgläser. Die See war ruhig, und der Wind hatte sich nahezu vollständig gelegt. Aber mit diesem Tempo durch die Wellen zu rauschen, erzeugte einen Fahrtwind, der mit lautem Heulen über die eigenwilligen Aufbauten des Schiffes strich. Da jedes System ausgeschaltet worden war, das Licht oder Radiowellen aussandte – sogar das Wetterradar und das Kollisionswarnsystem –, hatte es sich als notwendig erwiesen, zwei altmodische Ausguckposten aufzustellen. Das Letzte, was Lucas sich wünschte, war, einem anderen Schiff fast auf Tuchfühlung zu begegnen.

Lucas schnappte sich das Funkgerät und hielt es hoch, damit Callum es sehen konnte. »Ich bin in fünfzehn Minuten zurück. Gib mir Bescheid, falls irgendetwas Ungewöhnliches geschieht.«

Nachdem er die Brücke verlassen hatte, durchquerte Lucas das leere Schiff auf seinem Weg hinunter zum Frachtraum. Er hatte die Schlüsselkarte des Kapitäns, eine Liste von Codes und einen Stapel Frachtpapiere dabei. Auf dem Hauptfrachtdeck betrat er einen riesigen freien Raum, der in seinen Ausmaßen eher an ein Warenhaus oder einen Flugzeughangar erinnerte.

Er schlängelte sich zwischen überdimensionalen Frachtstücken hindurch und gelangte zu einer verschiebbaren Zwischenwand, die mitten im Frachtraum errichtet worden war und ihn teilte. Diese dünne Stahlbarriere sollte die wertvollste Fracht des Schiffes schützen, falls das Wetter sich verschlechterte oder andere Frachtstücke sich losrissen.

Er verglich die Frachtpapiere mit der Liste von Codenummern, die er sich auf der Kommandobrücke hatte geben lassen, und wedelte mit der Schlüsselkarte des Kapitäns vor dem Leseterminal herum. Dessen Kontrolllampe leuchtete auf. Über eine Zahlentastatur gab er einen Nummerncode ein. Das rote Licht sprang auf Grün um, und die elektronische Verriegelung öffnete sich mit einem Klick.

Lucas öffnete die Lukentür und stieg über die erhöhte Schwelle. Eine Batterie Lampen leuchtete über ihm auf und tauchte die Umgebung in ein kaltes, steriles Neonlicht.

Der Raum hatte kaum Ähnlichkeit mit dem Frachtabteil eines herkömmlichen Handelsschiffes. Seine Wände bestanden aus weißem Kunststoffmaterial, das stellenweise aufgeraut und zerkratzt worden war, aber noch immer so stark glänzte, dass es das Licht der Deckenbeleuchtung reflektierte.

In großen Stellagen ruhten mehrere lange achteckige Zylinder. Lucas ging näher heran und entdeckte eine Inschrift.

HYDRO-COMCORP.

VECTOR 1 – 001 – 04

Warning: Container is pressurized with Nitrogen

to five atmospheres.

Depressurize before opening.

»Also das ist das, worauf Emmerson so scharf ist«, flüsterte er vor sich hin. »Ich hätte eher Waffen oder Uran Yellow Cake erwartet. Dies ist viel akzeptabler.«

»Und auch profitabler«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Lucas wirbelte herum. Er sah eine Gestalt in der Lukentüröffnung. Das Mannschaftsmitglied, das ihnen den Zutritt zum Schiff ermöglicht hatte. Der Mann hielt eine Waffe in der Hand.

»Was tust du hier?«, fragte Lucas. »Du sollst eigentlich bei der restlichen Mannschaft sein und so tun, als wärest du ebenfalls gefangen genommen.«

Der Mann richtete die Pistole auf Lucas. »Ich hatte keine Lust mehr, so zu tun als ob«, erwiderte er. »Daher habe ich mich aus der Gefangenschaft entlassen und alle erschossen.«

Sofort rechnete Lucas damit, dass ihm das gleiche Schicksal drohte, also tauchte er zur Seite weg und suchte hinter den Servergehäusen Schutz.

