Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen  Theater - Koku G. Nonoa - E-Book

Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater E-Book

Koku G. Nonoa

0,0

Beschreibung

Aufgrund ihrer verwandten Störstrategien sind Hermann Nitsch und Christoph Schlingensief wie "zwei Zwillingsbrüder" zu betrachten, die individualisierte Künstlerpersönlichkeiten aufweisen.Sie sind zudem von der institutionskritischen Inszenierung theatraler, körperzentrierter Präsenz und Erfahrung des Realen bis zur Fusionierung ritueller, religiöser und politischer Elemente verwandt und sehr gute compagnons de route. Diese Publikation widmet sich der Analyse des Theaters als Kunst bzw. Ästhetik kultureller Selbstreflexion und Selbstveränderung in Nitschs und Schlingensiefs postdramatischen Inszenierungs- sowie Störstrategien im Spannungsfeld von Religion, Politik und Theater.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 567

Veröffentlichungsjahr: 2020

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Koku G. Nonoa

Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

Umschlagabbildung: Aus den Voice Performances (2018) von Dr. Karina Lemma / Department of Drama and Film / Faculty of Art / TUT / Pretoria

 

 

© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

ISBN 978-3-7720-8702-8 (Print)

ISBN 978-3-7720-0141-3 (ePub)

Inhalt

VorwortTEIL I: Begriffserklärungen und theoretische Überlegungen1.1. Diskussion um theoretische Konzepte und Paradigmen1.1.1. Postdramatisches Theater und Gegenkultur als Alternative1.1.2. Dramatisches und postdramatisches Theater: ein Nebeneinander1.1.3. Postdramatisches Theater oder Postdramatik?1.2. Forschungsgegenstand1.3. Forschungsstand1.4. Theater: ein Medium des kompromissbereiten Praxis- und Erkenntnisschauplatzes1.5. Theoretische Überlegungen1.5.1. Theater als Kunst und Ästhetik des kulturellen Zelebrierens1.5.2. Institution Kunst: vom Kult- zum Ausstellungswert kulturellen Zelebrierens1.5.3. Institution Kunst/Theater und künstlerische InstitutionskritikTEIL II: Das Orgien-Mysterien-Theater und die Aktion 18, „tötet Politik!“2.1. Das institutionskritische und zivilisationskritische Orgien-Mysterien-Theater2.1.1. Hermann Nitsch: eine kommentierte Biografie2.1.2. Schloss Prinzendorf: Zentrum und Schauplatz des Orgien-Mysterien-Theaters2.1.3. Das Orgien-Mysterien-Theater im Spannungsbogen des Wiener Aktionismus2.1.4. Das Orgien-Mysterien-Theater und die aktuelle soziokulturelle Situation2.1.5. Institutionskritische Teilentwicklungen von Nitschs Theateransatz2.1.6. Das Orgien-Mysterien-Theater und spätmittelalterliche Passionsspiele2.1.7. Institutionskritische Reaktionen auf die Passion Christi in der Kunst2.1.8. Performativ-zeremonielles Reflektieren über den Körper im Theater2.1.9. Zivilisationskritik und ästhetisch-transformative Erfahrung im Theater2.1.10. Die Wiederherstellung fremdgewordener, ritueller und theatraler Kulturpraktik2.1.11. Das Orgien-Mysterien-Theater als Urtheatralisierung2.1.12. Die theatrale Verstrickung des menschlichen Körpers mit der Dingwelt2.2. Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“: postdramatische Ästhetik und Urtheatralisierung als rituelles und politisches Ereignis2.2.1. Christoph Schlingensief: eine kommentierte Biografie2.2.2. Sozialkritische und politische Dimension postdramatischer Ästhetik2.2.3. Aktion 18, „tötet Politik!“: ein grenzenloser Theaterschauplatz 2.2.4. Schlingensiefs postdramatische Produktions- und Wirkungsästhetik2.2.5. Postdramatische Urtheatralisierung als politisches und rituelles Ereignis2.2.6. Das Ritual im postdramatischen Theater: ein wirkungsästhetisches Mittel2.2.7. Schlingensiefs politisches Theater: Betonung realer Aktionen    2.2.8. Postdramatische Ästhetik (vorkolonialer Zeit) in AfrikaTEIL III: Theater als Kunst sowie Ästhetik kultureller Selbstreflexion und Selbstveränderung3.1. Zum Potential der Störinszenierung bei Nitsch und Schlingensief3.1.1. Dynamik der Ordnungen im Spannungsfeld von Politik, Religion und Theater3.2. Kulturelle Interferenzphänomene: von Transkulturalität bis zum kulturellen Synkretismus im Theater3.2.1. Kulturelle Interferenzphänomene3.2.2. Transkulturalitätskonzept3.2.3. Von Transkulturalität zum kulturellen Synkretismus3.3. Zum postdramatischen Theatersynkretismus3.3.1. Postdramatischer Theatersynkretismus: Wahrnehmung im Wandel3.3.2. Postdramatischer Theatersynkretismus und rituell-religiöse Praxen3.4. AusblickBibliographieAbbildungen in dieser ArbeitDanksagung

Vorwort

Das Forschungsinteresse und der thematische Anstoß zu der vorliegenden Arbeit gehen von der sozialkritischen, rituellen und politischen sowie von der institutions- und zivilisationskritischen Dimension von Kunst (im Allgemeinen) und des Theaters (im Besonderen) in der Gesellschaft aus. Diesbezüglich fokussiert die Untersuchung auf solche künstlerische bzw. theatrale Erscheinungsformen und Schauplätze, die sich nicht nur durch Interferenzen (ur-)alter und zeitgenösischer, europäischer und außereuropäischer bzw. afrikanischer Ausdruckselemente auszeichnen. Zugleich richtet diese Arbeit auch ihr Augenmerk auf theatrale Gestaltungformen, die eine körperzentrierte Präsenz und eine Erfahrung des zeiträumlichen Realen sowie eine performative und ästhetische Fusionierung von rituellen bzw. religiösen, politischen Praxen – und somit von Kunst und Realität – aufweisen. Der Zugang zum Gegenstandsbereich dieses Forschungsinteresses gründet auf dem postdramatischen Theater, das gleich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der Theaterforschung und -praxis kaum wegzudenken ist: 1999 prägte Hans-Thies Lehmann mit seinem gleichnamigen Buch den Begriff postdramatisches Theater als einen Versuch, bestimmte Theaterformen, die „zugleich Live-Situationen des Theaters und die Möglichkeiten der ‚Ästhetik des Performativen’ (Erika Fischer-Lichte) ins Spiel bringen“,1 deskriptiv und theoretisch darzustellen. In seiner Studie geht er auf vielfältige ästhetische Merkmale unterschiedlicher theatraler Ausdrucksformen ein und liefert eine Fülle beispielhafter Materialien aus der zeitgenössischen sowie internationalen Theaterpraxis. Dabei geht Lehmann schon von einem sehr umfassenden Konzept des postdramatischen Theaters aus, wenn er schreibt: „Das postdramatische Theater schließt also die Gegenwart / die Wiederaufnahme / das Weiterwirken älterer Ästhetiken ein, auch solcher, die schon früher der dramatischen Idee auf der Ebene des Textes oder des Theaters den Abschied gegeben haben.“2 In ihrem Buch Ästhetik des Performativen (2004), das fünf Jahre später nach dem Erscheinen von Lehmanns postdramatisches Theater analysiert auch Erika Fischer-Lichte aus der erreignishaften sowie prozessualen Perspektive ähnliche Theaterphänomene der performativen Wende. Hierzu geht es nicht darum, den Unterschied zwischen Theater und Performance zu analysieren, sondern die wirkunsgsästhetischen Möglichkeiten der Realerfahrung im „Feld dazwischen“ des postdramatischen Theaterkonzeptes bilden die Grundlage der vorliegenden Untersuchung: In Anlehnung an Lehmanns Argumenation fokussiert diese Analyse auf die „fießenden Grenzen“ und den „Grenzbereich zwischen Performance und Theater“ in Verknüpfung mit dem prozessualen Erreignischarakter und „der Geste der Selbstdarstellung des Performance-Künstlers.“3

Ausgehend von diesen Beobachtungen wird in dieser Analyse das Thema „Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater“ behandelt, um am Beispiel von Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ aktuelle Merkmale postdramatischen Theaters zu veranschaulichen. Die Wiederaufnahme älterer Theaterformen und Ästhetik – als Wirkungspotentiale von Performance und ästischem Ritual, als Verflechtung von Kunst und realem Leben – lässt sich bei den beiden angeführten Künstlern erörtern: Konkret untersucht diese Arbeit, wie die theatralen Schauplätze bei Nitsch und bei Schlingensief auf voraristotelische sowie mittelalterliche Theaterformen zurückgreifen und strukturelle sowie transkulturelle Parallelen zu außereuropäischen bzw. afrikanischen Theaterpraxen aufweisen.

Ein wissenschaftlich analytischer Zugang zum Orgien-Mysterien-Theater und zu der Aktion 18, „tötet Politik!“ geht aber mit vielen Herausforderungen Hand in Hand. Beide Theaterentwürfe weisen eine praktische, offene Gestaltungsform auf, die reale soziokulturelle und politische Alltagsgeschehnisse direkt miteinbezieht. Dabei erschüttern sie in vielerlei Hinsicht gegenwärtige bestehende institutionelle und kulturelle Rahmenbedingungen des künstlerischen Schaffens, das zwischen realer und fiktionaler Erfahrung von Zeit, Raum und Körper ständig oszilliert. So ist in beiden Theateraktionen nicht eindeutig, ob es um Fiktion oder Realität geht. Insofern lassen sie sich nicht anhand des dramatischen bzw. klassischen Theatermaßstabs erfassen: Zunächst fehlt es an einem konventionellen Werk bzw. Theatertext als Grundlage für eine mehr oder minder werkanaloge Aufführung. Dann erwecken sie auf den ersten Blick angesichts ihrer jeweiligen Inhalte sowie Gestaltungsformen den Eindruck, als ob es sich um chaotische Theaterphänomene handelt, die nur darauf abzielen würden, zu irritieren und Skandale zu erzeugen. Dieser Eindruck erscheint einigermaßen und zum Teil berechtigt zu sein, denn im Gegensatz zum engen und konventionell dominanten Theaterverständnis lenken Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ das Augenmerk auf eine andere Form theatraler Praxis und erfordern eine andere Wahrnehmungs- bzw. Zugangsweise. Als Beispielformen postdramatischen Theaters entgehen beide den Beschreibungs- und Analysekategorien des dramatischen Theaters. Außerdem sind sie prägnante Beispiele künstlerischer Aktivitäten, „die sich weder der Tradition einer Kunst zuordnen lassen noch überhaupt sich auf die traditionellen künstlerischen Medien beschränken […]. Überdies geben die Werke, oftmals nicht mehr zu erkennen, wo die Grenze zu ihrem nicht-künstlerischen Außen verläuft; vielmehr destabilisieren sie diese gezielt.“4 In der Tat geht es um eine Form künstlerischer Gegenkultur, die bezüglich der Produktions- und Rezeptionsverhältnisse von Kunst normabweichend ist und soziokulturelle Normen sowie entsprechende gewöhnliche Erwartungshaltungen erschüttern. Nicht nur „‚Schlingensief‛ und ‚Skandal‛ sind“, wie Susanne Hochreiter in diesem Zusammenhang konstatiert, „in einer bestimmten medialen Wahrnehmung und Kommunikation zum semantischen Minimalpaar geworden […]“, sondern auch Nitsch „steht für viele [ebenso] als Garant für Aufregung, für Provokation, aber auch für fragwürdige künstlerische Produktivität.“5

