Gegen die russische Staatsgewalt - Valerie Brosch - E-Book

Gegen die russische Staatsgewalt E-Book

Valerie Brosch

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Beschreibung

Die Lage der unabhängigen Zivilgesellschaft in Russland ist katastrophal. Aber die Flammen des Ungehorsams sind nicht erloschen. "Gegen die russische Staatsgewalt" macht sich anhand persönlicher Berichte widerständiger Aktivist*innen auf die Spur der anarchistischen Bewegung in Russland. Trotz aller Gefahren übernimmt diese immer wieder Verantwortung für vielfältige Aktionen: Ob mit Sabotageakten und Brandangriffen auf Rekrutierungsbüros, der Unterstützung politischer Gefangener oder im Kampf an der Front auf ukrainischer Seite – wir erfahren von den vielen Facetten gelebter Solidarität mit der sich russische Anarchist*innen dem Regime Putins und der brutalen Repression der Staatsmacht widersetzen. Die Autorin erzählt Geschichten der aktuellen und historischen Verfolgung, der russische Anarchist*innen ausgesetzt waren und sind, wann immer sie sich organisieren. Gleichzeitig zeigt sie: Trotz, manchmal auch gerade angesichts der Repression, finden sie bis heute immer wieder zueinander, handeln entschlossen und agieren unter den sich ständig wandelnden Bedingungen des russischen Staates für eine freie Gesellschaft.

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Seitenzahl: 203

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Valerie Brosch hat Sozialwissenschaft und Osteuropastudien in Bochum und Berlin studiert. Sie beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit der Geschichte und Gesellschaft Russlands und mit emanzipatorischen Bewegungen in verschiedenen osteuropäischen Ländern.

Valerie Brosch

Gegen die russische Staatsgewalt

Berichte von anarchistischem Widerstand und alternativloser Solidarität

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Valerie Brosch:

Gegen die russische Staatsgewalt

1. Auflage, Oktober 2024

eBook UNRAST Verlag, Dezember 2024

ISBN 978-3-95405-206-6

© UNRAST Verlag, Münster 2024

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung, der Übersetzung sowie der Nutzung des Werkes für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Beratung: Dmitrij Okrest

Umschlag: Luis Konwinski, Bochum

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

Vorwort

VON ANFÄNGEN, BRÜCHEN UND KONTINUITÄTEN

Ursprung und Niederschlagung anarchistischer Organisierung in Russland

Anarchist*innen organisieren sich

Exkurs 1: Michail Alexandrowitsch Bakunin

Exkurs 2: Pjotr Alexejewitsch Kropotkin

Die Anarchist*innen und der Erste Weltkrieg

Die Revolutionen von 1917 und die Niederschlagung des Anarchismus in der Sowjetunion

Neuorganisierung im postsowjetischen Russland

Die Straßenkämpfe der Nullerjahre

Der Kampf um den Wald von Chimki

Nach Bolotnaja: Der Kampf gegen die Repression

Von fabrizierten Fällen und gerichtlicher Willkür

Delo Seti, oder: der Netzwerk-Fall

EIN NEUER ALTER BRUCH: RUSSLANDS ANGRIFF AUF DIE UKRAINE UND SEINE BEDEUTUNG FÜR ANARCHIST*INNEN …

… in Russland

Essen statt Bomben

Im Partisan*innenkampf gegen den Krieg

»Sibirien wird schwarz-rot sein!«

Die Kraft der Bücher

Solidarität mit den politischen Gefangenen Sibiriens

Wenig Ressourcen und viele Probleme

… im Exil

Fundraising und Westplaining

Wenn Russland auch mit dem Exilland in Konflikt steht

Apfelwein und deutsche Politik

Feministischer Widerstand gegen den Krieg

Solidarisch mit den Partisan*innen

Leben im Exil

… an der Front

Ein Bericht von der Front

In Memoriam Dmitrij Petrow

Der Kampf von unten geht weiter

Quellenverzeichnis

Danksagung

Anmerkungen

Dieses Buch ist allen Anarchist*innen und Antifaschist*innen gewidmet, die kämpfen, die nicht mehr kämpfen können und jenen, denen für ihren Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit die eigene Freiheit genommen wurde.