Der Mann feuerte sofort und drückte mehrmals kurz hintereinander ab. Zwei Schüsse gingen fehl, eine Kugel traf den Server, aber die vierte erwischte Lucas im Unterschenkel, fraß sich durch den Muskel und zertrümmerte sein Schienbein.

Er stieß einen Schmerzensschrei aus, während er zu Boden sackte, da sein Bein nachgab … aber er kroch sofort vorwärts in dem verzweifelten Bemühen, sein Leben zu retten.

»Du hättest deine Waffe mitnehmen sollen«, sagte der Mann, während er langsam in seine Richtung ging. »Aber gut, wahrscheinlich meintest du, dass du sie nicht brauchen würdest.«

Lucas kroch jetzt auf allen vieren, zog sein verletztes Bein hinter sich her und legte dabei eine breite Blutspur auf den weißen Plastikfußboden.

Er hakte das Sprechfunkgerät von seinem Gürtel los und forderte Unterstützung an. »Cal«, rief er laut. »Ich brauche Hilfe. Wir wurden ausgetrickst.«

Er ließ die Sprechtaste los und wartete auf Antwort, aber er hörte nichts als den Klang toter Luft und schlurfende Schritte hinter den Servergehäusen. Wieder drückte er auf den Sendeknopf. »Callum?«

»Es hätte dir gutgetan, wenn du dich mit dem Schiff vertraut gemacht hättest, ehe du an Bord kamst«, sagte der schleichende Mann. »Weißt du, der Laderaum ist nur eine vorübergehende Oase für diese Maschinen, entworfen und geschaffen, um sie vor jeder Form elektromagnetischer Strahlung zu schützen. Keine Radiowellen können in den Laderaum eindringen oder von dort herausgelangen, was bedeutet, dass dein Hilferuf hier genauso eingesperrt ist wie du selbst in diesem Augenblick.«

Lucas kroch weiter, duckte sich hinter einen anderen Server, während der Mann am Ende des Raums erschien und einen weiteren Schuss abfeuerte. Diese Kugel traf Lucas unterhalb des Knies und jagte eine neue Schmerzwelle durch sein verletztes Bein.

Er rutschte rückwärts bis zur Wand, beugte sich hinunter und riss einen Stoffstreifen aus seinem Hosenbein. Dabei konnte er auch sehen, wie schlimm ihn die erste Kugel getroffen hatte. Freigelegte Muskelstränge und zersplitterte Knochenfragmente ließen keinen Zweifel zu. Selbst wenn er am Ende überlebte, wäre eine Amputation unausweichlich.

Er legte sich einen Druckverband um den Oberschenkel und zog ihn so fest zu, wie es ihm in seinem angeschlagenen Zustand möglich war. »Du gehörst nicht zur Mannschaft«, rief er. »Für wen arbeitest du?«

»Ich fürchte, das ist etwas, das du nie erfahren wirst.«

Ein weiterer Schuss fiel. Diese Kugel stanzte ein Loch in die Wand.

»Du bist ein toter Mann«, rief Lucas, zwängte sich zwischen zwei Servergehäuse und schob sich zentimeterweise vorwärts. »Selbst wenn meine Männer dich nicht töten, wird Emmerson dich jagen und am Ende erwischen.«

»Emmerson wird mich niemals finden«, sagte der Mann und klang nun weiter entfernt. »Und sollte er mich tatsächlich finden, dann werde ich dich ganz sicher überleben.«

Die Stimme war mittlerweile kaum noch zu verstehen. Und der laute Knall, mit dem die Lukentür zuschlug, verriet Lucas auch, weshalb. Er zwang sich, hinzuschauen und das Unabänderliche zur Kenntnis zu nehmen. Sie war tatsächlich geschlossen und verriegelt. Er war im Frachtraum gefangen.