Werden Begriffe wie Skandal und Provokation sowie andere ähnliche negativ konnotierte Aussagen verwendet und in Verbindung mit bestimmten Künstler_innen gebracht, so handelt sich nicht nur um wertende Blickregime,6 die sich an der Beharrung auf dominanten Wahrnehmungsschemata entzünden. Zugleich stehen solche Blickregime durch ihre „Mechanismen der Skandalisierung“ im Welchselverhältnis zum Skandal und tragen zur Erzeugung von Aufregungen auf der Basis eigener Gruppennormen bei, die dadurch bestätigt werden.7 Auch „Provokation gilt ihren Gegner_innen als etwas Anstößiges, Unseriöses, Unerlaubtes und wird als Urteil über Kunst, die sich verdächtig macht, „nur“ provozieren zu wollen, abwertend verstanden.“8 In Anlehnung an Hochreiters These, die besagt, „der Skandal im Modus der Kunst […] ermöglicht (potential) Raum für eine kritische Öffentlichkeit, die Skandalisierung wirkt diesem Raum entgegen […]“,9 konzentriert sich diese Untersuchung auf einige gegenkulturelle und institutionskritische Möglichkeiten von postdramatischem Theater in diesem Kontext.

Für das Anliegen dieser Arbeit lassen sich das Orgien-Mysterien-Theater und die Aktion 18, „tötet Politik!“ nicht nur als Verschmelzung sowie Radikalisierung von Formen der Installations-, Happenings-, Aktions- und Performancekunst zuordnen. Beide Theateransätze eignen sich auch andere soziokulturelle und politische Dimensionen in ihrem Sosein für das Theater an. Darüber hinaus sind sie postdramatische Theaterentwürfe, „die, an die vorkoloniale Tradition oder im internationalen Maßstab gesehen an vorbürgerliche Kulturen anknüpfend, als […] Phänomene exemplarisch erscheinen für heutige internationale Tendenzen, bisherige Strukturen von Theater und verfestigte enge Grenzen von Kunst gegenüber anderen kulturellen [sowie politischen] Tätigkeiten aufzubrechen und fließender zu machen.“10 Dabei handelt es sich um die Kategorien der Entgrenzung und der Erfahrung im Prozess künstlerischen Schaffens und Rezipierens: In Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung stellt Juliane Rebentisch Folgendes fest: „Während sich für die in den letzten fünfzig Jahren zu verzeichnenden Entwicklungen hin zu intermedialen und offenen Werken der Begriff der Entgrenzung durchgesetzt hat“, sei in der ästhetischen Theorie auch 1970, besonders in der deutschsprachigen philosophischen Ästhetik, parallel dazu ein weiterer Begriff wichtig geworden: die Erfahrung. Die Entgrenzung betrifft die neuartigen Kunstformen, die sich seit den 1960er-Jahren auf produktionsästhetische Gestaltungsformen beziehen. Der Begriff der Erfahrung fokussiere eher auf rezeptionsästhetische Wirkungsformen der Kunst. Die Produktions- und rezeptionsästhetischen Erfassungskategorien beziehen sich wie folgt aufeinander: Die Kategorie der Erfahrung ist als eine kunstpraktische Reaktion auf die Entgrenzungstendenzen in der Kunst zu verstehen. Dadurch wird ein besonderes Verhältnis zwischen dem rezipierenden Subjekt und dem zu rezipierenden Objekt erfahrungs- und wirkungsästhetisch hergestellt.11

Die vorliegende Untersuchung verfolgt einen theater- und kulturwissenschafltichen und transkulturellen sowie einen kunst- und kulturgeschichtlichen bzw. interdiszplinären Ansatz, der eine enge Wechselbeziehung zwischen wissenschaftlichem und künstlerischem Diskurs aufweist. Diese Arbeit baut hauptsächlich auf einem komparatistischen methodischen Verfahren auf und gliedert sich in drei Teile. Der erst Teil „Begriffsbestimmungen und theoretische Überlegungen“ geht auf zentrale Konzepte und Paradigmen sowie grundlegende theoretische Überlegungen der Untersuchung ein: Gegenkultur, postdramatisches Theater, cultural performance bzw. cultural celabration und Institutionskritik. Zum anderen werden der Untersuchungsgegenstand und den Forschungsstand zum Thema dargestellt. Der zweite Teil „Das Orgien-Mysterien-Theater und die Aktion 18, „tötet Politik!““ setzt sich mit der konkreten Analyse des angeführten Forschungsgegenstands auseinander. Als Ausgangs- und Orientierungspunkt zum allgemeinen Erfassen des künstlerischen Werdegangs von Nitsch und Schlingensief bilden ihre jeweiligen künstlerischen Biographien in diesem Arbeitsteil. Dann zeigt die Analyse, wie sich das Orgien-Mysterien-Theater und die Aktion 18, „tötet Politik!“ zum einen vom klassischen Theaterverständnis distanzieren und zum anderen mit performativen sowie rituellen Strategien Grenzüberschreitungen bzw. Transgressionen postdramatischer Gestaltungsformen bewerkstelligen. Dabei wird zusätzlich erörtert, welche expliziten und/oder impliziten Ähnlichkeiten und Wechselbeziehungen beide Theaterpraktiken mit mittelalterlichen oder afrikanischen vorkolonialen Theaterformen zeigen und wie dabei religiöse Handlungen transkulturelle bzw. synkretistische Merkmale aufweisen. In diesem Zusammenhang wird zudem veranschaulicht, wie Performativität und Ritualität je nach den zeiträumlichen, soziokulturellen und politischen Bedingungen unterschiedliche Bedeutungen und Funktionen haben. Hierbei wird in Betracht gezogen, wie mit der Akzentuierung performativ, rituell, gegenkulturell und institutionskritisch geprägter Strategien paradoxe Störkonstellationen im Rahmen dieser beiden Theateraktionen in den Vordergrund gerückt werden. Der dritte und letzte Teil widmet sich der Analyse des Theaters als Kunst bzw. Ästhetik kultureller Selbstreflexion und Selbstveränderung, der künstlerischen Behrührungspunkte in Nitschs und Schlingensiefs Inszenierungs- sowie Störstrategien, der Dynamik der Ordnungen im Spannungsfeld von Religion, Politik und Theater, des postdramatischen Theatersynkretismus sowie der Neuperspektivierung der Werkkategorie postdramatischer Ausprägung.

TEIL I: Begriffserklärungen und theoretische Überlegungen

1.1.Diskussion um theoretische Konzepte und Paradigmen

1.1.1.Postdramatisches Theater und Gegenkultur als Alternative

Gegenkultur ist ein wiederkehrender Untersuchungsgegenstand der Kulturwissenschaften. Der hier verwendete Begriff bezieht sich auf bestimmte postdramatische Theaterschauplätze, die sich durch eine durchlässige Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst und somit durch ein Eindringen der äußeren Wirklichkeit in die Kunstsphäre und umgekehrt auszeichnen. Diese Verschiebung von der auschließlich textzentrierten Theaterform hin zur Entgrenzung sowie Verlagerung des theatralen Schauplatzes in den real gelebten Alltag soll in dieser Arbeit mit einer Revision des Konzepts Gegenkultur konkret diskutiert werden. Ausgehend von gesellschaftlicher und sozialer Interaktion definiert der amerikanische Soziologe J. Milton Yinger Gegenkultur als aktive Infragestellung geltender Normen und Werte eines bestehenden Mainstreams durch eine Minderheit derselben Gesellschaft in einer ausgelebten Form von Nonkonformität. Vorausgesetzt wird das Ziel, die dominante Gruppe bzw. ihre Regeln zu ersetzen.1 Für den amerikanischen Sozialkritiker Theodore Roszak ist Gegenkultur eine kulturelle Erscheinungsform, die von den entscheidenden Grundsätzen einer Gesellschaft so stark abweiche, dass sie von vielen nicht als Kultur, sondern als eine barbarische Strömung empfunden werde.2 Roszak zufolge entspringt Gegenkultur einer radikalen Unzufriedenheit und einem Erneuerungswillen jener Menschen, die mit den bestehenden Werten, Regeln und Lebensweisen der dominanten Kultur in Widerstreit stehen und nach alternativen Wegen suchen.3 Diese Arbeit knüpft an das Verständnis von Gegenkultur als Alternative an.

In einer spezifischen Ausprägungsform von Theater am Beispiel von Nitschs Orgien­-Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ lässt sich eine Art von Gegenkultur beobachten, die eine andere Bedeutung als lediglich die Idee des Aufbegehrens gegen die Normen und Regeln des klassischen Theaterverständnisses vermittelt. Gegenkultur ist im postdramatischen Theaterverständnis mit experimentellen Zielen und mit einer Wandlung des theatralen Ausdrucksverhaltens verbunden. In diesem Sinne sind einige postdramatische Theaterformen gegenkulturell, nicht weil sie gegen die Textzentriertheit des dramatischen bzw. klassischen Theaters gerichtet sind oder es aufzulösen beabsichtigen, sondern weil sie eben ihre ästhetischen Ausdrucksmittel erweitern. Sie schaffen innovative theatrale Gestaltungsformen, die in den meisten Fällen keinen (fertigen) Theatertext zum Ausgangspunkt einer Aufführung haben. Sie sind gegenkulturell, weil sie in ihren experimentellen und innovativen Prozessen z.B. nicht mehr dem Selbstverständnis der modernen europäischen Kultur entsprechen, die „sich überwiegend in Texten artikuliert und repräsentiert“.4 Sie entsprechen dem performative turn: Sie fokussieren auf aktions- sowie interventionsorientierte Ausdrucksdimensionen von Handlungsereignissen bis hin zur Inszenierungskultur und der praktischen Herstellung von Erfahrungen im Alltagsleben.5 So geht die performative Wende seit den 1960er-Jahren nicht nur in den einzelnen Künsten mit einem Performativierungsschub, sondern auch mit der Herausbildung einer neuen Kunstgattung einher, die zu fließenden Grenzen zwischen den verschiedenen Künsten führt und Ereignisse statt Werke schafft.6 Diesbezüglich zielt gegenkulturell – wie später mit dem Begriff Institutionskritik veranschaulicht wird – in der hier vorgeschlagenen Verwendung nicht mehr primär auf den expliziten Widerstand gegen etwas ab, weil das textzentrierte Theater immerhin bestehen bleibt. So soll bei Gegenkultur über die a priori vorliegende gedankliche Verknüpfung mit Kontra, wider, Widerstand gegen hinaus auch Wert auf (je nach Kontext) die Idee oder das Potential von alternativ, innovativ, experimentell, tabubrechend, gesellschafts- und ideologiekritisch, institutionskritisch und/oder nebeneinander gelegt werden.

