Gegenwärtig sein - Margarethe von Trotta - E-Book

Gegenwärtig sein E-Book

Margarethe von Trotta

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Beschreibung

Sie sagt selbst, viele ihrer Filme seien entstanden, um Druck vom Herzen zu nehmen. Ihr Lebensweg ist ein verschlungener. Aus- gebombt in Berlin, zog sie mit der Mutter bald nach Düsseldorf, lebte später in München, Rom, Paris, dann wieder in München. Von ihrer Halbschwester erfuhr sie erst nach dem Tod der Mutter. Der Vater war meist abwesend. Glück fand sie in der Kunst: Zunächst in den Büchern. Alles habe sie weggelesen als Kind.Im Gespräch mit dem Autor und Filmpublizisten Thilo Wydra erzählt Margarethe von Trotta von den Ängsten ihrer Jugend, den ersten Schritten als Schauspielerin in München – von Fassbinder, der sie mit keinem anderen Regisseur teilen wollte –, von den gemeinsamen Filmen mit ihrem damaligen Ehemann Volker Schlöndorff, vor allem aber von ihren eigenen, den Biographien über Hannah Arendt, Hildegard von Bingen und Rosa Luxemburg, und ihrem internationalen Durchbruch mit Die bleierne Zeit – eine Zeit, die sie selbst intensiv erlebt hat: den Deutschen Herbst. Und natürlich kommt die Sprache auf die zwei Filmschaffenden, die sie bis heute am meisten beeindrucken: Ingmar Bergman und Alfred Hitchcock, zwei Regisseure, die kaum unterschiedlicher sein könnten. Aber auch von den großen Lieben ihres Lebens erzählt sie – und noch vieles andere mehr.

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Margarethe von Trotta | Thilo Wydra

Gegenwärtig sein

Gespräche mit Thilo Wydra

Kampa

»Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus.«

Heimat und Unbehaustsein

Im September 2018 hast du in der Frankfurter Paulskirche den renommierten Adorno-Preis bekommen und stehst damit auf einer langen Liste mit sehr großen Namen.

Hauptsächlich männlich.

Hauptsächlich männlich. Das ist bereits der erste Punkt. Ein weiterer Punkt ist aber, dass da jemand stand, 1976, Jahrzehnte vor dir, den du nicht nur persönlich kennengelernt und mit dem du in einer Jury gesessen hast, sondern den du bewundert hast und der dich sehr geprägt hat: Ingmar Bergman. Er bekam damals den Goethe-Preis. Bergman war aus Stockholm geflohen, da er Probleme mit dem Finanzamt hatte. Er wurde zu Unrecht eines Steuervergehens beschuldigt und kam hierher nach München, ans Residenztheater. Er sagte damals: »Ich kann in einem Land nicht leben und auch nicht arbeiten, das mich in meiner Ehre gekränkt hat.« Du hast über deine eigene Kindheit gesprochen. Du hast von dem Fremdenpass erzählt, dem alien’s passport. Du hast von deiner Mutter erzählt, ein Moment, den ich als sehr anrührend und bewegend empfunden habe. Und du bist auf deine Staatenlosigkeit zu sprechen gekommen. Am Ende deiner Rede hast du Adorno zitiert, Die Wunde Heine, und vom Ausgestoßensein gesprochen, von dem auch er schreibt. Du sagtest: »Dass ich heute Abend von der Stadt Frankfurt einen Preis entgegennehmen darf, der mit seinem Namen verbunden ist, macht mich zu einer Person, die in ihrem Land nun endgültig keine Fremde mehr sein muss.« Wie fremd oder wie beheimatet fühlst du dich heute?

Ich möchte erst anknüpfen an die Rede von Bergman. Er war Sozialdemokrat. Er hatte dem schwedischen Film große Anerkennung in der Welt verschafft, er wurde von Hollywood umworben, und plötzlich beschuldigte ihn sein Land der Steuerhinterziehung. Er wurde während einer Theaterprobe von der Bühne gezerrt und verhaftet, wie ein Krimineller. Sein Freund Olof Palme hat ihm nicht beigestanden. Das hat ihn so sehr verletzt, dass er sein Land verlassen musste, um nicht psychisch krank zu werden. Für ihn war es eine Flucht, um zu überleben. Aber er verlor nicht seine Staatsangehörigkeit.

