Gegensteuern - Gustav A. Horn - E-Book

Gegensteuern E-Book

Gustav A. Horn

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Beschreibung

Strategien gegen den Rechtsruck
Die AfD scheint sich fest in der deutschen Politik etabliert zu haben. Bei der Diskussion über Gegenstrategien geht es meist darum, ob und wie man mit den Funktionären der Partei und ihren Wählern reden soll. Aber reicht das? Drücken sich in der Attraktivität rechtspopulistischer Parteien für viele Menschen in Europa nicht tieferliegende gesellschaftliche Probleme aus? Und wie lassen sich diese angehen?
Gustav A. Horn meint: Jahrzehnte neoliberaler Politik und das Versagen der sozialdemokratischen Parteien haben den Boden für den Rechtspopulismus bereitet. Und er zeigt konkret, wie ein Politikwechsel aussehen muss, der die Demokratie stärkt und unser Land in eine soziale und ökologische Zukunft führt.

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Gustav A. Horn

GEGENSTEUERN

Für eine neueWirtschaftspolitikgegen Rechts

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, Mai 2020entspricht der 1. Druckauflage vom Mai 2020© Christoph Links Verlag GmbHPrinzenstraße 85 D, 10969 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0www.christoph-links-verlag.de; [email protected]: Bert Hülpüsch (kunstistarbeit.de)Satz: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag

ISBN 978-3-96289-074-2eISBN 978-3-86284-467-8

Inhalt

Prolog

Das politische Beben

Was ist Rechtspopulismus?

Der Aufstieg der Rechtspopulisten

Die Themen der Rechtspopulisten

Soziale Medien als Kanäle des Zorns

Auf dem Weg in eine digitale Wirtschaft

Die Angst im Wandel

Die Machtverschiebung

Der große Befreiungsschlag

Es begann mit dem Neoliberalismus

Die Wende zur neoliberalen Wirtschaftspolitik

Finanzmärkte als Kontrollinstanz der Demokratie

Die Eingrenzung des Staates durch Fiskalregeln

Der Abbau sozialer Sicherheit

Der Druck der Weltmärkte

Der doppelte Einbruch

Vom allmählichen Untergang linker Wirtschaftspolitik

Die Hochzeit des Neoliberalismus

Der Pyrrhussieg

Das langsame Ende des neoliberalen Europas

Die nächste Krise: eine Pandemie

Der Aufbruch zu einer Wirtschaftspolitik gegen Rechts

Den Kontrollverlust überwinden

Die Verschiebung der Macht einleiten

Ein kommunikatives Band mit der Zivilgesellschaft knüpfen

Die Krise des Lokalen überwinden

Die europäische Integration erneuern

Ein wirtschaftspolitischer Angriff auf den Rechtspopulismus

Das Angebot der AfD

In den Wandel investieren

Die Digitalisierung gestalten

Die soziale und ökologische Wende vorantreiben

Für Stabilität sorgen

Gerechtigkeit wagen

Epilog

Anhang

Anmerkungen

Abkürzungen

Literaturempfehlungen

Dank

Zum Autor

Prolog

Ein Rabbi erleidet Schiffbruch und strandet auf einer einsamen Insel. Nach Jahren des Alleinseins nähert sich ein Schiff, dessen Kapitän nicht schlecht staunt, als er auf der Insel neben dem Rabbi zwei Synagogen vorfindet, die dieser sorgfältig aufgebaut hat. »Rabbi«, so fragt er, »sag mir, warum hast du denn gleich zwei Synagogen gebaut?« »Nun ja«, antwortet der Rabbi, »da ist die eine, in die ich gehe, und da ist die andere, in die ich definitiv nicht gehe.«

Diese kleine Geschichte enthält gleich drei Lehren für die politische Kultur einer liberalen Demokratie. Die erste und offenkundige ist, dass wir uns nicht nur durch das definieren, was wir wollen, sondern auch durch das, was wir nicht wollen. Der Widerspruch oder das Opponieren gegen etwas gehören ebenso unverzichtbar zur Auseinandersetzung mit der Realität wie das Verfolgen eigener Ziele. Man darf dies, und das ist die zweite Lehre, jedoch nicht nur als intellektuelles Privatvergnügen jedes Einzelnen verstehen. Der Rabbi auf seiner Insel steht auch für eine Art rudimentärer Gesellschaft. Widerspruch in der Auseinandersetzung mit anderen wie auch mit sich selbst erzeugt intellektuelle Reibung, lässt Argumente verblassen oder schärfer werden. Im Dialog entsteht durch Konflikte ein Prozess, der dazu dient, Erkenntnisse zu gewinnen. Das nützt am Ende allen.

Und doch darf bei all dem als dritte Lehre eines nicht vergessen werden. Widerspruch und Konflikt entstammen in unserer Geschichte derselben Quelle: dem Rabbi. Das bedeutet, Konflikte gehören zu uns und unserer Gesellschaft. Sie stellen sie nicht in Frage, sondern dienen ihrer Weiterentwicklung. Die Geschichte ist also ein indirektes Plädoyer für Toleranz im Sinne von Aushalten unterschiedlicher Sichtweisen und gegen Ausgrenzung. Dies stößt aber an seine Grenzen, wo das Aushalten und Tolerieren selbst nicht mehr toleriert und ausgehalten wird. Das wäre eine andere Insel mit einem anderen Rabbi.

Das folgende Buch handelt von der aktuellen Gefährdung dieser politischen Weisheiten und wie wir diese Gefahren meistern können und müssen.

