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Ein radikales Plädoyer für eine Architektur gegen die Wegwerfideologie des Kapitalismus. Und ein Angriff auf zu kurz gedachte Vorschläge, die punktuelle Schadensbegrenzung als Nachhaltigkeit deklarieren. »Baut dauerhafter, dichter und vor allem weniger!« ruft uns der Architekt und Historiker Vittorio Magnago Lampugnani zu. Nachhaltiges Bauen ist in aller Munde. Die meisten Vorschläge zielen auf kurzatmige Maßnahmen wie die Anbringung von Dämmplatten (von Lampugnani »Vermummungsfundamentalismus« genannt) oder die Ächtung von Beton. Um langfristig nachhaltiges Wohnen in qualitativ hochwertigen Häusern zu schaffen, bedarf es aber weit differenzierterer und umfassenderer Überlegungen. Lampugnani skizziert eine kleine Geschichte des städtebaulichen und architektonischen Konsumismus und baut darauf seine Überlegungen zu einer Kultur substantieller Nachhaltigkeit. Er schreibt an gegen die Auslöschung der Natur durch Zersiedelung und plädiert für eine Strategie der Dichte: Allein die kompakte Stadt kann ökologisch sein. Um den immensen Material- und Energieverbrauch der Bauwirtschaft zu reduzieren, fordert er eine rigorose Kehrtwende: die Abkehr von der Erschließung weiteren Baulands und dem hemmungslosen Verbrauch von Rohstoffen. Nicht abreißen und neu bauen, sondern umbauen, rückbauen, weiterbauen. Je länger ein Gebäude lebt, desto ökologischer ist es.
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Seitenzahl: 132
Veröffentlichungsjahr: 2023
»Baut weniger, viel weniger, dafür dicht, werthaltig und dauerhaft!« ruft uns der Architekt und Bauhistoriker Vittorio Magnago Lampugnani zu. Sein Buch ist ein radikales Plädoyer gegen die Wegwerfideologie des Kapitalismus in der Architektur und ein Angriff auf zu kurz gedachte, von der Baubranche instrumentalisierte Vorschläge, die diese punktuelle Schadensbegrenzung als Nachhaltigkeit deklarieren.
Vittorio Magnago
LAMPUGNANI
GEGEN
WEGWERF
ARCHITEKTUR
DICHTER, DAUERHAFTER, WENIGER BAUEN
Verlag Klaus Wagenbach Berlin
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein Buch über Nachhaltigkeit im Bauen zu schreiben, ist aus mehreren Gründen wagemutig, ja geradezu fahrlässig. Es wird bereits ungemein viel zum Thema publiziert; mit der aktuellen Forschung kann man kaum Schritt halten; und trotz ihrer Fortschritte, Erkenntnisse und Überraschungen sind ihre Ergebnisse noch zu wenig konsolidiert, um zuverlässige Schlussfolgerungen zu ziehen.
Dieses kleine Buch will nicht das resümieren, was bislang entdeckt und ausprobiert wurde. Vielmehr tritt es einen Schritt zurück, um die Debatte zur Nachhaltigkeit von Architektur und Stadt, die vielerorts zu eng geführt wird, an ihre historische und kulturelle Dimension zu erinnern. Und daran, dass sie Teil einer Auseinandersetzung sein muss, die in größerem Rahmen anzusiedeln ist. Konkreter: Der Notstand unseres Planeten verlangt von der Baukultur einen Paradigmenwechsel. Aber dieser Paradigmenwechsel muss die Architektur in ihrer gesamten Komplexität einbeziehen und ist auf ein breites gesellschaftliches Umdenken angewiesen.