Vorwort

Anfang Juni 2024 kam es in verschiedenen Städten Russlands zu Hausdurchsuchungen und mehreren Festnahmen von Antifaschist*innen. Unter ihnen Bogdan Jakimenko, der laut Medienberichten unter dem Einsatz von Elektroschockern in Rostow am Don verhaftet wurde. Ihm werfen die russischen Strafverfolgungsbehörden vor, Gründer und Anführer einer extremistischen Vereinigung mit dem Namen »Antifa United« zu sein. Diese Organisation, so die Behörden, soll sich spätestens im Juni 2020 mit dem Ziel gegründet haben, extremistische Straftaten durchzuführen. In geschlossenen Gruppen in den Sozialen Netzwerken – wie etwa im in Russland weit verbreiteten VKontakte – sollen sie unter anderem auch Minderjährige in die Planung von ›Hassverbrechen‹ gegen Vollzugsbeamt*innen einbezogen haben. Das Verfahren soll schon im April 2024 auf Grundlage der behördlichen Beobachtungen einer dieser Gruppen unter dem Namen der mutmaßlichen Vereinigung eingeleitet worden sein. Wie die russische Zeitung Nowaja Gaseta schreibt, werfen die Behörden der mutmaßlichen Gruppe »Antifa United« vor, sie würde die Würde von Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen verletzten wollen. Die Zeitung berichtet weiter, dass die Gruppe laut den Behörden Neonazi-Symbolik verbreite und Nazis angegriffen haben soll. Ihre Mitglieder sollen »›Passanten auf der Straße verprügelt [haben], die Kleidung mit den Farben des Russischen Reiches und den Logos der Marken Thor Steinar und Mother Russia trugen‹, und ihnen dann Kleidung und Accessoires gestohlen« haben. Einige der im Juni festgenommen Antifaschist*innen waren der Strafverfolgung bereits bekannt, weil sie schon 2020 angeklagt waren, nachdem sie eigentlich selbst die Opfer eines Neonazi-Angriffs wurden. Unter ihnen war auch Jakimenko. Als er 2023 infolgedessen zu vier Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde, rieten ihm nach eigener Auskunft, so Nowaja Gaseta, die Beamt*innen, »›nicht in Konflikte mit den Rechtsextremen zu geraten‹, da sich unter ihnen Leute von den Sicherheitsdiensten befänden«.

Dies ist der bloß der jüngste Fall gerichtlicher Willkür und Brutalität gegen Antifaschist*innen in Russland. Antifaschismus, wie sich im Verlauf des Buches zeigen wird, ist in Russland eng mit Anarchismus verbunden, viele Antifaschist*innen verstehen sich auch als Anarchist*innen und andersherum. Der Fall um »Antifa United« ist kein Einzelfall. Anarchist*innen und Antifaschist*innen sind in Russland tagtäglich Gewalt und behördlicher Willkür ausgesetzt. Doch schaffen es die Nachrichten darüber nur selten in deutschsprachige Medien. Als die Berichte über den Tod des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny am 16. Februar 2024 nach Deutschland durchgedrungen waren, gab es berechtigterweise in den hiesigen Medien einen großen Aufschrei und eine massive Empörung. Nawalnys Kampf gegen Korruption und sein Mobilisierungspotenzial waren für die russische Gesellschaft von großer politischer Bedeutung und haben vielen oppositionellen Menschen innerhalb und außerhalb Russlands Hoffnung und Kraft gegeben. Allerdings war er aufgrund seines rechtsnationalistischen Hintergrunds und verschiedener imperialistischer Aussagen kein unumstrittener Oppositionspolitiker. Dennoch, Nawalnys Schicksal und die Gewalt, die er durch den russischen Staat erfahren hatte, waren grausam. Die Tatsache, dass das Regime den durch die Vergiftung und brutalen Haftbedingungen unvermeidbar gewordenen Tod des international berühmten und anerkannten Regimekritikers in Kauf nahm, löste große Sorge um die anderen, auch weniger bekannten politischen Gefangenen aus. Doch die Opposition in Russland besteht nicht nur aus Personen wie Nawalny, dem Oligarchen und Geschäftsmann Michail Chodorkowski oder dem Schachgroßmeister Garri Kasparow. Der Widerstand gegen Putins Regime von unten ist zwar klein, aber dafür vielfältig, sowohl politisch als auch ethnisch. In Russland sehen sich heute viele politische Gefangene und Verfolgte mit einem ähnlichen Schicksal wie Nawalny konfrontiert. Doch bekommen sie für ihren Kampf und die gegen sie gerichteten Repressionen wenig Aufmerksamkeit.