Sekunden später lief ein Rumpeln durch das Schiff. Es erfolgte stoßweise und wanderte vom Heck bis zum Bug.

Lucas identifizierte es als Sprengladungen, die in schneller Folge gezündet wurden, ähnlich der Methode, die ein Sprengexperte anwendete, um ein großes Gebäude zu zerlegen.

Während er sich bemühte, die Logik hinter dieser letzten Überraschung zu begreifen, erklangen Alarmsirenen. Das Schiff nahm Wasser auf.

Der Rumpf war entlang der Wasserlinie aufgesprengt worden. Der Mann, der auf ihn geschossen hatte, versenkte das Schiff gerade. Lucas konnte nicht begreifen, weshalb, aber als sich das Schiff zur Seite neigte, Schlagseite bekam und der Boden zu einer Seite immer steiler absackte, war er sicher, dass das Schiff sinken würde.

Er wagte sich aus seinem Versteck und schleppte sich zur Lukentür. Sie gab nicht nach, selbst als er mit aller Kraft daran zog.

Er versuchte noch einmal sein Glück mit dem Sprechfunkgerät. »Callum«, rief er. »Callum!«

Wasser sickerte durch winzige Spalten an den Rändern der Luke und tropfte durch das Einschussloch in der Wand.

Das Wasser stieg schnell an. Es musste außerhalb seines Gefängnisses bereits eine Höhe von gut einem halben Meter erreicht haben.

Mühsam hielt sich Lucas auf seinem unversehrten Bein aufrecht und warf sich mehrmals erfolglos gegen die Lukentür. Er packte den Handgriff, während er zurücksank, zog daran und hoffte, das Wasser draußen würde mithelfen, die Tür nach innen zu drücken. Das Schloss gab nicht nach, also zog er noch einmal.

Die Tür knarrte, und der Rahmen wölbte sich nach innen. Tür und Rahmen – beide gaben gleichzeitig nach.

Lucas hechtete zur Seite, um Platz zu machen und der Flut zu entgehen, aber der Wasserschwall erwischte ihn, als er durch die Öffnung schoss. Lucas wurde von den Füßen gerissen und wie ein Stück Treibholz weggeschwemmt, das dem Spiel der Wellen hilflos ausgeliefert war.

Er wurde gegen die hintere Wand geschleudert und durch den gesamten Raum gespült. Wasserstrudel rissen ihn nach unten und drückten ihn gleich darauf wieder nach oben. Als er auftauchte, rang er nach Luft und griff nach dem Metallrahmen, der einen der Server schützte. Er zog sich vorwärts und schlang Arme und Beine um das Servergehäuse, als hielte er sich an einem Baum fest.

Das Schiff kippte jetzt nach achtern. Das Heck war zuerst gesprengt worden. Mit hoch erhobenem Bug würde es den Abstieg in die Tiefe antreten.

Lucas zog sich höher, während die Wassermassen ungehindert einströmten. Aber er wusste, dass er in diesem Kampf auf verlorenem Posten stand. Er hoffte, dass in dem Raum ein gewisses Gleichgewicht einsetzte und er die Möglichkeit hätte hinauszuschwimmen, doch in dem Maße, wie das Wasser anstieg, ließen seine Kräfte nach.

Ein dumpfer metallischer Glockenton erklang hinter ihm, als sich irgendein Maschinenelement oder ein nur nachlässig gesichertes Teil der Fracht losriss und gegen die Trennwand geschleudert wurde.

Sekunden später flackerten die Lichter auf und erloschen dann ganz.

Lucas spürte, wie ihm die Kälte in die Knochen drang. Er hatte den Kampf, sich über Wasser zu halten, aufgegeben. Er glaubte nicht mehr daran, zum nächsten Deck schwimmen zu können und einen Weg zu finden, auf dem er das Schiff verlassen könnte.