1.1.2.Dramatisches und postdramatisches Theater: ein Nebeneinander

Es ist notwendig, auf den ersten Seiten dieser Arbeit das Verhältnis zwischen dem textzentriert-dramatischen und dem körperzentriert-postdramatischen Theater erneut zu verdeutlichen. Bereits ab dem 19. Jahrhundert werden kennzeichnende Merkmale des Dramas ins Wanken gebracht und abgelehnt. In der Theoriedes modernen Dramas: 1880–1950 schreibt Peter Szondi 1954, dass die thematische Wandlung für die Krise des Dramas gegen Ende des 19. Jahrhunderts verantwortlich sei und dass die alte dramatische Form mit entsprechenden Gegenbegriffen ersetzt werden sollte.1 Er führt deshalb das Epische als Gegenmodell ein. Die entscheidende Innovation dabei ist Bertolt Brechts episches Theater, das den traditionellen Bühnendialog ansatzweise in die Form des Diskurses oder Monologs transformierte. Mit Brechts Theorie wird eine Aussage im Theater durch eine gleichwertige Beteiligung von verbalen und kinetischen Elementen vermittelt und ist nicht ausschließlich literarischer Natur.2

Heutzutage bestehen Formen dramatischen und postdramatischen Theaters nebeneinander. Eines der großen Missverständnisse, das es zu überwinden gilt, ist die Annahme, dass postdramatisches Theater Formen der literarisch-dramatischen Theatertradition aufgelöst hat oder aufzulösen versucht. Mit Gegenkultur im Verhältnis zur Institution des klassischen Theaters wird das Augenmerk darauf gelenkt, dass das textzentrierte Theaterverständnis im Sinne von Bettine und Christoph Menke nur eine der Erscheinungsformen des Theaters sei. Die postdramatische Perspektive ist in diesem Kontext als gegenkulturell und institutionskritisch aufzufassen – sie ermöglicht mindestens zwei emanzipatorische Betrachtungsweisen: erstens das stärker gewordene Bewusstsein des erweiterten Theaterbegriffs, der aktionistische, performative, installativ-experimentelle theatrale Ausdrucksformen – inklusive ritueller Bezüge – ins Theater einschließt; zweitens verweist diese Betrachtungsweise auf das antike Theater als voraristotelisch, aber auch auf mittelalterliche und außereuropäische Theaterformen. Beide Ansichten veranschaulichen zugleich, dass das Drama oder das dramatische Theaterverständnis für „eine historisch spezifische, vor allem und zuvor aber als eine strukturell beschränkte Option des Theaters“3 steht. Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater heißen demnach

ganz und gar nicht: Theater ohne oder gar gegen Text. […] Postdramatisch aber heißt die gegenwärtige Theaterlandschaft nicht, weil es darin keinerlei Dramen und keinerlei dramatische Elemente mehr gäbe, sondern weil das Dramatische seine Bedeutung als Norm des theatralen Vorgangs eingebüßt und das in der frühen Neuzeit entwickelte Dispositiv des Theaters der Repräsentation sich aus vielerlei Gründen, nicht zuletzt wegen der inflationären Fülle von dramatisierenden Repräsentationen im Alltag der Medienkultur, erschöpft hat. Soviel jedenfalls beweist die enorme Ausweitung, die Begriff und Praxis des Theaters im Zeitalter der Medienkultur erfahren haben. Theater ist in keiner Weise mehr auf das dramatische Paradigma festzulegen, das in Europa zwischen Renaissance und dem Aufbruch der historischen Avantgarden in Europa theoretisch und weiterhin praktisch beherrschend gewesen ist.4

Im Folgenden soll nun auf die Verwechslung von postdramatischem Theater mit dem Begriff Postdramatik ausdifferenzierend eingegangen werden.

1.1.3.Postdramatisches Theater oder Postdramatik?

Nachdem veranschaulicht worden ist, dass Formen des dramatischen und postdramatischen Theaters unter sich stetig weiterentwickelnden Ausdrucksformen nebeneinander fortbestehen, möchte die folgende Argumentation auf ein anderes Missverständnis eingehen, das zwischen postdramatischem Theater und Postdramatik besteht. Eingangs ist anzumerken, dass der Begriff Postdramatik nicht direkt auf Lehmann zurückzuführen ist. Jedoch verwendet Lehmann das Adjektiv postdramatisch und fallweise das Substantiv „das Postdramatische“ im Zeitalter der Medienkultur zur Beschreibung der vielfältigen künstlerischen sowie ästhetischen Mittel in der gegenwärtigen Theaterlandschaft, in der das Dramatische nicht mehr als zentrale Norm und führendes Paradigma theatralen Schaffens gilt: Unter postdramatisches Theater fallen für Lehmann nomadische Produktionsstrukturen, Networks, neue Formen flüchtiger Gemeinschaften und gemeinsamer Kreation, intermediale Aktivitäten, welche die elektronische Kommunikation ästhetisch und pragmatisch nutzen, Projekte zwischen Ausstellung, Installation und Performance, Aktions- und Projektformen im urbanen Raum, dokumentarisch interessiertes Theater mit Laien, Verschaltungen von politischen und ästhetischen, künstlerischen und didaktischen Prozessen (lecture performance) in und mit unterschiedlichen Institutionen. All diese Formen scheinen Indizien für eine Verschiebung im traditionellen Verständnis der performativen Künste zu sein.1

In seinem Artikel „Nach der Postdramatik“ (2008) und Buch Kritik des Theaters (2013) kritisiert der Dramaturg und Professor für Schauspielgeschichte Bernd Stegemann mit Rückgriff auf Lehmanns Buch Postdramatisches Theater die Spielformen im Gegenwartstheater, das großteils von Formen postdramatischen Theaters dominiert zu sein scheint. Bereits im Jahr 2008 verwendet Stegemann in seinem in der Theaterzeitschrift Theater heute veröffentlichten Artikel „Nach der Postdramatik“ den Begriff Posdramatik u.a. mit folgenden kritischen Auslegungen:

Vor knapp zehn Jahren erschien das „Postdramatische Theater“ von Hans-Thies Lehmann und wurde in kurzer Zeit zum Standardwerk. […] Der Reiz des Titels, der zum Schlagwort einer ästhetischen Position geworden ist, ist offensichtlich. Das Buch verspricht ein neues ästhetisches Paradigma und liefert gleich eine ganze Anzahl neuer Beschreibungsvokabeln. Zugleich verspricht es die lang ersehnte Befreiung des Theaters aus der Vorherrschaft des Dramas. Was heute mit Postdramatik gemeint ist, glaubt jeder Zuschauer oder Theatermacher zu wissen. Für die einen ist es das ästhetische Experiment, ohne nachvollziehbare Geschichte einen Theaterabend erfinden und inszenieren zu können. Für den anderen ist es die Aufforderung zur Mitarbeit am theatralischen Geschehen: Erzähl´ Dir Deine eigene Geschichte, wenn Du denn unbedingt eine brauchst! Und für den dritten, den Theaterwissenschaftler, ist es die Erfüllung eines Traums vom Theater, das sich endlich mit dem Vokabular der eigenen Profession beschreiben lässt. Doch was meint „postdramatisch“ und welche theatralischen Ereignisse lassen sich damit beschreiben?2

Fünf Jahre später bemängelt er in seinem Buch Kritik des Theaters – indem er neben der Bezeichnung „postdramatisches Theater“ immer noch den Begriff Postdramatik gebraucht –, dass Performance, Präsenz und Selbstreferenz die Tradition von Mimesis, Schauspiel und Bedeutung ersetzt haben. Alle Ereignisse seien selbstreferenziell und würden eine Authentizität beanspruchen; außerdem bezeichne – ihm zufolge – der Begriff Postdramatik von seiner Bedeutung her zuerst eine Theaterform nach dem Drama.3

Angeregt durch die 2013 an der Universität Wien gegründete Forschungsplattform „Elfriede Jelinek: Texte – Kontexte – Rezeption“ wurde aber im Zeitraum von Oktober 2013 bis März 2014 die Postdramatik, unter deren Gesichtspunkt mittlerweile zunehmend Theatertexte von Elfriede Jelinek analysiert werden, kritisch hinterfragt. In dieser Zeit konnten die Pro- und Antagonisten (ausschließlich aus Europa) des postdramatischen Theaters und der Postdramatik über die Problematik und die Implikationen der jeweiligen Begrifflichkeiten in unterschiedlichen interdisziplinären Arbeitsgruppen mit verschiedenen Themenschwerpunkten zunächst per E-Mail sowie anhand von Videokonferenzen miteinander kommunizieren. Mitglieder der verschiedenen Arbeitsgruppen und Themenschwerpunkte trafen dann vom 14. bis 18. Mai 2014 im Rahmen des Symposiums „Sinn egal. Körper zwecklos“. Postdramatik – Reflexion & Revision in der Kunsthalle Wien im Museumsquartier zusammen.4 Als Ergebnisse dieser Auseinandersetzungen kam überwiegend zum Vorschein, dass Postdramatik5 ein problematischer Begriff ist, weil der Begriff – abgesehen davon, dass er nicht dasselbe bezeichnet, was Lehmann unter postdramatischem Theater subsumiert hat – etwas besonders Problematisches konnotiert: An der Postdramatik findet selbst Lehmann die gedankliche Querverbindung störend, dass es einst Dramatik gegeben habe und dass danach etwas anderes gekommen sei, das nichts mehr damit zu tun habe. „Ich habe den Begriff postdramatisches Theater aber gerade gewählt“, so Lehmann, „um zu zeigen, dass es eine Situation vor dem Hintergrund und Echoraum der dramatischen Tradition gibt. Ich betone das deshalb, um den Verdacht der Text- und Dramafeindlichkeit zurückzuweisen.“6 Obgleich Carl Hegemann kein Befürworter des postdramatischen Theaters ist, findet er den Begriff Postdramatik ebenfalls problematisch, da dieser seiner Meinung nach „etwas völlig anderes als ‚postdramatisches‘ Theater“7 bezeichnet. Für Patrick Primavesi stiftet Postdramatik Verwirrungen.8 Außerdem tauchen bei diesem Begriff im Sinne von Alexandra Millner drei Hauptprobleme auf: 1) Während Lehmanns Begriff des Postdramatischen eine Kategorie zur Beschreibung der Vielfalt zeige, erscheine Postdramatik nicht als deskriptiv, sondern als normativ. Dadurch werde gefragt, ob die Aufführung postdramatisch sei, anstatt zu fragen, ob sie postdramatische Züge aufweise. Millner zufolge erfasst eine solche Kategorisierung ein bestimmtes Phänomen in seiner Reinkultur, während aber das, was beschrieben werden solle, nur in Hybridform existiere. 2) Millner findet das Verstehen des Präfixes „Post“ in Postdramatik als eine chronologische Abfolge aus den gleichen Gründen problematisch, die bereits Lehmann angesprochen hat. 3) Dem Begriff Postdramatik hafte ein Paradox an, weil seine Aspekte anhand der Theaterstücke von Elfriede Jelinek entwickelt worden seien und nun auf ihre neueren Stücke mit der Frage projiziert werden, ob diese denn postdramatisch genannt werden könnten. Dieses Verfahren sei nach Millner nicht nur hermetisch-selbstreferenziell, sondern bilde zugleich einen unproduktiven Teufelskreis, weil dadurch die Individualität und „Idiosynkrasie“ – als wortwörtlich je eigenständige bzw. eigenartige Zusammensetzung oder Mischung – jedes einzelnen Kunstwerks missachtet werde.9

