Gegen die Welt - Tara Zahra - E-Book

Gegen die Welt E-Book

Tara Zahra

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Beschreibung

Mit Gegen die Welt legt die US-amerikanische Historikerin Tara Zahra eine fantastisch geschriebene Geschichte des antiglobalistischen, antiinternationalistischen Denkens und Handelns in der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg vor. Sie zeigt, wie ein Gemisch aus Nationalismus, Protektionismus und Fremdenfeindlichkeit rund um den Globus die Politik und das Denken eroberte. Ihr ebenso packendes wie bedrückendes Porträt einer Welt im Moment ihres Auseinanderbrechens ist auch eine Warnung: Die Ordnung, die wir für selbstverständlich erachten, kann brüchig sein.

Schon während der ersten Welle der Globalisierung bildeten sich gefährliche Unterströmungen. Migration und ökonomische Verflechtung lösten Ressentiments und Existenzängste aus. Nationalismus und Abschottung wurden zum Mantra zahlreicher Politiker. Mit dem Ersten Weltkrieg und der Spanischen Grippe kam die erste Welle der Globalisierung vorerst zu einem Ende. Die Parallelen zur heutigen Zeit sind mit Händen zu greifen: Die Pandemie, die Verwerfungen in der Weltwirtschaft, die Rhetorik des »Take back control« – es scheint, als sei das frühe 20. Jahrhundert zu unserer Gegenwart geworden.

»Eine wunderbar geschriebene, fesselnde Geschichte darüber, wie die Globalisierung in der Vergangenheit gescheitert ist, und ein warnendes Beispiel für die Gegenwart. Zahras Rechercheleistung ist hervorragend, ihre Figuren sind unvergesslich.« Lea Ypi

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Seitenzahl: 650

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Cover

Titel

3Tara Zahra

Gegen die Welt

Nationalismus und Abschottung in der Zwischenkriegszeit

Aus dem Englischen von Michael Bischoff

Suhrkamp

Impressum

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Die englische Originalausgabe erschien 2023 unter dem TitelAgainst The World. Anti-Globalism and Mass Politics Between the World Warsbei W. W. Norton & Company (New York).

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der Originalausgabe, 2024

Erste Auflage 2024Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024© 2023 by Tara Zahra

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Brian Barth

Umschlagabbildungen: Dietrich Reimers Karte zur Übersicht der gegenwärtigen Kriegslage in Europa und den Mittelmeerländern, Verlag von Dietrich Reimer (Ernst Vohsen)/American Geographical Society Library; Pawel Michalowski/shutterstock (Risse)

eISBN 978-3-518-77874-6

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Einleitung

Teil I   Eine gemeinsame Welt?

1 Der Sieg steht unmittelbar bevor. Budapest 1913

2 Ein Ausweg. Deraschnja und New York 1913

3 Wir bringen Frieden. Hoboken 1915

4 Die Hungeroffensive. Wien und Budapest 1917

Teil II   Eine Welt für sich

5 Krankheit bindet die Menschheit zusammen. New York 1918

6 Amputiert und verarmt. Paris 1919

7 Die Sieger haben keines ihrer Versprechen gehalten. Fiume 1919

8 Zunder für den bolschewistischen Funken. Budapest und München 1919

9 Keine Maroni ohne Visum. Salzburg 1922

10 Verteidigung des Amerikanismus. Ellis Island 1924

Teil III   Die Welt in Unruhe

11 Kolonien im Mutterland. Wien 1926

12 Mit einem Fuß auf dem Land. Iron Mountain 1931

13 Freiheit durch das Spinnrad. Lancashire 1931

14 Die Luft ist unser Meer. Zlín 1931

15 Einheimische Nahrungsmittel. Littoria 1932

16 Ökonomisches Appeasement. London und Genf 1933

17 Raumpolitisch Luft haben. Goslar 1936

Schluss Ein neues Zeitalter weltweiter Zusammenarbeit. New York 1939

Epilog

Dank

Anmerkungen

Einleitung

1 Der Sieg steht unmittelbar bevor Budapest 1913

2 Ein Ausweg Deraschnja und New York 1913

3 Wir bringen Frieden Hoboken 1915

4 Die Hungeroffensive Wien und Budapest 1917

5 Krankheit bindet die Menschheit zusammen New York 1918

6 Amputiert und verarmt Paris 1919

7 Die Sieger haben keines ihrer Versprechen gehalten Fiume 1919

8 Zunder für den bolschewistischen Funken Budapest und München 1919

9 Keine Maroni ohne Visum Salzburg 1922

10 Verteidigung des Amerikanismus Ellis Island 1924

11 Kolonien im Mutterland Wien 1926

12 Mit einem Fuß auf dem Land Iron Mountain 1931

13 Freiheit durch das Spinnrad Lancashire 1931

14 Die Luft ist unser Meer Zlín 1931

15 Einheimische Nahrungsmittel Littoria 1932

16 Ökonomisches Appeasement London und Genf 1933

17 Raumpolitisch Luft haben Goslar 1936

Schluss Ein neues Zeitalter weltweiter Zusammenarbeit New York 1939

Epilog

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Sachregister

Bildnachweise

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Einleitung

»In einer Welt fallender Preise sind keine Aktien katastrophaler gefallen als die der internationalen Zusammenarbeit.«

Dorothy Thompson, 19311

Das Zeitalter der Globalisierung war vorbei.

Sogar überzeugte Internationalistinnen und Internationalisten »haben den Glauben verloren und stimmen in den Chor derer ein, die niemals mit unseren Idealen sympathisiert haben; sie sagen nun, der Internationalismus sei gescheitert«, so die verzweifelte Klage der Frauenrechtlerin Mary Sheepshank. Sie zeigte sich zwar zuversichtlich, dass der Geist des Internationalismus zurückkehren werde, wenn »der Nebel in den Gehirnen der Menschen« sich verzogen habe, doch für den Augenblick sei er durch »Rassenhass und nationalen Eigennutz« ersetzt worden, die »zu Zollschranken, Militarismus, Rüstung, einer erdrückenden Steuerlast, einer Beschränkung der internationalen Kontakte, zu wechselseitigem Abschlachten und zum Stillstand jeglichen Fortschritts führen«.2

Das war im Jahr 1916. Hunderttausende europäischer Jünglinge und Männer hatten schon ihr Leben verloren, und allenthalben schrieb man Nachrufe auf den Internationalismus. Der Nebel verzog sich nur langsam. Mehr als 20 Jahre später veröffentlichte der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig seine Lebenserinnerungen mit dem Titel Die Welt von Gestern. Sie waren eine nostalgische Grabrede auf ein vergangenes Zeitalter der Globalisierung. Zweig, der sich selbst als »Weltbürger« bezeichnete, erinnerte sich: »Vor 1914 hatte die Erde allen Menschen gehört. Jeder ging, wohin er wollte, und blieb, solange er wollte. Es gab keine Erlaubnisse, keine Verstattungen, und ich ergötze mich immer wieder neu an dem Staunen junger Menschen, sobald ich ihnen erzähle, daß ich vor 1914 nach Indien und Amerika reiste, ohne einen Paß zu besitzen oder überhaupt je gesehen zu haben. 10Man stieg ein und stieg aus, ohne zu fragen und gefragt zu werden, man hatte nicht ein einziges von den hundert Papieren auszufüllen, die heute abgefordert werden. Es gab keine Permits, keine Visen, keine Belästigungen.« Nach dem Weltkrieg war alles anders.

Überall verteidigte man sich gegen den Ausländer […]. All die Erniedrigungen, die man früher ausschließlich für Verbrecher erfunden hatte, wurden jetzt vor und während einer Reise jedem Reisenden auferlegt. Man mußte sich photographieren lassen von rechts und links, im Profil und en face, das Haar so kurz geschnitten, daß man das Ohr sehen konnte, man mußte Fingerabdrücke geben […], mußte überdies Zeugnisse, Gesundheitszeugnisse, Impfzeugnisse, polizeiliche Führungszeugnisse, Empfehlungen vorweisen, mußte Einladungen präsentieren können und Adressen von Verwandten, mußte moralische und finanzielle Garantien beibringen, Formulare ausfüllen und unterschreiben in dreifacher, vierfacher Ausfertigung, und wenn nur eines aus diesem Schock Blätter fehlte, war man verloren.