Das politische Beben

Was ist Rechtspopulismus?

Es ist wie bei einem Erdbeben. Was mit einem leichten Zittern des Bodens beginnt, endet mit viel Getöse und einer völlig veränderten Landschaft. Derzeit ist es die politische Landschaft vieler westlicher Industrieländer, die von nationalistisch-populistischen Bewegungen erschüttert wird wie von seismischen Stößen.

Die Slogans sind fast überall die Gleichen: »Wir wollen die Kontrolle über unser Land zurück« (AfD), »Get back control of our country« (Brexit-Bewegung) oder »Dans notre ville, prenez le pouvoir« (Rassemblement National, früher Front National). Sie fügen sich zu einem rauen Klagelied, in das allerorten viele Menschen einstimmen und jene wählen, die es angestimmt haben. Von Frankreich über die Niederlande, Großbritannien und Italien bis hin zu den USA und Deutschland reicht die (unvollständige) Reihe der Wahlerfolge von Parteien, die einen Kontrollverlust beklagen.

Im Ergebnis haben sich die politischen Landschaften in vielen westlichen Ländern in den vergangenen Jahren grundlegend verändert. Es ist nicht übertrieben, von tektonischen Verschiebungen zu sprechen, die in Wahlen oder Volksabstimmungen wie immer wieder aufwallende politische Beben zum Ausbruch kommen. Im Vergleich zu früheren Abstimmungen zeigen sich dramatische Wählerbewegungen weg von den traditionellen Parteien der Nachkriegszeit und deren Vorstellungen hin zu neuen Parteien oder Bewegungen. Die politische Macht in den westlichen Gesellschaften verschiebt sich. Selbst die lange Zeit als Vorbilder gesellschaftlicher Stabilität angesehenen Staaten Skandinaviens sind davon nicht ausgenommen.

Schon auf den ersten Blick lassen sich einige Aspekte dieses Prozesses erkennen, die ihn bemerkenswert machen. Da sich das Wahlverhalten in fast allen westlichen Gesellschaften in eine ähnliche Richtung verändert hat, müssen die Wurzeln dieses Phänomens in allgemeinen Entwicklungen zu suchen sein, die nicht an nationalen Grenzen haltmachen – sie sind transnational. Das entbehrt nicht einer gewissen Widersprüchlichkeit, beziehen sich die Klagen über den Kontrollverlust doch gerade auf den Nationalstaat. Angeklagt werden die jeweiligen nationalen Regierungen, weil sie durch ihre Politik den Kontrollverlust bewirkt hätten. Ziel der politischen Bewegungen ist folglich, selbst eine nationalstaatliche Regierung zu bilden, die die Kontrolle – gerne zu Lasten anderer Nationalstaaten – wiedererlangt. Allen gemeinsam ist also die Forderung nach einem starken Nationalstaat, der sich transnationalen Phänomenen entgegenstellen soll.

Diese Ansicht wird im Übrigen nicht nur als Meinung einer Person oder Partei dargestellt, sondern als die Sichtweise des Volkes. Die besagten Bewegungen erheben also den Anspruch, als einzige einen unterstellten homogenen Volkswillen zu vertreten. Darin stecken gleich zwei – bewusste – Provokationen gegen liberale Werthaltungen auf einen Schlag: dass es ein homogenes Volk gebe und dass dieses einen einheitlichen Willen beziehungsweise eine einzige Meinung habe. Zugleich wecken diese Bewegungen Ressentiments gegen die politischen Wettbewerber, insbesondere jene, die an der Regierung sind. Man selbst vertritt schließlich nicht irgendeine Position, sondern die des Volkes – wer anderer Meinung ist, stellt sich also gegen das Volk.1 Nicht zufällig greift die AfD im Osten Deutschlands auf die Slogans der Bürgerrechtsbewegung zum Ende der DDR zurück, und selbst der Ausspruch Willy Brandts, mehr Demokratie zu wagen, findet sich auf den Plakaten der Partei wieder. Der Alleinvertretungsanspruch für einen behaupteten Volkswillen begründet die Charakterisierung dieser politischen Bewegungen als populistisch.2

Populistische Bewegungen können sowohl einen rechten als auch einen linken Charakter haben. Zwar ist die Wahrnehmung eines Kontrollverlusts beiden Richtungen gemeinsam, jedoch werden dessen Wurzeln gänzlich unterschiedlich gesehen. Auf der linken Seite des politischen Spektrums ist es ein übergriffiges kapitalistisches System, das die Menschen nicht nur ausbeutet und unterdrückt, sondern auch die soziale Schutzfunktion des Nationalstaats sukzessive aushebelt. Da dieses System global agiert, ist auch der linke Kampf dagegen global angelegt. Ein stärkerer Nationalstaat ist nur ein scheinbar geeignetes Instrument in dieser Auseinandersetzung.

Rechte Populisten sehen hingegen den Ursprung des Kontrollverlustes in anderen Völkern, Religionen oder mysteriösen Bewegungen, die die Meinungen und Interessen des nur von ihnen selbst vertretenen und auch für überlegen gehaltenen Nationalvolkes unterdrücken. Deshalb wollen sie diesen endlich – nicht zuletzt gegenüber anderen Völkern – zum Durchbruch verhelfen. Der stärkere Nationalstaat ist hier nicht nur ein Instrument in dieser Auseinandersetzung, sondern er ist zugleich Ausdruck der wirtschaftlichen oder kulturellen Überlegenheit des eigenen Volkes. Um diese Haltung geht es hier, und insofern erscheint es angemessen, in diesen neuen politischen Strömungen rechtspopulistische Bewegungen zu sehen.