Das ist ein wesentlicher Unterschied zu meiner Geschichte und zur Geschichte meiner Mutter. Meine Mutter ist in Moskau geboren. Ihre Familie stammte aus Riga, ihr Vater war als Großkaufmann nach Moskau gegangen. Da das Baltikum Teil des Zarenreichs war, hatte meine Mutter die russische Staatsangehörigkeit. Als 1917 die Revolution ausbrach und die Bolschewiken im Oktober die Macht übernahmen, flohen die meisten russischen Aristokraten ins Ausland, viele nach Paris, andere nach Berlin. Meine Großeltern warteten zunächst ab. Nachdem aber viele Adlige, auch aus ihrer Familie, umgebracht worden waren, entschlossen sie sich ebenfalls zur Flucht. Eine sehr gefährliche Flucht, zurück in die eigentliche Heimat der von Trotta genannt Treyden, ins Kurland, im heutigen Lettland. Die Balten waren 1918 unabhängig von Russland geworden, mussten sich jedoch schon kurz darauf gegen die Rote Armee verteidigen. Volker Schlöndorff und ich haben in dem Film Der Fangschuß nach dem Roman von Marguerite Yourcenar diese Zeit beschrieben. Ein Bruder meiner Mutter engagierte sich sogleich in der baltischen Landeswehr und ist schon mit neunzehn Jahren gefallen. Da die Familie aus einem nunmehr kommunistischen Land kam, verloren sie ihre russische Staatsangehörigkeit. Und damit ihre Ausweispapiere. In Frankreich nennt man diese Menschen heute les sans papiers.

Les sans papiers. Die illegalen Einwanderer, wörtlich: die ohne gültige Ausweispapiere.

Fridtjof Nansen, der norwegische Diplomat und Polarforscher, hat ihre Lage erkannt und sich dafür eingesetzt, dass sie zumindest ein Dokument bekamen, auf dem ihr Name stand, sie sich also ausweisen konnten. Nur hatten sie damit noch keine Staatsangehörigkeit. Sie wurden staatenlos. Da meine Mutter sich niemals hat einbürgern lassen, blieb sie ein Leben lang staatenlos, und da sie nicht verheiratet war und ich ihren Namen trage, war ich ebenfalls staatenlos. Warum sie die deutsche Staatsangehörigkeit, auch später, nicht beantragt hat, habe ich nie verstanden. Sie hat immer etwas abfällig von den »Reichsdeutschen« gesprochen, so wurden die Deutschen genannt, die in den Grenzen des Reichs lebten, während die Familie meiner Mutter, die zwar deutschstämmig war, jenseits der Grenzen zu Hause war. »Die Deutschen sind so kleinlich.« Russen waren ihrer Meinung nach großzügiger. Auch meine Mutter war großzügig, obwohl sie es sich nicht leisten konnte. Später, in der Bundesrepublik, hieß dieser Pass für Staatenlose Fremdenpass, alien’s passport. Ich blieb staatenlos bis zu meiner ersten Ehe und hatte diesen alien’s passport. Im Unterschied zum damaligen Pass der Bundesrepublik …

… der grün war …

… war der Fremdenpass grau, was mir immer wieder vor Augen führte, dass ich mich in einer Grauzone befand und nicht dazugehörte. Alle zwei Jahre musste ich aufs Polizeipräsidium in Düsseldorf. Ich stand in einer Schlange inmitten von Ausländern und musste um die Verlängerung meiner Aufenthaltsgenehmigung bitten. Obwohl ich in Berlin geboren war, in eine deutsche Schule ging, meine Sprache und Kultur deutsch war, musste ich dafür zahlen, in Deutschland leben zu dürfen. Einmal machte ich den Versuch, die Beamten zu bitten, mich einzudeutschen, aber sie meinten zynisch, ich solle warten, bis ich Geld verdienen würde. Ich müsse drei Monatsgehälter dafür zahlen, die ich ja wohl noch nicht zahlen könne. Sie hatten recht.

Ich vermute, ich habe 1964 nur geheiratet, weil ich endlich diesen grauen Pass loswerden wollte. Vor allem wollte ich reisen können. Denn als Staatenlose brauchte ich für jedes Land ein Visum, was wiederum Geld kostete. Und für jedes Land, durch das ich reiste, ein Durchreisevisum. Einmal, bei meiner Rückreise von Paris nach Düsseldorf, hatte ich kein Durchreisevisum für Belgien und wurde von einem belgischen Grenzbeamten mitten in der Nacht aus dem Zug geworfen. Ich saß dann ganz allein auf einer Bank in einer Art Niemandsland, bis es wieder hell wurde, und trampte zurück nach Paris.