Er stellte eine Verbindung zwischen diesen bürokratischen Demütigungen und einem Verlust an menschlicher Würde wie auch einem verlorenen Traum von einer geeinten Welt her. »Wenn ich zusammenrechne, wie viele Formulare ich ausgefüllt habe in diesen Jahren […], wie viele Durchsuchungen an Grenzen und Befragungen ich mitgemacht, dann empfinde ich erst, wieviel von der Menschenwürde verlorengegangen ist in diesem Jahrhundert, das wir als junge Menschen gläubig geträumt als eines der Freiheit, als die kommende Ära des Weltbürgertums.«3

In Großbritannien verfasste der Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes kurz nach dem Ende des Krieges seinen berühmten Nachruf auf die Globalisierung. »Welch ein außerordentliches Zwischenspiel in dem wirtschaftlichen Fortschritt des Menschen war doch das Zeitalter, das im August 1914 endete.« Im goldenen Zeitalter vor dem Krieg konnte der »Bewohner Londons […], seinen Morgentee im Bette trinkend, durch den Fernsprecher die verschiedensten Erzeugnisse der ganzen Erde in jeder beliebigen Menge bestellen und mit gutem Grund erwarten, daß man sie alsbald an seiner Tür ablieferte«. Und die »Pläne der Politik des Militarismus und Imperialismus, der Nebenbuhlerschaft von Rassen und Kulturen, der Monopole, Handelsbeschränkungen und Ausschließungen, die die Schlange 11in diesem Paradiese spielen sollten, waren wenig mehr als Gerede in seiner Tageszeitung«. Diese drohenden Gefahren »schienen fast gar keinen Einfluß auf den gewöhnlichen Lauf des geschäftlichen und wirtschaftlichen Lebens zu üben, dessen Internationalisierung praktisch fast vollendet war«.4

Stefan Zweig und John Maynard Keynes gehören bis heute zu den bekanntesten Analytikern des durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten Wandels. Beide empfanden diese Veränderungen als Ende eines goldenen Zeitalters der Globalisierung, in dem Menschen, Güter und Kapital frei über Landesgrenzen hinweg zirkulierten. Gerade ihr nostalgischer Blick auf eine verlorene Welt der Globalisierung bietet indessen wichtige Hinweise auf die Ursachen ihres Niedergangs. Beide Männer vermochten nicht wirklich zu erkennen, wie sehr die mit der Globalisierung verbundenen Freiheiten Privilegien einer schmalen Elite darstellten. (»Vielleicht war ich von vordem zu sehr verwöhnt gewesen«, sinnierte Zweig.) Die Welt hatte vor 1914 durchaus nicht allen gehört, wohl aber Menschen wie Keynes und Zweig.

Vor dem Ersten Weltkrieg konnten Zweig und Keynes vor allem deshalb frei von bürokratischen Hindernissen durch die Welt reisen, weil sie wohlhabende, gebildete, weiße Europäer waren. Sie reisten ohne jegliche Behinderungen zu geschäftlichen Zwecken oder zum Vergnügen und brauchten sich um ihre physische Sicherheit keine Sorgen zu machen – noch auch um lästige Einmischungen durch Ehemänner, Väter oder staatliche Behörden.

Im Rückblick stellt die Welt von gestern sich ganz anders dar. Migrantinnen und Migranten auf dem Weg in die Vereinigten Staaten von Amerika sahen sich schon im 19. Jahrhundert der Zudringlichkeit von Ärzten ausgesetzt, die physisch oder psychisch kranke Einwanderer oder solche mit Behinderungen aussondern sollten, zusammen mit jenen, die »wahrscheinlich dem Staat zur Last fallen« würden (darunter auch die meisten alleinstehenden Frauen). Weltweit lebten Millionen von Menschen in Regionen, denen man die politische Selbstbestimmung verweigerte und die zugunsten der Europäer und Nordamerikaner ausgebeutet wurden. Der internationale Handel war zwar für 12alle beteiligten Parteien von Nutzen, doch er vergrößerte auch die Ungleichheit zwischen reichen und armen Ländern. Und innerhalb der industrialisierten Länder nutzte die Globalisierung nicht allen gleichermaßen. Es gab eindeutige Gewinner und Verlierer.5

Keynes räumte all das freimütig ein. Die Vorteile der Globalisierung seien nicht gleichmäßig verteilt worden. Doch Ungleichheit habe im 19. Jahrhundert als notwendige Folge des Fortschritts gegolten. »Der größere Teil der Bevölkerung arbeitete freilich hart und hatte eine niedrige Lebenshaltung, war aber allem Anschein nach mit diesem Lose einigermaßen zufrieden.« Und zwar weil man an die Chancen sozialer Mobilität glaubte. »Denn für jeden irgend über den Durchschnitt Fähigen und Willenskräftigen war der Aufstieg in die Mittel- und Oberklasse möglich.«6

Der Krieg zerstörte diese Illusionen. Das Ausmaß der gebrachten Opfer ließ in der breiten Masse der Menschen Forderungen nach sofortiger Gerechtigkeit aufkommen. In ganz Europa und der ganzen Welt gingen Arbeiter, Frauen und in den Kolonien Unterworfene auf die Straße, um Selbstbestimmung und größere Gleichheit zu verlangen. In Russland entfachte die Unzufriedenheit eine Revolution, die sich anscheinend westwärts auszubreiten drohte. Die Räder der globalen Integration kamen knirschend zum Stillstand. Das könne für Westeuropa und die Welt katastrophale Folgen haben, warnte Keynes: »Vor uns steht ein leistungsunfähiges, arbeitsloses, desorganisiertes Europa, zerrissen vom Haß der Völker und von innerem Aufruhr, kämpfend, hungernd, plündernd und schwindelnd.«7

Seine Warnung erwies sich als weitsichtig. Das Zeitalter des Antiglobalismus sollte noch zwei weitere Jahrzehnte fortdauern, unterbrochen von der größten weltweiten Wirtschaftskrise der Geschichte, der Weltwirtschaftskrise. Auch sollte der Streit nicht durch einen neuen Vertrag oder einen friedfertigen Handschlag überwunden werden. Die US-amerikanische Journalistin Dorothy Thompson schrieb 1931 aus Berlin: »Schaut man auf Europa, von den Britischen Inseln bis zum Balkan, muss man zugeben, dass die Welt sich nach zwölf Jahren Völkerbund, dem Internationalen Gerichtshof […], multilateralen Ver13trägen, dem Briand-Kellogg-Pakt, der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich und Abrüstungskonferenzen von der internationalen Auffassung abwendet, ihre Sachen packt und nach Hause geht.«8

Warum und in welcher Weise wandten sich nach 1918 so viele Menschen gegen die Welt? Und welche Folgen hatte diese antiglobalistische Wende? Dieses Buch versucht, diese Fragen zu beantworten. Dabei zeichnet es die Geschichte Europas in der Zwischenkriegszeit nicht nur als Kampf zwischen Faschismus und Kommunismus, Demokratie und Diktatur, sondern auch als einen Wettstreit um die Zukunft der Globalisierung und des Globalismus. Die Zeit zwischen den zwei Weltkriegen war bestimmt von Versuchen, die wachsenden Spannungen zwischen der Globalisierung auf der einen Seite, Gleichheit, staatlicher Selbstbestimmung und Massenpolitik auf der anderen aufzulösen.

Auf meinem Weg durch Zeit und Raum möchte ich die unterschiedlichsten Menschen, die sich an dieser Debatte beteiligten, zu Wort kommen lassen und aufzeigen, wie ihre Stimmen sich in ihrer alltäglichen lokalen Umgebung wie auch auf der Ebene nationaler und internationaler Politik auswirkten. Zu den Protagonistinnen und Protagonisten zählen diverse berühmte und berüchtigte Gestalten – Diktatoren, Internationalistinnen, Industrielle und Ökonomen. Aber auch viele Menschen an den Rändern der Geschichte, darunter Auswanderinnen, Textilarbeiter, Ladenbesitzer, arbeitslose Kriegsveteranen, radikale Gärtner und desillusionierte Siedlerinnen.

Ohne jeden Zweifel gingen weltweite Mobilität und Welthandel in dieser Zeit zurück.9 Einerseits war der Erste Weltkrieg eben ein »globaler« Krieg. Er mobilisierte menschliche und materielle Ressourcen in der ganzen Welt und erhöhte die internationale Verflechtung der Finanzwelt durch ein gigantisches Netz aus internationalen Schulden (vor allem gegenüber den USA).10 Zugleich führte der Krieg jedoch auch zu beispiellosen Versorgungsengpässen. Die Kosten für Seefracht verdreifachten sich, und die Inflation schoss in die Höhe. Unterdessen führten Staaten neue Zölle, Devisenkontrollen und andere 14Schutzmaßnahmen ein, um ihre jeweiligen Feinde von der Versorgung abzuschneiden.11 Nach Schätzungen von Wirtschaftshistorikern verringerte sich der Welthandel nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges um 25 Prozent und erreichte sein Vorkriegsniveau erst wieder 1924. In den späten zwanziger Jahren gab es eine kurze Wachstumsphase, doch der gesamte Zuwachs ging in der Weltwirtschaftskrise wieder verloren. Bis 1933 war der Welthandel gegenüber dem Niveau von 1929 um 30 Prozent zurückgegangen und lag damit fünf Prozent unter dem Niveau von 1913. Die Wachstumsraten aus der Vorkriegsperiode erreichte der Welthandel erst wieder in den siebziger Jahren.12

Die transatlantische Migration, die mit 2,1 Millionen Menschen 1913 einen Höhepunkt erreicht hatte, kam während des Ersten Weltkrieges fast vollständig zum Erliegen und erholte sich erst nach Kriegsende wieder. Die weltweiten Migrationsraten blieben auch in den zwanziger Jahren hoch, vor allem in Asien, doch die Weltwirtschaftskrise sorgte weltweit für einen Rückgang der Mobilität. Der Grund lag zum Teil in einer verringerten Nachfrage nach Arbeitsmigranten, aber auch in der Schließung von Grenzen sowie Beschränkungen der Migration und der Mobilität. Auch die globale Kommunikation verlangsamte sich. Nachrichten, die 1913 über das Telegrafennetz innerhalb eines einzigen Tages von Europa nach New York oder Australien gerast waren, brauchten 1920 Wochen dazu. Und der Goldstandard, Motor der globalen finanziellen Integration, brach während des Ersten Weltkrieges zusammen und wurde in den dreißiger Jahren fallengelassen, zuerst von Großbritannien (1931), dann von den Vereinigten Staaten (1933) und schließlich auch von Frankreich und anderen europäischen Mächten.13

Diese Zahlen und die gesamte Wirtschaftsgeschichte der Globalisierung und Deglobalisierung zwischen den beiden Weltkriegen sind von entscheidender Bedeutung.14 Mein Fokus liegt jedoch eher auf den Graswurzelursprüngen und menschlichen Folgen der aus der breiten Masse kommenden Revolte gegen die Globalisierung, sowohl bei bekennenden Globalisten wie Keynes und Zweig als auch bei Menschen, die in der Globalisierung eine Bedrohung für ihre Forderungen 15nach mehr Gleichheit und Stabilität erblickten. Es war diese im Volk verbreitete Ablehnung der Globalisierung, die letztlich deren Zusammenbruch und Transformation verursachte. Bei vielen Menschen entstand der Antiglobalismus schon mit der beschleunigten Globalisierung im späten 19. Jahrhundert, doch in den zwanziger und dreißiger Jahren wurden die Forderungen der Antiglobalisten von politischen Parteien und Regierungen aufgegriffen. Ihre Bemühungen um einen höheren Selbstversorgungsgrad des Einzelnen, der Familie und des Staates hatten durchwachsene Erfolge, aber bleibende Folgen.