Aus diesem Grund steht im Zentrum meiner Überlegungen der Konsumismus, der Verbrauch von Gütern, für den es keinen realen Bedarf gibt außer dem Produktionsüberschuss der kapitalistischen Wirtschaft und den Idiosynkrasien der Verbraucher. Auf ihn geht die ebenso rabiate wie unnötige Plünderung unseres Planeten zurück, und mit ihm lässt sie sich erklären und möglicherweise bekämpfen. Von den Gütern des täglichen Gebrauchs hat er sich auf das Bauen ausgeweitet, hat ihm seinen versöhnlichen Charakter genommen und es zu einer Plage der Erde gemacht.
Dieser Text ist ein Essay im wörtlichen Sinn: ein Versuch. Die Argumentation ist persönlich und geht von meinem Umfeld aus: Europa, genauer: Süd- und Mitteleuropa. Zwar vermute ich, dass vieles, was hierzulande gedacht und gemacht wird, für andere Regionen der Erde ebenfalls relevant sein kann, maße mir aber nicht an, anderen Kulturen und Realitäten unsere Erfahrungen aufzudrängen. Ich wäre schon glücklich, wenn meine Überlegungen die Diskussion allgemein bereichern würden.
Die Fakten, die den Argumenten zugrunde liegen, sind so seriös wie irgend möglich recherchiert. Gleichwohl ist kein wissenschaftlicher Text entstanden. Dazu ist sein Rahmen zu ambitioniert und sein Duktus zu subjektiv. Dementsprechend beschränken sich die Anmerkungen auf direkt zitierte Quellen, und so führt die Bibliographie nur die aus meiner Sicht absolut essentiellen Werke auf. Die statistischen Angaben habe ich im Labyrinth der zirkulierenden Daten aus möglichst zuverlässigen Untersuchungen zusammengestellt, aber ihre Unschärfe ist mir bewusst.
Die Frage nach einem Bauen, das sich mit Respekt und Zurückhaltung in unsere Welt einfügt, hat mich bereits in den Jahren unmittelbar nach dem Studium interessiert. Geforscht habe ich dazu erst später, an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, vor allem zur Geschichte der nachhaltigen Stadt. Das Seminar zu architektonischen Strategien gegen den Konsumismus, das ich 2021 an der Graduate School of Architecture in Harvard gehalten habe, hat mir die wichtigsten Anregungen zum vorliegenden Text geboten.
In vielerlei Weise greift dieses kleine Buch den Faden des Essays auf, der 1995 unter dem Titel Die Modernität des Dauerhaften erschien. Es ist kein Zufall, dass jenes Buch, das damals für eine gewisse Irritation sorgte, im Verlag Klaus Wagenbach herausgebracht wurde – wie dieses auch. Meine Dankbarkeit ist nicht weniger groß als meine Freude.
10. Juli 2023
Zu den abgedroschensten Klischees, die so gut wie jedes zeitgenössische Bauvorhaben bemüht, gehört die forsche Selbstauskunft, es sei nachhaltig. Das impliziert, man liege im Trend, und fördert zugleich die Vermarktung. Wenn allerdings Nachhaltigkeit tatsächlich bedeuten soll, bei der Erfüllung der Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen unserer Generation die Möglichkeiten unserer Kinder und Kindeskinder nicht zu beeinträchtigen, haben Architektur und Städtebau heute kaum Veranlassung, sich mit dem Attribut zu schmücken. Die Bauwirtschaft verbraucht weltweit immens viel Material, Energie und Landschaftsfläche. Sie produziert Berge von teilweise hochgiftigem Abfall. Und sie ist für einen Großteil jenes Ausstoßes von Kohlendioxid verantwortlich, der das Klima, den Planeten und unsere Existenz bedroht. In Zahlen: für knapp 40 Prozent des Energieverbrauchs, rund 50 Prozent der Emissionen von klimaschädlichen Gasen, 50 Prozent des Abfallaufkommens, 60 Prozent des Ressourcenverbrauchs und 70 Prozent des Flächenverbrauchs.1
Das Prinzip der Nachhaltigkeit ist keine aktuelle Erfindung. Bereits die Agrargemeinschaften, wie sie vor etwa 10.000 Jahren in Mesopotamien entstanden, waren auf die Stabilität ihrer Umwelt angewiesen und regulierten sie entsprechend. Ebenso wenig neu ist der Begriff: Er wurde vom sächsischen Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz 1713 im Traktat Sylvicultura oeconomica eingeführt, um einen Forstbetrieb zu bezeichnen, bei dem geschlagenes und nachwachsendes Holz im Gleichgewicht bleiben und mithin der Waldbestand nicht erodiert2 – übrigens eine schon lange zuvor bestehende und weit verbreitete Praxis.
