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Tim Leberecht, scharfsinniger Vordenker für einen neuen Humanismus in Wirtschaft und Gesellschaft, prophezeit: In Zeiten der Digitalisierung und der ständigen Optimierung müssen wir neu lernen, mit Niederlagen umzugehen. Verlieren wird sogar zur unerlässlichen Kernkompetenz. Welche Arten des Verlierens es gibt und wie wir gut damit zurechtkommen, verrät er in diesem leidenschaftlichen, gesellschaftskritischen Aufruf zu mehr Menschlichkeit. Wie Sie Kunden gewinnen, wie Sie Menschen gewinnen, wie Sie im Leben gewinnen: Das Dogma vom Gewinnen-Müssen ist ungebrochen. Über das Verlieren spricht keiner – aus Angst, als Versager dazustehen. Tim Leberecht sieht darin jedoch eine große Chance: Denn nur eine Gesellschaft, in der wir verlieren können, ohne als Verlierer abgestempelt zu werden, ist eine humane Gesellschaft. Leberecht stellt die vorherrschende Winners-take-all-Mentalität infrage, geht auf verschiedene Arten des Verlierens ein und beschreibt Strategien, wie wir mit Niederlagen und Verlusten produktiv umgehen können. Sie reichen von sozialer staatlicher Fürsorge über Raum für Negativerfahrungen in der Arbeitswelt bis hin zum bewussten persönlichen Verzicht. Eine scharfsinnige Beobachtung unserer Gesellschaft, ein radikaler Tabubruch, der die Verletzlichkeit in einer durchoptimierten Welt als Stärke begreift, und die anregende Utopie einer zutiefst menschlichen Gesellschaft der guten Verlierer.
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Seitenzahl: 291
Veröffentlichungsjahr: 2020
Tim Leberecht
Wie wir verlieren können, ohne Verlierer zu sein
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Wie Sie Kunden gewinnen, wie Sie Menschen gewinnen, wie Sie im Leben gewinnen: Das Dogma vom Gewinnenmüssen und der ständigen Optimierung ist ungebrochen. Über das Verlieren spricht keiner – aus Angst als Versager dazustehen. Der Business-Romantiker Tim Leberecht sieht darin jedoch eine große Chance: Denn nur eine Gesellschaft, in der wir verlieren können, ohne als Verlierer abgestempelt zu werden, ist eine humane Gesellschaft. Leberecht geht auf verschiedene Arten des Verlierens ein und beschreibt wertvolle Strategien für den produktiven Umgang mit Niederlagen und Verlusten. Eine scharfsinnige Beobachtung unserer Gesellschaft, ein radikaler Tabubruch und die anregende Utopie einer Gesellschaft der guten Verlierer.
Motto
Widmung
REBELLION GEGEN DAS PRINZIP DES GEWINNENS
Kapitel I DIE DIKTATUR DER GEWINNER
Was macht Gewinnertypen aus?
Leitwölfe und Bullys
Schreckgespenst Loser
Eine Diktatur ist alternativlos
Kapitel II DAS ENDE DES GEWINNENS
Peak Germany
Die Abstiegsgesellschaft
Die andere deutsche Teilung
Eine Taxifahrt durch das Silicon Valley
Die entgrenzte Marktgesellschaft
Digitalisierung – am Ende gewinnt die Plattform
Orange Intelligence
Kai-Fu Lee oder »Made in China«
Der ultimative Verlust: unsere Menschlichkeit
Nach dem Spiel ist vor dem Spiel
Kapitel III GESCHICHTEN VOM VERLIEREN
Fired!
Vaterfiguren
Von Orpheus zu Othello
Instagram-Storys
Kapitel IV STRATEGIEN FÜR VERLIERER
Gesellschaft
Den anderen begegnen
Mikro-Freundlichkeit gegen Mikro-Aggressionen
Feminin führen
Verlieren leichter gemacht: das bedingungslose Grundeinkommen
Unternehmen
Standhaftigkeit statt Fake Change
Das Unnötige, das so nötig ist
Augenblicke und langes Weilen
Authentizität statt Daueroptimismus
Platz schaffen für Melancholie
Individuum
Uns-selbst-Verlieren
Von Ego zu Eco
Spielen, aber nicht, um zu gewinnen
Das Spiel nicht mehr mitspielen
Aufgeben
Der letzte Kuss, das iPhone-Begräbnis und andere Rituale
Fluide Identitäten: mehr sein
Emotionale Granularität: mehr fühlen
Warum Absurdes so wichtig ist
Die Sache mit dem Nichts
AM ENDE, GANZ ZUM SCHLUSS, EIN ANFANG
Literatur
Danksagung
I never thought of losing, but now that it’s happened, the only thing is to do it right.
Muhammad Ali
Für Harper Ava und Sarah
Immer haben wir geglaubt, dass wir vorankommen, wenn wir alles noch besser machen, wenn wir ständig optimieren. Immer höher, immer weiter, immer schneller. Immer muss etwas wachsen. Die meisten von uns wurden so gedrillt, von Anfang an. Man hat ein Dogma daraus gemacht, das vom ewigen Gewinnenmüssen, vom Besser-sein-Müssen, vom Effizienter-sein-Müssen. Bis heute gilt es ungebrochen. Nicht ohne Folgen: Wer da nicht mitmacht, wer sich aus der Sichtweise der Gewinner für das Verlieren entscheidet, ist raus aus dem Spiel. Hat nichts mehr zu sagen. Hat Niederlagen einzustecken. Hat keine Stärke bewiesen. Ist nicht durchsetzungsfähig. Und deshalb macht man weiter mit, hält den Mund, aus Angst, in der Diktatur der Gewinner als Versager oder Loser dazustehen.