Mit zunehmend tauben Fingern klammerte er sich weiter an den Sicherungsrahmen des Servers, während er vor Wut kochte und sich fragte, wer ihn besiegt, wer ihn verraten hatte. Und dann, nicht bereit, dies seine letzten Gedanken sein zu lassen, konzentrierte er sich auf bessere Dinge, auf seine Frau und seine Kinder, die sich ihm aufgrund des Lebens, das er führte, längs schon entfremdet hatten – die aber irgendwo da draußen in Sicherheit und in einer Welt lebten, die sich von seiner eigenen grundlegend unterschied.

Seine Hände verkrampften sich in der Kälte. Sein Griff lockerte sich, er rutschte von dem Sicherungsrahmen ab und sank langsam in die Tiefe. Dabei fielen ihm zwei Lichtquellen auf. Die eine war das verschwommene Zifferblatt seiner Uhr, die noch immer die Minuten bis zu seinem Erfolg herunterzählte. Die zweite Lichtquelle waren die LED-Streifen in dem Servergehäuse vor ihm. Trotz des Chaos, der Schießerei und der eisigen Flut war die Maschine nach wie vor unbeirrt in Betrieb.

4

ZWEIHUNDERT MEILEN NORDÖSTLICH VON Da Nang, VIETNAM

GEGENWART

Zwei Gestalten in Nasstauchanzügen schwammen in einer Tiefe von dreißig Fuß. Sonnenlicht drang durch das klare Wasser und erzeugte tanzende Muster, wo es auf das von Leben wimmelnde Riff unter ihnen traf.

Kurt Austin studierte die wechselnden Muster von Licht und Dunkelheit, sank tiefer, während er an einer kleinen Schule hellgelber Fische vorbei in die Regionen dahinter blickte, die in einem kräftigeren Blau leuchteten.

Er war der Chef der Abteilung für Spezialaufgaben bei der National Underwater and Marine Agency, kurz NUMA, die sich den Erhalt und Schutz der Ozeane auf ihr Banner geschrieben hatte. Mehr als eintausend Stunden seines Lebens hatte er bei verschiedenen Tauchfahrten unter Wasser verbracht – und wahrscheinlich das Dreifache dieser Zeitspanne in den verschiedensten U-Boot-Typen. In all dieser Zeit war er der Schönheiten des Meeres niemals überdrüssig geworden, noch hatte er jemals die Gefahren unterschätzt, die ebenfalls dort lauerten.

»Flatterfische«, sagte eine Stimme. Der Name drang aus dem winzigen Lautsprecher in seinem Vollgesichtshelm.

Kurt sah hinüber zu der Gestalt neben ihm. Sein Tauchpartner war eine Frau namens Yan-Li, eine Schifffahrtshistorikerin aus der Volksrepublik China, die einst als Tauchexpertin bei der Marine der Volksrepublik gedient hatte. Ihr Nasstauchanzug und ihr Helm zeigten das gleiche Rot wie die chinesische Flagge. Ihre Pressluftflasche war ein gelber Aluminiumzylinder, und an den Füßen trug sie gelbe Schwimmflossen.

Im Gegensatz dazu erschien Kurts Ausrüstung wie das Outfit eines Unterwasserarbeiters – dunkelblauer Nasstuchanzug, verschrammte stählerne Pressluftflasche, schwarze Schwimmflossen, Tauchschuhe und Handschuhe.

»Ich habe mir schon oft gedacht, dass Fische sehr oft zu roh behandelt werden«, fuhr sie fort.

»Wenn Sie damit die Sashimi-Phase ihres Daseins meinen«, erwiderte Kurt, »haben Sie sicherlich recht.«

Kurt grinste bei diesen Worten, wobei die Falten um seine Augen durch die Art und Weise, wie der Helm gegen sein Gesicht presste, noch betont wurden. Er war knapp über vierzig, aber ein Leben auf See und in der Sonne hatten seinem Gesicht mehr Charakter verliehen, als man bei den meisten seiner Altersgenossen finden konnte. Stahlgraue Strähnen in seinem Haar unterstrichen das Markante seines Aussehens und verhalfen ihm zu einer älteren und ausgesprochen wettergegerbten Erscheinung.