Ich verwende den Ausdruck »Antiglobalismus« mit Blick auf politische, soziale und kulturelle Bewegungen, die ihre jeweilige Gesellschaft gegen die Weltwirtschaft abzuschotten versuchten, indem sie gegen eine Politik, gegen Menschen und gegen Institutionen mobilmachten, die in einen Zusammenhang mit Globalisierung und/oder Internationalismus gebracht wurden. Manchmal erreichten solche Bewegungen eine »Deglobalisierung«, eine tatsächliche Verlangsamung oder Beschneidung transnationaler Ströme von Menschen, Ideen, Gütern oder Kapital. Meist versuchten die in diesem Buch genannten Akteure jedoch nur, die Bedingungen zu verändern, unter denen die Globalisierung stattfand. Sie zielten nicht auf eine vollständige Sperrung der Ströme von Menschen, Gütern oder Kapital, sondern eher auf deren Restrukturierung und Reorientierung.

Die Menschen und Bewegungen, von denen hier die Rede ist, verwendeten den Ausdruck »Deglobalisierung« zu ihrer Zeit allerdings nicht. Sie sprachen von »Freiheit« versus Abhängigkeit von der Weltwirtschaft, »Nationalismus« versus »Internationalismus«, »Selbstbestimmung« und deren Missachtung. Sie setzten sich für »Autarkie«, »wirtschaftliche Unabhängigkeit« und »Selbstversorgung« ein. Ich verwende die Ausdrücke »Globalisierung« und »Deglobalisierung« daher bewusst anachronistisch, so dass es hier stets einer Kontextualisierung bedarf.

Die Ausdrücke »Globalisierung« und »Deglobalisierung« kamen in den neunziger Jahren weithin in Gebrauch, als eine bestimmte Art von marktliberalem Kapitalismus und globaler Integration als die un16aufhaltbare Siegerin der Geschichte erschien. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa 1989 begannen viele Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler sowie Journalistinnen und Journalisten so über »Globalisierung« zu reden, wie sie zuvor über »Modernisierung« gesprochen hatten. Es schien sich um eine unaufhaltsame Kraft zu handeln, die nur eine einzige Richtung kannte. McDonald's hatte gerade das erste Geschäft in Moskau eröffnet, das globale Finanzsystem befand sich im Aufstieg, und eine Innovation namens World Wide Web brachte die Menschen in einen immer beständigeren Kontakt zueinander. Viele Ökonomen meinten in den neunziger Jahren und danach, die »Globalisierung« sei ein »natürlicher ökonomischer Prozess«, der sich immer weiter beschleunigen werde, sofern er von staatlichen Eingriffen frei bleibe. In der Deglobalisierung (einschließlich derjenigen in der Zwischenkriegszeit) sahen sie dagegen die Folge eines »unnatürlichen« staatlichen Eingriffs in diesen Prozess.15 Doch wer vorausschauen wollte, brauchte nur zurückzuschauen. Die Geschichte Europas zwischen 1918 und 1939 zeigt sehr deutlich, dass die Geschichte der Globalisierung immer wieder durch Pausen und Versuche einer Umkehrung des Prozesses unterbrochen wurde.

Wie der Historiker Stefan Link dargelegt hat, »unterschätzt« die Vorstellung, Globalisierung sei »natürlich«, Deglobalisierung dagegen »politisch«, ganz fundamental die »Politik der Globalisierung«. An der Intensivierung der Globalisierung im 19. Jahrhundert sei nichts »natürlich« oder apolitisch gewesen. Sie sei auch nicht von einer unsichtbaren Hand gelenkt worden. Imperialistische Staaten und deren Armeen hätten generell garantiert, dass ihre Kolonien offen für ausländische Investitionen waren und Schuldner ihre internationalen Schulden beglichen. In Großbritannien war die Zustimmung der Massen in eine politische Volkskultur eingebettet, die aktiv durch politische Kampagnen gestützt werden musste.16 Selbst in der Zeit der größten Beschleunigung der Globalisierung war der »Freihandel« eher eine britische Ausnahme als die Regel. Nach einer kurzen Phase größerer Offenheit in den 1860er und 1870er Jahren schossen die Zollmauern auf dem europäi17schen Kontinent wieder in die Höhe. Otto von Bismarcks berüchtigte Koalition aus reichen Industriellen und Großgrundbesitzern forderte Schutz für Eisen und Roggen. Frankreich, Österreich-Ungarn und andere europäische Staaten folgten mit ihrer Zollpolitik rasch diesem Beispiel. Die Vereinigten Staaten hielten bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges an ihren hohen Schutzzöllen fest.17

Der gleichzeitige Aufstieg einer auf Globalisierung zielenden und einer antiglobalistischen Politik ist durchaus kein Widerspruch. Während die Ausdrücke »Globalisierung« und »Deglobalisierung« polare Gegensätze zu sein scheinen, waren Globalismus und Antiglobalismus ebenso wie Internationalismus und Nationalismus oft zwei Seiten ein und derselben Medaille. Diese Gleichzeitigkeit war fest in den Grundlagen internationalistischer Projekte verankert und stärkte im späten 19. Jahrhundert beschleunigt den internationalen Zusammenhalt. Als das Zeitalter der Globalisierung erst einmal begonnen hatte, so erklärt der Historiker Jürgen Osterhammel, trat »die globale Dimension von Konflikt und Kooperation […] hervor: Man konnte einander nicht mehr entrinnen.«18

Selbst zwischen den beiden Weltkriegen flossen die globalen Ströme oft in neue Kanäle und nahmen eine neue Gestalt an, statt bloß anzuwachsen oder zu schrumpfen. Sogar die radikalsten Antiglobalisten strebten nur selten nach einer totalen Isolation von der Weltwirtschaft oder einer vollkommenen Autarkie (und erst recht erreichten sie so etwas nie). Sie bemühten sich um eine Globalisierung nach ihren eigenen oder zumindest nach besseren Bedingungen.19 Und auch die Antiglobalisten organisierten sich in transnationalen Netzwerken, wie von Zeitgenossen häufig bemerkt wurde. »Die einzige Internationale, die gegenwärtig Siege davonzutragen scheint, ist die Internationale der Antiinternationalisten.«20

Auch ist »Antiglobalismus« nicht bloß eine andere Bezeichnung für den Nationalismus, der seit Langem schon als eine für die Welt von 1918 bestimmende politische Kraft anerkannt ist.21 Nationalismus und Antiglobalismus waren (und sind) eng miteinander verbunden. Es gibt jedoch zahlreiche Kontexte, in denen Nationalismus und Anti18globalismus getrennte Wege gingen. So vertraten die antikolonialistischen Verfechter ökonomischer Selbstversorgung im Indien der Zwischenkriegszeit selbstbewusst universalistische und »globalistische« politische Ziele. Sie argumentierten, größere wirtschaftliche Unabhängigkeit würde zu einem echteren Internationalismus führen, der eher auf Zusammenarbeit als auf Ausbeutung basiere.22 Auch in den zwanziger und dreißiger Jahren in der Diaspora anwachsende nationalistische Bewegungen waren zugleich internationalistisch und nationalistisch. Viele europäische Sozialisten riefen in den zwanziger und dreißiger Jahren nach politischem Internationalismus, versuchten jedoch zugleich, Arbeiterschaft und Industrie im eigenen Land vor ausländischer Konkurrenz zu schützen. In diesem Buch werden wir politischen Internationalisten begegnen, die sich für ökonomische Autarkie einsetzten. Wir werden Nationalisten begegnen, die den Welthandel förderten; Imperialisten, die ihre Kolonialreiche als einen Weg zu größerer Autarkie verstanden; und Menschen, deren Ansichten zur Weltwirtschaft schlichtweg eklektisch oder widersprüchlich waren.