Dabei muss zugestanden werden, dass die Unterscheidung zwischen linkem und rechtem Populismus nicht völlig trennscharf ist. Es gibt Strömungen unter Rechtspopulisten, die das globale kapitalistische System als ein Instrument zum Beispiel des angeblich jüdischen Finanzkapitals sehen. Insofern kann auch rechter Populismus antikapitalistische Züge aufweisen.

Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer weist zudem zu Recht daraufhin, dass »rechtspopulistisch« eine sehr grobe Bezeichnung ist, die noch weiter differenziert werden muss, um nicht vereinfachend Autoritär-Konservative mit potentiellen rechten Gewalttätern über einen Kamm zu scheren.3 Er schlägt daher als Unterkategorien »autoritärer Nationalradikalismus« und »gewalttätiger Rechtsextremismus« vor. Ersterer umfasst vor allem die teilweise an der Regierung befindlichen Bewegungen in Osteuropa, während zu letzterem jene gehören, die am rechten Rand vieler rechtspopulistischer Parteien und darüber hinaus aktiv sind.

Der Aufstieg der Rechtspopulisten

Nicht in allen Ländern der EU gibt es nennenswert starke rechtspopulistische Parteien, in Portugal, Irland und Slowenien beispielsweise nicht. Doch wo es sie gibt, haben sie in den Wahlen der letzten Jahre fast überall zugelegt, zum Teil sogar kräftig. Ausnahmen bilden lediglich Großbritannien und Griechenland. In Großbritannien ist UKIP, die britische Unabhängigkeitspartei, bei den Unterhauswahlen 2017 eingebrochen. Mit dem für sie positiven Ausgang des Brexit-Referendums hatte sie zuvor ihr einziges Ziel erreicht, zumal sich die Konservativen und die Labourpartei mehrheitlich an das Votum gebunden fühlen. Die nachfolgenden Turbulenzen waren für viele anscheinend nicht absehbar. Nach der Wahl 2019, die eine eindeutige Mehrheit für die Brexit-Befürworter der Konservativen Partei erbrachte, ist UKIP denn auch völlig bedeutungslos geworden. Ihre zentralen Anliegen befinden sich nun in den Händen der Konservativen. In Griechenland verlor die Partei Goldene Morgenröte, die man sogar als rechtsextrem bezeichnen kann, mit der Stabilisierung des Landes bei den Wahlen 2019 fast jeglichen Rückhalt. Dass wirtschaftliche Stabilisierung dies alleine aber noch nicht zu bewirken vermag, zeigt das Beispiel Spanien, wo die rechtsradikale Vox bei den Wahlen 2019 durchaus erfolgreich war.

Die Entstehung und Entwicklung rechtspopulistischer Parteien ist je nach Land durchaus sehr unterschiedlich verlaufen. In einer Reihe westeuropäischer Staaten gaben sich schon länger bestehende, in der Regel eher kleinere Parteien eine rechtspopulistische Ausrichtung, in anderen wurden neue Parteien gegründet, die einen solchen Kurs von Anfang an beschritten. Zu ersteren gehören die Niederlande mit der Partei der Freiheit (PVV) und Österreich mit der FPÖ; beide Parteien waren zuvor eher rechtsliberal. Zu letzteren gehören die skandinavischen Staaten und Deutschland mit der AfD, wobei auch diese Partei in ihren Anfängen unter dem Vorsitzenden Lucke tendenziell rechtsliberal war. Mit dessen Abgang wurde aber rasch ein rechtspopulistischer Kurs eingeschlagen. Ähnliches gilt für die italienische Lega, die aber auf eine längere Vorgeschichte als separatistische Lega Nord zurückblicken kann.

Etwas anders verlief der Aufstieg des Rechtspopulismus in Frankreich. Bereits 1972 wurde der rechtsnationalistische Front National (FN) gegründet, der anfänglich zwar kaum Erfolg hatte, unter seinem Vorsitzenden Jean-Marie Le Pen aber seit den 1980er Jahren meist zweistellige Wahlergebnisse erzielte, bevor er 2007, kurz vor Ausbruch der Finanzkrise, auf 4,3 Prozent abstürzte. Le Pens Tochter Marine übernahm 2011 den Parteivorsitz, drängte vor allem antisemitische Vorstellungen in den Hintergrund und schlug einen vergleichsweise moderateren Kurs ein. Die 2018 in Rassemblement National (RN) umbenannte Partei liegt derzeit bei gut 13 Prozent, was angesichts der fundamentalen Umwälzungen im französischen Parteiensystem, die fast alle althergebrachten Parteien verzwergt haben, bemerkenswert ist.

Von diesen eher auf Westeuropa beschränkten Entwicklungen sind jene in Mittel- und Osteuropa zu unterscheiden. Hier nahmen Parteien, die teilweise seit der Auflösung des Ostblocks bestehen, im Laufe der Zeit eine autoritär-nationalradikalistische Ausrichtung im Sinne Heitmeyers an. Die maßgeblichen Beispiele dafür sind die ungarische Fidesz und die polnische PiS, die beide die Regierungen ihrer Länder stellen und mittlerweile Wahlergebnisse von rund 50 Prozent (Ungarn) und 40 Prozent (Polen) aufzuweisen haben. Damit sind sie die stärksten politischen Kräfte in ihren Ländern und dienen vielen westeuropäischen rechtspopulistischen Parteien als Vorbild. Über ihre Regierungstätigkeit sind sie bereits jetzt in der Lage, auf EU-Ebene Entscheidungen zu beeinflussen. Schon deshalb gibt es in der EU keine gemeinsame Haltung mehr im Umgang mit Migration.