Das Interesse der vorliegenden Arbeit gilt demnach dem Begriff postdramatisches Theater als eine Beschreibungskategorie vielfältiger Erscheinungsformen des Theaters mit transkulturellen und synkretischen Zügen, die in einer Zeit ästhetisch-koexistierender Elemente und Formen aus verschiedenen zeiträumlichen Kulturen der Welt Interferenzfiguren hervorbringen.

1.2.Forschungsgegenstand

Im Zentrum dieser Arbeit stehen Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“. Beide Theaterformen weisen rituelle, kunstreligiöse, synkretistische, performative, politische und künstlerisch grenzüberschreitende Vorgehensweisen auf. Bevor im zweiten Teil dieser Arbeit darauf detaillierter eingegangen wird, erfolgt eine Kurzzusammenfassung des gesamten Forschungsgegenstands.

In Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater geht es um die Begegnung von antiken griechischen bzw. dionysischen Kultpraxen und katholisch-christlichem Ritual. Das angestrebte Ziel ist eine psychologische und spirituell-seelische Transformation, die über Abreaktion und Katharsis hinausgeht. Auch Christoph Schlingensief geht es in seiner Aktion 18, „tötet Politik!“ um eine Transformation bzw. um eine Reinigung der sozialen und politischen Begebenheiten mit Rückgriff auf afrikanische Voodoo-Rituale. Diesbezüglich macht er sich z.B. auf eine symbolische Deutschlandtour durch das Rheinland und das Ruhrgebiet. Währenddessen operiert er im Grenzbereich ästhetischer und realpolitischer Wirklichkeit: Dadurch kann er in der Rolle eines Voodoo-Priesters auftreten und die politische Lage in Bezug auf die politischen Tätigkeiten des damaligen FDP-Landesvorsitzenden Jürgen W. Möllemann enthüllen – mit Beteiligung unterschiedlicher Menschen unter anderem aus den Medien, der Staatsanwaltschaft und der Polizei. Wie in einem authentischen rituellen Prozess fungiert diese Aktion als eine liminale Phase, in deren Folge eine ästhetische „Neugeburt“ der Politik stattfinden soll. Somit weisen beide – das Orgien-Mysterien-Theater und die Aktion 18, „tötet Politik!“ – sozial-, institutions- und zivilisationskritische Merkmale auf, indem sie besondere ästhetische Störstrategien einsetzen, um die Zuschauer_innen im Brechtschen Sinne zu aktivieren und als Mitwirkende in die Inszenierung mit einzubeziehen.

Darüber hinaus liefern das strukturelle und das funktionelle Ritualmotiv praktische Beispiele für einen kulturellen Synkretismus im postdramatischen Theater, der antike griechische und außereuropäische bzw. afrikanische Kulturelemente einschließt. So lässt sich in dieser Studie zu analysierenden Theaterformen Folgendes beobachten: Sie operieren im Zwischenbereich von Ritual-(Theater-)Kunst-Realität. Insofern geht diese Studie über das postdramatische Theater hinaus, um aufzuzeigen, wie bei Nitsch und Schlingensief Theater als Kunst und Bereich des kulturellen Synkretismus fungiert, wo Elemente unterschiedlicher kultureller Epochen und Räume ineinander greifen bzw. interferieren. Die in dieser Arbeit infrage kommenden Interferenzelemente beziehen sich folglich auf antike griechische, mittelalterliche, außereuropäische bzw. afrikanische Theaterformen sowie auf solche Theaterpraxen, die explizite und/oder implizite Ähnlichkeiten mit Nitschs und Schlingensiefs Theateransätzen aufweisen: beispielsweise Antonin Artauds Theaterkonzept, mittelalterliche geistliche Spiele, Opferrituale und Dionysos-Kult in der griechischen Antike, Kote-tlon der Bamana im alten Mali und Alarinjo der Yoruba in Nigeria.

Einer der Vorläufer der postdramatischen Theaterästhetik mit rituellen Bezügen ist Antonin Artaud. David Willes bemerkt: „Artaud expressed more passionately and forcefully than anyone else in the twentieth century the idea that psychological theatre is physically inert and spiritually sterile.“1 Das Interesse dieser Arbeit liegt an Artauds Theaterkonzept in Bezug auf die Verwendung der Sprache als Beschwörungsformel, um mit Lautmalerei, Assonanzen und Dissonanzen auf die Emotionen und das Unbewusste der Zuschauer_innen einzuwirken. Nach Artaud soll die Sensibilität gesteigert, betäubt, bestrickt und abgeschaltet werden, um Schockwirkung zu erreichen. Die Entdeckung von Theaterformen anderer Kulturen bzw. des balinesischen Theaters – im Jahr 1931 während der kolonialen Ausstellung in Paris – hat Artaud in seiner Theaterreformidee der Loslösung vom dramatischen Text bekräftigt: Artauds Konzept markiert den nicht zu übersehenden Entwicklungsschnitt im Theater, das sich vom eurozentrischen bzw. textzentrierten Maßstab emanzipiert. Die Aufmerksamkeit wird damit zunehmend auf körperzentrierte und rituelle Rollendarstellungen gerichtet. Mit dem performative turn lässt sich das internationale Theaterverständnis aus postdramatischer und transkultureller Betrachtungsweise auf einen gemeinsamen kulturellen Nenner bringen: auf die körperzentrierte Aufführung. Die aufgelöste (ehemals klare) Trennung in Handelnde und Zuschauende ist ein anderer gewichtiger Aspekt des Verhältnisses zwischen dem Theater und allen anderen Lebensbereichen im postdramatischen Kontext. In vielen Formen internationalen Theaters im erweiterten Sinn2 kommt dies klar zum Ausdruck – bei performativen Akten, bei körperlichen Handlungen oder bei der Leibzentriertheit der kulturellen Rollendarstellungen, wie etwa die Opferrituale und der Dionysos-Kult in der griechischen Antike (etwa 500 bzw. 300 vor Chr.) zeigen.

Die Opferrituale und der Dionysos-Kult haben eine sehr wichtige Rolle für die Entwicklung des europäischen Theaters gespielt. Heute sind Begriffe wie Theater oder Performance mit anderen Bedeutungen beladen, als dies der Fall in der griechischen Antike war. Blut, Tod und Opferrituale sind der Bindestrich zwischen antiker Traditions- und Kulturtätigkeit von Theater – vor allem im Rahmen des Dionysos-Kults, wo körperzentrierte Rollendarstellungen entscheidend sind. In der griechischen Antike „rühren die Opferriten an die Grundlagen der menschlichen Existenz“3 im Rahmen theatral-performativer Rollendarstellung – ohne eine Textvorlage im Sinne des klassischen Theaterverständnisses. Das Interesse hierfür liegt in der zeiträumlichen Kontextualisierung, in der Gestaltungsform, den Kommunikationsmitteln sowie den ästhetischen Strategien dieser theatralen Rollendarstellungen, die außerdem auf afrikanische bzw. vorkoloniale Theaterformen explizit hindeuten: z.B. Kote-tlon der Bamana im alten Mali4 und Alarinjo der Yoruba in Nigeria.5

Das Kote-tlon war eine Theaterform aus dem 14./15. Jahrhundert im Königreich des Bamana-Stammes im alten Mali. Eine der Besonderheiten des Kote-tlon-Theaters besteht darin, dass die theatralen Performances und die anderen soziokulturellen sowie ökonomischen Tätigkeiten in einem engen Wechselwirkungsverhältnis zueinander stehen. Das Kote-tlon-Theater ist eine vorkoloniale Theaterform, die eine kontrollierende sowie kritische Struktur aufweist und einen soziokulturellen ebenso wie einen politischen Wandel katalysierte. Die Performer_innen dieser Theaterform beanspruchten wie Christoph Schlingensief ein künstlerisches Recht auf Kritik und spielten eine nonkonformistische sowie sozialkritische Rolle in der Gesellschaft. In diesem Sinn behauptet David Kerr: „it is not very surprising to find a sceptical attitude and implicit resistance among performers of Kote-tlon.“6 Diese Theaterform wird in Relation zu Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ gesetzt. Da Schlingensief ein Voodoo-Ritual in seiner Aktion vollzieht, wird ein zweites Beispiel einer Theaterform aus dem vorkolonialen afrikanischen Kontext zum Vergleich eingeführt: Es geht um Alarinjo der Yoruba in Nigeria.

Alarinjo war eine spezialisierte und professionelle Theaterform, die ihre Ursprünge im Voodoo-Kult Egungun hatte. Es war zudem eine satirische Maskerade, die sich stets unterschiedlichen sozialen und politischen Kontexten anpasste. Manchmal gerieten die Satiren zur scharfen Kritik gegen die feudalen Führer.

Da Theater im weitesten Sinn des Begriffes ein Kulturphänomen ist, das wiederum je nach den zeiträumlichen Bedingungen auf unterschiedlichen kulturellen Symbolen beruht, wird Aby Warburgs Pathosformel in diese Arbeit eingeführt. Unter diesem Gesichtspunkt werden Ähnlichkeiten zwischen Theaterformen aus verschiedenen Zeiten und Kulturkreisen veranschaulicht: „bei Pathosformeln, so Warburg, handelt es sich um kulturelle ‚Engramme‘ oder ‚Dynamogramme‘, die ‚mnemische Energie‘ speichern und unter veränderten historischen Umständen oder an weit entfernten Orten wieder zu entladen vermögen.“7

1.3.Forschungsstand

Zu Nitschs Orgien-Mysterien-Theater wurde und wird noch vieles publiziert – entweder als wissenschaftliche, als künstlerische oder als ausstellungs- bzw. kritikorientierte Analysearbeiten; im Rahmen dieses Forschungsstands wird die Aufmerksamkeit auf einige Forschungsarbeiten fokussiert: Es handelt sich nämlich um diejenigen wissenschaftlichen Arbeiten, die das Orgien-Mysterien-Theater mit dem kultisch-rituellen Theater in der griechischen Antike oder den Opferritualen im Dionysos-Kult, dem Wiener Aktionismus und dem Konzept des Gesamtkunstwerks analytisch in Verbindung bringen.