Den mächtigen Einfluss der Menschheit auf die Umwelt hatte der italienische Geologe Antonio Stoppani bereits 1871 thematisiert und dabei vom anthropozänen Zeitalter gesprochen.3 Über die Rolle des Menschen bei der Veränderung des Antlitzes der Erde debattierten 1955 namhafte Wissenschaftler, darunter der Stadtsoziologe und Historiker Lewis Mumford und der Naturphilosoph und Theologe Pierre Teilhard de Chardin. Spätestens seit dem fundamentalen und oft zitierten Bericht The Limits to Growth; A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of Mankind von 1972,4 der zwar nicht mit all seinen Schreckensszenarien Recht behalten hat, wohl aber mit seiner schonungslosen Diagnose des Zustands unseres Planeten, ist bekannt, wie gefährdet dieser ist. Der 1987 als Our Common Future veröffentlichte Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung forderte, dass die Erfüllung der Bedürfnisse der Gegenwart jene der künftigen Generationen nicht kompromittieren sollte.5 Die Ursache der globalen Umweltprobleme identifizierte er hauptsächlich im unverantwortlichen Produktions- und Konsumverhalten der westlichen Welt, das auf Kosten der weiterhin extrem armen Entwicklungsländer geht. Gegenwärtig leben 15 Prozent der Weltbevölkerung im Überfluss und verbrauchen 80 Prozent der Ressourcen; würden die restlichen 85 Prozent so wirtschaften wie die Europäer und die Nordamerikaner, würde die Erde kollabieren.6
Probleme mit der Umwelt, besonders der städtischen und architektonischen, sind ebenfalls nicht neu: wie auch die Maßnahmen, um sie zu lösen oder zumindest zu lindern. Das Ideal eines nachhaltigen Hauses und einer nachhaltigen Stadt begleitet deren gesamte Geschichte. Bereits Vitruv legt in seinem einflussreichen Traktat De architectura libri decem besonderen Wert auf die klimatisch korrekte Orientierung von Stadtanlagen und Gebäuden sowie auf dauerhafte Materialien und Konstruktionen.7 Rom hatte, wie zahlreiche antike Metropolen, mit Verschmutzung und unhygienischen Emissionen zu kämpfen: Die kaiserliche Verwaltung reagierte darauf unter anderem mit dem Fahrverbot unter Tags im überlasteten Stadtzentrum sowie der Aufforderung, das Abladen von Abfällen im öffentlichen Raum zu unterlassen. In seiner Schrift De re aedificatoria, die zwischen 1443 und 1452 entstand und 1485 gedruckt wurde, übernimmt Leon Battista Alberti Vitruvs Empfehlungen von guten klimatischen Verhältnissen und festen Baukonstruktionen.8 Pierre Le Muet, französischer Architekt und Theoretiker, ersetzt in seinem Manière de bien bastir pour toutes sortes de personnes 1623 den Vitruvianischen Begriff der firmitas, also der Festigkeit, durch jenen der durée, der Dauerhaftigkeit.9
Zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert, in der Epoche der modernen Industriestadt, werden verstärkt Themen und Lösungsansätze für die zunehmend dramatisch auftretenden ökologischen Probleme diskutiert. Fumifugium (1661), ein Pamphlet des englischen Architekten John Evelyn, prangert die Rauchemissionen in London an und schlägt die Begradigung der Straßen, die Umsiedlung der Friedhöfe und der Gewerbebetriebe an den Stadtrand sowie die Pflanzung süß riechender Bäume vor.10 Die prekären hygienischen Zustände der Städte werden derweil unablässig beanstandet, so auch von Jonathan Swift, der in seinem satirischen Gedicht A Description of a City Shower von 1710 eine besonders lebendige und ekelerregende Schilderung der Abfälle liefert, die ein Regenguss die Londoner Straßen herunterfließen lässt.11 1750 fordert Giovanni Battista Carafa, jener Herzog von Noja, dem Neapel den ersten vermessungstechnisch genauen Stadtplan verdanken sollte, in seiner Lettera ad un amico eine Neuordnung