In den fünfziger Jahren wollten viele Frauen noch unbedingt heiraten. Oder man hat ihnen unterstellt, dass sie so schnell wie möglich »unter die Haube« kommen wollten, um »versorgt« zu sein. Das wollte ich nicht. Ich hatte das Beispiel meiner Mutter vor Augen, die immer wieder betonte, sie hätte nie heiraten wollen, sie hätte nie einem Mann untertan sein können. Das wollte ich auch nicht, obwohl ich meinen ersten Mann sehr geliebt habe. Liebe braucht keine Bestätigung vom Standesamt, aber ich wollte nicht mehr die »Fremde« sein. Fremdsein bedeutete für mich, heimatlos zu sein.

Wenn du immer wieder gefragt wirst: Staatsangehörigkeit? Und du musst antworten: staatenlos. Dann ist das, als würdest du sagen: heimatlos. Oder, um den Titel eines Buchs von Christa Wolf zu Hilfe zu nehmen: Du hast keinen Ort, nirgends.

Man ist im Nirgendwo. Unbehaust.

Ja. Dieses Gefühl wurde in meiner Kindheit durch das zerstörte Berlin noch verstärkt. Meine ersten Erinnerungen an die Stadt sind Ruinen. Man kennt die Bilder von Berlin nach dem Krieg: eine völlig zerstörte Stadt, man kann kaum glauben, dass Menschen dort noch haben leben können. Wie soll ein Kind in einem solchen Steinhaufen Heimatgefühle entwickeln? Nur das Gefühl von Zerstörung. Als Kind reflektiert man nicht, man weiß nicht, woher diese Zerstörung kommt, man weiß nicht, dass die Menschen sie selbst verschuldet haben, man ist nur Opfer.

Ich habe mir später oft vorgestellt: Wenn ein Kind an der Hand seiner Mutter durch Rom oder Paris geht, durch Städte, die nicht zerstört worden sind, dann lernt es Geschichte, ohne zu wissen, dass es sie lernt. Es lernt, dass es eine Vergangenheit gibt, etwas, das schon lange vor ihm da war, eine alte Kultur. Gerade in Rom, wo ich später eine Zeit lang gelebt habe. Vom antiken Rom bis heute kannst du durch die Geschichte gehen, und du wirst ein Teil von ihr … Dieses Gefühl, dazuzugehören, war in Berlin nicht möglich. Das ging nicht nur mir so, der Staatenlosen, sondern jedem Kind, das in Berlin nach dem Krieg aufgewachsen ist, vermute ich.

Das ist auch in Wolfgang Staudtes 1946 entstandenem Film Die Mörder sind unter uns mit Hildegard Knef zu sehen, dem ersten deutschen Nachkriegsfilm. Ein Spielfilm, der zugleich wie ein Zeitdokument wirkt.

Meine Mutter erzählte mir später, dass die Berliner zum Schluss fast nur noch im Luftschutzkeller saßen. Und da kommt noch etwas anderes hinzu. Die Männer waren im Krieg, in den Bombenkellern saßen nur Frauen mit ihren Kindern oder alte Leute. Und natürlich hatten sie alle Angst, gerade in Berlin, wo ab 1942 viermal am Tag Fliegeralarm war. Wenn sie rauskamen, erkannten sie oft ihre Umgebung nicht wieder. Sie hatten Angst um sich und Angst um die Kinder. Und diese Angst hat sich auf die Kinder übertragen. Kleine Kinder brauchen das Gefühl, dass die Erwachsenen sie beschützen, um dem Leben vertrauen zu können. Von der Unsicherheit und Angst hat sich meine Generation nie ganz befreien können, glaube ich. Hinzu kam der schrille Ton der Sirenen. Wenn ich heute eine Sirene höre – in Paris werden ab und zu die Sirenen um die Mittagszeit getestet –, schrecke ich noch immer zusammen.

Angst als Lebensgrundgefühl.

Ja, das ist mir erst viel später bewusst geworden. Als wir schon in Düsseldorf lebten. Kurz vor dem Abitur habe ich plötzlich jede Nacht im Schlaf geschrien und bin von meinem eigenen Schreien aufgewacht. Meine Mutter war ganz verzweifelt, weil sie nicht verstehen konnte, woher diese Panik kam. Bis ich eines Nachts bemerkte, dass genau in dem Augenblick ein Flugzeug über unser Haus flog. Da hatte mich die Anspannung vor dem Abitur wohl wieder zurückkatapultiert in die frühkindliche Situation. Zumindest schien mir das eine Erklärung zu sein.