So verschieden all diese Parteien von ihrer Geschichte und aktuellen Verfassung her sind: Sie bilden eine neue politische Strömung, die die liberale Demokratie, wie wir sie kennen, grundsätzlich in Frage stellt. Ihr gemeinsamer Anspruch, die wahre Vertretung eines homogenen und gebeutelten Volkes zu sein, und die daraus abgeleitete Rechtfertigung, dessen behauptete Interessen ohne Rücksicht auf konkurrierende Vorstellungen durchzusetzen, markiert eine Abkehr von den bislang anerkannten Regeln der politischen Kultur und der politischen Auseinandersetzung.

Die Themen der Rechtspopulisten

Immer wieder rechtfertigen Rechtspopulisten ihr Vorgehen damit, eine ständig bedrohlicher werdende moderne Welt wieder in den Griff bekommen zu müssen. Dass etwas außer Kontrolle geraten ist, versuchen sie mit ihrer Sichtweise auf aktuelle Themen zu untermauern. Das markanteste Beispiel ist das Thema Migration, das bei allen rechtspopulistischen Bewegungen weit oben auf der Liste furchterregender Gegebenheiten steht. Dabei geht es immer um den Zustrom von Menschen von außerhalb des Nationalstaates.

Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang die Wirkung medialer Vermittlung. Mit Bildern von Flüchtlingsströmen, die teilweise drastischer als »Flüchtlingsschwemme« bezeichnet werden, lässt sich trefflich die Angst erzeugen, der Nationalstaat habe bereits die Kontrolle über die Zuwanderung verloren oder befinde sich zumindest in einem Zustand fortgesetzter Belagerung, der nicht mehr lange durchhaltbar sei. Ikonographisch für Deutschland waren zum Beispiel die Bilder davon, wie überwiegend syrische Flüchtlinge die Grenze zwischen Ungarn und Österreich überschritten.

Die Bilder wirken zudem umso eindrücklicher, je fremder die Migranten aus dem Blickwinkel der Einheimischen aussehen. Insofern ist es gar nicht einmal Zuwanderung generell, gegen die Ängste geweckt werden, sondern zumeist die Zuwanderung aus relativ armen oder von Unruhen geplagten Regionen und aus Kulturen, die als fremd wahrgenommen werden. So sind in den USA nicht Immigranten aus Kanada Gegenstand von Befürchtungen, sondern jene aus Mittel- und Südamerika. Im Großbritannien des Brexit-Referendums waren es nicht deutsche EU-Binnenmigranten, die Furcht auslösten, sondern jene aus Polen, die im Zuge der innereuropäischen Niederlassungsfreiheit ins Land gezogen waren. Sie waren dort im Übrigen anfänglich – anders als in Deutschland – sehr wohl willkommen. In Deutschland wiederum sorgen nicht die durchaus zahlreichen Einwanderer aus Spanien, Frankreich oder Großbritannien für Unruhe. Vielmehr sind es jene aus außereuropäischen Staaten und teilweise die aus Osteuropa.

Die Eindämmung primär dieser Migration ist denn auch eine Kernforderung aller rechtspopulistischen Bewegungen. Begründet wird sie häufig mit der Furcht vor einer kulturellen »Überfremdung«, die sich teilweise generell gegen kulturelle Vielfalt richtet. In Deutschland stand am Beginn der politisch organisierten Anti-Migrationsbewegung der enorme Erfolg von Thilo Sarrazins Streitschrift Deutschland schafft sich ab. Darin wird behauptet, die Migranten zwängen der einheimischen Bevölkerung ihren Lebensstil auf. Dazu komme es schon allein deshalb, weil die Geburtenrate der Migranten wesentlich höher liege als die der einheimischen Bevölkerung. Außerdem behauptet Sarrazin, dass das Leistungsniveau der Volkswirtschaft durch die kulturelle Veränderung sinken werde. So umstritten und methodisch zweifelhaft seine Publikation auch war, ist ihr Einfluss auf die politische Landschaft in Deutschland doch unbestreitbar. Endlich, so die Meinung vieler, sprach jemand aus, was ohnehin alle dachten. Das Buch wurde als ein längst überfälliger Tabubruch angesehen. »Das wird man doch wohl noch sagen dürfen« ist in der Folge nahezu zu einem geflügelten Wort geworden.

Vor allem wird mit dem Zustrom von Flüchtlingen die Furcht vor einem Anstieg der Kriminalität geschürt. Da junge Männer einen hohen Anteil an den Migranten und – wie unter Deutschen – an der Kriminalität haben, hat die Angst trotz allgemein abnehmender Kriminalität einen realen Kern. Sie verbindet sich mit einer allgemein gestiegenen Furcht in Zeiten grundlegenden Wandels und erhöht die Zustimmung für strengere Sicherheitsmaßnahmen insbesondere gegenüber Ausländern. Einzelne Gewaltvorfälle und jeder kriminelle Akt mit einem Flüchtling oder einem Menschen mit migrantischem Hintergrund als Täter werden als Beleg für diese Gefahr gesehen. Meist folgt unmittelbar nach Bekanntwerden einer Tat eine sehr rasche, von den näheren Umständen und Ursachen absehende öffentliche Vorverurteilung der Täter. Dies geschieht in der Regel über die sozialen Medien. Damit wird sie lawinenartig der eigenen Anhängerschaft und den beobachtenden Nutzern bekannt. In der Regel gelingt es, auf diese Weise eine gesellschaftliche Debatte auszulösen, bei der die tatsächliche oder vermutete kriminelle Neigung von Zuwanderern im Mittelpunkt steht. Das Ziel einer negativeren Wahrnehmung von Migration wird in der Regel erreicht.