der Straßen und vor allem der Kanalisation der Stadt am Vesuv, deren mangelhafte Hygiene er beklagt.12 Der französische Architekt und Theoretiker Pierre Patte übernimmt und präzisiert in seinem Mémoires sur les objets las plus importantes de l’architecture von 1769 Vitruvs Anweisungen für eine klimatisch sensible Anlage der Stadt und fordert eine saubere und effiziente urbane Infrastruktur von Brunnen, Kanalisation, Märkten und Friedhöfen; darüber hinaus erörtert er die verschiedenen Baumaterialien und Konstruktionen in Hinblick auf ihre Festigkeit und Dauerhaftigkeit.13 Die Vorschriften der Polizei im 18. und 19. Jahrhundert versuchen, einen verbindlichen Hygienestandard in den Städten zu etablieren, der sich auf die zeitgenössischen Erkenntnisse der Ärzte stützt. Friedrich Weinbrenners Bauverordnungen, in seinem Architektonischen Lehrbuch von 1819 vorgeschlagen, sollen den Städten, darunter freilich Karlsruhe, wo er als Badischer Oberbaudirektor maßgeblich wirkte, zu einem kontrollierten Wachstum verhelfen: Auch hier wird vor allem der hygienischen Anlage der Straßen und der guten Ausführung der Bauten Gewicht beigemessen.14
John Evelyn, Fumifugium, 1661. Buchumschlag
Versteht man Nachhaltigkeit grundsätzlicher als allgemein maßvollen Umgang mit den Ressourcen der Erde, entpuppt sich so gut wie die gesamte Theorie des Bauens als deren Anwalt. Das Thema der Sparsamkeit zieht sich durchgängig durch die Geschichte der Architektur und der Stadt. Die antiken Bauten waren aus nur denjenigen Materialien zusammengefügt, die für die Erfüllung ihrer Funktion erforderlich waren, was Vitruv wiederholt betont. Ihm geht es um die wirtschaftliche und effiziente Verwendung der jeweils verfügbaren Baustoffe. Auch Alberti und Andrea Palladio fordern einen geringen Einsatz von Ressourcen, um eine möglichst große architektonische Wirkung zu erzielen.15 Eine extreme Position nimmt Jean-Nicolas-Louis Durand in seinem Précis des leçons d’architecture données à l’École Polytechnique von 1802 bis 1805 ein: Er sieht Sinn, Zweck und Ursprung der Architektur allein in der Befriedigung elementarer gesellschaftlicher Bedürfnisse. Die Gebäude sollen auf die am wenigsten mühsame Art errichtet werden und sich durch Zweckmäßigkeit und Sparsamkeit der Mittel auszeichnen.16
Durand, der so weit geht, in seinem Buch große – und realisierte – historische Bauwerke wie das Panthéon von Jacques Germain Soufflot nicht nur zu kritisieren, sondern ihnen eigene Gegenentwürfe gegenüberzustellen, die rationeller, einfacher und auch preiswerter gewesen wären, ebnet der Reduktion der Klassischen Moderne und ihrem Ideal der Wohnung für das Existenzminimum den Weg. Peter Behrens und Heinrich de Vries veröffentlichen 1918 eine Broschüre mit dem bezeichnenden Titel Vom sparsamen Bauen.17 Mit der Rückführung der Architektur auf geometrische Primärformen argumentiert Le Corbusier, sie seien die effizientesten und auch die schönsten.18 Diese zweite Dimension klammert Hannes Meyer, der von 1928 an als Nachfolger von Walter Gropius das Bauhaus in Dessau leitete, ebenso absichtlich wie radikal aus: Er definiert Architektur (wie übrigens alle Dinge der Welt) als Produkt der Formel Funktion mal Ökonomie und schafft mit seinem Co-op Interieur von 1926, einem geradezu surreal spartanisch eingerichteten Wohnraum, ein Manifest der extremen Genügsamkeit.19
Bauen bedeutet seit der Antike, möglichst viel mit möglichst wenig zu leisten. Grund dieses Strebens nach Effizienz ist allerdings weniger die Furcht vor der Erschöpfung der natürlichen Ressourcen als der Wunsch nach Wirtschaftlichkeit, oft auch deren Notwendigkeit. Bauen soll möglichst billig sein, auf jeden Fall nicht unnötig teuer.