Bei russischem Anarchismus denken viele an Michail Bakunin und Pjotr Kropotkin, zwei wegweisende anarchistische Persönlichkeiten, die beide aus dem russischen Zarenreich stammten. Ihre Gedanken und Ansätze prägen anarchistische Bewegungen bis heute, und zwar weltweit. Doch die Geschichte des russischen Anarchismus geht weit über diese beiden Größen hinaus. Auch wenn ihnen bisher nicht die angemessene Aufmerksamkeit zukommt, spielten Anarchist*innen in den Umbrüchen der russischen Geschichte stets eine wichtige Rolle. Von Anfang an politischer Verfolgung und Gewalt ausgesetzt, schafften sie es dennoch immer wieder, mit ihren Handlungen in die Gesellschaft hineinzuwirken. Auch das ist bis heute so. Unter Wladimir Putin hat die gezielte Verfolgung von Anarchist*innen nach den Protesten auf dem Bolotnaja-Platz 2011/2012, bei denen diese, wie wir später sehen werden, eine wichtige Rolle spielten, Fahrt aufgenommen: Mit fabrizierten Gerichtsverfahren, dystopischen Strafmaßen und brutaler Folter versucht das Regime, die Anarchist*innen zu brechen. Anarchismus fußt auf den Prinzipien der gegenseitigen Hilfe und Solidarität, der Horizontalität und Dezentralität sowie der Herrschafts-, Macht- und Hierarchielosigkeit. Mit ihren Gesellschafts- und Lebensentwürfen stehen Anarchist*innen also gegen alles, was den russischen Staat unter Putin ausmacht. Dass sie dafür mit besonderer Härte vom Staat verfolgt werden, verwundert dementsprechend nicht. Doch soll dieses Buch nicht nur von den Repressionen erzählen, die Anarchist*innen erfahren haben, sondern vor allem von ihrem Widerstand und ihren Akten der Solidarität. Trotz oder gerade wegen der Brutalität, die sie im Laufe der Geschichte bis heute erleben, schaffen sie es, ihren Überzeugungen treu zu bleiben und nach ihnen zu handeln. In Russland sprechen heute viele Anarchist*innen selbst nicht von einer Bewegung. Es handelt sich eher um einzelne Projekte und Gemeinschaften, die ihr Bestes geben, um zu überleben. Untereinander sind sie kaum vernetzt und die staatliche Kontrolle erschwert die Kommunikation noch weiter. Politische Verfolgung und die Gefahr von Folter und Haft sorgt bei vielen für Angst und Apathie, weswegen nicht alle Anarchist*innen organisiert sind. Zudem sahen sich einige Anarchist*innen gezwungen, das Land zu verlassen. Die einen, um vor Repressionen zu fliehen, und andere um ihren Berufen nachgehen oder ihre Träume verfolgen zu können. Auch wenn viele Anarchist*innen im Ausland versuchen, ihre politische Arbeit fortzusetzen und ihre Genoss*innen in Russland zu unterstützen, sorgt die Emigration für eine Verstärkung der Fragmentierung.

Das erste Mal habe ich von Anarchist*innen im heutigen Russland 2020 durch einen Artikel auf dem Online-Portal Dekoder erfahren, in dem über den sogenannten »Netzwerk-Fall« berichtet wurde. In dem Artikel ging es um das fabrizierte Gerichtsverfahren gegen mehrere Anarchist*innen in Russland, um Folter und Haftstrafen von bis zu 18 Jahre. Seit vielen Jahren beschäftige ich mich bereits mit Russland, russischer Geschichte, Kultur und Politik. Aber dieser Artikel bot mir Zugang zu einer Szene, mit der ich zuvor noch nicht in Kontakt gekommen war. Nach dem offiziellen Beginn des brutalen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine berichteten vor allem englischsprachige Medien über Brandanschläge auf Rekrutierungsbüros und Sabotageakte an Schienen, auf denen kriegsrelevantes Material transportiert wurde. Auch eine anarchistische Gruppe, die Kampforganisation der Anarcho-Kommunist*innen (Bojewaja Organisazija Anarcho-Kommunistow, BOAK), bekannte sich zu manchen dieser Angriffe. Diese Aktionen und der gleichzeitige Versuch Putins, den Begriff des Antifaschismus für sich zu beanspruchen, waren die Initialzündung für meine weitere Forschung, die sich nun mit der anarchistischen Bewegung in Russland beschäftigen sollte. Während meiner Recherche stellte ich überrascht fest, wie wenig Forschung, sowohl auf Deutsch als auch Englisch, es zu diesem Thema bisher gibt. Wenn über Anarchist*innen geforscht wurde, waren entweder Kropotkin und Bakunin oder andere historische Persönlichkeiten Gegenstand des Interesses. In der Beschäftigung mit der neueren Geschichte Russlands hingegen bleiben sie eher eine Randnotiz.