Sogar die glühendsten Anhänger der Globalisierung änderten gelegentlich ihre Meinung. Keynes verfasste 1933 einen berühmten Artikel, in dem er sich für größere nationale Autarkie einsetzte. Sein Aufsatz las sich wie eine Bekehrungsgeschichte. »Wie die meisten Engländer bin ich mit dem Respekt vor dem Freihandel nicht nur im Sinne einer Wirtschaftsdoktrin großgeworden, die kein rational denkender und gebildeter Mensch in Frage stellen könne, sondern fast schon im Sinne eines moralischen Gebots. Ich betrachtete Abweichungen von dieser Lehre als dumm und empörend.« In den Jahren nach dem Weltkrieg hatte sich seine Sicht jedoch verändert. Inzwischen fühlte er sich »mehr jenen verbunden, die dafür eintreten, die volkswirtschaftlichen Verflechtungen auf ein Mindestmaß zu beschränken, als jenen, die eine möglichst große Verflechtung anstreben«. Und er war der Ansicht, Güter »sollten besser, wenn immer es vernünftiger- und praktischerweise möglich ist, einer heimischen Produktion entspringen. Vor allem aber sollte die Finanzwirtschaft vorrangig national sein.«23

Als die Nazis Stefan Zweig die österreichische Staatsbürgerschaft 19aberkannten, war der Schriftsteller gezwungen, sich den Grenzen seiner Identität als Weltbürger zu stellen. In seinen Lebenserinnerungen schrieb er: »Es hat mir nicht geholfen, daß ich fast durch ein halbes Jahrhundert mein Herz erzogen, weltbürgerlich als das eines ›citoyen du monde‹ zu schlagen. Nein, am Tage, da ich meinen Paß verlor, entdeckte ich mit achtundfünfzig Jahren, daß man mit seiner Heimat mehr verliert als einen Fleck umgrenzter Erde.«24

Die Revolte gegen die Globalisierung war die Folge zweier Entwicklungen, die im 19. Jahrhundert miteinander zusammenstießen: der beschleunigten Globalisierung nämlich und der Massenpolitik. Die Welt hatte sich schon seit Jahrhunderten »globalisiert«, durch koloniale Eroberung, durch Forschungsreisen und durch die Erweiterung der Handelsnetze. Geschwindigkeit und Umfang der Integration hatten sich in den 1880er Jahren jedoch weitgehend aufgrund neuer Technologien beschleunigt. Eisenbahn, Dampfschiffe, Telegrafen, Postdienste und Presseberichte transportierten Güter, Menschen, Information und Krankheiten mit ungeahnter Geschwindigkeit und in bislang unvorstellbaren Mengen. Wissenschaftler, Künstler, Sozialreformer und Politiker kamen auf großen internationalen Kongressen zusammen, um ihre Ideen auszutauschen. Der Goldstandard, der den Welthandel und transnationale Investitionen beträchtlich erleichterte, ermöglichte eine größere Internationalisierung des Bankwesens und der Finanzwirtschaft. Immer entlegenere Winkel der Erde wurden in den Strudel der globalen Wirtschaft hineingesogen. Land- und Textilarbeiter in Polen wussten um die höheren Löhne in Chicago und New York (und machten sich bereit, den Atlantik zu überqueren). Schuhfabriken in der Tschechoslowakei und Massachusetts konkurrierten mit Schuhmachern in Japan. Die wechselseitige Abhängigkeit in der Welt nahm zu, und das nicht nur bei Arbeitskraft und Konsumgütern, sondern auch bei Grunderzeugnissen wie Nahrungsmitteln und Energie.25

Wenn die globale Integration insgesamt für größeren Wohlstand sorgte, wie neoklassische Ökonominnen und Ökonomen behaupten, 20so war dieser Wohlstand doch nicht gleichmäßig verteilt. Während der Welthandel einigen europäischen Verbrauchern ermöglichte, billiges Fleisch und Brot zu essen, spiegelten sich in diesen Preisen nicht unbedingt auch die wahren Kosten einer globalisierten Nahrungsmittelkette einschließlich der Auswirkungen auf Arbeitsbedingungen und Umwelt.26 Die Migration hatte gleichfalls echte Gewinner und Verlierer. Nach Schätzungen von Ökonomen sanken die Löhne in den USA in der Phase der Masseneinwanderung in die Vereinigten Staaten zwischen 1870 und 1910 um etwa acht Prozent. Auf städtischer Ebene war der Zuwachs der Bevölkerung ausländischer Herkunft um ein Prozent statistisch mit einem Rückgang der Arbeitslöhne um 1-1,5 Prozent verbunden.27

Das Problem der zunehmenden Ungleichheit wurde noch durch den Goldstandard verschärft. Dieser war bis in die dreißiger Jahre hinein die Eintrittskarte zum Welthandel, beschränkte jedoch massiv die Möglichkeiten des Staates, auf Wirtschaftskrisen zu reagieren. Bei einem ökonomischen Abschwung waren Regierungen gezwungen, die Löhne zu senken oder die Ausgaben zu beschneiden, wenn sie den Wert ihrer Währung gegenüber dem Goldpreis erhalten wollten. Die Verknappung des Geldes nutzte all jenen, die wie Banken oder Kreditgeber Geld bereitstellten, aber sie schadete der arbeitenden Bevölkerung und den Schuldnern – etwa den Farmern im Mittleren Westen der USA, die Ende des 19. Jahrhunderts die US-amerikanische populistische Bewegung unterstützten. Als der populistische Präsidentschaftskandidat William Jennings Bryan 1896 erklärte, er werde sich nicht daran beteiligen, »die Menschheit an ein goldenes Kreuz zu nageln«, sprach er sich für eine Erhöhung der Geldmenge aus, um den Farmern zu helfen, ihre erdrückenden Schulden zu tilgen (eine Inflation hätte diese Schulden zum Verschwinden gebracht). Auf die Weltwirtschaftskrise reagierten europäische Regierungen anfangs mit dem erneuten Versuch, die Ausgaben zu kürzen, am Goldstandard festzuhalten und ihre Schulden (vor allem gegenüber den Vereinigten Staaten) pflichtgemäß zu zahlen. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg hatte eine gewisse Dosis Sparpolitik die Weltwirtschaft kuriert. Ein Jahr21zehnt später hätte dieselbe Behandlung den Patienten beinahe getötet.28

Die globale Integration beeinträchtigte die Souveränität der Staaten noch in anderer Weise. Nach dem Ersten Weltkrieg bemühten sich internationale Organisationen wie der Völkerbund um die Erholung der Weltwirtschaft, indem sie vom Krieg ruinierten Ländern (wie Österreich) beim wirtschaftlichen und finanziellen Wiederaufbau halfen. Als Gegenleistung für Wiederaufbau- und Entwicklungskredite mussten diese Staaten sich allerdings der Aufsicht internationaler Institutionen unterwerfen. Die zwischen den beiden Weltkriegen geschaffenen internationalen Wirtschaftslenkungsinstrumente wurden zur Grundlage für heutige Institutionen wie die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds (IWF), die gleichfalls an erhebliche Bedingungen geknüpfte Kredite und Entwicklungshilfen gewähren. Seit ihren Anfängen in den zwanziger Jahren lösen sie verbreitete Proteste aus. Die Kosten der »Zugehörigkeit« zur Weltwirtschaft, so argumentierten manche, seien einfach zu hoch.29 Fantasien, wie man diesem globalen System vollständig entkommen oder wenigstens innerhalb des Systems eine größere individuelle oder nationale Unabhängigkeit gewinnen könne, verstärkten sich in diesem Umfeld.

Es wäre indessen ein Irrtum, wenn man diese Geschichte allein mit Blick auf ökonomische Gewinner und Verlierer erzählen wollte. Viele Menschen, die in den zwanziger und dreißiger Jahren die Bedingungen der Globalisierung und des Globalismus in Frage stellten, reagierten damit auf ganz unmittelbare ökonomische Bedrohungen: die Gefahr, den Arbeitsplatz oder die erreichte Lohnhöhe, den eigenen Hof oder das eigene Haus zu verlieren. Oft reagierten sie jedoch auch auf kulturelle oder soziale Veränderungen, die entweder aus der Globalisierung resultierten oder ihr auch nur in die Schuhe geschoben wurden. Die Masseneinwanderung veränderte die materielle Umwelt von Städten in Europa und Nordamerika, brachte neue Klänge, Ansichten und Gerüche in die Straßen.30 Die Massenauswanderung zerstörte familiäre Bande, trennte Ehefrauen von ihren Ehemännern, Eltern von ihren Kindern, und das zuweilen auf Dauer. Die Einmischung in22ternationaler Institutionen wie des Völkerbunds in die »Innenpolitik« und den Staatshaushalt einzelner Länder löste starke Gefühle der Ungerechtigkeit aus, vor allem wenn die Regeln nicht auf alle gleiche Anwendung fanden. Individuen und Staaten fürchteten eine Abhängigkeit von ausländischen Mächten bei Grundnahrungsmitteln und Rohstoffen, und zwar sowohl aus ökonomischen als auch aus politischen, kulturellen und existenziellen Gründen. Gefühle waren von zentraler Bedeutung für die Geschichte des Antiglobalismus. Die Worte und Taten der Globalisten und Internationalisten, die zutiefst an den moralischen und segensreichen Charakter ihrer Visionen einer globalen Integration glaubten, waren nicht minder emotional.

Gefühle waren auch von berüchtigt großer Bedeutung für die zweite Kraft hinter dem Antiglobalismus, den Aufstieg der Massenpolitik oder das, was der Historiker Carl Schorske einen »neuen Ton in der Politik« genannt hat.31 Die Massenpolitik begann mit der schrittweisen Erweiterung des Wahlrechts im 19. Jahrhundert. Im Jahr 1880 waren die meisten Staaten in Europa noch Monarchien (Frankreich und die Schweiz bildeten hier eine Ausnahme). Doch in der Mehrzahl dieser Staaten gab es auch Institutionen der Selbstverwaltung wie nationale oder regionale Parlamente, Dorf- und Stadträte. In Frankreich und Deutschland bestand bei der Wahl nationaler Parlamente für Männer ein allgemeines Wahlrecht. In Großbritannien erhielten 1884 fast alle Männer über 30 das Wahlrecht. In den meisten anderen Gesellschaften begann man mit stärker eingeschränkten Wahlrechtssystemen. Nur Männer, die jährlich ein bestimmtes Minimum an Steuern zahlten oder einen hohen Bildungsgrad besaßen, erhielten das Wahlrecht. Um die Wende zum 20. Jahrhundert wurden jedoch auch diese restriktiven Systeme demokratischer.