Eng verbunden mit der Furcht vor Migration im Allgemeinen ist die Islamfurcht und die Furcht vor einem islamistischen Terroranschlag im Besonderen. Schließlich sind viele der Migranten Muslime. Und die neigen in den Augen der Rechtspopulisten und ihrer Anhänger letztlich alle zum gewalttätigen Islamismus. Folglich müssen Muslime, auch jene, die in westlichen Gesellschaften tief verwurzelt sind, mit Vorsicht und Skepsis und letztlich als Fremde betrachtet werden.

Das gilt erst recht, wenn Muslime sich erdreisten, in gesellschaftlichen Debatten Position gegen Rechtspopulisten zu beziehen. Hierzu sind sie in den Augen von Rechtspopulisten schlicht nicht legitimiert. Das »Send them back« des Publikums bei einer Wahlkampfveranstaltung des amerikanischen Präsidenten Trump im August 2019, wo dieser sich über die Kritik muslimischer Kongressabgeordneter beklagte, spricht Bände. Es besagt nichts anderes als: Ihr gehört nicht zum amerikanischen Volk. Ähnliche Ausbrüche gehören in Deutschland zum Repertoire der AfD, deren Vertreter Muslime teilweise als Kameltreiber bezeichnen und ihnen analogerweise die Zugehörigkeit zum deutschen Volk absprechen. Intellektuelle Vorarbeit hat auch in diesem Fall Thilo Sarrazin mit seiner abschätzigen Rhetorik über »Kopftuchmädchen« geleistet.

Mittlerweile hat sich das Themenspektrum der Rechtspopulisten merklich erweitert. So bestreiten sie, oder säen Zweifel daran, dass der Klimawandel von Menschen bewirkt wurde. In dieser Hinsicht engagieren sich besonders der amerikanische und der brasilianische Präsident. Auch dieses Thema ist hervorragend geeignet, Ressentiments gegen vermeintliche internationale Verschwörungen zu schüren, die den Klimawandel als Argument nutzen, um Völker wirtschaftlich zu schwächen. Die AfD hat diese Position mittlerweile ebenfalls eingenommen. Letztere kann mit ihrem Kampf gegen das Eindringen von Wölfen nach Deutschland und deren Ausbreitung besondere Originalität beim Agendasetting beanspruchen. Aber letztlich ist dies auch eine Form von Migration. Ganz generell steht jede Ausprägung der Globalisierung in der Kritik der Rechtspopulisten. Dazu gehören multilaterale Organisationen wie die WTO, IWF und OECD – und vor allem in Europa die EU. In solchen Institutionen sehen sie lediglich Instrumente der Unterdrückung des eigenen Volkes.

All diesen Themen gemeinsam ist, dass sie angstbesetzt sind und den Boden für Ressentiments bereiten. Zwar würde man erwarten und sich auch wünschen, dass Parteien oder einzelne Politiker solche Ängste aufgreifen. Dies sollte jedoch mit dem Ziel geschehen, sie zu mindern: durch glaubwürdige Argumente, dass die Ängste unbegründet oder überzogen sind, oder durch glaubwürdige Vorschläge und Maßnahmen, die ihre Ursachen beseitigen. Das ist aber nicht das Ziel der Rechtspopulisten. Sie wollen die Ängste verschärfen, um das politische System und seine Repräsentanten als nicht willens oder unfähig zur Lösung von Problemen darzustellen, die für das Volk existenziell sind.

Ein markantes Beispiel für diese Art von Destabilisierungsstrategie zeigte sich im Februar 2020 bei der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen. Die AfD wählte geschlossen nicht den eigenen Kandidaten, sondern den der FDP, der aber auch über keine eigene Mehrheit verfügte. Sie stürzte damit das Bundesland, CDU und FDP in eine politische Krise, die den gewünschten Eindruck von Inkompetenz der »etablierten« Parteien hervorrief.

Darüber hinaus verknüpfen die Rechtspopulisten sämtliche Anliegen mit der Abwertung und Diskreditierung Andersdenkender. So soll Angst in Zorn überführt werden. In den letzten Jahren ist ihnen dies zunehmend gelungen. Wie der indische Schriftsteller und Gesellschaftsbeobachter Pankaj Mishra in seinem Buch Zeitalter des Zorns beschreibt, verfolgen populistische Bewegungen auf der ganzen Welt diese Strategie, von Rechtspopulisten und Nationalisten über Separatisten bis hin zu Islamisten. Der Zorn hat in diesen Kreisen den Verstand als Treiber der Politik abgelöst. Der amerikanische Präsident verkörpert diese Strategie sowohl durch seine politischen Maßnahmen als auch im Habitus in exemplarischer Weise. Die verheerenden Konsequenzen sind in vielen Ländern zu beobachten: zahlreiche hasserfüllte Auseinandersetzungen über politische Themen bis hin zu Gewalttaten und eine schroffe politische Polarisierung der Gesellschaft. Politik ist in Teilen unkalkulierbar und zutiefst verunsichernd geworden.