Mit diesem Buch hoffe ich, diese Lücke etwas füllen zu können und den deutschen (vor allem innerlinken) Diskurs über den russischen Krieg gegen die Ukraine um wichtige Perspektiven zu erweitern. Von den Interviews, die ich für meine Forschung und dieses Buch führte, sind nicht alle als explizit persönliche Geschichten eingeflossen. Alle Interviews wurden in oder von Deutschland aus geführt. Mir ist wichtig zu betonen, dass ich zwar einige Male Russland besuchen konnte, dort jedoch nie für eine längere Zeit gelebt oder mich in der anarchistischen Szene vor Ort bewegt habe. Für meine Recherche griff ich also auf Interviews, Artikel, Kanäle auf dem Messengerdienst Telegram und Blogbeiträge zurück, um mir ein möglichst umfassendes Bild der Bewegung zu machen. Ich erhebe nicht den Anspruch, über die eine russische anarchistische Bewegung zu schreiben oder sie in Gänze abbilden zu wollen. Die Geschichte der Anarchist*innen in Russland ist vielfältig und komplex, genauso wie ihre Tätigkeiten, Ansichten und Verhältnisse heute. In diesem Buch biete ich Einblicke in diese Geschichte und Lebensrealitäten, die ich für wichtig erachte und die endlich die Sprachbarrieren der Bewegungen überwinden sollen. Aufgrund der volatilen Verhältnisse in Zeiten des Krieges handelt es sich dazu natürlich um eine Momentaufnahme.

Dem voraus noch eine Einordnung zu meiner Verwendung des Begriffes ›russisch‹: Wenn ich von ›russisch‹ und ›Russ*innen‹ schreibe, meine ich nicht ethnisch russisch. Russland ist ein multiethnisches Land, in dem durch Kolonisierung, Deportationen und die kulturimperialistische Praxis der Russifizierung nichtrussische Ethnien heute nach wie vor in ihrer Existenz bedroht sind. Der Rassismus gegen nichtrussische Minderheiten hat zudem seit dem tödlichen Anschlag auf die Crocus City Hall in Krasnogorsk, bei dem mindestens 144 Menschen ermordet und Hunderte weitere verletzt wurden, eine neue Eskalationsstufe erreicht. Die russische Sprache wird dem Unterschied zwischen Russland als Staatsgebiet und der Ethnie gerecht, indem sie zwischen ›russländisch‹ (rossijskij) und ›russisch‹ (russkij) unterscheidet. In diesem Buch verwende ich der Einfachheit halber das Wort russisch, meine damit aber russländisch, also bezogen auf den geographischen Raum. Wenn ich über ethnische Russ*innen schreibe, mache ich dies deutlich.

Der erste Teil behandelt in einem weit gefassten Überblick die Geschichte der anarchistischen Organisierung von ihren Anfängen bis zum offiziellen Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022. Diese Geschichte kann nicht erzählt werden, ohne die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse aufzuzeigen, in denen die Anarchist*innen gelebt und auf die sie auch reagiert haben. Trotz der zunehmenden repressiven Gewalt und Brutalität von allen Seiten schafften es Anarchist*innen, solidarisch zu bleiben und einander zu helfen. Die radikale Linke Russlands, deren Teil die Anarchist*innen sind, erlebte über die Zeit hinweg viele Spaltungen und Neuausrichtungen, die sich entlang der großen politischen und sozialen Umbrüche der russischen Geschichte entwickelten. Der zweite Teil erzählt von den Verhältnissen in dem letzten großen Umbruch, dem vollumfassenden Krieg Russlands gegen die Ukraine. Hier stehen die persönlichen Geschichten einzelner Anarchist*innen und anarchistischer Gruppen im Vordergrund, die ihre Sicht der Dinge und Lebensrealitäten in Russland, im Exil und auf der ukrainischen Seite an der Front schildern.