Ja, es ist eine Diktatur. Denn nicht viele Lebenskonzepte gelten, sondern nur ein einziges. Es ist das Lebenskonzept der Erfolgreichen, der Mächtigen, derjenigen, die Karriere machen, die maximieren können. Ständig geht es allein darum: Wie Sie Menschen gewinnen, wie Sie Kunden gewinnen, wie Sie mehr Geld gewinnen, wie Sie im Leben gewinnen. Ein klar vorgeformter Weg. Mit Verhandlungstaktiken für Gewinner. Alles andere wäre aussichtslos. Kann ja gar nicht funktionieren. Wäre ein Scheitern. Fehlschläge. Sinnlos. Wäre keine Leistung. Ein Verlust der eigenen Freiheit.
Schließlich wollen wir alle gewinnen, und wer verliert, sucht nach Ausreden und Auswegen. Das Gewinnen ist bahnbrechend, hat eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Das Gewinnen bringt uns die süße Euphorie, die sämtliche Zweifel und Sorgen für ein paar glorreiche Momente vergessen lässt. Sie weckt in uns Hoffnung und lässt uns an ein Happy End glauben. Das Gewinnen ist schließlich der ultimative Triumph unserer Willenskraft über widrige Umstände, das Aufbäumen gegen die Niederlage.
Aber stimmt das so? Gehört das Verlierenkönnen nicht auch zum Leben? Müssen wir nicht lernen loszulassen, also etwas verlieren, um Neues zu wagen? Kann man auch verlieren, um beim Verlieren nicht wirklich zu verlieren?
Wir werden in Zukunft alle verlieren. Zunächst im Berufsleben. Angesichts von Automatisierung, Gig Economy und flexibler Arbeitsstrukturen werden wir die Stabilität und Kontinuität traditioneller, langfristiger Beschäftigungsverhältnisse verlieren. In flachen und dezentralen Organisationen werden wir Autorität verlieren. Wir werden Ad-hoc-Netzwerke bilden und in »Pop-up-Organisationen« arbeiten, die nicht für die Ewigkeit gebaut sind. Wir werden Projekte und Beziehungen viel schneller und viel häufiger betreten und verlassen. Die Flüchtigkeit des New Work zwingt uns zunehmend auch zur emotionalen Agilität, dazu, häufiger zwischen verschiedenen Identitäten, Kulturen und Projekten zu wandeln. Wir werden öfter loslassen müssen. Wir werden lieb gewonnene tradierte Strukturen und Verhaltensweisen aufgeben müssen. Wir werden uns verabschieden vom Vertrauten und uns immer wieder neu erfinden müssen.
Und natürlich werden viele von uns ihre Jobs verlieren. Die Industrieländer-Organisation OECD legte erst jüngst Daten vor, wonach jeder fünfte Arbeitsplatz in Deutschland durch die Digitalisierung verschwinden könnte.1 Vor allem Freelancer sowie die Arbeiter der Gig Economy wissen um die Zerbrechlichkeit ihres Lebensstandards und die Volatilität ihres Einkommens. Sie leben im Stress, haben sich arrangiert mit der »You win some, and you lose some«-Mentalität. Immer mehr Berufstätige fühlen sich dieser Gruppe zugehörig, freiwillig oder gezwungenermaßen, und womöglich ist ihre Gefühlswelt bald nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
Wir leben in einer Verlustgesellschaft.
Anstatt auf Teufel komm raus weiter gewinnen zu wollen, um den Anschluss nicht zu verlieren, sollten wir das Verlieren zum Thema machen, dem Verlieren eine andere Wertschätzung geben. Es geht nicht länger darum, mehr Gewinner zu ermöglichen, es geht darum, gegen die Diktatur des Gewinnens zu kämpfen, die sich wie ein roter Faden durch unsere Gesellschaft zieht. Nicht das Gewinnen sollten wir lehren, sondern das Verlieren. Nicht das Gewinnen um jeden Preis sollte belohnt werden, sondern das gute Verlieren. Nicht nur die Solidarität mit Verlierern sollten wir demonstrieren, wir sollten zu einer Gemeinschaft an Verlierern werden.
In einer Leistungsgesellschaft, in der wir nur noch arbeiten, um zu gewinnen, kann das Verlieren als rebellische Pose dienen, als subversive Antihandlung, um die Arbeit zu befreien vom Reduktionismus der Wirtschaft. Dieser Reduktionismus hat nunmehr seine extremste Ausprägung erreicht. Denn die Gewinnmaximierung entpuppt sich immer mehr als Maximierung der Gewinner.
Dramatischer noch: Wie uns Greta Thunberg, Fridays for Future und die Aktivisten von Extinction Rebellion eindrücklich vor Augen führen, droht uns nicht zuletzt der ultimative Verlust: der unseres natürlichen Habitats. Laut zunehmend alarmierter Experten haben wir noch etwas mehr als zehn Jahre, um die Klimakatastrophe abzuwenden.2 Ein UN-Bericht vom Mai 2019 stellt fest, dass rund eine Million Arten (von insgesamt acht Millionen) vom Aussterben bedroht sind.3 Diese düstere Prognose verweist auf ein Scheitern auf mehreren Ebenen: ein Scheitern der Vorstellungskraft, ein Scheitern der Empathie und ein Scheitern der Willenskraft. Das Versagen, unseren eigenen Lebensraum zu schützen, ist die größte Niederlage der Menschheit.
Wir sind also bereits alle am Verlieren, auch wenn sich manche noch als Gewinner wähnen. Die Ära des Gewinnens ist vorbei. Die Gewinner haben ausgesorgt. Verlieren ist die einzige verbleibende Möglichkeit, den Wahn des grenzenlosen Wachstums zu stoppen und eine menschliche Gesellschaft in Zeiten der Automatisierung, Supereffizienz und brutalen Rohstoffausbeutung zu gewährleisten. Dafür müssen wir aber das Verlieren rehabilitieren. Denn: Ungebremstes Wachstum und Gewinnenmüssen haben echte Verluste zur Folge. Immer mehr wird klar, was wir verlieren, wenn Gewinnen die einzige Option ist: alles.