Die Monografie Hermann Nitsch – Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters1 ist 2015 erschienen. Herausgeber Michael Karrer bezeichnet dieses 968-seitige Buch, das in enger Zusammenarbeit mit Hermann Nitsch entstanden ist, als ein Nachschlagewerk zu allen Bereichen des Orgien-Mysterien-Theaters als Gesamtkunstwerk. Dieses Buch thematisiert analytisch in klar gegliederten Kapiteln mit Textbeiträgen jeweils folgende Bereiche: Philosophie, Aktionen, Relikte, Malerei, Architektur, Musik, Inszenierungen, Frühwerk des Orgien-Mysterien-Theaters sowie das Schloss Prinzendorf. Außerdem behandelt das Buch in einem Exkurs Hermann Nitsch in Verbindung mit dem Wiener Aktionismus.

In ihrem Beitrag „Das Orgien-Mysterien-Theater von Hermann Nitsch“2 verschafft Eva Badura-Triska einen panoramaartigen Blick auf das Grundkonzept und den chronologischen Werdegang des Orgien-Mysterien-Theaters: sie dokumentiert bzw. veranschaulicht vor allem die Verbindung, die zwischen Nitschs Orgien-Mysterien-Theater als Kult des Seins und der ursprünglichen, kultischen, mythischen sowie therapeutischen Funktion der Kunst besteht, die nicht von der Lebenswelt abgehoben wurde.

Brigitte Marschall thematisiert in ihrem Beitrag „Das Orgien Mysterien Theater und die europäische Theatergeschichte“,3 wie dieses Theater in die Geschichte des europäischen Theaters eingeschrieben ist. Sie zeigt auf, wie das Orgien-Mysterien-Theater klare Rückgriffe auf die Tragödie der griechischen Antike, auf Richard Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks, auf Friedrich Nietzsche und Antonin Artaud aufweist. Sie ist der Meinung, dass sich Nitschs Theaterkonzept in die Tradition der theatralen Ausdrucksformen einordnen lässt, die den Körper, das physische Handeln und den materiellen Prozess in den Mittelpunkt stellen und dem Theater ein auf das gesellschaftliche Kollektiv gerichtetes, meist utopisches Veränderungspotential zuschreiben.

In dem Beitrag „Baptism of Blood: Bodies Performing for the Law“4 untersucht Aspasia Stephanou die Performancekunst sowie die Blutrituale von Ron Athey und Hermann Nitsch. Dabei geht sie zunächst davon aus, dass beide Künstler aufgrund ihrer radikalen Kunstform als eine Herausforderung für die moderne Kunst und die Gesellschaft fungieren. Dann argumentiert sie, dass die Verwendung von Blut, das bei den beiden Künstlern im Zentrum steht, die Wirksamkeit besitzt, das patriarchalische System der sozialen Autoritäten anzugreifen und zu destabilisieren. Sie zeigt außerdem auf, dass derartige blutige Performancepraxen popularisiert werden, womit Blut Eingang in den Mainstream der Popkultur findet. In diesem Zusammenhang zeigt sie am Beispiel der Verwendung von Blut in einigen Auftritten der Popkünstlerin Lady Gaga auf, dass Blut seine symbolischen Bedeutungen eingebüßt hat und zu einem kommodifizierten Produkt geworden ist. Anhand ihres Vergleichs (Performancekünstler mit einer Popkünstlerin) veranschaulicht Stephano, wie Blut in unterschiedlicher Art und Weise benutzt wird, um die jeweiligen Projekte der genannten Künstler_innen zu ermöglichen: Während Atheys Performances das Blut als die Realitätsstelle des schmerzempfindenden Körpers unterstreichen und bei Nitsch Blut für das Zelebrieren von Eros und Thanatos steht, trennt Lady Gaga, indem sie künstliches Blut verwendet, das Blut vom Körper und seiner Bedeutung.5

Der von Aaron Levy herausgegebene Sammelband Blood Orgies: Hermann Nitsch in America6 ist eine Zusammenstellung von Aufsätzen mit Bezug auf ein 2008 in Philadelphias „Slought Foundation“ durchgeführtes Projekt über Nitschs Orgien-Mysterien-Theater. Dieser Sammelband, der einen Beitrag zur kritischen englischsprachigen Literatur über Hermann Nitsch darstellt, geht vom gegenkulturellen Charakter von Nitschs Orgien-Mysterien-Theater, von seiner provokativen Verwendung von Blut, Fleisch und Innereien als künstlerischem Material sowie von seiner obsessiven Verwendung der Metaphorik der Kreuzigung Christi im Rahmen eines neopaganen Opferrituals aus. Er beschäftigt sich außerdem mit den emotionalen Reflexen der Rezipient_innen und mit deren kritischer Reaktion auf Nitschs Werk: Dieter Ronte untersucht z.B. die einschränkende „sekundäre“ Funktion von Fotografie im Verhältnis zu den auf multiple Sinneswahrnehmung abzielenden Performances, denen die unmittelbare Präsenz der Teilnehmer_innen zugrunde liegt, damit die erwartete Wirksamkeit erreicht wird. Ronte ist der Meinung, dass im Vergleich zu Nitschs Orgien-Mysterien-Theater, welches sich nicht auf Dokumentationen reduzieren lässt, die Fotografie Nitschs Kunst unverzüglich abbildet und sie zugleich entstellt. Adrian Daub verfolgt die klangliche Dimension des Orgien-Mysterien-Theaters. Er analysiert die Beziehung zwischen der Performance und den musikalischen, klanglichen und stimmlichen Elementen. Jean-Michel Rabaté befasst sich analytisch mit dem Orgien-Mysterien-Theater als Gesamtkunstwerk und zeigt auf, dass die Gemälde durch den Kontakt von Stoffen mit verschüttetem Blut und anderen Flüssigkeiten entstehen. Er schlussfolgert, dass gerade diese Blutmengen und Flüssigkeiten das wahrhaft Dionysische in Nitschs Kunstfertigkeit konstituieren. Michèle Richman verfolgt den ethnografischen Faden von Nitschs Kunstpraxis in Bezug auf die umfangreichen theoretischen Diskurse im 20. Jahrhundert über Festivals, Rituale und Mythen. Indem sie Nitschs Ikonografie und mit jener von Matthias Grünewalds „Isenheimer Altar“ aus dem 16. Jahrhundert vergleicht, erkennt Susan Jarosi in beiden Kunstwerken komplementäre psychische Ausdrücke geschichtlicher Traumata.

Im Gegensatz zu Nitschs Orgien-Mysterien-Theater liegt zurzeit der Entstehung dieser Arbeit noch nicht zahlreiche wissenschaftliche Forschungsarbeiten über Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ vor. Abgesehen von Dokumentations- und Materialquellen, die zudem künstlerisch oder ausstellungs- bzw. kritikorientiert sind und aus Aktionstagebuch, Presseberichten bzw. Pressereportagen, Fotografien, Interviews sowie Videoausschnitten bestehen, fehlt es an einer wissenschaftlich umfangreichen Analyse dieser Aktion. Jedoch gibt es eine Reihe von Forschungen und Publikationen, die Schlingensiefs künstlerisches Schaffen unter verschiedenen Vorzeichen untersuchen und in denen sich Abschnitte zu dieser Aktion finden. Im Folgenden kann ein Beispiel angeführt werden:

Eva Behrendt bezeichnet in ihrem Aufsatz „Politische Performances zwischen Irritation und Aufklärung“ die Aktion 18, „tötet Politik!“ als einen Klassiker der politischen Performance und betont, dass diesem im Kontrast zum klassischen Theater keine dramatische Textvorlage für die theatrale Aufführung im Sinne von Schauspiel zugrunde liegt. In Analogie zum religiösen Ritual merkt sie an, dass die Handlung, die vom Darsteller – in diesem Fall Schlingensief – performiert wird, mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht. Behrendt konzentriert ihre Argumentation auf das zehnminütige Voodoo-Ritual vor Möllemanns Firma Web/Tech. Außerdem erinnert dies an eine von Joseph Beuys in einer New Yorker Galerie abgehaltene Coyote Performance I like America, and America likes me (1974), die aber mehr als eine esoterische Kunstübung gewesen sei: Behrendt zufolge sei die Performance ein politisches Statement von Beuys gewesen, da er sich mit dem Kojoten so beschäftigt habe, dass eine Verbindung mit Amerikas Ureinwohner_innen versinnbildlicht wurde. Ähnlich habe Schlingensief, so Behrendt, Bezug auf die parteipolitische Realität der Bundesrepublik genommen, indem auch antisemitisch konnotierte Vorgänge wie die Bücherverbrennung aufgegriffen wurden. Solche fast tagesaktuelle Unmittelbarkeit und die Treffsicherheit, mit der Schlingensief anhand seiner Performances in die Schlagzeilen geraten ist, ist nach Behrendt derzeit im Bereich des deutschsprachigen Theaters unerreicht, obschon heute immer noch politisches Theater und politische Performancekunst bestehen.7