Das hat Konsequenzen für ein Gegensteuern. An den Verstand zu appellieren und rational bessere Politikkonzepte vorzuschlagen, reicht nicht. Es gilt, den Zorn und dessen Auslöser auch emotional anzusprechen. Es gilt, den zornigen Menschen das Gefühl zu vermitteln, ihre Anliegen werden zumindest ernst genommen. Es gilt zudem, ihnen den Respekt zu geben, den sie anderen verweigern. Dies heißt mitnichten, dass man ihnen in allem zustimmen muss. Im Gegenteil, ernst nehmen kann auch heißen, Anliegen klar abzulehnen. Gleichzeitig kann man ihnen aber das Gefühl vermitteln, sie werden wenigstens wahrgenommen.

Soziale Medien als Kanäle des Zorns

Wie sich bei der Ausschlachtung von Straftaten mit Beteiligung von Migranten zeigt, hat die Digitalisierung günstige Voraussetzungen für rechtspopulistische Bewegungen geschaffen. Und sie verstehen es insbesondere, soziale Medien wie WhatsApp, Facebook und Twitter für ihre Zwecke zu nutzen. Während ersteres der internen Kommunikation dient, werden über Facebook und Twitter die eigenen Anhänger mobilisiert und die politischen Gegner verunglimpft.

Dabei kommt die Funktionsweise sozialer Medien den Rechtspopulisten sehr entgegen. Zunächst einmal können sie sich mit Postings und Tweets ungefiltert äußern. Keine Redaktion, kein Lektor hemmt sie in ihren Formulierungen oder prüft gar den Wahrheitsgehalt ihrer Äußerungen. Ihr eigenes Narrativ über diese Tätigkeit immunisiert sie gleichzeitig gegenüber Kritik. Denn sie behaupten, es seien die sogenannten Mainstream-Medien, die ständig die Unwahrheit verbreiten oder, um es mit einem durch den amerikanischen Präsidenten populär gewordenen Ausdruck zu umschreiben: Fake News (gefälschte Nachrichten). Als Mainstream-Medien werden dabei alle journalistischen Medien verstanden, die sich nicht auf rechtspopulistischer Linie befinden. Aus dieser Sichtweise erscheint es nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar geboten, dem Volk den eigenen und einzig wahren Standpunkt unmittelbar mitzuteilen und alle traditionellen Filterinstanzen zu umgehen. Zwischen wahren und falschen Informationen wird dabei prinzipiell nicht mehr unterschieden. Alles, was dazu dient, den eigenen Standpunkt zu verbreiten und Angst zu erzeugen, ist genehm. Lüge wird zum strategischen Instrument politischer Auseinandersetzung.

Rechtspopulisten machen sich zudem die Tendenz der sozialen Medien zunutze, Inhalte in emotionaler Form darzustellen. Sie ergibt sich aus dem Impuls bei Nutzern, auf emotionale, insbesondere konfliktträchtige Inhalte stärker zu reagieren als auf nüchtern rationale Darstellungen. Deshalb erzielen emotionale Aussagen höhere Zugriffs- und Interaktionszahlen. Dies macht sie nicht nur für ihre Autoren wertvoller, weil diese so mehr Menschen erreichen, sondern auch für die Plattformbetreiber, die ihre Werbung an mehr Nutzer verbreiten können und zugleich mehr Daten für ihre kommerziellen Auswertungen erhalten. Aus diesem Grund neigen die Algorithmen der Betreiber dazu, diesen Botschaften eine höhere Relevanz beizumessen – schließlich lässt sich durch sie mehr Geld verdienen. Aus dieser gemeinsamen Interessenlage kommt ein sich selbst verstärkender Verbreitungsprozess in Gang, der im für Autoren wie Plattformbetreiber »günstigsten« Fall aus einer Botschaft mit Konfliktgehalt einen Shitstorm werden lässt. Dies ist laut Duden: »Ein Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht.«4

Da Ängste, Aggressionen und Konflikte der Treibstoff der Rechtspopulisten sind und die Wahrheit für sie keine Rolle spielt, bieten Facebook, Twitter und andere soziale Medien günstigste Bedingungen, um die eigenen Botschaften zu verbreiten und die Anhängerzahl zu erhöhen. Dieser Kommunikationsstil ist relativ naheliegend, wenn man sich in der Rolle einer Opposition befindet oder sieht, die immer wieder Konflikte mit der Regierung oder der Mehrheit oder ganz generell mit einem als solchem definierten Establishment vom Zaun brechen kann. Wie der US-Präsident zeigt, geht es aber auch aus einer Regierungsposition heraus. Denn selbst als Inhaber des vielleicht mächtigsten Amtes der Welt definiert er sich noch durch die Opposition gegenüber angeblich dominierenden Kräften im Parlament, in den Medien oder der Finanzwelt. Damit nicht genug, kann er jederzeit behaupten, außenpolitisch allein gegen den Rest der Welt zu stehen. Die Auseinandersetzungen über die Handelspolitik sind aus Social-Media-Sicht geradezu ideal. Auch die italienische, ungarische oder polnische Regierung, in denen ebenfalls rechtspopulistische Parteien vertreten sind oder waren, nehmen sich gern ein Establishment zum Gegner, hier das europäische, namentlich Deutschland.