Die Erweiterung des Wahlrechts schuf Raum für neue politische Bewegungen und Parteien, die Arbeiter, Bauern sowie Handwerker und Ladenbesitzer aus der unteren Mittelschicht zu repräsentieren versuchten. Dazu gehörten sowohl linke als auch rechte Parteien mit sozialistischen, christlichsozialen, populistischen und nationalistischen 23Programmen. Durch die Bemühungen politischer Parteien, neue Wählerschichten zu erreichen, veränderte sich das politische Leben. Es glich nun eher einem Spektakel oder einer Form von Unterhaltung. Die Politik fand auf den Straßen und nicht nur in den Parlamenten statt; die Politiker bedienten sich einer radikaleren, extremeren Rhetorik und Taktik, um Wähler zu gewinnen. Auch kommunizierten sie auf neuen Wegen, da Bandbreite und Verbreitung der Presse sich erweiterten und Sensationsjournalisten um die Gunst eines breiteren Publikums konkurrierten. Der Erste Weltkrieg führte zu einer weiteren Politisierung und Radikalisierung der Arbeiter, der Frauen und der Untertanen in den Kolonien. 1920 durften sich Neuwähler in gewaltiger Zahl (darunter Millionen von Frauen) erstmals an den Wahlen beteiligen. Es bestand ein direkter Zusammenhang zwischen Demokratisierung, dem Aufstieg der Massenpolitik und der Revolte gegen die Globalisierung. Menschen, die von negativen Auswirkungen der globalen Integration betroffen waren, hatten nun die Möglichkeit, sich an der Wahlurne und auf der Straße dagegen zu äußern.

Der Aufstieg von Massenparteien wie den Sozialdemokraten oder den kommunistischen Parteien und von faschistischen Parteien wie den Nationalsozialisten war von zentraler Bedeutung für den Aufstieg des Antiglobalismus in den zwanziger und dreißiger Jahren. Die Mobilisierung gegen die Globalisierung reichte jedoch weit über den Bereich organisierter Parteipolitik hinaus. Politische Parteien und Staaten folgten hier oft dem Vorbild von Basisbewegungen wie etwa den Kleingärtnern, die Ende des Ersten Weltkrieges in Wien auf die Straße gingen. Ganz allgemein nahmen politische Parteien und Regierungen – von New-Deal-Demokraten und antikolonialistischen Nationalisten bis hin zu Faschisten – in den zwanziger und dreißiger Jahren zahlreiche Forderungen populärer antiglobalistischer Bewegungen in ihre Programme auf. Von Zöllen und Einwanderungsbeschränkungen bis hin zu Zurück-aufs-Land-Bewegungen und Konsumentenboykotten verfolgten Staaten nun eine Politik, die darauf aus war, die grenzüberschreitende Mobilität von Menschen, Gütern, Krankheitserregern und Kapital zu beschränken.

24Hinter den antiglobalistischen Bewegungen, die in ganz Europa und darüber hinaus aufkamen, standen Menschen, die sich als Opfer der Globalisierung empfanden. Dazu gehörten Frauen und Kinder, die aufgrund der Handelsblockaden des Ersten Weltkrieges hungern mussten, weil sie keinen Zugang mehr zu Importgetreide oder importierten Tomaten hatten; Eltern, die ihre Kinder durch Auswanderung verloren; ebendiese jungen Auswandererinnen und Auswanderer, die unter unmenschlichen Bedingungen in ausländischen Fabriken und Bergwerken schufteten; kleine Ladenbesitzer und Bauern, die durch Ladenketten oder ausländische Konkurrenz in den Bankrott getrieben wurden; koloniale Untertanen, für die Globalisierung mit kolonialer Ausbeutung verbunden war; und später Millionen von Menschen, deren Lebensunterhalt durch die Weltwirtschaftskrise oder andere außerhalb ihrer Kontrolle stehende weltwirtschaftliche Kräfte vernichtet worden war.

Doch auch der Antiglobalismus hatte zahlreiche Opfer, etwa die Millionen von Menschen, die nationalen oder religiösen Minderheiten angehörten und nun verfolgt wurden, weil Nationalstaaten jeglichen Kosmopolitismus ablehnten. Jüdinnen und Juden, Sozialisten, Frauenrechtlerinnen und Internationalisten waren die bevorzugten Sündenböcke der Antiglobalisten, außerdem Unternehmen und Branchen, die sich im Besitz von Minderheiten oder Ausländern befanden. Auch Staatenlose und Flüchtlinge gehörten zur großen Zahl der Opfer des Antiglobalismus, da sie in einer Welt geschlossener Grenzen nun heimatlos waren.

Antiglobalismus und Antiinternationalismus erhielten gewaltigen Auftrieb in Staaten, die zu den Verlieren des Ersten Weltkrieges gehörten wie Deutschland, Österreich und Ungarn. Während des Krieges hatten die Staaten der Entente eine erfolgreiche Blockade über Deutschland und Österreich-Ungarn verhängt. Ihr Ziel war es, die Mittelmächte daran zu hindern, ihre Bevölkerung einschließlich der Zivilbevölkerung mit lebenswichtigen Nahrungsmitteln und sonstigen Gütern zu versorgen. Die Historikerinnen und Historiker streiten noch immer 25über die Anzahl der Hungertoten – ob mehr als 700 ‌000 oder eher näher bei 400 ‌000. Wie auch immer, viele Mitteleuropäer zogen aus dieser Erfahrung die Lehre, dass ihre Länder niemals wieder abhängig von Lebensmittelimporten sein durften.32

Bürgerinnen und Bürger dieser Staaten hatten während des Ersten Weltkrieges große Opfer gebracht. Sie verloren ihre Väter, Ehemänner und Söhne. Sie hatten hilflos zusehen müssen, wie ihre Kinder vor Hunger weinten. Am Ende des Krieges waren viele Menschen aus dem gesamten politischen Spektrum zutiefst verbittert, nicht nur wegen des sinnlosen Blutvergießens, sondern auch wegen der als kleinherzige Rache der Sieger empfundenen Friedensbedingungen. Besonders erzürnt waren sie über ihre Gebietsverluste, den Verlust des Reiches und den Fortfall lebenswichtiger Ressourcen. Österreich und Ungarn verloren jeweils nahezu zwei Drittel ihres früheren Staatsgebiets, während Deutschland 12,2 Prozent seines Staatsgebiets und alle seine Kolonien abtreten musste. Das machte es noch schwieriger, aber zugleich auch unerlässlicher, genügend Nahrungsmittel anzubauen und ausreichend Kohle zu fördern, um in der Erholungsphase nach dem Krieg den Kalorien-, Wärme- und Energiebedarf der Bevölkerung und der Industrie zu decken. Die Kriegsverlierer fühlten sich außerdem noch gedemütigt durch die neue internationale Ordnung, die ihre Verkörperung in den Pariser Friedensverträgen und dem Völkerbund fand.33

Deshalb nimmt Mitteleuropa in dieser Geschichte eine besondere Stellung ein. Das Habsburgerreich, das vor dem Krieg die größte Freihandelszone in Europa gewesen war, wurde oft als eine Art Weltwirtschaft en miniature dargestellt.34 Die Auflösung des Reiches in mehrere verfeindete Nationalstaaten, in denen ein extremer Wirtschaftsnationalismus herrschte, empfanden viele Zeitgenossen als einen Mikrokosmos der implodierenden Weltwirtschaft. Mitteleuropa wurde jedoch auch zu einem Versuchsfeld für den Wiederaufbau und die Rehabilitierung der Globalisierung und des Internationalismus. Die Historikerin Natasha Wheatley hat überzeugend dargelegt, dass die Region »Ground Zero« für die Schaffung einer neuen internationalen Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg war.35 Und das nicht nur, weil die 26Nachfolgestaaten des Habsburgerreichs als »unreife« Demokratien angesehen wurden, die einer internationalen (westlichen) Vormundschaft bedurften, sondern auch, weil nach 1918 so viele neue internationale Organisationen ins östliche Mitteleuropa strömten, um das durch den Zusammenbruch des Habsburgerreichs hinterlassene Vakuum zu füllen.36

Seit einigen Jahren schenken Historikerinnen und Historiker diesen neuen Formen von Internationalismus in der Zwischenkriegszeit beträchtliche Aufmerksamkeit.37 Zweifellos gaben nicht alle Internationalisten und Globalisten zwischen 1918 und 1939 einfach auf. Es gab Zeiten (und Nischen), in denen mehr oder weniger Hoffnung auf eine globale oder internationale Zusammenarbeit bestand. Dazu gehörte eine kurze Phase der Stabilität Mitte der zwanziger Jahre, als die Aussichten vielversprechend zu sein schienen, selbst in Deutschland, das 1926 dem Völkerbund beitrat. In den späten dreißiger Jahren räumten Ökonomen und andere Experten des Völkerbunds das Scheitern ihrer Bemühungen ein, die Weltwirtschaft mit traditionellen Mitteln (wie diplomatischen Übereinkünften zur Senkung der Zölle und zur Stabilisierung der Währungen) wiederzubeleben, und entwickelten neue, fortschrittlichere Zukunftsvisionen, zu denen auch ein direkter Kampf gegen die weltweite Ungleichheit und Armut gehörte. Sie starteten Programme, die die Entwicklungspolitik der Nachkriegsstaaten im sozialistischen Block und im Globalen Süden vorwegnahmen.