Nitsch und Schlingensief zeichnen sich durch ihre verwandten künstlerischen Störpraktiken und ihre jeweiligen tabubrechenden Theateransätze aus. Die vorliegende Arbeit unterscheidet sich von den erwähnten Studien. Das Orgien-Mysterien-Theater und die Aktion 18, „tötet Politik!“ werden dann als zwei Beispiele von Theater als Ästhetik und Bereich des kulturellen Synkretismus bzw. des postdramatischen Theatersynkretismus8 veranschaulicht, in dem verschiedene Interferenzelemente bestehen. Außerdem fungieren sie als Theateraktionen, die kulturelle Selbstveränderungen durch die Hereinnahme des Fremden katalysieren. Somit ermöglichen beide Theateraktionen einen verkehrten, transkulturellen bzw. synkretistischen Blick auf die jeweils kulturspezifischen Theater- oder Rollendarstellungsformen, die über das Eigene weit hinausgehen und stark auf das Fremde (im Eigenen) verweisen. Denn mit der Konzeptualisierung des postdramatischen Theaters als reale Erfahrung von Zeit, Raum, Körper rücken im Zeitalter der weltweiten Migrationsbewegungen die Fremdheitserfahrungen gravierend vorwärts. Dabei geht die Fremdheitserfahrung nicht nur von Fremden (z.B. Ausländer_innen, Migrant_innen) bzw. von sogenannten Flüchtlingen aus, sondern auch von dem durch Vergeistigung und Zivilisationsprozesse verdrängten Fremden im Eigenen: z.B. von den blutigen Opferritualen. Aus dieser komplexen Konstellation des Fremden, das im Eigenen verwurzelt ist, soll das Fremde nicht mehr bzw. nicht nur in den fernen Kulturen, sondern (auch) im Inneren des synkretistischen sowie unterdrückten Eigenen gesucht werden. Anders formuliert: Zeichnet sich die gegenwärtige Kulturauffassung durch vielfältige kulturelle Interferenzelemente aus und distanziert sie sich folglich von einem Containermodell der Kultur, so ist die Suche nach dem, „was als kulturell fremd gilt, nicht mehr unbedingt an einen fremden Ort gebunden“9, sondern bei sich im Eigenen auffindbar. Der transkulturelle bzw. synkretistische Ansatz in dieser Arbeit richtet das Augenmerk auf den kulturellen Synkretismus, den Nitsch und Schlingensief in ihren jeweiligen Theateraktionen über den ästhetischen Funktionsmodus des kulturellen Zelebrierens zum Vorschein bringen. An diesem Punkt geht die Arbeit über das postdramatische Theater hinaus und schlägt die Brücke zu antiken griechischen, mittelalterlichen und außereuropäischen bzw. afrikanischen Theaterformen. Konkret geht diese Arbeit von der Annahme aus, dass Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ als Inbegriff einer Radikalisierung gegenkultureller sowie institutionskritischer Erscheinungsformen von Kunst – wie z.B. Fluxus, Happening, Installations-, Interventions- sowie Aktionskunst – fungieren.

Das Orgien-Mysterien-Theater wird vor allem unter dem Gesichtspunkt der Institutions-, Religions- und Zivilisationskritik im Verhältnis zu gegenwärtigen soziokulturellen Begebenheiten untersucht. Dabei wird Nitschs synästhetische Dramaturgie als Kritik- und Transgressionsmittel dargestellt, um dadurch Menschen in synästhetische Wirklichkeitsbereiche seines Orgien-Mysterien-Theaters einzuführen. Es handelt sich dabei vor allem um solche synästhetische Wirklichkeitsbereiche, die in Form einer ästhetischen Ritualisierung bzw. einer selbstreferenziellen Zeremonie aus postdramatischer Sicht auf ein performatives Reflektieren über den menschlichen Körper im Theater, auf eine funktionelle ästhetisch-transformative Erfahrung, auf die Wiederherstellung fremd gewordener Erfahrungen und somit auf eine eigenartige kulturelle Praktik abzielen – in Verknüpfung mit der Opferbehandlung voraristotelischer Theaterpraxis. Nitschs theatrale Wiederherstellung voraristotelischer Theaterpraxen in den gegenwärtigen Lebensverhältnissen wird unter dem Begriff Urtheatralisierung subsumiert. Auch die Parallelen des Orgien-Mysterien-Theaters zu spätmittelalterlichen Oster- und Passionsspielen, die bis jetzt in der Nitschs Forschung unterbelichtet sind, werden in dieser Arbeit behandelt.

Die Auseinandersetzung mit Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ ist in der vorliegenden Arbeit eine erste umfangreiche Untersuchung dieser Aktion: sie wird zunächst in Relation zur postdramatischen Theaterästhetik und Urtheatralisierung als rituelles und politisches Ereignis gebracht, wobei der Akzent auf die sozialkritische und politische Dimension sowie auf die Einordnung in die gesellschaftskritische Theatertradition von der Aufklärung bis in die 1960er-Jahre gelegt wird. Die Produktions- und die Wirkungsästhetik der Aktion 18, „tötet Politik!“ wird auch hinsichtlich ihrer Kontextualisierung von Aktion, Raum und Zeit sowie der politischen Akteure_innen jenseits der Freizeitgattungen veranschaulicht. Schlingensiefs Fragmentierung und Entgrenzung des theatralen Schauplatzes, sein künstlerisches Schaffen von Ausnahmesituationen sowie -orten und seine störorientierten Strategien als Inszenierungsstil werden analysiert und am Beispiel seines Aufrufs „tötet Möllemann“ diskutiert. Ausgehend vom rituellen Vorgang in Aktion 18, „tötet Politik!“ wird zudem auf die postdramatische Theaterkomposition (vorkolonialer Zeit) in Afrika analytisch eingegangen und in Bezug auf sein Operndorf sowie auf die bereits erwähnten afrikanischen Theaterformen in kulturspezifischer und transkultureller Lesart behandelt.

Aus den gewonnenen Erkenntnissen wird anschließend im dritten Kapitel Theater als Kunst bzw. Ästhetik kultureller Selbstreflexion und Selbstveränderung behandelt. In diesem Zusammenhang werden die postdramatische Ästhetik bis hin zum postdramatischen Theatersynkretismus sowie die Neuperspektivierung der Werkkategorie postdramatischer Ausprägung beleuchtet.

Die zentrale These der vorliegenden Arbeit lautet: Theater ist eine kulturelle Erscheinungsform des kompromissbereiten Praxis- und Erkenntnisschauplatzes. Es ist demnach als künstlerisches und ästhetisches Medium kultureller Kompromisssuche, Selbstdarstellung, Selbstwahrnehmung sowie Selbstveränderung aufzufassen.

1.4.Theater: ein Medium des kompromissbereiten Praxis- und Erkenntnisschauplatzes

Aufgrund der in dieser Analyse zu behandelnden Theaterformen bzw. -entwürfe, die sich sowohl auf entfernte als auch aktuelle zeiträumliche Kulturen beziehen, lässt sich Theater als Kunst und Ästhetik kultureller Selbstdarstellung, Selbstwahrnehmung und Selbstveränderung auffassen. Wie im zweiten Kapitel gezeigt wird, entspringen alle Theaterformen ihren jeweiligen zeiträumlichen, kulturspezifischen, sozialen und politischen Kontexten.1 Aus der Perspektive von cultural performance und kulturellem Zelebrieren ist Theater im Allgemeinen ein szenisch-dynamischer Schauplatz sowie ein ästhetisches und künstlerisches Medium kompromissbereiter, performativer Aushandelns- und Erkenntnispraxis. In einer Theatersituation geht es auch darum, die herrschenden Gesellschaftsordnungen auf die Probe zu stellen, um dadurch neue Keime individueller, kollektiver sowie soziokultureller Transformationen treiben zu lassen. Viele postdramatische Theaterformen – z.B. Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ – machen aber auf eine übertriebene Art und Weise Gebrauch von der Wirkungsästhetik der Theatersituation. Derartige postdramatische Verfahren lassen sich anhand des Begriffs Anagnorisis im Verhältnis zur Tragödie besser beschreiben:

Die Tragödie wirkt wie ein Pharmakon, ein Gift, das heftiges Affekt-Fieber auslöst, aber, gemäß dem Doppelsinn des griechischen Begriffs, dadurch zugleich auch Medizin, Heilmittel ist. In den Dienst der Beschreibung dieser Affektwirkung tritt nun auch das Konzept der Anagnorisis. Scheint es sich zunächst nur auf die Dramaturgie zu beziehen und einen Erkenntnisprozess anzuziehen, so kann doch jeder aus der eigenen Theatererinnerung bestätigen, dass Aristoteles präzise erfaßt hat, dass in der Tat die Momente solchen (Wieder-)Erkennens zu den affektiv stärksten Augenblicken einer Theateraufführung gehören – in ungleich höherem Maße als bei der Lektüre. Denn hier spielt das Miterleben, die Raumzeit des Theaters entscheidend mit, meine „Zeugenschaft“, die mich im Theater in der identifizierenden Übernahme der Erkenntnis mit dem Helden verbindet. „Ja, Du bist es, Orest! Gott, ich bin es, Ödipus, der den König tötet!“. Anagnorisis bedeutet: ein plötzlicher Umschlag, eine Umwendung, die wie ein radikaler Beleuchtungswechsel funktioniert […]. Anagnorisis meint nämlich nicht ein für allemal dauerhaft erworbenes Wissen. Vielmehr weist das Wort auf einen Moment hin, auf eine Art affektgeladener Erleuchtung, die blitzartig geschieht […].2

Die Anagnorisis als der in der Tragödie enthaltene Ausdruck von Wiedererkennen und Wissen ist bereits seit der Antike der Konnex zwischen „Theater und Belehrung, Theater und Wissen, Theater und Erkenntnis […].“3 Es geht hierzu um eine prozessuale Fokussierung auf die Performativität und die Potentialität4 der Theaterpraxis: Dabei werden einzelne theatrale Verfahren, wie Heeg betont, im Wechselspiel von „aisthetischer Erfahrung und Konstruktion“ derart exponiert, „dass das Exponierte zwischen den Sphären von Kunst und Wissenschaft oszilliert“,5 womit das Wesen von Theater als künstlerisches und ästhetisches Medium der „Unterbrechung“ und der „Überschreitung“6 im Hinblick auf das Experimentieren anderer Erfahrungswege zur Erkenntnisgewinnung in den Vordergrund rückt. So gesehen fungiert und funktioniert Theater im Allgemeinen als ein ästhetisches Medium nach dem Vorbild eines kulturellen Kompromisses, der es ermöglicht, Spielregeln auszuhandeln, anhand derer Wahrnehmungsverhältnisse reflektiert, historische sowie aktuelle Fragen und soziokulturelle, ökonomische sowie politische Dimensionen der Theaterpraxis hinterfragt und vorangetrieben, Formen sowie Erfahrungen kultureller Begegnungen und Konflikte jeweils experimentiert und (auf-)gelöst werden können. Theater demnach nicht nur als eine künstlerische Ausdrucksform, sondern auch als einen kompromissbereiten Praxis- und Reflexionsschauplatz von Kultur aufzufassen, bezieht sich auf ein Theaterverständnis, welches sich im Mittelpunkt eines dynamischen Prozesses befindet: Theater – im Sinne einer künstlerischen Praxisform von Kultur – als Konsens oder als ein Aushandeln zu verstehen, verweist auf ein Verständnis, das sich mit Kultur als einem „offenen und instabilen Prozess des Aushandelns von Bedeutungen“7 für (produktive) Veränderungen auseinandersetzt. In seinem Beitrag „Zur Reformulierung eines sozialanthropologischen Grundbegriffs“ zeigt Andreas Wimmer drei Aspekte eines Aushandelns oder einer Kompromissbildung auf: Der erste Aspekt bezieht sich auf die verinnerlichte Kultur.8 Wimmer greift hier zurück auf Bourdieus Habitus als ein verinnerlichtes Dispositionssystem, das den sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Ordnungen entspricht und sich auf Dauer aus einem Repertoire von Handlungs-, Wahrnehmungs- und Interpretationsmustern sowie -zielen habitualisiert.9 Dann bringt Wimmer diesen Habitus in Verbindung mit der Schematheorie der kognitiven Ethnologie:

Schemata sind Modelle von prototypisch vereinfachten Welten, als Netzwerke miteinander verknüpfter Bedeutungen organisiert. Sie werden im Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsprozess selektiv aktiviert. Als verinnerlichte Form von Kultur kommen sie dem nahe, was die Annales-Schule als Mentalität bezeichnet.10

Mit diesen „Handlungs- und Denkschemata“ modifiziert Wimmer den von den einzelnen Individuen internalisierten Bourdieuschen Habitus. Nach Wimmer wirken diese Schemata nicht auf das Individuum als „gesellschaftliche Zumutungen“ von außen ein. Jedoch verfügen die jeweiligen Individuen – je nach Interessen und Situationen – über eine Entscheidungsfähigkeit und -freiheit. Der zweite Aspekt kommt der „öffentlichen Kultur“ zu, die auf der Grundlage des normativ-kulturellen Aushandlungsprozesses in kollektiven Repräsentationen stattfindet. Die verinnerlichte Kultur ist die zwangsläufige Voraussetzung für den kulturellen Kompromiss (auch „symbolischer Gesellschaftsvertrag“ genannt):

[Er] gründet auf der Zustimmung aller durch eine gemeinsame Öffentlichkeit aufeinander bezogenen Akteure, da moralische Kategorien und soziale Klassifikationen für gültig befunden und für wahr genommen werden müssen.11

Bei dem dritten und letzten Aspekt, der zur „sozialen Schließung und kulturellen Distinktion“ führt, verdeutlicht Wimmer, „dass kulturelle Kompromisse auch Grenzen zwischen denen definieren, die sich an ihm beteiligen, und jenen, welche außerhalb seines Geltungsbereiches stehen.“12 Da die „kulturelle Kompromissfindung [einen] Prozess der sozialen Schließung“ impliziert, schlussfolgert Wimmer, dass diese „Prozesse sozialer Schließung […] zur Bildung von Klassen, von Nationen, Ethnien, Subkulturen, oder Geschlechtergruppen führen“13 können. Wimmer bleibt nicht bei der kulturellen Konsensbildung stehen, die in die soziale Schließung und kulturelle Distinktion mündet, sondern arbeitet das Gemeinsame aller Kulturen heraus. Dieses kulturell Gemeinsame bezeichnet Wimmer als die Pragmatik der kulturellen Produktion – d.h. die Fähigkeit, die „alle Menschen verbindet und es ihnen ermöglicht, die kulturelle Landschaft in Bewegung zu setzen und sich selbst in ihr zu bewegen, […] auf der Suche nach einem Kompromiss, Sinn und Nutzen in Übereinstimmung zu bringen.“14

Theater ist der liminale Bereich, in dem auch solche Prozesse kultureller Kompromissbildungen über ästhetische Wege laufen. Die Vielfalt theatraler Erscheinungsformen sowie ihrer religiösen, sozialen, politischen Funktionen und Zielsetzungen bestätigt verschiedenartig diese Sachlage. Wie viele künstlerische Ausdrucksformen bringt auch Theater eine sekundäre bzw. inszenierte Ebene von Wirklichkeit und Bedeutungen hervor: Dabei werden real-vorgegebene oder erfundene Geschehnisse in theatrale Vorgänge umgeformt.15 Nitschs und Schlingensiefs Theateransätze bringen diesbezüglich gegenkulturelle und grenzüberschreitende Theaterentwürfe hervor, in denen soziokulturelle und politische Aushandlungs-, Veränderungs- und Stabilisierungsprozesse von innergesellschaftlichen Wert‐ und Normsetzungen experimentiert werden. Dabei geht es wiederum, wie in vielen postdramatischen Theaterentwürfen um bewusste Überschreitungen von Grenzen kultureller und selbstverständlicher Verhaltensmuster und Erwartungshaltungen, die in der Regel beachtet werden müssen. Jedoch handelt es sich hierbei keineswegs um den Spaß eines bloßen soziokulturellen Tabubruchs und Überschreitungswillens von Grenzen. Im Gegenteil: Derartige postdramatische Theaterformen gehen von einer bereits im realen Leben „dargestellten Gewalt zur Gewalt der Darstellung“16 aus, um Momente der Anagnorisis hervorzurufen. Patrick Primavesi bemerkt z. B.:

Erwartungen zu enttäuschen, ungewohnte Wahrungs- und Denkweisen zu ermöglichen, war einer der wichtigsten jener Impulse, die seit den 1950er Jahren von Performances ausgingen […]. Dabei wurde vielfach der Körper der Akteure in den Mittelpunkt gestellt, um die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit aufzubrechen […]. In dieser Perspektive sind die Aktionen von Joseph Beuys, Hermann Nitsch, Marina Abramović oder auch Orlan und Stelarc bei allen ideologischen Differenzen doch verwandt. Andererseits war es die Arbeit mit solchen Performanceelementen, die seit den 1970er Jahren die Auseinandersetzung mit ritualisierten Verhaltensweisen im Theater produktiv machen und eine verkrustete Ästhetik der Werkinterpretation aufbrechen konnte. Entscheidend dafür ist aber nicht der Tabubruch als solcher. Wenn sich die Doppelmoral eines sensationsgierigen und/oder kulturpessimistischen Journalismus an Gewaltdarstellung, nackten Körpern und angeblich entwürdigten Symbolen entzündet, ist Theater darin doch zumeist harmloser als viele TV-Programme.17

Die konsequente Reaktion von vielen postdramatischen Theatermacher_innen besteht in dieser Hinsicht wie folgt darin: den Tabubruch als Katalysator für Anagnorisis zu verwenden. Diesbezüglich handelt es sich um einen dezidiert inszenierten Angriff auf konventionell-verankerte, soziokulturelle Ordnungssysteme und deren Erwartungshaltungen, in welchen bereits Keime von Tabubrüchen, Skandalen und Provokationen verdrängt existieren. Hierzu sind Nitsch und Schlingensief sehr gute compagnons de route, die mit Störstrategien und theatralen Mitteln gewohnte Erwartungs- und Wahrnehmungshaltungen von Rezipierenden durch die Auflösung beispielsweise der Beobachterposition erschüttern.

Ausgehend von den bisher dargestellten Auslegungen lassen sich folgende Hypothesen formulieren:

Die Aktivierung des Publikums und seine Einbeziehung in performative Aufführungen im postdramatischen Theater radikalisieren Brechts Konzept des epischen Theaters. Dabei werden deviante Theaterstrategien, die schon lange abweichend vom klassischen Theater praktiziert wurden, um das Publikum zu aktivieren und zu schockieren, wieder aufgenommen.

Zu gegenkulturellen Tendenzen im postdramatischen Theater zählen unter anderem die Rückkehr zu voraristotelischen und mittelalterlichen Theaterformen, die wiederum Parallelen zu außereuropäischen bzw. vorkolonialen afrikanischen Theaterformen aufweisen. Diese Tendenzen stellen im Theater nicht nur eine Rückkehr von rituellen bzw. religiösen Rollendarstellungen unterschiedlicher Kulturen und Epochen als Inspirationsquelle, sondern auch eine Herausforderung für Teilhabende dar, da die Begrenzung der Kunst und ihre Unterscheidung von nichtkünstlerischen Aktivitiäten unterlaufen wird.

Die performativen und rituellen Praktiken im postdramatischen Theater am Beispiel von Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ charakterisieren sich durch kulturelle Elemente sowie Symbole, die eine Pluralisierung bzw. Variabilität von Interpretationsmöglichkeiten bewirken und diese durch eine stets erneuerte Formierung steuern. Denn die Aufführungen als ästhetisch-reale Ereignisse sind durchaus offener und hängen stark von variablen Faktoren ab: dem Objekt, der Reaktion der Teilhabenden, der Zeit, dem Raum und dem Kontext.

Die Auseindersetzung mit der folgenden Fragestellung bezieht sich die angeführten Hypothesen:

Wodurch kennzeichnen sich die gegenkulturellen Tendenzen im postdramatischen Theater und welche Wirkung haben sie auf Rezipierende und die Gesellschaft? Welche Rolle spielen dabei gesellschaftliche, politische, ökonomische und kulturelle sowie religiöse Rahmenbedingungen?

Inwiefern können die Erkenntnisse über voraristotelische, mittelalterliche und vorkoloniale bzw. außereuropäische Rollendarstellungsformen dazu beitragen, die heutigen fließenden Grenzen zwischen Theater und anderen politischen und soziokulturellen Tätigkeiten theoretisch beschreibbar zu machen?

Inwiefern können performative und rituelle Bedeutungsproduktionen unterschiedliche und variable Sinnzusammenhänge aufweisen?

1.5.Theoretische Überlegungen

Viele kulturelle Erscheinungsformen lassen mit und in unterschiedlichen Sparten des gesellschaftlichen Teilsystems Kunst auffassen. In Anbetracht dessen steht Kunst als Oberbegriff für eine besondere Ausdrucksweise kultureller Praktiken und Erkenntnissuche zu verstehen, die sich im klassisch-modernen und konventionellen Kunstverständnis von der üblichen Lebenspraxis deutlich abhebt. Die Kunst spiegelt am Beispiel von Theaterformen kulturelle Symbolsysteme und -komplexe wider und basiert außerdem auf kulturellen Aushandlungsprozessen: Gegenwärtige transkulturelle Erscheinungsformen von Kultur laden z.B. zu entsprechenden Produktions- und Rezeptionsformen im Theater ein. Dabei geht es um die „Umgestaltung bestehender Denk- und Handlungsformen“1 in der Theaterforschung und -praxis, welche im postdramatischen Theater die Widerspiegelung der gegenwärtigen Kulturinterferenzen nicht nur als „Kultur-im-Zwischen“,2 sondern auch über das „Denken-wie-üblich“3 hinaus als „Projekt“ und konsequenterweise als „Prozess“4 analysiert. Einige Merkmale postdramatischen Theaters, die für diese Arbeit relevant sind, bauen auf Voraussetzungen von Prozess, Dazwischen, Unbestimmbarkeit und Unentscheidbarkeit auf. Aufgrund der performativen Infragestellung sowie Dekonstruktion binärer Denkmuster5 als eine künstlerische Strategie lässt sich zudem beobachten, dass sich tradierte Wahrnehmungskategorien nicht mehr eignen, um Kunst von Nichtkunst zu unterscheiden. In dieser Hinsicht überzeugt die Annahme im Kontext postdramatischer Ästhetik, dass der Autonomisierung bzw. der Freiheit der Kunst zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Bedeutungen beigemessen werden. Insofern wird die nicht mehr eindeutige Bestimmbarkeit sowie Entscheidbarkeit, ob es sich bei einem inszenierten Ereignis um Kunst handelt oder nicht, geradezu zu einem Kriterium für Kunst.6 Viele künstlerische Schauplätze der nicht a priori distraktionsorientierten Gegenwartskunst „scheinen sich nämlich […] dem Vergleich mit der Kunst der Vergangenheit zu entziehen, weil sie sich […] nicht mehr eindeutig vor den Hintergrund je einer Tradition (der Musik, der Malerei, der Bildhauerei, der Literatur usw.) lesen und beurteilen lassen.“7 Folglich ist es in der Auseinandersetzung mit solchen künstlerischen Entwürfen aufschlussreich, sich von dominanten Wahrnehmungsgewohnheiten und Urteilskriterien zu emanzipieren. Durch ihre unklaren Grenzen zur nichtästhetischen Lebenswelt bzw. durch die Unklarheit darüber, welche Elemente überhaupt noch zur Inszenierung zu zählen sind,8 sind unter anderem Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ prägnante Beispiele von gegenkulturellen Tendenzen postdramatischer Gestaltungsformen. Im nächsten Schritt wird auf theoretische Überlegungen und Begriffserklärungen, an die sich die Analyse in dieser Arbeit stark anlehnt, eingegangen: cultural performance und cultural celebration, Institution Kunst/Theater, Institutionskritik, Kultur als Institution, Kult- und Ausstellungswert von Kunst.