Es wäre naiv zu übersehen, dass die von den Rechtspopulisten so gescholtenen »Mainstreammedien« zu dieser konfrontativen Art der Auseinandersetzung durchaus einen Beitrag leisten. Bereits vor dem Aufkommen rechtspopulistischer Bewegungen neigten sie in ihrer politischen Berichterstattung und in ihren Analysen vielfach zu grundlosen Überspitzungen. Da wurden und werden kleinere Fehler, deren Bedeutung auf den Tag beschränkt ist, zu Skandalen aufgewertet, die Staatskrisen nahezukommen scheinen. Die Themen verschwinden zumeist rasch, zurück bleibt ein Gefühl allgemeinen politischen Versagens, das die Grundbotschaft der Rechtspopulisten plausibel zu machen scheint. Auch die Auswahl und Benennung von Themen und die Besetzung der Talkshows, insbesondere bei privaten Anbietern, folgt bis heute weniger der Logik einer sachlichen, wenn auch vielleicht kontroversen Analyse als dem Bestreben, einen möglichst heftigen Streit oder überhaupt Emotionen auszulösen. Selbst absurdeste Meinungen, die keinerlei Überprüfung standhalten oder ethisch grenzwertig sind, kommen dort zu Wort, sofern ihre Vertreter einigermaßen rhetorisch begabt sind. In dieser Redaktionspolitik spiegelt sich die verschärfte Konkurrenz der traditionellen Medien untereinander sowie gegenüber den digitalen Medien wider, die die Auflagen oder die Einschaltquoten drückt.

In Deutschland wie in vielen anderen Ländern waren Talkshows das Einfallstor rechtspopulistischer Parteien in die Mainstreammedien, versprachen Besetzungen beispielsweise mit AfD-Vertretern doch maximalen Krawall. Aus dem gleichen Grund wurden in Printmedien, TV und Hörfunk Debatten aus den sozialen Medien aufgegriffen, was einerseits zur Popularisierung von AfD-Positionen beigetragen und andererseits die Bedeutung der sozialen Medien erhöht hat. Versteht man es, seine Position dort nur »laut« genug zu artikulieren, erhält man noch eine verstärkende Wirkung über die traditionellen Medien.

Das Ergebnis dieser veränderten Kommunikationsformen ist eine Emotionalisierung und Polarisierung der politischen Positionen. Dies erklärt nicht nur die Schärfe mancher öffentlichen politischen Auseinandersetzung insbesondere bei Demonstrationen wie jenen von Pegida, die bis zur Gewaltandrohung gegenüber Andersdenkenden reichen. Es erschwert auch den Dialog oder gar das Erreichen eines Kompromisses. Damit sind die traditionellen Konsensfindungsmechanismen liberaler Demokratien häufig lahmgelegt.

Auf dem Weg in eine digitale Wirtschaft

Wie konnte es soweit kommen? Das ist eine der Fragen, die dieses Buch leiten sollen. Es wäre oberflächlich, sie mit Verweis auf die Relevanz der Themen zu beantworten, an denen sich die Rechtspopulisten abarbeiten. Gäbe es ohne Migration, ohne Islamismus, ohne Klimawandel und ohne Wölfe keine Rechtspopulisten? Manche Politiker scheinen in der Tat so zu denken. Sie versuchen, den Rechtspopulisten das Wasser abzugraben, indem sie deren Angstthemen gezielt adressieren. Dies schlägt sich insbesondere in einer ausgeprägten Härte gegenüber Migranten und im Kampf gegen Islamismus nieder. Dennoch ist es bislang nicht gelungen, die Zustimmung, die rechtspopulistische Bewegungen erfahren, nachhaltig zu mindern. Es muss also tiefere Gründe dafür geben, warum so viele Menschen weltweit aus in Wut umgeschlagener Angst Parteien und Menschen wählen, die vieles von dem in Frage stellen, was zum politischen Konsens liberaler Demokratien der vergangenen Jahrzehnte gehörte.

In der Literatur finden sich dazu zwei grundlegende Sichtweisen.5 Die eine führt dieses Wahlverhalten primär auf kulturelle Veränderungen zurück. Damit sind etwa die Erfolge der verschiedenen Emanzipationsbewegungen in den letzten Jahrzehnten gemeint. Die Emanzipation der Frauen, das gleichberechtigte Ausleben verschiedener sexueller Orientierungen oder vor allem in den USA das Streben nicht-weißer Gruppen nach Gleichberechtigung lösen insbesondere bei vielen weißen heterosexuellen Männern die Befürchtung aus, sie könnten ihren bislang höheren sozialen Status einbüßen. Genau sie bilden den Kern rechtspopulistischer Wählerschaft. In Deutschland hat nicht zuletzt der Zustrom von Flüchtlingen deutlich gemacht, dass die Entwicklung zur multikulturellen Gesellschaft unumkehrbar ist, was wiederum ähnliche Ängste auslöst. Analoges gilt schon seit Längerem für Frankreich, Belgien und die Niederlande sowie die skandinavischen Staaten. In manchen osteuropäischen Ländern, wo sich die Zusammensetzung der Gesellschaft und die rechtliche Benachteiligung bestimmter Gruppen erst rudimentär geändert hat, fürchtet man eher ein Übergreifen der westeuropäischen Entwicklungen.

Rechtspopulisten sehen in solchen gesellschaftlichen Veränderungen den Untergang einer von ihnen so wahrgenommenen nationalen Kultur. Konservative beklagen in Deutschland ohnehin seit Langem das Verblassen einer deutschen »Leitkultur« oder fordern deren Einhaltung von Migranten. Beides richtet sich gegen die Koexistenz einer Vielfalt von Kulturen im eigenen Land – »Multikulti ist tot« lautet nicht zufällig ein Slogan von Konservativen wie Rechtspopulisten.