Es wird etwas Verschüttetes im Inneren aufgerufen.

Im Moment, als ich das begriffen hatte, hat die Angst aufgehört, das heißt, wenn du dir diese verschütteten Erlebnisse ins Bewusstsein rufst, kannst du dich retten.

Woran ich in diesem Zusammenhang auch denken muss, ist eine Szene, von der du vor Kurzem erzählt hast – es ist ein Zeitsprung zurück: Es gab ein Erdbeben am Rhein. Dann der Moment mit dem Bett …

Da war ich noch in der Volksschule. In Bad Godesberg. Meine Mutter und ich waren von Berlin nach Bad Godesberg gezogen, dort hatte der Bruder meiner Mutter eine Anstellung für sie gefunden und für uns beide ein kleines Zimmer. Wir wohnten immer nur in einem Zimmer, zur Untermiete. In Godesberg bei einer reichen Familie in einer Villa am Rhein, mit einem wunderschönen Park. Die heile Gegenwelt zum zerstörten Berlin! Die Besitzer von Villen wurden nach dem Krieg gezwungen, Flüchtlinge aufzunehmen, und das ließen sie diese Menschen spüren. Meine Mutter hatte den Vorzug, adelig zu sein, das milderte die Verachtung dieser Bürgerlichen ein wenig. Sie musste dann aber sehr bald von Bad Godesberg nach Düsseldorf ziehen, zusammen mit ihrem Bruder. Dessen Firma gab den Sitz in Godesberg auf und beide gingen als Angestellte mit. Ich blieb zunächst in der Obhut meiner Tante. Sie schlief nun anstelle meiner Mutter in meinem Zimmer. In einer Nacht gab es ein Erdbeben in der Eifel, dessen Auswirkungen bis nach Bad Godesberg zu spüren waren. Ich schlief in einem großen, sehr altmodischen Bett mit Rollen, und plötzlich fing das Bett an, durch das Zimmer zu rollen, und die Wände wackelten ein wenig. Meine Tante wachte auf und schrie: »Wer ist da? Wer ist da?« Ziemlich hysterisch. Na ja, sie war auch dreimal in ihrem Leben auf der Flucht gewesen und hatte sehr oft Angst haben müssen. Am nächsten Tag haben wir erfahren, dass es ein Erdbeben war. Von da an bin ich jede Nacht aufgewacht vor lauter Angst, dass es wieder passiert. Ich bin zum Fenster geschlichen und habe hinuntergeschaut in den Park. Unten standen eine alte Zeder und eine Trauerweide. Und diese Trauerweide wiegte sich im Wind. Ich sah hinunter, ein kleines Kind, durch unser kleines Fenster, und mir schien, dass dort ein Mann mit schwarzer Kapuze stand. Er schaute mich an und bewegte sich dabei im Wind. Nur sein Blick bewegte sich nicht. Er starrte und starrte, und ich starrte zurück, gelähmt vor Angst. Das wiederholte sich jede Nacht. Meine Tante hat mich dann zum Arzt gebracht, der mir irgendetwas verschrieben hat, ich weiß nicht mehr genau, was. Ich erinnere mich auch nicht mehr, wann es endlich vorbei war und ich wieder ruhig schlafen konnte.

Also eine Art überirdische, dunkle Macht …

Ja. Jedenfalls eine Macht, gegen die du nichts tun kannst, gegen die du hilflos bist. Weil du es ja auch nicht benennen kannst. Ich glaube, wenn man die Dinge benennt, verändern sie sich. Das ist ja auch in alten Religionen so, oder auch, wenn alte mythologische Völker sich bekämpfen: Solange man den Namen des anderen Königs nicht kennt, kann der nicht besiegt werden. In dem Moment, wo dein Gegner deinen Namen kennt, bist du verwundbar.

Du hast mir neulich einmal erzählt, dass du früher von deiner Mutter geträumt hast. Und auch, dass deine Mutter dich in irgendeiner Form bedroht habe.