Den Verlierern gehört die Zukunft, weil das Verlieren unser neuer Modus Operandi ist. Das Verlieren ist die einzige verbleibende Antwort auf den auf unbedingtes Gewinnen und unbedingte Gewinnmaximierung ausgerichteten Kapitalismus. Verlieren macht uns menschlich, und Menschlichkeit ist das oberste Gebot, um in einer Ära der Maschinenintelligenz tatsächlich auch menschlich zu bleiben.
Also: Nicht das Gewinnen, sondern das Verlieren wird die neue Kernkompetenz. Nur eine Gesellschaft, in der wir Schwäche zeigen dürfen, macht das Leben in einer durchautomatisierten, digital optimierten Welt menschlich. Nur eine Gesellschaft, in der wir verlieren können, ohne als Verlierer abgestempelt zu werden, ist eine humane Gesellschaft.
In diesem Buch stelle ich die Diktatur der Gewinner an den Pranger und die Winner-takes-it-all-Mentalität infrage, gehe auf verschiedene Arten des Verlierens ein, mit denen wir bereits direkt oder indirekt konfrontiert sind, und beschreibe Strategien für den konstruktiven Umgang mit dem Verlieren.
Dies tue ich auf drei Ebenen: Gesellschaft, Unternehmen und Individuum. Die »Strategien für Verlierer« im letzten Kapitel reichen vom bedingungslosen Grundeinkommen über einen Raum für Negativerfahrungen in der Arbeitswelt bis hin zum bewussten persönlichen Verzicht mithilfe von Ritualen.
Nun mögen Sie vielleicht denken: Ist es nicht obszön, angesichts von mehr als 70 Millionen Flüchtlingen weltweit, die ihre Heimat verloren haben und oft auch ihre Familienmitglieder, über das Verlieren zu schreiben?4 Oder angesichts der mehr als drei Milliarden Menschen, die nach wie vor keinen Zugang zu Bildung und Informationstechnologien haben oder in extremer Armut jeden Tag mit dem Überleben kämpfen?5 Oder der rund dreizehn Millionen Menschen, die in Deutschland an der Armutsgrenze leben?6
Um das ganz klar zu sagen: Menschen, die bereits »verloren« haben und in weit entwickelten Industrienationen an den Rand oder in die Unterschicht abgerutscht sind, sind nicht mein Thema (mit Ausnahme eines Obdachlosenschicksals, das ich schildere). Ich wende mich vielmehr an diejenigen, die noch verlieren können und sich zunehmend damit beschäftigen müssen: »erfolgreiche« Manager, die Mittelschicht sowie junge Generationen, die mit der bedrückenden Aussicht aufwachsen, angesichts der nahenden Klimakatastrophe vielleicht gar keine Zukunft mehr zu haben. Mit anderen Worten: Ich wende mich an Sie, an dich. Ich will mich mit dem Verlieren, aber ebenso mit dem Gefühl des Verlierens befassen.
Dieses Buch will keine Kosmetik sein oder ein Lifestyle-Pflaster für all jene, die tatsächliche ökonomische Einbußen erlebt haben und faktisch abgestiegen sind. Weder will ich vortäuschen, dass ich angesichts meiner privilegierten Herkunft – schwäbische Mittelklasse und professionelle Ausbildung im Silicon Valley – das alltägliche Elend jener verstehe, die in kontingenten Beschäftigungsverhältnissen oder im Prekariat leben und gerade so zurechtkommen. Ich will auch nicht einer schicken Resilienz das Wort reden, die sich seit Sheryl Sandbergs Buch Option B zum populären Konzept entwickelt hat und uns dazu ermutigt, eine emotionale Widerstandsfähigkeit zu entwickeln, welche uns dabei helfen soll, eine Talsohle unserer Karriere, unseres Lebens, einen Abgrund in den nächsten Aufstieg, den nächsten Triumph zu verwandeln.
Das Verlieren soll kein Zweckoptimismus sein, nach dem Motto: »Wenn wir nicht gewinnen können, dann werden wir wenigstens Weltmeister im Verlieren!« Darum geht es nicht. Es geht vielmehr um die Einsicht, dass wir an einem Punkt unserer Geschichte sind, an dem verschiedene destruktive Kräfte konvergieren und in einigen Bereichen eskalieren und uns dazu zwingen, abzugeben und aufzugeben. Das Verlieren ist mehr denn je eine zivilisatorische Tugend. Wir müssen es neu erlernen.
Die Frage ist also: Wie gelingt es uns, eine Solidargemeinschaft zu schaffen, einen Klub der Verlierer, der ohne Stigma Selbstwertgefühl, soziale Akzeptanz und kollektive und individuelle Identität stiftet? Wie können wir verlieren, ohne Verlierer zu sein?
Als ich im Februar 2017 nach fünfzehn Jahren Leben und Arbeiten in den USA wieder nach Deutschland zurückkehrte, trieb mich zunächst um, wie unterschiedlich die Antworten auf diese Frage in diesen beiden Kulturen ausfallen würden. Ich machte mich also auf und reiste drei Jahre lang durch Deutschland, besuchte zahlreiche Unternehmen und Digitalisierungskonferenzen, traf viele Menschen und führte Gespräche mit CEOs, Investoren, Politikern, Psychologen, KI-Forschern, Angestellten und Freelancern und vor allem auch mit Freunden, meiner Familie und mit mir selbst. Mit jeder Beobachtung, mit jeder Begegnung wurde das Thema mehr und mehr zur Herzenssache, obgleich es sicher nicht das unbeschwerteste ist (ich werde mein Bestes tun, Sie auf den folgenden Seiten nicht völlig zu deprimieren). Und ich begriff: Die Frage nach dem guten Verlieren ist die zentrale Frage unserer Zeit. Sie hat viele Antworten. Anders als die Diktatur der Gewinner.
Wie sieht eigentlich die Diktatur der Gewinner aus? Und woran können wir Gewinnertypen erkennen? Sicher an ihrer Winner-takes-it-all-Mentalität. Aber noch an vielen anderen Dingen. Und ganz sicher daran, dass sie Angst vor dem Verlieren haben, davor, als Verlierer stigmatisiert zu werden.