Heute bestehen die wirtschaftlichen Erwägungen nach wie vor, müssen aber an zweite Stelle treten. Der primäre Motor der modernen Sparsamkeit wird das Streben nach minimalen Eingriffen in die natürlichen Kreisläufe sein, nach Ablehnung des überflüssigen und schädlichen baulichen Konsums. Mit anderen Worten: nach Nachhaltigkeit.
In seiner Fable of the Bees: or, Private Vices, Publick Benefits, die 1714 erschien, insinuiert der niederländische Arzt und Sozialphilosoph Bernard Mandeville, private Laster könnten öffentliche Vorzüge schaffen, und durch Eigeninteresse der Verbraucher würde Wohlstand erzeugt.20 In der Bereitschaft zum Konsum sieht er eine positive ökonomische Kraft. Diese Doktrin sollte die kapitalistische Entwicklung und Organisation der Industrialisierung mitprägen. Karl Marx und Friedrich Engels erklären im Manifest der Kommunistischen Partei von 1848, wie durch die industrielle Überproduktion und die Notwendigkeit, sie zu vermarkten, neue kosmopolitische Bedürfnisse geschürt werden, welche die traditionelle lokale Selbstgenügsamkeit ablösen.21 Den sich daraus ergebenden Kaufzwang schildert 1883 Émile Zola ebenso lebhaft wie schonungslos in seinem Roman Au Bonheur des Dames: Octave Mouret, Inhaber des gleichnamigen Warenhauses, erfindet immer ausgeklügeltere Strategien, um die Damen der feinen Pariser Gesellschaft anzulocken und zum Kauf zu verführen.22Der amerikanische Soziologe und Ökonom Thorstein Veblen stellt in seiner Theory of the Leisure Class von 1899 ein Verbraucherverhalten fest, das über die Erfüllung von Primärbedürfnissen hinaus der Steigerung des Sozialprestiges dient.23 Dieser »demonstrative Konsum«, zunächst Vorrecht des Großbürgertums, breitet sich seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts im prosperierenden Mittelstand aus. Von den Vereinigten Staaten von Amerika greift er nach dem Zweiten Weltkrieg auf das Westeuropa der Wirtschaftswunder über und fasst in den sechziger und siebziger Jahren in sämtlichen industrialisierten Ländern Fuß. Inzwischen ist der Konsumismus eine nahezu weltweit verbreitete Erscheinung, die von den Gebrauchsgegenständen zu den Fahrzeugen, von den Nahrungsmitteln zu den Kleidern, von den Publikationen zu den Kulturaktivitäten sämtliche Bereiche des Lebens vereinnahmt hat.