Auch wenn dieses Buch den Widerstand russischer Anarchist*innen im Fokus hat, widersetzen sich Anarchist*innen in vielen Ländern der russischen Staatsgewalt. Hierbei darf vor allem der Kampf ukrainischer Anarchist*innen nicht unerwähnt bleiben. Sie kämpfen an der Front, organisieren humanitäre Hilfe, sorgen im Ausland für Sichtbarkeit und sind dem Horror der russischen Besatzung und des brutalen Krieges ausgesetzt. Auch in der ukrainischen Linken gibt es unterschiedliche Debatten, Perspektiven und Realitäten, die gesondert beachtet werden sollten.

Berlin, August 2024

Von Anfängen, Brüchen und Kontinuitäten

Ursprung und Niederschlagunganarchistischer Organisierung in Russland

Das Russische Zarenreich des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts war geprägt von einer rasanten industriellen Entwicklung, welche mit zahlreichen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Spannungen in den kolonisierten nördlichen und südwestlichen Randgebieten des Imperiums einherging. Unter Alexander II., der von 1855 bis 1881 herrschte, kam es zu weitreichenden politischen Reformen, den sogenannten Großen Reformen, um dieser brenzligen Lage zu begegnen. Dem Osteuropawissenschaftler Henner Kropp zufolge sollten sie »das russische Sozial- und Wirtschaftssystem auf die neuen Herausforderungen der Industrialisierung einstellen, gleichzeitig aber die politische Ordnung weitestgehend unangetastet lassen«.

Anarchist*innen organisieren sich

Eine der Reformen war 1861 die Abschaffung der Leibeigenschaft. Die Bäuer*innen verspürten dadurch jedoch keine wirkliche Entlastung, da die Landanteile der Bäuer*innen, die ihnen nach der Abschaffung zugeteilt wurden, zu klein und mit zu großen steuerlichen Lasten belegt waren. Die meisten Haushalte konnten sich selbst nicht mehr allein durch Agrarwirtschaft weitestgehend im Rahmen der Subsistenz am Leben erhalten und waren auf zusätzliche Einnahmen durch weitere Land- und Handarbeit angewiesen. Die Lage verschlechterte sich massiv durch große Hungersnöte in den Jahren 1891 bis 1893. Weitere Missernten führten 1901 zu Plünderungen in den südlichen Provinzen. Aufgrund der schlechten Bedingungen auf dem Land wanderten viele verarmte Bäuer*innen in die Städte ab und bildeten dort als Fabrikarbeiter*innen einen großen Teil des entstehenden Proletariats. In der Stadt waren sie mit schlechten Arbeitsbedingungen, fehlenden Arbeitsrechten und ausbleibenden Löhnen konfrontiert. Eine wirtschaftliche Krise im Jahr 1899 verschärfte die Lage in der Textilindustrie, in den Häfen und Minen und auf den Ölfeldern. 1903 kam es schließlich zu bedeutenden Zusammenstößen zwischen Arbeiter*innen und der Polizei und zu großen Streiks in der Schwerindustrie in den südwestlichen Randgebieten des Zarenreichs.

Um das revolutionäre Potenzial der Bäuer*innen anzufachen, entstand bereits in den 1860er-Jahren die revolutionäre Bewegung der Narodniki (Volkstümler). Als sozialistische Bewegung legten die Narodniki die Grundsteine für die spätere Sozialrevolutionäre Partei. Charakteristisch war für sie der Versuch, durch den ›Gang ins Volk‹ insbesondere Bäuer*innen aufzuklären und sie im Sinne ihrer eigenen Befreiung gegen das zaristische Regime zu mobilisieren. Innerhalb der Narodniki kam es immer wieder zu Spaltungen und Flügelkämpfen, bei denen es um die Priorisierung einer Praxis der Aufklärung oder des Terrorismus ging. Eine aus diesen Spaltungen hervorgegangene Gruppe, Narodnaja Wolja (Volkswille), verübte mehrere fehlgeschlagene und schließlich 1881 ein erfolgreiches Attentat auf den Zaren Alexander II. Die Agitationstätigkeiten der Narodniki waren unter anderem von den Schriften des russischen Anarchisten Michail Alexandrowitsch Bakunin inspiriert. Sein Werk Staatlichkeit und Anarchie wurde 1873 geschrieben, gedruckt und nach Russland geschmuggelt, wo es unter den Aktivist*innen, die ›ins Volk gingen‹ viel diskutiert war. Er bleibt mit seiner ›Propaganda der Tat‹ bis heute international prägend für anarchistische und revolutionäre Bewegungen.