Wie schätzen Sie sich ein? Sind Sie ein Gewinner? Zählen Sie sich selbst zu den Gewinnern? Urteilen andere so über Sie? Oder sind Sie der Meinung, dass Sie ein Verlierer sind? Weil Sie nicht genügend wertgeschätzt werden von Kollegen und Freunden, zu wenig gesellschaftliche Aufmerksamkeit bekommen, weil Sie für Ihre Arbeit im Vergleich zu anderen nicht genug Geld verdienen? Weil Sie Ihre Träume aufgeben mussten? Oder wissen Sie gar nicht, wie Sie sich einordnen sollen, weil Sie viele Entscheidungen in Ihrem Leben anhand dessen getroffen haben, was andere von Ihnen halten oder erwarten?
Ab wann ist man ein Verlierer? Der Spiegel zählte Facebooks Mark Zuckerberg und Teslas Elon Musk zu den »Verlierern des Jahres 2018«.7 Es waren sicher keine einfachen Zeiten für die beiden Tech-CEOs, aber Verlierer? In San Francisco, wo ich fünfzehn Jahre lang lebte und arbeitete, gilt man schon ab unter 117000 US-Dollar an jährlichem Haushaltseinkommen zur unteren Einkommensklasse.8 Zum Vergleich: In Deutschland beginnt die Oberschicht in der Regel bei 40000 Euro netto im Jahr als Single-Haushalt oder 60000 Euro netto als kinderloses Paar. Das »bedarfsgewichtete« Medianeinkommen beträgt in etwa 2000 Euro netto pro Monat.9
Natürlich spielen die materiellen Verhältnisse eine erhebliche Rolle, aber ein Verlierer ist immer auch, wer sich als Verlierer fühlt. Und als Verlierer fühlt sich, wer sich ständig mit anderen vergleicht, die ein noch schöneres Haus, ein noch dickeres Auto besitzen, die Senator- statt Gold-Status haben bei der Lufthansa und natürlich eine noch glücklichere Familie. »Ich kann mir gut vorstellen, irgendwann nur noch 100000 Euro zu verdienen mit zwei, drei Tagen Beratungstätigkeit pro Woche, und den Rest der Zeit mit meinen Kindern oder Hobbys zu verbringen«, sagte mir erst kürzlich ein Freund, der Geschäftsführer einer Eventvermarktungsfirma ist.
Die Frage ist, ob wir auch dann verlieren, wenn wir nicht wirklich gewinnen. Wer 100000 Euro im Jahr verdient, eine Familie und eine Dreizimmerwohnung in einem Vorort von Hannover hat und mindestens zweimal im Jahr in Urlaub fährt, ist der ein Gewinner? Oder ist es nur der, der im Lotto gewinnt, sein Start-up mit »20׫-Return verkauft, der Prestige und Ruhm anhäuft, Bewunderung und Zuneigung? Oder der, der echten Impact hat und die Welt zum Positiven verändert, wenn auch nur ein kleines bisschen?
Gewinner und Verlierer trennt manchmal nur Millimeter. Oder eine Zehntelsekunde wie beim 100-Meter-Lauf. Oder Milliarden, wenn man sich den Reichtum der Reichsten betrachtet, dem einen Prozent der Weltbevölkerung. Oder ein unbedachter Moment, eine emotionale Entgleisung, eine drastische Fehleinschätzung.
Es gibt viele Vorstellungen und Vorurteile darüber, was Gewinner und Verlierer voneinander unterscheidet, abhängig von bestimmten Denkweisen. Die einen fallen immer auf die Beine, die anderen auf die Nase. Die einen handeln, die anderen reden stundenlang, finden Ausflüchte und Entschuldigungen, um etwas nicht machen zu müssen. Die Gewinner sind ziel- und ergebnisorientiert, während die Verlierer keine hohen Ansprüche stellen und nicht daran interessiert sind, ihren Lebensstandard zu verbessern. Gewinner stellen hohe Erwartungen an sich und ihre Mitmenschen, sie sind Vorbilder und Führungspersönlichkeiten, haben Einfluss auf ihre Umgebung. Verlierer sind Pessimisten, die kein Interesse an persönlichem Wachstum zeigen, die schnell aufgeben, die am liebsten Stillstand wollen, manchmal sogar den Rückschritt. Und faul sind sie auch noch. Gewinner sind immer ein Teil der Lösung, Verlierer ein Teil des Problems. Kein Wunder, dass niemand zu den Verlierern zählen will, wenn mit solchen mentalen Zuschreibungen gearbeitet wird.
Und wer kennt sie nicht, die Gewinnertypen: Das ist der »Tech Bro«, der seine Siegesgewissheit unter einem Kapuzenpulli versteckt; der viel fliegende Manager, der während des Boardings noch sehr wichtige und sehr laute Telefonate zu erledigen hat; der Sachbearbeiter im Bürgeramt, der sich suhlt in der Gewissheit, dass die Bürokratie zwar langsam mahlt, aber letztlich doch immer gewinnt; der Finanzinvestor, der mit dem Geld anderer spekuliert; der Philanthrop, der zwar gerne großzügig an die Gesellschaft zurückgibt (er gründet Stiftungen und tritt als Mäzen auf), aber nie weniger nimmt (weil er Steuern hinterzieht oder von Steuerschlupflöchern profitiert).
Gewinnertypen kann man gut daran erkennen, dass es für sie nur eine Wahrheit gibt, eine Währung, und zwar die des Erfolgs. Sie haben immer die richtigen Antworten. Sie lassen keine Zweifel zu, und wenn man irgendwann keine Zweifel mehr hat, glaubt man, dass die Geschichte, die man sich selbst erzählt, tatsächlich wahr ist. Die Gewinner sind diejenigen, die die größte Angst vor dem Verlieren haben. Und genau deshalb versuchen sie – zumindest rhetorisch – immer die Oberhand zu gewinnen, die Stammtischhoheit, die Diskursdominanz, den Shitstorm. Sie weiden sich daran, recht zu haben und zu behalten, sie wollen Argumente gewinnen, um ihre Erfolgsgeschichte real werden zu lassen.