Vereinnahmt hat er selbst die Architektur und die Stadt. Das ist erstaunlich, denn Stadt und Architektur sind keine Verbrauchsartikel oder sollten es nicht sein. Tatsächlich sind sie erst mit deutlicher Verzögerung nach den Alltagsobjekten in den Strudel des Konsumismus hineingeraten. Das Manifest der Futuristischen Architektur von 1914, das die Unterschrift Antonio Sant’Elias trägt, feierte emphatisch das Prinzip der Vergänglichkeit, erklärte, die Häuser würden kürzer leben als diejenigen, die sie bewohnten, und führte die Vorstellung ein, dass sich jede Generation ihre eigene, neue Stadt bauen solle.24 Die Moderne der zwanziger und dreißiger Jahre übernahm diese Vorstellung weder wörtlich noch geschlossen, fand sich jedoch mit der Kurzlebigkeit der neuen Architektur ab: Die preiswerten Wohnungen, die sie aus sozialpolitischen Gründen zu ihrer zentralen Aufgabe machte, führten zu einfachen, billigen und damit wenig haltbaren Bauausführungen. Diese kamen den Investoren gelegen, die dadurch ihre Gewinnspannen vergrößerten. Der – sozialdemokratische – Berliner Stadtbaurat Martin Wagner nahm 1929 bei Großstadtplätzen wie dem Berliner Alexanderplatz mit einer kommerziellen Architektur vorlieb, die aus wirtschaftlichen Gründen nur auf eine Lebensdauer von ein paar Jahrzehnten ausgelegt werden sollte. Im gleichen Jahr ließ Alfred Döblin im Roman, der den Namen des Berliner Platzes im Titel führte, seinen Protagonisten Franz Biberkopf darüber sinnieren, dass man nicht morschen und kaputten Hosen nachtrauern, sondern neue kaufen würde und man entsprechend neue Städte bauen sollte, wenn die alten ihren Zweck erfüllt hätten. Ebenfalls 1929 führte Christine Frederick, die sich mit Studien für eine effiziente Küchenarbeit und -einrichtung einen Namen gemacht hatte, in ihrem populären Buch Selling Mrs. Customer den Begriff der »progressive obsolescence« ein und definierte ihn als – überaus erfreuliche – Bereitschaft, einen Warenartikel auszurangieren, bevor sein natürliches Nutzleben vollendet sei, um für den neuen und besseren Gebrauchsgegenstand den Weg freizuräumen.25
Der neue Kult des beschleunigten Verbrauchs und der Ware als Sozialfetisch wurde bald auch künstlerisch gedeutet. Mitte der fünfziger Jahre forderte der einflussreiche Architekturkritiker Reyner Banham explizit eine aesthetics of expendability, eine Ästhetik der Entbehrlichkeit und der Abkömmlichkeit.26 Etwa zur gleichen Zeit sprachen Alison und Peter Smithson, exponierte englische Architekten und Mitglieder der Independent Group, die zu einem Zentrum der Pop-Art geraten sollte, von einer aesthetics of change, einer Ästhetik des Wechsels.27 In der Publikation Metabolism 1960: The Proposals for a New Urbanism, der Dokumentation der Konferenz zur gleichnamigen japanischen Avantgardebewegung, die analog zum Stoffwechsel lebender Organismen die ständige Veränderung von Architektur und Stadt propagierte, beschwor der Architekturkritiker Noboru Kawazoe neue Schöpfungen, die aus Zerstörungen hervorgingen.28 Peter Cook, Mitbegründer und Wortführer der radikalen englischen Gruppe Archigram, nahm das Stichwort der Smithsons auf, sprach 1963 geradeheraus von Wegwerfarchitektur und ermunterte seine Leser und potentielle Bauherren, sie als »heilsames, ganz und gar positives Zeichen« zu sehen.29 Sein Kollege und Weggenosse Cedric Price bezeichnete die eigenen Architekturprojekte launig als short-life toys, als kurzlebige Spielzeuge, die nicht länger als zehn Jahre existieren sollten, einige nicht einmal zehn Tage.30