Der florierende Internationalismus der Zwischenkriegszeit war daher aufs Engste mit dem Antiglobalismus derselben Zeit verbunden und ist von zentraler Bedeutung für dieses Buch. Das heißt jedoch nicht, dass wir das deprimierende Gefühl des Scheiterns, der Vergeblichkeit und der Mutlosigkeit vergessen dürfen, das viele Internationalisten in den dreißiger Jahren befiel. »Premierminister verbringen die Hälfte ihrer Zeit in internationalen Zügen, aber nicht auf dem Weg nach Genf«, witzelte Thompson.38 Bemerkenswert ist, dass Historikerinnen und Historiker in den letzten Jahrzehnten die Archive eifrig nach Beispielen für Internationalismus und transnationale oder globa27le Verbindungen durchstöberten, die Existenz des Widerstands gegen Globalisierung und Internationalismus aber weitgehend ignorierten. Das war seinerseits Ausdruck der Globalisierungsphase zwischen 1989 und 2008, die Hunderte von Büchern zur Geschichte des Internationalismus und des transnationalen oder globalen Verkehrs von Menschen, Ideen, Gütern und Kapital hervorbrachte. Wir alle (auch ich) waren darauf aus, über den Nationalstaat »hinauszublicken«, denn darin spiegelte sich die Welt, in der wir damals lebten. Dieses Buch – mit seiner Betonung der hinter dem Antiglobalismus stehenden Politik für die breite Masse – ist in diesem Sinne auch eine Geschichte der Gegenwart.

Mitteleuropa war zwar ein Epizentrum des Antiglobalismus, doch es wäre ein Irrtum anzunehmen, dieser wäre nur in zertrümmerten Reichen oder auf den Faschismus zusteuernden Staaten auf fruchtbaren Boden gefallen. Eines der erstaunlichsten Kennzeichen des Antiglobalismus in der Vergangenheit wie in der Gegenwart ist seine politische Promiskuität. »Das auffälligste Merkmal des Wirtschaftslebens im heutigen Europa ist die allenthalben, von England bis in die Türkei zu beobachtende Bewegung hin zur Autarkie, wie die Deutschen dies nennen«, schrieb Thompson. Antiglobalistische Bewegungen gewannen in den dreißiger Jahren in ganz Europa, den Vereinigten Staaten und darüber hinaus an Boden, auf der Rechten wie auf der Linken, in den widerstandsfähigsten Demokratien und in den Parlamenten von kleinen Staaten wie auch von Großmächten.39

Dass die Zielsetzungen der Antiglobalisten auf der Rechten und der Linken einander überschnitten, war in gewissem Maße Ausdruck der Tatsache, dass es sich um dieselben Leute handelte. Mehrere der Dramatis Personae dieses Buches wechselten quer über das politische Spektrum. Benito Mussolini begann sein politisches Leben bekanntlich als Sozialist. Henry Ford mochte im frühen 20. Jahrhundert als Paradebeispiel eines Globalisten gegolten haben. Seine Automobile und Produktionsverfahren wurden in die ganze Welt exportiert und brachten ihm Millionen ein. Zu Beginn der Ersten Weltkrieges war 28er ein überzeugter Pazifist, der es sich zur Aufgabe machte, mit Hilfe der progressiven jüdischen Feministin und Internationalistin Rosika Schwimmer Europa den Frieden zu bringen. Doch Fords Pazifismus und seine Weigerung, sich in den Weltkrieg verwickeln zu lassen, resultierten gerade aus seiner feindseligen Haltung gegenüber internationalen Finanziers und ausländischen Verstrickungen. Bis zu den zwanziger und dreißiger Jahren hatte er sich weiter nach rechts bewegt und war nun berüchtigt für seinen Antisemitismus, seinen Isolationismus und seine Unterstützung der »Zurück-aufs-Land-Bewegungen«, die es den Fabrikarbeitern ermöglichen sollten, zwischen den Arbeitsschichten ihre eigenen Nahrungsmittel anzubauen. Auch Ideen überquerten problemlos politische Grenzlinien, die ohnehin uneindeutig waren. Deutsche Lebensreformer, die sich um die Wende zum 20. Jahrhundert für ein »natürliches« Leben, für Gartenstädte und regionale Ernährung einsetzten, inspirierten nach 1918 linke und rechte Antiglobalisten gleichermaßen. Und der Populismus, eine wichtige treibende Kraft hinter dem Antiglobalismus, ist von jeher politisch amorph und verbindet häufig eine feindselige Haltung gegenüber Globalisierung, Großkapital und sonstigen Eliten mit Ausländerfeindlichkeit.

Ein weiterer Bereich des Antiglobalismus, der in den zwanziger und dreißiger Jahren politische Grenzlinien überquerte, legte den Schwerpunkt auf Familienleben und Geschlechterrollen. Sowohl die Geschichten einzelner Frauen als auch das Gender-Thema sind in geschichtlichen Darstellungen der Globalisierung und des globalen Kapitalismus unterrepräsentiert.40 Doch Frauen waren eine wichtige Zielgruppe und wichtige Akteure in antiglobalistischen Kampagnen der Rechten wie der Linken. Der Antiglobalismus war zum Teil motiviert von Ängsten, weil die Globalisierung radikale Auswirkungen auf Familie und Geschlechterrollen zu haben schien.

Viele Sozialreformer, Politiker und Kirchenleute sahen einen engen Zusammenhang zwischen der Globalisierung und entwurzelten Frauen und Familien. Bemühungen, die Geschlechterrollen im Europa der Zwischenkriegszeit wieder zu stabilisieren, zielten ganz typisch darauf ab, Männer und Frauen in Räumen oder an Orten zu verankern, die 29für das Gegenteil von Globalität standen: Heimat, Nation, Boden und das eigene Heim. Care-Arbeit sowie landwirtschaftliche und industrielle Produktion sollten in die Nation und das Heim zurückkehren. Das neue Zeitalter individueller und nationaler »Selbstversorgung« verlangte von Frauen und Kindern in aller Regel ein beträchtliches Maß an unbezahlter Arbeit.

Dass sich bei rechten und linken Antiglobalisten dieselben Taktiken, Befürchtungen und Zielsetzungen fanden, bedeutet indessen nicht, dass man sie über einen Kamm scheren dürfte. Vielmehr führten die Befürchtungen hinsichtlich der Globalisierung zu verschiedenen politischen Bewegungen, die um Unterstützung der Massen konkurrierten. Rechte Antiglobalisten hielten meist die Nation für das primäre Opfer der Globalisierung und des Internationalismus. Zu ihren Feinden zählten sie Jüdinnen und Juden, bolschewikische Internationalisten, liberale Internationalisten, feministische Internationalistinnen, Migranten und Geflüchtete, Ausländer und ausländische Kapitalisten. Rechte Antiglobalisten waren auch häufig gegen die Stadt. Sie hofften, eine »Proletarisierung« (und Politisierung) der Arbeiterschaft wie auch die Landflucht verhindern zu können, indem sie »rassisch« erwünschte Familien auf dem Land ansiedelten, wo sie die für die nationale Selbstversorgung nötigen Lebensmittel (und Kinder) produzieren sollten.

Ihre Vision war indessen nicht romantisch oder rückwärtsgewandt. Sie wurde von moderner Wissenschaft hervorgebracht und gestützt.41 Rechte Antiglobalisten hatten in aller Regel nicht die Absicht, die Uhr zurückzudrehen. Sie glaubten vielmehr, der Versailler Vertrag und die Weltwirtschaftskrise hätten den Bankrott des politischen und ökonomischen Liberalismus hinreichend vor Augen geführt. »Die Weltwirtschaft ist zusammengebrochen und wird in dieser Form nicht wieder entstehen«, erklärte der Siedlungsbeauftragte der Nazis Johann Wilhelm Ludowici.42 Rechtsextreme Antiglobalisten sahen im politischen Internationalismus und in der ökonomischen Globalisierung gerne ein zweiköpfiges Ungeheuer und setzten beide vielfach miteinander gleich. Denn beide bedrohten in ihren Augen die Souveränität der Na30tion. Und dahinter steckten angeblich dieselben Leute. Die nationalsozialistische Propaganda beschuldigte Juden, die Drahtzieher hinter der liberalen internationalen Ordnung, dem bolschewitischen Internationalismus und dem globalen Kapitalismus zu sein, und zwar alles in einem. So verknüpften sie die Juden auf dreierlei Weise mit der Globalisierung (und gaben ihnen die Schuld daran).

Linke Antiglobalisten waren nicht notwendig auch gegen den Nationalismus, und viele waren selbst nach den Maßstäben ihrer Zeit fremdenfeindlich. Sie sahen jedoch durchgängig nicht die Nation, sondern die Arbeiter als primäre Opfer der Globalisierung. Sie legten den Schwerpunkt nicht auf die »Reinhaltung« der Nation, sondern auf eine Verringerung der von weltwirtschaftlichen Schwankungen verursachten Not und Ungleichheit. Einige forderten Einwanderungsbeschränkungen zum Schutz der Arbeitsplätze, versuchten zugleich jedoch, die Arbeiterinnen und Arbeiter durch ökonomische Umverteilung gegen die Erschütterungen der Weltwirtschaft abzuschotten. Viele progressive Antiglobalisten erblickten auch in ländlichen Siedlungen und häuslicher Produktion einen potenziellen Schutz vor den Schwankungen der Konjunkturzyklen. Sie forderten indessen auch eine Bodenreform zur Auflösung des Großgrundbesitzes oder setzten sich für die Schaffung von Arbeiter- oder Bauerngenossenschaften als Gegengewicht zur Macht weltweit agierender Unternehmen ein. In der Regel waren sie keine derart entschiedenen Gegner des politischen Internationalismus, vor allem wenn es um solidarische Organisationen (wie internationale Gewerkschaften, sozialistische oder anarchistische Bewegungen) ging, die ihre Ziele unterstützten.