Fieserweise trifft das Phänomen des Verlierens auf eine weitverbreitete Kultur der Positivität, auf eine Art Zwangsoptimismus durch Zwangsoptimierung. Wer verliert, ist selbst schuld, aber nicht, weil er nicht emsig genug seine Karriere verfolgt und die nötigen Ellbogen eingesetzt, sondern weil er sich selbst nicht lebenstüchtig, aktiv und unternehmenslustig gehalten hat. Es geht also darum, immer und jederzeit bereit zu sein für das Gewinnen: Nur wer fit ist, kann schließlich dem Klub der Gewinner angehören. Und so betreiben wir dann Yoga und Pilates, gehen zu SoulCyle oder BeCycle oder ins Fitnessstudio, meditieren und belegen Coding-Klassen. Was früher Golf war, ist jetzt Lernen, aber nicht, um wirklich zu lernen, sondern um fit zu sein fürs Gewinnen; nicht um wirklich zu erkennen, sondern um von der Diktatur der Gewinner erkannt zu werden. So rächt sich die Diktatur der Gewinner gleich zweimal an uns: Zum einen diskriminiert sie uns, weil wir weniger erfolgreich sind, zum anderen, weil wir mehr tun sollten, um dies zu kompensieren.
Das Gewinnen ist eine Erfindung der Moderne und die Idee des planbaren Erfolgs ein Produkt der Industrialisierung, mit der logischen Folge, dass sich eine eigene Erfolgsindustrie entwickelte. Zwar hatte die protestantische Ethik, wie der Soziologe Max Weber einst befand, eine Legitimität für weltlichen materiellen Wohlstand begründet, aber ansonsten war Erfolg im Sinne von gesellschaftlichem Aufstieg, Reichtum oder Ruhm nur einigen wenigen vorbehalten und daher nicht skalierbar. Erst im 20. Jahrhundert wurde der Erfolgswunsch zum Massenphänomenen und der Konsument und Berufstätige im Kapitalismus zum möglichen Gewinner. Zuvor besaßen nur wenige das Privileg, gewinnen zu können, doch mit der zunehmenden Öffnung der Gesellschaft wurde der Erfolg demokratisiert, zumindest scheinbar. Weil nun alle theoretisch gewinnen konnten, konnten auch alle verlieren. In der liberalisierten Marktgesellschaft wurden nicht nur alle zu möglichen Gewinnern, sondern alle zu möglichen Verlierern.
Das Perfideste an der Diktatur der Gewinner aber ist, dass sie uns auch noch das Verlieren schönredet, indem sie es als Scheitern begreift, von dem wir gestärkt und gereift und umso entschlossener, Erfolg zu haben, wiederauferstehen – oder als Flexibilität, als Agilität. Wissensarbeitern wird eingebläut, dass Scheitern Bedingung für unternehmerischen Erfolg ist und ein Wesensmerkmal der Innovation. Aber auch das ist eine Lüge – denn »Fail Fast«, das schnelle Vorwärtsscheitern, wird sehr schnell zum Stigma, wenn es sich wiederholt. Einmal Scheitern ist okay, zweimal verdächtig, dreimal inakzeptabel. Denn es zeigt, dass wir nicht aus unseren Fehlern lernen. Und wer nicht aus seinen Fehlern lernt, ist unbelehrbar und ein hoffnungsloser Fall.
Es ist gut, dass wir in Deutschland inzwischen eine Kultur des Scheiternkönnens ermöglichen und dafür diverse Maßnahmen vornehmen wollen, aber Verlieren ist etwas anderes als Scheitern, insbesondere das Scheitern, das Silicon Valley und die Start-up-Kultur gerne als Kernkompetenz des Unternehmertums glorifizieren. Ob Fail Fast, Fail Forward oder Fuckup Nights, bei denen Manager öffentlich ihre größten Fehler kundtun: Scheitern ist okay, so wird uns dort suggeriert, ist ein elementarer Bestandteil von Innovationskultur. Aber das greift zu kurz. Innovation mag dadurch ermöglicht und beschleunigt werden, aber echte, weitreichende Transformation verlangt mehr: nicht nur das gelegentliche Scheitern, sondern die Notwendigkeit tief greifenden Verlusts.
In unseren Unternehmen, seien wir ehrlich, ist Scheitern letztlich immer tabu. Das Scheitern eines Projekts, ein Macht- oder Gesichtsverlust führen oft dazu, dass die betreffende Person angezählt ist. Da können Firmen noch so viele Fuckup Nights abhalten und eine Fehlerkultur predigen. Scheitern ist nur dann okay, wenn es schnell wieder zum Gewinnen führt.
Und Fail Fast ist eine doppelte Entmündigung: eine materielle und eine rhetorische. Das ist bezeichnend für die Diktatur der Gewinner: dass sie uns nicht nur zum Gewinnen verdammt, sondern uns, wenn wir verlieren, auch noch die Sprache des Verlierens nimmt, um uns mit ihr nach der Schönfärbung erneut zu diskriminieren: Denn wer nicht richtig scheitern kann, ist erneut ein Verlierer. Daher ist es spielentscheidend, dass wir uns die Sprache des Verlierens zurückholen von den Gewinnern, dass wir eine neue Sprache, eine neue Terminologie des Verlierens entwickeln. Wir brauchen keine Kultur des Scheiterns. Wir brauchen eine Kultur des Verlierens.
Und, betrachten Sie sich immer noch als Gewinner? Und falls ja, wann genau sind Sie zum Gewinner geworden?
Ich erinnere mich noch an den Leitwolf im Klassenzimmer, damals auf dem Gymnasium, in der zehnten Klasse, den Anführer auf dem Schulhof, den Leader der »Gang«, der seine Autorität allein daraus bezog, dass er Autorität ausstrahlte. Alle anderen wussten das, und doch waren sie in seinen Bann gezogen und wagten nicht, seine Macht infrage zu stellen.