»Ich meine«, erklärte die Frau, »die Namensauswahl, zu der wir bei der Benennung wassergebundener Spezies neigen. So viele werden nach anderen Dingen benannt. Flatterfische, Papageienfische, Rotfeuerfische. Heute Vormittag habe ich sogar einen Ananasfisch entdeckt. Und wenn wir uns aufmerksam umsehen, finden wir hier in der Umgebung vielleicht sogar eine Knoblauchbrot-Seegurke.«

»Letzteres haben Sie aber erfunden«, sagte Kurt und blickte wieder voller Interesse in die tieferen Meeresregionen jenseits des Korallenriffs.

»Ich versichere Ihnen, das habe ich nicht«, erwiderte sie und machte einen kreisenden Schwimmzug, um ihre Position beizubehalten.

Kurt konzentrierte sich auf einen Schatten in einiger Entfernung. Er war aus den tieferen Küstengewässern gekommen und hatte sich dann entfernt, bis er außer Sicht geriet. Jetzt war er wieder da und kam näher, wobei die Sonnenstrahlen, die durchs Wasser drangen, die Streifen auf seinem Rücken deutlicher hervortreten ließen.

»Ich schlage vor, wir steigen zu den Korallen hinunter«, sagte Kurt. »Eine andere Ihrer so unzutreffend benannten Kreaturen interessiert sich gerade auffällig für uns. Ein Tigerhai. Fünf Meter lang.«

Yans Haltung verkrampfte sich ein wenig, aber so etwas wie Angst war ihr nicht anzumerken. Während sie ein wenig Luft aus ihrem Auftriebskompensator abließ, sank sie neben Kurt in eine Lücke des Riffs.

Kurt wusste, dass sie sehr gut auf sich selbst aufpassen konnte. Sie hatten die letzten fünf Monate auf der Spur eines mystischen Schatzes verbracht und dabei in einer Art ungenehmigter internationaler Partnerschaft zusammengearbeitet. Auf sie war geschossen worden, sie waren durch Bergregionen gejagt worden, und sie hatten sogar von einer Brücke springen müssen, als sie in einem abgelegenen Teil Kambodschas in die Enge getrieben worden waren. Und dies alles nur wegen eines Tagebuchs, das der berühmten chinesischen Piratin Ching Shih gehört hatte, und wegen des unermesslichen Schatzes, den sie darin beschrieb und der ihr, wie sie berichtete, gestohlen wurde und im Südchinesischen Meer versunken war.

Dennoch gab es durchaus einen Unterschied zwischen einer Schlägerei in irgendeiner dunklen Gasse und der Abwehr eines tausend Pfund schweren Hais.

Langsam zum Riff hinabsinkend, behielt Kurt den Hai im Auge. Er schwamm noch immer auf sie zu und drehte dann nach Norden ab. Gerade, als es so aussah, als hätte er das Interesse verloren, machte er kehrt, beschleunigte und streckte sich.

»Das ist eine aggressive Pose«, bemerkte Yan. »Nicht gut.«

Der Hai schwamm auf sie zu und machte Fahrt wie ein Torpedo. Kurt griff nach der soliden Kante einer Hirnkorallenkolonie, zog sich daran abwärts und nahm Yan mit der freien Hand gleich mit.

Indem sie hinter der inselähnlichen Formation Schutz suchten, entgingen sie dem ersten Angriffsversuch des Raubfisches. Er schoss mit seiner kantigen Nase und seinem weißen Bauch über sie hinweg und kam ihnen beinahe so nahe, dass sie nur die Hände hätten ausstrecken müssen, um ihn zu berühren.

Kurt wirbelte herum, damit er ihn verfolgen konnte. Dabei brach er mit einer Schwimmflosse einen Ast einer Hirschgeweihkoralle ab.

»Großer Fisch«, sagte Yan.