Trotz dieser bedeutsamen Unterschiede griffen rechte und linke antiglobalistische Bewegungen oft zu denselben Strategien und Taktiken. Denn beide wurden von ihrer Basis getrieben, da Bauern, arbeitslose Kriegsheimkehrer, hungernde Arbeiter und andere jene Selbstversorgung und Sicherheit wiederherzustellen versuchten, die in ihren Augen durch die Globalisierung gefährdet wurde. Auf lokaler Ebene besetzten rechte und linke Antiglobalisten Ackerland, boykottierten ausländische Waren und marschierten durch die Straßen. Sie bemühten sich, 31in ihrem alltäglichen Leben eine Selbstversorgung aufzubauen, indem sie ihre eigenen Güter produzierten und nur regional erzeugte Nahrungsmittel aßen.

Der Antiglobalismus veränderte die Gesellschaft sowohl lokal als auch global. Große antiglobalistische Bewegungen entstanden in der Zwischenkriegszeit in den Vereinigten Staaten, in Irland, Indien, England, Frankreich, Japan, der Türkei, in Spanien, Portugal, Deutschland, Italien und der Sowjetunion, um hier nur einige Beispiele zu nennen. Dieses Buch konzentriert sich auf nur eine Handvoll dieser Fälle. Ich habe sie danach ausgewählt, ob ich die betreffende Sprache zu lesen vermag, ob Quellen verfügbar sind und ob sie die politische Vielfalt der antiglobalistischen Bewegungen vor Augen zu führen vermögen: ihre Schwungkraft in Ländern, die als Sieger oder als Verlierer aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen waren, in Demokratien oder in faschistischen Staaten, in Mutterländern von Kolonialreichen oder in Ländern, die das koloniale Joch abzuschütteln versuchten. Ich hoffe, andere werden unser Verständnis der antiglobalistischen Politik in diesen und den vielen anderen Kontexten vertiefen, die ich vernachlässigt habe.

Die drei Teile des Buches folgen den Veränderungen der Zeit. Der Antiglobalismus erschien 1914 nicht urplötzlich aus dem Nichts. Teil I zeichnet die Unzufriedenheit mit der Globalisierung und dem Internationalismus nach, die sich gleichlaufend mit der Globalisierung verstärkte und schließlich in den Ersten Weltkrieg mündete. Teil II behandelt die Jahre unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. Als die Angst vor Hunger, Krankheit, Migranten, Geflüchteten und Revolution sich in ganz Europa und jenseits des Atlantiks ausbreitete, gewann der Antiglobalismus eine massenhafte Anhängerschaft. Teil III untersucht die weitaus radikaleren antiglobalistischen Bewegungen und die staatliche Politik, die aufkamen, als die Weltwirtschaftskrise alte Gewissheiten zutiefst erschütterte.

Dorothy Thompson gab sich auch 1931 noch optimistisch, dass der rechte antiglobalistische Nationalismus sich selbst erschöpfen werde. 32Sie glaubte, ein Abwürgen des Welthandels werde zu einem »fürchterlichen Rückgang des Lebensstandards« führen, da geschlossene Grenzen und hohe Zölle die Menschen nur zum Schmuggel von Nahrungsmitteln und lebenswichtigen Gütern zwingen würden. »Solange Schiffe die Meere befahren, Flugzeuge durch die Luft fliegen und Züge verkehren, wird der Einfallsreichtum der Menschen Wege zur Umgehung der Handelshindernisse finden«, schrieb sie. »Die Menschen besitzen noch nicht genügend Patriotismus, um sich selbst um der Nation willen zum Hungern zu verdammen.«43

Doch wie sich zeigte, waren 1939 viele Menschen bereit, »um der Nation willen« andere Menschen zum Hunger zu verdammen. Adolf Hitler und Benito Mussolini sind uns nicht als Antiglobalisten in Erinnerung geblieben, sondern wegen ihrer Versuche, die Welt zu erobern. Die Faschisten rechtfertigten ihr Streben nach einem Kolonialreich allerdings mit dem Ziel, von der Weltwirtschaft und der internationalen Politik unabhängig zu werden. Sie zogen in den Krieg, um antiglobale Reiche zu schaffen. Wenn deutsche und italienische Bauern und Arbeiter nicht genügend Getreide, Öl oder Gummi produzieren konnten, um einen hohen Lebensstandard zu sichern, sollten die Soldaten dieser Nationen diese Ressourcen mit kriegerischen Mitteln erobern. Hitler beneidete bekanntlich die Vereinigten Staaten, weil sie ein kontinentales Reich geschaffen hatten, das groß und reich genug zur Versorgung ihrer Bevölkerung war – wenngleich auf Kosten des Lebens von Millionen ursprünglichen Bewohnerinnen und Bewohnern des Landes. Genau solch ein Reich wollte er für Deutschland schaffen, eines, das der »Herrenrasse« ihre »Selbstversorgung« und ihren Lebensstandard sicherte, indem es die Nachbarn Deutschlands zu Sklaverei und Hunger verdammte.44

Das Vermächtnis des Antiglobalismus bestand indessen nicht allein in kolonialer Eroberung und Massenmord. Für antikolonialistische Nationalisten war ökonomische Autarkie ein Weg zur Dekolonisierung. Der Antiglobalismus stimulierte die Erzeugung neuer Produkte und synthetischer Substitute wie Kunstseide, mit denen sich die Abhängigkeit von knappen Gütern verringern ließ, an die man allein 33durch Handel gelangen konnte. Er befeuerte Bemühungen um eine Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion – einschließlich der Entwicklung von Technologien und Verfahren, die am Ende tatsächlich die Produktivität des Bodens steigerten und weltweit einen Rückgang des Hungers bewirkten. Er verwandelte sogar die Funktionsweise der Weltwirtschaft. Die antiglobale Revolte brachte neue, auf Veränderung zielende Sozialprogramme und eine neue Sozialpolitik hervor, mit denen man die Not und den Schmerz zu lindern gedachte, die das Auf und Ab der Konjunkturzyklen mit sich brachte (darunter auch den New Deal). Er inspirierte zu Idealen der »Entwicklung«, die Armut und globale Ungleichheit verringern und den Lebensstandard verbessern sollten. Als der Zweite Weltkrieg sein Ende gefunden hatte, erneuerten führende Politikerinnen und Politiker ihre Bemühungen, robustere und inklusivere internationale Institutionen aufzubauen, um eine stabilere Form von Globalismus und Globalisierung zu schaffen. Ob ihnen das gelungen ist, wird sich erst noch zeigen müssen.

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Teil I

Eine gemeinsame Welt?

37

1

Der Sieg steht unmittelbar bevor

Budapest 1913

Im Juni 1913 befand sich Rosika Schwimmer auf dem Höhepunkt ihres Einflusses. Es war ihr endlich gelungen, das Jahrestreffen der International Women's Suffrage Alliance (des Weltbundes für Frauenstimmrecht) in ihre Heimatstadt an der Donau zu holen. Der Weltbund, der 1902 von einer Koalition hauptsächlich britischer, US-amerikanischer und deutscher Frauenrechtlerinnen aus der Mittelschicht gegründet worden war, hatte bereits die Runde in den Hauptstädten der USA und Nordeuropas gemacht. Doch für viele Delegierte war Budapest eine kaum bekannte und möglicherweise ungeeignete Gastgeberin, ein Ort, der »sehr weit entfernt« in einem Land lag, das nicht gerade »für repräsentative Demokratie bekannt« war.

Trotz oder vielleicht gerade wegen des exotischen Tagungsortes war das Treffen in Budapest ein spektakulärer Erfolg. Insgesamt 240 Delegierte aus 21 Ländern nahmen am Kongress teil und machten ihn zum größten in der Geschichte des Weltbundes. Und in erheblichem Maße war das den Bemühungen Rosika Schwimmers zu verdanken. Gemeinsam mit ihren ungarischen Mitstreiterinnen hatte sie Spenden von staatlichen Stellen und privaten Geldgeberinnen eingesammelt und insgesamt 2800 Eintrittskarten verkauft. Sie versammelte ein Team aus Studentinnen mit Englischkenntnissen, das den Teilnehmerinnen bei den »extremen Schwierigkeiten« mit der ungarischen Sprache half (Schwimmer selbst sprach fließend Ungarisch, Deutsch, Englisch und Französisch). Zwischen den Sitzungen konnten die Delegierten Ausflüge zum berühmten Balatonsee unternehmen oder ein staatliches Kinderheim besuchen. Den Höhepunkt bildete nach Ansicht aller eine abendliche Schifffahrt auf der Donau, mit Abendessen und Musik, »eine glückliche, höchst angenehme Party mit drei Stunden wun38derschöner Landschaft an den Ufern«. Musik begleitete die Suffragetten allenthalben.