Er hieß Martin. Niemand mochte ihn, aber jeder wollte sein Freund sein. Die Herzen der attraktivsten Mädchen flogen ihm zu. Er trug eine braune Lederjacke mit Fake-Militärabzeichen. Er war intelligent und hatte gute Noten, obwohl er immer wieder Regeln brach, zu spät zum Unterricht erschien und Schüler wie Lehrer tyrannisierte. Wenn er schlecht gelaunt war oder einfach nur gelangweilt vom Stoff, fläzte er auf seinem Tisch herum, demonstrativ angeödet von allem. Manchmal war seine Extrovertiertheit so ausgeprägt, dass die Unterrichtsstunde zur Show wurde. Ich bewunderte dieses Talent und dachte, ich müsse mich wohl damit abfinden, dass es einfach Menschen gibt, deren Ego so groß ist, dass es anderen die Luft zum Atmen nimmt. Martins Selbstbewusstsein war so gigantisch, dass man im Vergleich dazu unweigerlich zum Mauerblümchen wurde, auch wenn man gar keines war.
Es gab eigentlich nur drei Wege, mit dieser Penetranz umzugehen: direkte Konfrontation, Unterordnung oder aber kompletter Rückzug. Ich wählte fast immer das Letztere (und dass ich jetzt über Martin schreibe, ist nichts anderes als bittersüße, hinterhältige Rache). Schon damals, als Sechzehnjähriger, hatte mich verblüfft, wie hilflos Lehrer und Mitschüler gegenüber Martin waren, wie viel Zeit und Raum ihm zugestanden wurden, nachdem er ihnen beides gestohlen hatte. Wer ihn herausforderte, musste im Fall einer Niederlage damit rechnen, auf der Rangliste noch weiter nach unten zu rutschen. Gewinnen erschien mir als zu anstrengend, und wohl auch vielen meiner Mitschüler, und Verlieren vor den Augen der anderen war ebenso wenig eine Option. Und so harrten meine Klassenkameraden und ich einfach aus, sahen zu, wie er seine Freunde schikanierte und launisch attackierte, wie er mit unberechenbarer Willkür den Menschen in seinem Umfeld begegnete. Diese Willkür ist das Charaktermerkmal des Despoten, im Klassenzimmer wie im Amt.
Im Amerikanischen spricht man in einem solchen Fall von einem »Bully«. Mein Freund Chris, Unternehmer in San Francisco, erzählt mir jedes Mal, wenn wir uns sehen, von seiner Bully-Theorie. Sie besagt, dass einzelne Personen, aber auch Unternehmen und Nationen nur dann erfolgreich sein können, wenn sie Bullys sind. Das derzeitige System, so Chris, begünstige Bullys – der (Halb-)Stärkste auf dem Schulhof ist jetzt der Boss, der Premierminister, der Präsident.
Wer einmal Vorstandsmeetings erlebt hat, insbesondere mit Investoren, der weiß um die Der-Stärkere-hat-recht-Kultur. Der Markt liebt den Starken und sorgt dafür, dass Dominanz belohnt wird. Der Schwächere wird ins hintere Glied geschoben oder unweigerlich vom System ausgespien. In vielen Vorstandsetagen dominiert immer noch ein testosterongetränkter Machogeist, der – wenn es »hart auf hart kommt« – dem Gewinner so ziemlich alles verzeiht, wenn er denn nur gewinnt, wohingegen der Verlierer doppelt bestraft wird: nicht nur wegen des unrühmlichen Ausgangs, sondern auch wegen des Aktes des Verlierens an sich. Die Niederlage nagt nicht nur an uns, weil wir verloren haben, sondern weil sie weite Kreise des Zweifels zieht und viele Fragen aufwirft. Was, wenn wir ein weiteres Mal verlieren? Ständig verlieren? Ein Verlierer sind?
Unsere Kindheit kann, was das Verlieren angeht, brutal sein. Sowohl Gewinnen als auch Verlieren fühlen sich extrem an, die soziale Anerkennung oder Ächtung kann zu diesem Zeitpunkt eine Identität schaffen oder zerstören. Auf der anderen Seite ist eine Niederlage für Kinder vielleicht weniger schmerzhaft, weil sie eben nur eine einmalige Niederlage ist, aber kein Ereignis, das sich in ein fortwährendes Narrativ des Verlierens, des Verlierers einreiht. Als Kinder können wir noch verlieren, ohne Verlierer zu sein.
Das hat auch damit zu tun, dass es meist immer jemanden gibt, der bei einer Niederlage bedingungslos Trost spendet, sei es der beste Freund, die Geschwister oder die Eltern. Ich erinnere mich noch an die Bundesjugendspiele – es muss um 1979 gewesen sein – und meinen Sturz kurz vor der Ziellinie beim 25-Meter-Lauf. Ich taumelte und schürfte mir das Knie auf, fiel auch noch auf den Kopf und lag benommen auf der Tartanbahn mit einer Mischung aus Blut, Hartgummi und gleißendem Sonnenstrahl im Gesicht. Meine Lehrerin kam auf mich zu und drückte mich in ihre Arme und wischte meine Tränen ab.
Als Kinder sollen wir Verlieren lernen, durchs Spielen. Wir lernen bei Mensch-ärgere-dich-nicht oder beim Spiel-des-Lebens, dass Weinen okay ist, ein Mittel, um Niederlagen zu bewältigen, mit kathartischer Wirkung. Wir lernen, dass wir uns für unsere Gefühle nicht schämen sollten und dass wir nicht immer gewinnen können, ja, dass es an und für sich gar nicht ums Gewinnen geht, sondern ums Mitmachen, ums Lernen, ums Dabeisein, um den Spaß, mit anderen gemeinsam zu wettstreiten.
Das ist natürlich eine Lüge. Später, wenn wir als Erwachsene in die Gesellschaft integriert sind, stellen wir fest, dass Weinen alleine nicht hilft und dass Verlieren eben nicht nur ein einmaliges Ereignis ist, sondern zum Zustand werden kann. Der immer und immer wiederkehrt und uns nie verlässt.