1.5.1.Theater als Kunst und Ästhetik des kulturellen Zelebrierens

In dieser Arbeit wird Theater als künstlerischer Funktionsmodus bzw. als ästhetischer Bereich des kulturellen Zelebrierens und des Synkretismus definiert. Zugleich ist Theater als eine Widerspiegelung von und Reflexion über Kultur zu verstehen. Um diese Sachlage zu veranschaulichen, wird auf das Konzept von Performance rekurriert.

Das Konzept der Performance geht, wie Erika Fischer-Lichte bemerkt, auf den Oxforder Linguisten John L. Austin zurück, der 1955 an der Harvard University mit seinen Vorlesungen How to Do Things withWords / Zur Theorie der Sprechakte (1961/62 veröffentlicht) das Paradigma der Performance einführte.1 Im Sinne von Austin bezieht sich das Paradigma der Performance auf den Bereich sprachlicher Äußerungen bzw. auf den ‚performativen Sprechakt‘. Das sind solche Sprechakte, mittels derer durch bestimmte (teilweise formelhafte) Verben/Ausdrücke Handlungen (wie Taufe, Eheschließung) unter konventionellen Voraussetzungen vollzogen werden.2 Die so vollzogenen Handlungen sind „selbstreferenziell“ und „wirklichkeitskonstituierend“.3 Mit Sybille Krämer wird festgehalten,

dass in der sprachtheoretischen Spezifizierung des Performativen drei Gradierungen unterscheidbar werden: (1) das ‚schwache Performanzkonzept‘ bezieht sich auf die Handlungs- und Gebrauchsdimension aller Rede, insofern diese als propositional-performative Doppelstruktur gefasst wird. (2) Das ‚starke Performanzkonzept‘ artikuliert die Konstitutionsleistung symbolischer Handlungen, insofern diese das, was sie bezeichnen, zugleich auch tun. (3) Das ‚radikale Performanzkonzept‘ ist operativ-strategisch zu verstehen: Indem das Performative als die eine Seite eines binären Schemas auftaucht, kann es zur Destabilisierung und Dekonstruktion eben dieses klassifikatorischen Schemas verwendet werden und – als subversive Kraft – auf die Grenzen von dichotomischen Begriffsbildungen verweisen.4

An dieser Stelle ist es nötig, wichtige Grundannahmen in Bezug auf das Performanzkonzept, das für diese Arbeit von Bedeutung ist, festzuhalten:

 

1) Performanz als Vollzug bzw. Konstruktion von Wirklichkeit, die auf sich selbst verweist: Unter diesem wirklichkeitskonstituierenden und selbstreferenziellen Merkmal ist auch bezüglich der Sprechakte die performative Erfindungs- bzw. Konstruktionsfähigkeit von Sprache (in allen ihren Varianten) oder Diskursen einzuschließen. Das veranschaulicht Fischer-Lichte, wenn sie formuliert, dass der Begriff des Performativen bestimmte Handlungen bezeichne, „die nicht etwas Vorgegebenes ausdrücken oder repräsentieren, sondern diejenige Wirklichkeit, auf die sie verweisen, erst hervorbringen. Sie entsteht, indem die Handlung vollzogen wird. Ein performativer Akt ist ausschließlich als ein verkörperter zu denken.“5

 

2) Performanz gilt als operativ-strategische Methode, die theoretisch und praktisch konventionelle Grenzen überschreitet. Barbara Kirshenblatt-Gimblett unterstreicht diesen methodischen Aspekt von Performanz in Bezug auf die Performance Studies:

The field of Performance Studies takes performance as an organizing concept for the study of a wide range of behaviour. A postdiscipline of inclusions, Performance Studies sets no limit on what can be studied in terms of medium and culture. Nor does it limit the range of approaches that can be taken […]. Performance Studies starts from the premise that its objects of study are not to be divided up and parcelled out, medium by medium, to various other disciplines – music, dance, dramatic literature, art history. The prevaluating division of arts by medium is arbitrary, as is the creation of fields and departments devoted to each.6

Dieses Zitat, das vieles über die operativ strategische Methode von Performanz aussagt, lässt sich auf diese Arbeit übertragen, die sich fachübergreifend und transkulturell mit grenzüberschreitenden Theaterformen auseinandersetzt.

Die folgenden beiden letzten Anhaltspunkte des Performanzkonzepts betreffen den sozialen und ästhetischen Auf- und Ausführungscharakter von Kultur in allen ihren Variationen.

 

3) Performanz im Dienst der Ästhetik des kulturellen Zelebrierens: Die verschiedenen Konzeptualisierungen von Kultur (Interkulturalität, Multikulturalität, Transkulturalität etc.) sind diskursive und abstrakte Perspektivierungen unterschiedlicher kultureller Auffassungen, die zuerst über Auf- sowie Ausführungen konstruiert und dann beobachtbar bzw. erfahrbar werden. Das jeweilige internalisierte Verständnis von Kultur, Inter-, Trans- oder Multikulturalität wird erst im Zeitverlauf individuell und/oder kollektiv in der Gesellschaft performativ vorgeführt bzw. weiter übertragen. Ohne die Träger kultureller Aus- und Aufführung sind keine beobachtbaren und erfahrbaren kulturellen Praktiken möglich. Der amerikanische Kulturanthropologe Milton Singer spricht in diesem Zusammenhang von cultural performance in Bezug auf die kulturellen Eigenschaften der indischen Brahmanen:

Whenever Madrasi Brahmans (and non-Brahmans, too, for that matter) wished to exhibit to me some feature of Hinduism, they always referred to, or invited me to see, a particular rite or ceremony in the life cycle, in a temple festival, or in the general sphere of religious and cultural performances […]. I found that the more abstract generalizations about Hinduism (my own as well as those I heard) could generally be checked, directly or indirectly, against these observable performances. The idea then occurred to me that these performances could be regarded as the most concrete observable units of Indian culture, the analysis of which might lead to more abstract structures within a comprehensive cultural system.7

Mit dem Begriff cultural performance beschreibt Singer in den ausgehenden 1950er-Jahren „the most concrete observable units of culture“ und „particular instances of cultural organization, e. g. weddings, temple festival, recitations, plays, dances, musical concerts etc.“8 Es ist in dieser Studie festzuhalten, dass die cultural performance unabdingbar ist, damit eine Kultur dynamisch und beschreibbar wird. Die Idee der cultural performance ähnelt einem Theaterereignis, das nicht ohne performative Aufführung unter gleichzeitiger Anwesenheit von Schauspieler_innen und Zuschauer_innen am selben Ort auskommt. Aus diesem performativen Blickwinkel ist Fischer-Lichte zuzustimmen, dass die cultural performance ein dynamischer Prozess ist, der die Wirklichkeit, auf die er verweist, zuallererst hervorbringt.9 Außerdem ist hinzuzufügen, dass „Kultur als Text“ von Clifford Geertz und Andreas Wimmers kultureller Kompromiss bzw. kulturelle Aushandlungen ebenso dem Modell dieser performativen Dynamik folgen wie Singers „concrete observable units of […] culture“. Dies schließt zudem die klassischen, kulturkritischen, essentialistischen, konstruktivistischen usw. Konzeptualisierungen und Konstruktionen von Kultur, Inter-, Multi- und Transkulturalität sowie Gegenkulturen ein: keiner kommt ohne cultural performance aus. Ausgehend von dem theatralen Aufführungsmodell „formuliert eine Kultur in cultural performances ihr Selbstverständnis und Selbstbild, das sie vor ihren Mitgliedern ebenso wie vor Fremden [auch im Sinne von Zuschauenden] dar- und ausstellt.“10 Unabhängig davon, ob es sich um glückliche Ereignisse (wie Heirat) oder um traurige Geschehnisse (wie Tod/Beerdigung) handelt, sieht Peter Brook im performativen Dar- und Ausstellen einer Kultur (das gilt außerdem für alle Kulturauffassungen) eine bewusste Tätigkeit, die in einer cultural celebration individuell und/oder kollektiv durchgeführt wird:

I have asked myself what the word ‘culture’ actually means to me in the light of the different experiences I have lived through, and it gradually becomes clear that this amorphous term in fact covers three broad cultures: one which is basically the culture of the state; another which is basically that of the individual; and then there is a ‘third culture’: It seems to me that each of these cultures stems from an act of celebration. We do not only celebrate good things in the popular sense of the term. We celebrate joy, sexual excitement and all forms of pleasure; but also as an individual or as member of a community through our cultures, we celebrate violence, despair, anxiety and destruction. The wish to make known, to show others, is always in a sense a celebration. When a state genuinely celebrates, it celebrates because it has collectively something to affirm; as happened in ancient Egypt whose knowledge of a world order, in which the material and spiritual were united, could not be described or put easily into words, but could be affirmed by acts of cultural celebration.11

Peter Brooks cultural celebration ist zu verstehen als eine Form von cultural performance, wobei die performative Verhaltensdifferenz durch Situation und Atmosphäre je nach Kontext (künstlerisch, zeremoniell, religiös, politisch oder einfach kulturell etc.) entsprechend hervorgehoben wird. Mit anderen Worten: Das kulturelle Zelebrieren (cultural celebration) ist eine jeweils kulturimmanente und performative Hervorhebung. Sie geht in bestimmten Situationen mit kultureller Verhaltensdifferenz sowie mit dem Wunsch und der Absicht, anderen etwas Bestimmtes mitzuteilen, dar- bzw. auszustellen, Hand in Hand. So findet dieses kulturelle Zelebrieren Ausdruck sowohl in der realen Lebenswelt als auch in der Kunst bzw. im Theater (im weitesten Sinn des Wortes).