Exkurs 1: Michail Alexandrowitsch Bakunin

Michail Alexandrowitsch Bakunin wurde am 30. Mai 1814 in der Region Twer in eine Familie des russischen Adels hineingeboren. Seinen Dienst in der Armee, den er zunächst antrat, quittierte er schon bald und zog stattdessen nach Moskau. Dort kam er in Kontakt mit demokratischen Zirkeln und begann, sich für Philosophie zu interessieren. Anfang 1840 ging Bakunin für ein Philosophiestudium nach Deutschland, wo er Karl Marx und Friedrich Engels traf. Die Bekanntschaft mit dem französischen Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon machte er bei einer Reise nach Paris. Zu diesem Zeitpunkt hatte Bakunin sich bereits radikalen Gedanken in Bezug auf Staat und Gesellschaft zugewandt. In den 1840er-Jahren setzte er sich für die revolutionäre Befreiung der Slaw*innen und für den polnischen Kampf um Unabhängigkeit ein, was zu einer Ausweisung aus Frankreich führte. Inmitten des deutschen Vormärzes schloss Bakunin sich 1849 dem Maiaufstand in Dresden an. Er wurde verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt. Die nächsten acht Jahre verbrachte er so in der berüchtigten Peter-Paul-Festung in St. Peterburg und in der Festung Schlüsselburg. Seine Haftstrafe wurde schließlich zu einer lebenslangen Verbannung nach Sibirien umgewandelt, aus der ihm 1861 die Flucht gelang. Seine anschließende Reise führte ihn über Japan und die USA nach London. Nach Russland kehrte Bakunin nie wieder zurück.

1868 trat Michail Bakunin der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA), der berühmten und viel besungenen ›Ersten Internationalen‹, bei. Zu ihrem Zerfall und der damit einhergehenden ersten großen Spaltung der organisierten Arbeiter*innenbewegung trug der Konflikt zwischen Bakunin und Karl Marx, welcher die IAA seit ihrer Gründung maßgeblich geprägt hatte, bei. Dieser Streit, wie der Historiker Wolfgang Eckhardt jedoch betont, drehte sich weniger um die Personen Marx und Bakunin selbst, als um die Frage der politischen Strategie. Konkret sei es um die Frage gegangen, ob eine sozialistische, freie Gesellschaft über einen parteipolitischen oder einen sozialrevolutionären Weg erreicht werden kann. Auf der Londoner Konferenz im September 1871 beschloss die Internationale die Gründung einer politischen Partei der Arbeiterklasse zur Erlangung politischer Macht, mit dem Ziel, schließlich alle Klassen abzuschaffen. Der Beschluss wurde von vielen antiautoritär und anarchistisch geprägten Föderationen innerhalb der Internationalen scharf kritisiert. Der Ausschluss Bakunins und des Schweizer Anarchisten James Guillaume, der auf der Konferenz in Den Haag vom 2. bis zum 7. September 1872 folgte, führte schließlich zum endgültigen Bruch. Als Reaktion organisierten die mit Bakunin und Guillaume sympathisierenden Föderationen und Genoss*innen schon am 15. und 16. September desselben Jahres einen alternativen internationalen Kongress in Saint-Imier in der Schweiz. Auf dem Kongress wurden die Entscheidungen des Den Haager Kongresses abgelehnt und für nichtig erklärt. Zudem wurde ein Pakt der Freundschaft, Solidarität und gemeinsamen Verteidigung beschlossen, um eine antiautoritäre Allianz gegen die zunehmende autoritäre Tendenz des nun von Marx’ Fraktion geführten Generalrats der Internationalen zu bilden. Während sich die von Marx und einigen deutschen Fraktionen favorisierte zentralistische Generalrats-Internationale schon 1876 auflöste, konnte die antiautoritäre Fraktion ihre Arbeit noch bis zu ihrem letzten offiziellen Kongress in Verviers 1877 aufrechterhalten. Einige Anarchist*innen versuchten sogar mit aller Kraft bis Anfang der 1880er, die Idee in Form einer direkten organisatorischen Kontinuität am Leben zu erhalten. Ihr Mythos wirkt bis heute fort: 2012 und 2023 gab es anlässlich ihres 140sten und 151sten Jubiläums erneut Treffen von Tausenden Anarchist*innen in Saint-Imier im Schweizer Jura.