Und so ist es denn aufgrund all dieser Lügen, all dieser Verdrängungen nicht erstaunlich, dass mir eine in Berlin ansässige Psychotherapeutin davon berichtet, dass ihre Kunden – Führungskräfte, prominente Sportler, TV-Persönlichkeiten sowie erfolgreiche Influencer – in Sitzungen bereitwillig übers Scheitern reden, über ihre Ängste zu versagen, darüber, dass ihr Erfolg nicht ausreicht, dass sie als »Schwindler« oder »Blender« erkannt werden könnten. Aber nie reden sie vom Verlieren. Das Wort »Verlieren« scheint gänzlich aus dem Vokabular gestrichen.
Verlieren wird immer mehr zum selbst verschuldeten Schicksal. Wir sprechen von Eigenverantwortung und davon, dass wir unser Schicksal schmieden können. Ausrutscher dürfen dann nur noch Ausrutscher sein.
Das Perfide am Verlieren ist: Wenn wir als Erwachsene verlieren, lässt uns jede Niederlage auch an unseren vorherigen Siegen zweifeln. Was, wenn sie nur eine Chimäre waren, eine Hochstapelei, ein Selbstbetrug? Wenn uns eine akute Niederlage wieder einmal gezeigt hat, dass wir ja eigentlich Verlierer sind?
Also, noch mal: Sind Sie ein Gewinner? Oder sind Sie ein Verlierer? Oder vielmehr: Bist du ein Verlierer?
Das Du scheint hier angemessener, denn das Verlieren ist ja etwas zutiefst Persönliches. Der Sieg kommt mit Formalien, mit Protokoll und Blumen, die Niederlage ist direkt, roh und unverblümt. Der Sieg gibt uns die Illusion, ein Gewinner zu sein; die Niederlage erinnert uns daran, dass wir Verlierer sind und bleiben werden. Der Sieg hat viele Väter, die Niederlage ist Waise. Wer gewinnt, fühlt sich gut, weiß aber nie so genau, ob es an ihm oder ihr lag oder vielleicht doch nur an den Umständen. Oder an der schwächeren Konkurrenz. Wer verliert, selbst als Mitglied eines Teams, verliert immer alleine, sucht die Schuld, die Verantwortung bei sich selbst.
Das Gefühl des Verlusts, der Degradierung, ist das Gefühl, in der eigenen Liga festzustecken, während der andere aufsteigt. Der Sozialneid, der uns Deutschen nachgesagt wird, ist die eigene Angst vor der Unterlegenheit, der Erniedrigung, die Furcht vor dem Zurückgelassenwerden. Der Aufstieg des anderen markiert stets den eigenen Abstieg. Anders als beispielsweise in den USA sind Gewinner hierzulande suspekt, und doch bestimmen sie die soziale Wahrnehmung von Erfolg. Jeder hasst Gewinner und will gleichwohl Gewinner sein. Jeder verachtet Verlierer und will gleichwohl ein guter Verlierer sein. Aber verlieren wollen wir natürlich alle nicht.
Dahinter verbirgt sich die Befürchtung, zum Versager abgestempelt zu werden, sich nicht mehr zu berappeln, auf der Straße zu landen oder irgendwo in einem hässlichen Büroraum mit Blick auf trostlose Eisenbahngleise einer sinnlosen Arbeit nachzugehen, einen jener Jobs zu haben, die der US-amerikanische Ethnologe David Graeber »Bullshit Jobs« nennt. Der größte Verlust, so dämmert uns dann, ist der Verlust unserer Zeit. Irgendwann sind wir alle alt genug, um zu begreifen, dass wir keine Zeit mehr zu verlieren haben.
Niemand von uns wird als Verlierer geboren. Schon gar nicht als ein guter. Mit Anstand verlieren zu können, ist eine der größten erzieherischen Errungenschaften, vielleicht sogar die größte. Die Leistung oder das Glück der anderen zu respektieren, zu ehren, muss man lernen, und es ist meist das Elternhaus oder die Schule, die dafür verantwortlich sind.
Dabei gibt es beachtliche kulturelle Unterschiede. In Deutschland werden jungen Menschen selten Trostpreise vergeben, man gewinnt oder eben nicht. In den USA hingegen geben sich Veranstalter von Wettbewerben jeder Art, vom Sportturnier bis zum Hackathon, redliche Mühe, nicht nur die ersten drei für ihre Topleistung auszuzeichnen, sondern jede Menge alternative Trophäen zu vergeben, von der »Ehrung für den kreativsten Beitrag« oder »das beste Teamwork« bis hin zur »Trophäe für Fairplay«.
An den Universitäten und in Unternehmen merken junge Amerikaner dann aber schnell, dass Gewinnen alles ist, aber nicht alle Gewinner sind. Es ist der Schock eines teilweise brutalen Wettbewerbs um die vordersten Positionen in einer streng hierarchischen Gesellschaft. Extreme Auswirkungen dieses Systems sind Firmen, die ihre Kunden als »Muppets« verspotten (Goldman Sachs),10 oder, in letzter Konsequenz, Donald Trumps Mantra-artiges »We’re winning«. Wenn Gewinnen zum kategorischen Imperativ wird, sind ethische Aspekte schnell hintangestellt und Externalitäten Nebensache. Und auch die Wahrheit wird dann rasch zweitrangig.
Die Amerikaner sind vor allem deswegen so effektiv, weil die Effektivität (fast) alle Mittel heiligt. Effektivität ist mindestens so wichtig, wenn nicht sogar noch wichtiger als die Wahrheit. In Europa ist es genau umgekehrt. Wenn Amerikaner im besten Sinne Übertreibungskünstler sind, tun wir uns in Deutschland schwer damit, Geschichten zu erzählen, die dramatisiert sind. Für uns ist Nüchternheit der Garant der Wahrheit. In den USA ist wahr, was die meiste Aufmerksamkeit bekommt. Verlieren ist hier im besten Fall eine spannende oder berührende Geschichte, in Europa dagegen ist es auch dann eine Dimension unseres Lebens, wenn die Niederlage oder der Verlust keine packende Geschichte darstellen.