Der Eröffnungstag der Festlichkeiten in Budapest wurde abgeschlossen mit einer Sondervorstellung der Entführung aus dem Serail von Mozart in der Ungarischen Staatsoper – ein äußerst symbolträchtiges Programm. Die Entführung erzählt die Geschichte zweier Männer, die ihre Verlobten aus dem Harem eines despotischen osmanischen Paschas zu retten versuchen. Die Aufführung sollte Ungarns Stellung auf der westlichen Seite der imaginären Ost-West-Spaltung wie auch die Mission des Weltbundes demonstrieren, den unterdrückten Frauen im patriarchalischen Orient »Aufklärung« zu bringen. Zugleich war sie eine Metapher für die Aufklärung in größerer Nähe zur Heimat. So erinnerten sich Besucherinnen der Vorstellung 1922, dass eine Gruppe ungarischer Bäuerinnen »mit Kopftüchern, die fünfzig Meilen zu Fuß zum Kongress gelaufen waren«, der Aufführung der Mozart-Oper auf den Emporen beiwohnten. »Es wurde dafür gesorgt, dass sie mit dem Zug nach Hause zurückfahren konnten.«

Mozarts Libretto noch im Ohr, sollten die Delegierten die Botschaft der Aufklärung und des Fortschritts in den folgenden Tagen noch deutlicher hören. Eine Veranstaltung stellte die Frage: »Wie könnten Frauen, die noch in alten Sitten, Traditionen und Vorurteilen gefangen sind, durch die Erkenntnis wachgerüttelt werden, dass diese neuen Zeiten neue Pflichten und Verantwortungen verlangen?« Auch wenn in dieser Woche keine endgültigen Antworten gefunden wurden, waren die Führerinnen des Weltbundes doch zuversichtlich, dass es schon sehr bald Lösungen geben werde. Im Westen, glaubten sie, in der Frage des Frauenwahlrechts stehe der Sieg unmittelbar bevor, denn im vorangegangenen Jahr waren in 17 nationalen Parlamenten sowie in den Parlamenten von 29 Bundesstaaten der USA entsprechende Gesetze eingebracht worden. Seit dem letzten Kongress des Weltbundes 1911 in Stockholm sei »kein Schritt zurück« gemacht worden, erklärte die Präsidentin des Bundes Carrie Chapman Catt. »Im Gegenteil, tausend Dinge geben uns das sichere, unbestrittene Versprechen, dass der Sieg für unsere große Sache unmittelbar bevorsteht.«

39Angesichts solcher Erfolge in unmittelbarer Nähe richteten die Suffragetten ihre Aufmerksamkeit auf ihre Schwestern im Ausland. »Die Frauen der westlichen Welt sind dabei, der jahrhundertalten Knechtschaft zu entkommen«, meinte Chapman Catt. »Ihre Befreiung ist gewiss; nur noch wenige weitere Anstrengungen, nur noch ein wenig mehr Aufklärung, und sie wird kommen. Aus dem Reichtum unserer eigenen Freiheit heraus müssen wir diesen unseren Schwestern in Asien helfen.« Für Chapman Catt bestand solche Hilfe indessen nicht in konkretem Handeln, sondern in einer Inspiration durch das Beispiel. »Jeder Sieg im Westen wird sie ermutigen und inspirieren, denn unsere Siege sind ihre Siege, und ihre Niederlagen sind unsere Niederlagen.«

Vor allem aber feierten die Delegierten in Budapest ihren Internationalismus. Für diese Feministinnen besaß der Internationalismus eine besondere Bedeutung. Sie bemühten sich, Frauen überall in der Welt aufzuklären und zu ermutigen. Die Delegierten selbst stammten jedoch ausschließlich aus Europa und Nordamerika. Die Organisatorinnen klagten: »Es war für alle eine Enttäuschung, dass keine asiatischen Delegierten nach Budapest kamen. Asiatische Frauen sind es nicht gewohnt, allein zu reisen.« Südamerika war gleichfalls ein »unerforschtes Gebiet, soweit es unsere Organisation betrifft«. Das einzige Land außerhalb Europas und Nordamerikas, das Delegierte nach Budapest geschickt hatte, war Südafrika.1 Der Ausschluss nichtweißer Frauen von feministischen und internationalen Organisationen war typisch für die Zeit. Als Reaktion darauf gründeten einige Women of Color ihre eigenen Organisationen, so etwa 1920 den International Council of Women of the Darker Races.2

Chapman Catt spekulierte dennoch, man werde im Winter 1913, »wenn das Land der Mitternachtssonne in ständige Dunkelheit gehüllt ist, nördlich des Polarkreises vielleicht erleben, dass in Pelze gekleidete Frauen in Rentierschlitten über schneebedeckte Wege zu Suffragettentreffen fahren, während andere Frauen im Hochsommer auf der Südhalbkugel, geschützt von Fächern und Sonnenschirmen in ›Rikschas‹ und unter den sengenden Strahlen einer tropischen Sonne das40selbe tun.« Für die Frauen des Serails im imaginierten »Osten« jenseits von Budapest sah sie Hoffnung. »Hinter der Parda in Indien, in den Harems der Mohammedaner, hinter Schleiern und verriegelten Türen und verschlossenen Sänften gibt es in den Herzen der Frauen schon seit Jahrhunderten Rebellion.« In Kürze werde die Grenze für die Frauenrechte draußen im Weltraum liegen. »Wie Alexander der Große werden wir bald schon nach anderen Welten Ausschau halten, die es zu erobern gilt.«

Dieser selbstgefällige Geist beherrschte den Kongress bis zum letzten Abend. Gewöhnlich endet ein internationaler Kongress mit einem Bankett und einer abschließenden Runde feierlicher Trinksprüche. In Budapest kamen Delegierte und Gäste an diesem 20. Juni 1913 im größten Saal des Tagungsgebäudes zu einer lautstarken Feier zusammen, die von patriotischen Liedern, dem Austausch von Adressen und dem feierlichen Versprechen geprägt war, 1915 erneut zusammenzutreffen.

Vor allem aber regnete es Beifall auf Rosika Schwimmer, die als die treibende Kraft hinter dem Ganzen gefeiert wurde. Zum Zeichen ihrer Bewunderung überreichten ungarische Feministinnen ihr ein Juwelencollier. In ihrer Dankesrede prahlte sie, ihre Mitstreiterinnen hätten ein Ziel erreicht, das den ungarischen Männern lange versagt geblieben sei. Es sei der Traum aller Ungarn und Ungarinnen, dass Budapest zum »Ziel der ganzen Welt« werde. Den Suffragetten sei es tatsächlich gelungen, die Welt an die Ufer der Donau zu locken. Schwimmer zeigte sich optimistisch, dass ihre Bemühungen reiche Früchte tragen und den Geist des Internationalismus in den kommenden Jahren verbreiten würden. »Diese Botschafterinnen, die, um es mit Mazzinis Worten zu sagen, ›im Namen Gottes und der Menschheit‹ hierherkamen, werden in ihren Heimatländern berichten, wie freundlich sie hier aufgenommen wurden, und sie werden mit Sicherheit das Ziel einer guten internationalen Verständigung voranzubringen helfen.«3

Rosika Schwimmer 1914.

Für internationalistisch gesinnte Männer und Frauen wie Schwimmer wie auch für Wissenschaftler, Ärzte, Industrielle, Juristen und andere Fachleute erlebten internationale Kongresse damals ihre Hoch41zeiten. Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wurden mindestens 100 neue internationale Organisationen gegründet. Ihre Mitglieder strömten in Scharen zu Kongressen und Ausstellungen, die den internationalen Austausch erleichtern sollten (und den Gastgebern die Möglichkeit boten, die Welt durch eine überwältigende Zurschaustellung von Kultur, Gastfreundschaft und »Modernität« zu beeindrucken). Manche – wie die International Women's Suffrage Alliance – verfolgten soziale und politische Ziele im Rahmen einer transatlantischen Fortschrittsbewegung. Andere widmeten sich dem Pazifismus, der Wohlfahrt von Kindern, dem Strafrecht, der öffentlichen Gesundheit und Hygiene sowie dem Austausch wissenschaftlicher Expertise. Wieder andere setzten sich explizit für internationale Zusammenarbeit und Standardisierung ein. Juristen schufen ein neues Völkerrecht, um den Krieg einzuhegen und Kriegsverbrechen zu definieren (was schließlich zu den Haager Konventionen von 1899 und 1907 führte). Auf dem ersten Esperanto-Weltkongress 1905 warben Globalisten für den Traum einer Weltsprache. Das 1875 in Paris gegründete Bureau International des Poids et Mesures (Internationales Büro für Maß und Gewicht) sollte dafür sorgen, dass ein Meter überall in der Welt dieselbe Länge hatte. Die Telegraph Union (Internationale Fernmeldeunion – 1865), die International Postal Union (Weltpostverein – 1874) und das International Statistical Institute (Internationales Statistisches Institut – 1885) versuchten, die weltweite Kommunikation und Informationssammlung zu koordinieren.

Am ehrgeizigsten von allen war wohl die Bewegung zur Universalisierung der Zeit. Da die Technik Zeit und Raum zu komprimieren schien, warben Wissenschaftler und Politiker für eine Vereinheitlichung der Uhrzeiten und Kalender. Selbstbewusste Globalisten verkündeten, die internationale Koordinierung der Uhrzeit sei ein wichtiges Schmiermittel für die grenzüberschreitende Bewegung von Menschen und Gütern. Doch wie so oft bei Bemühungen um weltweite Vereinheitlichung stieß auch die Bewegung zur Standardisierung der Uhrzeit auf Widerstand. Weltweit synchron tickende Uhren mochten Musik in den Ohren von Internationalisten aus der Mittelschicht sein. 42Doch wie die Historikerin Vanessa Ogle gezeigt hat, stießen Versuche zur Einführung einer Weltzeit lokal oft auf Apathie oder Feindseligkeit, weil sie als Angriff auf lokale Traditionen oder als Symbol kolonialer Herrschaft empfunden wurden. Der Widerstand gegen die Standardisierung der Zeit war Ausdruck eines wachsenden Verdachts, dass die Globalisierung die Vorteile nicht gleichmäßig verteilte.4