Die Schärfe und Emotionalität der Auseinandersetzungen um all diese Umbrüche erklärt sich auch dadurch, dass sie in den Augen der rechtspopulistischen Anhängerschaft von einer tonangebenden urbanen Schicht vorangetrieben werden, von der man sich in der eigenen eher ländlichen oder kleinstädtischen Lebenswelt verachtet und geringgeschätzt fühlt. Während man selbst sich als heimatverbunden und zumindest im eigenen Umfeld als sozial engagiert ansieht, denunziert man die Weltoffenheit der Großstädter als Wurzellosigkeit und Verantwortungslosigkeit gegenüber den eigenen Mitbürgern. Als Paradebeispiel dafür dient in Deutschland die vermeintliche Vorzugsbehandlung von Flüchtlingen.

Hinter dieser Wahrnehmung stecken nicht nur Stadt-Land-Gegensätze, sondern auch solche zwischen Regionen oder zwischen Peripherie und Zentrum. In den USA ist dies der kulturelle Gegensatz zwischen den Küstenbewohnern auf der einen und dem Mittleren Westen beziehungsweise dem Süden auf der anderen Seite. In Großbritannien ist es der Norden gegen den Süden, insbesondere die Metropole London, in Frankreich der vormals industrielle Norden und Osten gegen die Region um Paris. In Deutschland stehen auch dreißig Jahre nach der Vereinigung die Gegensätze zwischen ost- und westdeutschen Regionen für diese kulturelle Spaltung. Der tiefste Graben besteht zwischen westdeutschen Metropolenbewohnern und ostdeutscher Landbevölkerung. In ostdeutschen Städten unterscheiden sich die Sichtweisen hingegen nicht so sehr von jenen in westdeutschen. Umgekehrt findet man auch in westdeutschen Bundesländern Landstriche, in denen ähnlich gedacht wird wie in ostdeutschen.

Der Zorn und teilweise der Hass entstehen wohl insbesondere aus dem Gefühl, dass der politische Prozess von den urbanen und weltoffenen Schichten zu Lasten der »normalen Menschen« dominiert wird. In den USA wurden vor allem die Demokraten unter Hillary Clinton als die politische Verkörperung dieser Schichten und ihrer Kultur gesehen. Dabei spielt auch eine Rolle, dass den Metropolen besonders in den USA und Großbritannien eine Affinität zu unseriösen Finanzmärkten nachgesagt wird, während die Wähler der Rechtspopulisten sich selbst als in soliden Produktionsaktivitäten verankert ansehen. Tatsächlich gab und gibt es eine enge Verbindung der Demokraten zum Finanzsektor. Sie werden auch überwiegend in den Städten gewählt. Indem Donald Trump diese Merkmale der Demokraten herausstellte, konnte er die Präsidentschaftswahl gewinnen.

In Europa richtet sich der Zorn in der Regel gegen das gesamte etablierte Parteiensystem, das sich dadurch vor allem in Frankreich und Italien bereits massiv verändert hat. Auch in Deutschland werden die »Altparteien« von den Rechtspopulisten pauschal als Verantwortliche für die angebliche politische Dominanz urbanen Denkens gesehen. Besonders trifft dies die Volksparteien CDU und SPD, da gerade ihr Anspruch, die Interessen der gesamten Bevölkerung zu vertreten, von Rechtspopulisten aggressiv und zunehmend erfolgreich in Frage gestellt wird.

In diese sehr allgemeinen Sichtweisen der Rechtspopulisten schleichen sich im Konkreten vielfach Widersprüche ein. So wird auf der einen Seite die gleichberechtigte Vielfalt einer multikulturellen Gesellschaft beklagt. Auf der anderen Seite wird gerade muslimischen Migranten vorgeworfen, sie würden etwa Frauen, Homosexuelle oder Juden nicht als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft anerkennen. Das mag mitunter zutreffen, gilt aber nicht weniger für Teile der rechtspopulistischen Bewegungen. Man lehnt also sowohl gesellschaftliche Vielfalt als auch den mangelnden Respekt vor ihr ab.

Offenbar geht es um etwas anderes. Das wird deutlich, wenn man sich den zweiten Erklärungsansatz für das Aufkeimen des Rechtspopulismus vor Augen führt. Demnach sind es vor allem wirtschaftliche Gründe, die Menschen dazu treiben, rechtspopulistische Bewegungen zu unterstützen.6 Als deren Anhänger werden also vornehmlich die sogenannten Abgehängten identifiziert. Darunter versteht man Menschen, die nicht vom wirtschaftlichen Fortschritt des vergangenen Jahrzehnts profitiert haben, weil ihre Fähigkeiten bei neueren Produktionsverfahren nicht mehr gefragt waren oder ihre Branchen dem Strukturwandel zum Opfer fielen.

Ersteres trifft auf Tätigkeitsbereiche zu, in denen zunehmend die Anwendung digitaler Verfahren gefragt ist. Entsprechen die Kompetenzen von Beschäftigten nicht diesen Anforderungen, bleiben sie in der Hierarchie und in der Entlohnung zurück. Manche verlieren sogar ihre Beschäftigung. Verwaltungen und Teile der Industrie sind Beispiele hierfür. Für den Niedergang oder sogar Wegfall ganzer Branchen wiederum gibt es ikonenhafte Beispiele wie die Kohle- und Stahlindustrie. Letztere diente Donald Trump im Wahlkampf als Vorlage für die Beschreibung des wirtschaftlichen Niedergangs der USA – nicht zuletzt deshalb dürfte er im sogenannten Rust Belt viele Wähler für sich gewonnen haben. Ebenso stimmten in Großbritannien vor allem jene Regionen für den Brexit, in denen zuvor ganze Industriezweige wie Kohle und Stahl verschwunden waren.