Die Kehrseite der Medaille ist, dass Amerikaner ihre Gewinner ehren, während Gewinner in Deutschland schnell den Sozialneid auf den Plan rufen. Mit schöner Regelmäßigkeit fallen bei uns die Helden vom Podest, oft selbst verschuldet (siehe Franz Beckenbauer), aber stets von Häme und moralischer Genugtuung begleitet. Vielleicht ist es das, was das Verlieren in Deutschland einerseits so akzeptabel und andererseits so unmöglich macht. Wir lernen von Anfang an, gute Verlierer zu sein, können das aber in unserem Erwachsenenleben immer seltener unter Beweis stellen, weil wir uns erst gar nicht in die Gefahr begeben wollen zu verlieren – aus Angst vor der sozialen Ächtung, der nachträglichen, zweiten Erniedrigung, die der eigentlichen Niederlage folgt.
Wichtig ist, sich klarzumachen: Verlieren ist etwas anderes als Verlust. Wir erleben den Verlust von uns nahestehenden Menschen, wir erleben berufliche und private Niederlagen, sei es Kündigungen, erfolglose Projekte, Trennungen. Aber das Verlieren hat eine andere Qualität, es ist ein Vorgang, kein Ereignis. Verlieren tut dauerhaft weh, weil Verlieren ein permanenter Zustand ist. Der Verlust tritt ein, ist einmalig und konkret – ihm kann begegnet werden. Das Verlieren ist schleichend, andauernd und abstrakt – es kann nur befürchtet werden, ist ein Teufelskreislauf. Verlierer haben Angst vor den sozialen Konsequenzen des Verlierens. Wer, so fragen sich Verlierer, will schon Verlierer als Kollegen, als Angestellte, als Freund, als Liebhaber, als Ehepartner, als Eltern, als Kinder, als Interessenvertreter haben?
Und oft es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Verlieren beginnt. Selbst Triumphe sind im Nachhinein oft Vorboten des Verlierens. Die Angst vor dem sozialen Abstieg sitzt uns allen im Nacken, vom Schichtarbeiter bei Daimler über den Internetunternehmer bis hin zu Boris Becker, der 1995 zum ersten Mal Wimbledon gewann und 2019 vom Gericht gezwungen wurde, die Trophäen seiner Triumphe von damals zu versteigern. Das Verlieren gehört sich einfach nicht.
So ist es kaum verwunderlich, dass laut einer Studie der KfW, der Kreditanstalt für Wiederaufbau, aus dem Jahr 2018 nur jeder vierte Deutsche die Selbstständigkeit anstrebt, eine Zahl, die sich in den letzten zwanzig Jahren sage und schreibe halbiert hat.11 Wenn es in den USA heißt: »American success is American failure«, gilt hier schlichtweg: »Wer verliert, ist ein Verlierer«. Die Angst vor dem Verlieren ist eine zutiefst deutsche Angst: Ein Loser zu sein, das ist der Kern der German Angst.
Die Angst vor dem sozialen Abstieg – sie ist real, und die Obdachlosigkeit, auf der Straße zu enden, ist das schrecklichste aller Schreckgespenster. Für André Hoek wurde es Realität. »Ich hätte dies nie für möglich gehalten«, sagte er mir, als ich ihn im Juni 2019 traf, und: »Es kann jedem passieren.« Vom 500 Euro am Tag verdienenden Webdesign-Freelancer bis zum am Berliner Hauptbahnhof Schnorrenden dauerte es bei André nur sechs Wochen. Er kam nicht darüber hinweg, dass ihn seine Frau verlassen hatte, wurde zum Alkoholiker und landete schließlich auf der Straße. André hat es geschafft, den Weg in die bürgerliche Gesellschaft zurückzufinden. Viele schaffen es nicht. Er arbeitet jetzt als Streetworker und hilft anderen Obdachlosen.
All die Lügen über das Verlieren haben uns in eine Diktatur geführt. Eine Diktatur erkennt man daran, dass sie alternativlos ist. Sie zieht sich durch alle Bereiche des Lebens und lässt uns keine andere Wahl, als ihr blind (oder auch sehend) zu folgen – oder aber gegen sie aufzubegehren. Sie zwingt uns dazu, Stellung zu nehmen. Sie besitzt Soft und Hard Power, weiche und harte Macht: Sie kann beeinflussen und inspirieren – oder uns, weniger subtil, mit (Androhung von) Gewalt zum vorauseilenden Gehorsam zwingen. Sie ist das einzige Betriebssystem, das zur Verfügung steht. Sie gibt nicht nur die Regeln vor, sondern sie ist das einzige Spiel, das gespielt wird. Sie schreibt uns die Normen vor, die Verhaltensweisen, die Sprache, ja sogar die Gefühle. Sie sieht keinen Platz vor für Ausreißer oder Andersdenkende. Sie verzeiht nicht. Sie kennt keine Schwäche, sie verachtet sie.
In der Diktatur der Gewinner ist Gewinnen der kleinste gemeinsame Nenner und das einzige nennenswerte Ergebnis. In der Diktatur der Gewinner ist Erfolg Selbstzweck und heiligt alle Mittel.
Die Diktatur der Gewinner – das ist die Arroganz derer, die »es geschafft haben« und nun auf den Rest von uns herabschauen. Die genug »fuck you money« haben, um finanziell unabhängig zu sein und nie wieder erwerbstätiger Arbeit nachgehen zu müssen.
Die Diktatur der Gewinner – das sind die zehn Prozent der Deutschen, die nach einem Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung knapp 55 Prozent des gesamten Nettovermögens besitzen und ihren Einfluss auf die Politik geltend machen.12
Die Diktatur der Gewinner – das sind die Profiteure von Wenden aller Art; diejenigen, die im richtigen Moment auf der richtigen Seite der Geschichte standen und seitdem die Siegesgewissheit jener ausstrahlen, die wissen, dass das Leben es gut mit ihnen meint.