Mit seinen Schriften prägte Michail Bakunin international den Anarchismus als revolutionäre Bewegung. Er stellte sich klar gegen jede Form von Herrschaft, die er in Staat, Eigentum und Kirche verortete. Insbesondere im Staat sah er ein Herrschaftskonstrukt, welches für die herrschende Minderheit Bereicherung, für die Bevölkerungsmehrheit allerdings ein Gefängnis bedeuten würde. So schreibt er in »Die politische Macht und ihre Wesensäußerungen«:

»Man muß alles, was politische Macht genannt wird, im Prinzip und in Wirklichkeit vollkommen abschaffen; denn solange eine politische Macht besteht, wird es Herrschende und Beherrschte, Herren und Sklaven, Ausbeuter und Ausgebeutete geben. Wenn die politische Macht einmal abgeschafft ist, muß man sie durch die freie Organisation der produktiven Kräfte und der wirtschaftlichen Arbeit ersetzen.«

Bakunin sah den Staat als tot und wertlos an. Er verhindere die Entwicklung der Gesellschaft, in deren revolutionären Bewegungen für Bakunin das Leben steckte. Erst durch die vollständige Zerstörung der alten Strukturen könne eine neue und gerechte Gesellschaft aufgebaut werden. Somit kommt Bakunin in dem Text »Die Reaktion in Deutschland« zu dem Schluss: »Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust!« Der Politikwissenschaftler Michael Lausberg schreibt, dass für Bakunin die Revolution das »Einswerden des Einzelnen mit dem ›Volk‹« bedeute. Durch die Revolution solle das Volk, welches für Bakunin gleichbedeutend mit der Gesellschaft ist, ein besseres Leben erlangen und auch moralisch gebessert werden. Dies könne eben nur mit der Zerstörung alles Vorherigen gelingen. Da Freiheit für Bakunin nur durch die Zusammenarbeit der Menschen gelingen kann, sei, so Lausberg, »die Idee des Individuums mit der Realität, der Gesellschaft, unvereinbar«.

Um die Revolution vorzubereiten, braucht es für Bakunin die ›Philosophie der Tat‹. Wenn den Worten keine Taten folgten, so wären »Worte nur Worte«. Für ihn steckte das revolutionäre Potenzial nicht nur in den Fabrikarbeiter*innen, sondern auch in den Bäuer*innen und den frustrierten und perspektivlosen Studierenden. In Russland galt dies in den Augen Bakunins ebenfalls für die, wie er schreibt, Räuber*innen, die sich in den Wäldern, Dörfern, Städten und in den Gefängnissen unversöhnlich mit dem Staat zeigten. Für Bakunin bestand nun die ›Propaganda der Tat‹ darin, dass junge Revolutionär*innen ins Volk gingen, um eben all jene noch politisch unbewussten aber revolutionären Menschen auf das gemeinsame Ziel, die Zerstörung des Staates durch eine soziale Revolution, einzustimmen.

Im Zuge einer zunehmenden nationalstaatlichen Konstituierung, die mit dem Ausbau staatlicher Strukturen und einer Zentralisierung der Macht einherging, verfolgte die Regierung des Russischen Reiches in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert eine verstärkte Politik der Russifizierung. Laut dem Historiker Theodore Weeks ergab der erste generelle Zensus des Russischen Reichs, der 1897 stattfand, dass lediglich 43,3 % der Menschen ethnisch russisch waren. Während die Politik der Russifizierung in den verschiedenen Kolonien unterschiedlich aussah, war es jedoch im Allgemeinen das Ziel, die heterogene Gesellschaft zu vereinheitlichen. Indem die kolonisierten Peripherien wie im Westen und Südwesten des Reichs stärker an das Zentrum gebunden werden sollten, hoffte man zudem, diese vor ausländischen Kultureinflüssen und separatistischen Bestrebungen zu schützen. Bereits zuvor wurden nichtrussische Ethnien, wie Tatar*innen, Pol*innen und Moldauer*innen diskriminiert. Nun sollten sie kulturell an die russische Ethnie angepasst werden. Dies bedeutete zum Beispiel, dass Russisch als lingua franca in den Verwaltungen und Schulen eingeführt wurde und die Nachnamen ans Russische angepasst wurden. Die Ausbreitung des russisch-orthodoxen Glaubens war mit einer Siedlungspolitik verbunden, die alle Kolonien betraf. Für nichtrussische orthodoxe Kirchen wie in Georgien bedeutete die Verbreitung zudem den Verlust der Autokephalie, also der kirchenrechtlichen Unabhängigkeit. Die georgische Kirche wurde der russischen Orthodoxie unterstellt. Der Versuch, die Kultur nichtrussischer Ethnien mit der russischen zu ersetzen, scheiterte Historiker*innen zufolge jedoch. Denn mit der verstärkten Russifizierung ging auch ein Aufkommen politischer Bewegungen in den Peripherien einher, die mehr nationale und politische Rechte forderten. In Polen traf die Zentralisierungspolitik auf besonders großen Widerstand. Die Aufstände der polnischen Bevölkerung, wie der Januaraufstand 1863/64, wurden allerdings brutal niedergeschlagen und mit Hinrichtungen, Verhaftungen und Verbannungen bestraft.

Eine besonders zu betrachtender Aspekt ist weiterhin die Politik des Russischen Reiches hinsichtlich der jüdischen Bevölkerung. Jüdischen Menschen wurde ab 1791 ein Siedlungsgebiet, der sogenannte Ansiedlungsrayon, zugeschrieben, welches sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckte und Gebiete des heutigen Estlands, Lettlands, Litauens, Polens, der Ukraine, Belarus und Moldaus umfasste. Hier mussten über fünf Millionen Jüdinnen*Juden auf engem Gebiet zusammenleben. Im Zuge der Großen Reformen Alexander II. kam es auch zu Lockerungen der restriktiven Gesetze, welche das Leben jüdischer Menschen im Russischen Reich zuvor einschränkten. Nun konnten Jüdinnen*Juden aus den höheren Schichten der Gesellschaft auf ein leichteres Leben hoffen und teilweise sogar abseits des Ansiedlungsrayons leben. Auch Vorgaben in Bezug auf Bildung und Beruf wurden gelockert. Nach der Ermordung Alexander II. im März 1881 trieb jedoch sein Nachfolger Alexander III. die Politik der Russifizierung umso härter voran und deklarierte ganze Ethnien als illoyal und feindlich. Hiervon waren besonders jüdische Menschen betroffen. Im April 1881 kam es zu den ersten Pogromen an Jüdinnen*Juden. In einer Täter-Opfer-Umkehr, so schreibt die Historikerin Anke Hilbrenner, wurde den Jüdinnen*Juden vorgeworfen, nichtjüdische Menschen auszubeuten und dadurch selbst für die Pogrome verantwortlich zu sein. Es folgten weitere Pogrome und harsche Gesetze, die unter anderem jüdische Menschen vom Land in begrenzte Räume in Städten drängten und ihren Zugang zu Bildung und Berufen einschränkte. Unter dem letzten Zaren Nikolaus II. kam es 1903 zu weiteren brutalen Pogrome in heute belarussischen, polnischen, moldauischen und ukrainischen Städten. Ihnen vorangegangen war eine durch den Staat geduldete antisemitische Hetzkampagne. Innenminister Wjatscheslaw Konstantinowitsch Plehwe erhoffte sich, die aufkommende revolutionäre Stimmung zu zerstreuen, indem er sie als »Werk jüdischer Hände« stigmatisierte.

Auch unter den Studierenden machte sich Ende des 19. Jahrhundert Frustration breit. Viele von ihnen waren arm und hatten nur Chancen auf einen niederen Posten in der Bürokratie. 1884 waren ihre Möglichkeiten zur politischen Betätigung und wissenschaftlichen Unabhängigkeit durch ein Universitätsstatut drastisch eingeschränkt worden, welches Clubs und Vereinigungen an den Universitäten auflöste, liberale Professoren verbannte und radikal in die Freiheit und Unabhängigkeit der Lehre eingriff. Auf das Statut folgten Proteste, Streiks und Blockaden an der Universität in St. Petersburg und Solidaritätsdemonstrationen an weiteren Universitäten im europäischen Teil des Reichs. Ein Generalstreik wurde mit Exmatrikulationen und Zwangsrekrutierungen Hunderter Studierender bestraft.