Ja, aber das war viel später. Meine Mutter ist mir nach ihrem Tod – sie ist 1979 gestorben – erschienen. Wenn ich abends ins Bett ging und das Licht ausgemacht hatte, stand sie plötzlich in der Tür und rief meinen Namen. Dann kam sie langsam auf mich zu, mit ausgestreckten Händen, als wollte sie mich erwürgen. Voller Panik habe ich das Licht wieder angemacht, und die Erscheinung verschwand. Ich konnte danach zwei Jahre lang nicht ohne Licht einschlafen. Ich habe mir das alles nicht erklären können, denn meine Mutter war, solange sie lebte, immer sehr liebevoll gewesen. Wir hatten nie Konflikte. Und dass sie nach ihrem Tod plötzlich zu einer Frau wurde, die mir Gewalt antun wollte … Es war ja kein Traum. Sie stand wirklich in der Tür! Also glaubte ich, vielleicht werde ich wahnsinnig, oder ich habe Wahnvorstellungen wie meine Großmutter, die nach ihrer Flucht aus Russland ein Jahr in die Psychiatrie musste, weil sie unter Verfolgungswahn litt. Und als sich am Ende des Zweiten Weltkriegs, als sie schon in Deutschland lebte, die sowjetische Armee Deutschland näherte, wurde sie wieder krank und kam in eine Anstalt, in der sie kurz darauf »verstarb«. Ich vermute, sie ist euthanasiert worden.

Ich suchte Hilfe bei einer Psychotherapeutin, in der festen Überzeugung, dass ich diese Krankheit von der Großmutter geerbt hatte. Die Therapeutin war eine kluge Frau. Sie hat mich beruhigt, das seien keine Anzeichen von Wahnsinn, ich hätte nur meine Mutter zu sehr idealisiert, hätte ihr »böses« Gesicht – das jeder Mensch habe – nicht erkennen wollen. Sie stellte mir die Aufgabe, meine Träume aufzuschreiben und das, was mir an Assoziationen dazu einfiele. Ich habe ganze Hefte vollgeschrieben. Nach zehn Sitzungen hat sie mich nach Hause geschickt mit dem Ratschlag, all das für meine Drehbücher, meine Filme zu verwenden. In der Tat war ich nach diesen Aufzeichnungen jedes Mal so ausgeschrieben, dass ich kein Drehbuch mehr zustande gebracht hätte.

Es ist nur allzu verständlich, dass man die Eltern idealisiert, gerade die eigene Mutter.

Aber es gibt auch böse Mütter. In den Grimm’schen Märchen gibt es die Hexen und die bösen Stiefmütter.

Sicher. Aber die eigene Mutter?

Das Urbild der Mutter ist die Gute. Aber es gibt genügend Geschichten, auch in der Literatur, in denen Kinder sich vor der Mutter fürchten. Ich habe mich nie vor meiner Mutter fürchten müssen. Im Gegenteil. Sie war wie eine Freundin für mich. Da mein Vater mit einer anderen Frau verheiratet war, hat sie mich allein erzogen. Wir lebten immer nur zu zweit.

Zwei Gedanken: Zum einen, du hast eben erstmals deinen Vater erwähnt, den Maler Alfred Roloff. Zum anderen: Das Bild hat sich mir so eingeprägt, wie deine Mutter dort im Türrahmen steht. Ein nahezu expressionistisches Bild. Man könnte auch an Bergman denken, sogar an Hitchcock. Die Mutter in der Tür. Ein Schatten im von hinten erleuchteten Türrahmen, das Gesicht unkenntlich. Auch an deutschen Expressionismus im Film.

Wie heißt der Film mit Max Schreck?

Nosferatu.

Ja, auch so ein Albtraum-Film. Nosferatu steht plötzlich im Türrahmen, immer um Punkt Mitternacht. Zur Geisterstunde. Bei meiner Mutter war es auch Mitternacht. Waren es nur die Geistergeschichten, die ich in meiner Kindheit gehört hatte? Nachtängste? Die Nacht als Gefahr? Es gab immer wieder Zeiten, in denen mich diese Nachtängste plagten. Ich lag wach, und erst gegen Morgen, beim ersten Dämmerlicht, manchmal sangen dann schon die Vögel, konnte ich einschlafen. Dass meine Mutter mir als Rächerin erschien, hatte aber vielleicht noch einen anderen Grund …

Zu dieser Zeit, 1978/79, hast du an dem Drehbuch zu deinem zweiten Spielfilm geschrieben und ihn anschließend gedreht. Parallel wurde ein Dokumentarfilm über dich gedreht, der dann im Fernsehen lief. Da hast du eines Tages einen Brief bekommen von einer dir unbekannten Frau, die dich fragt, ob deine Mutter vielleicht Elisabeth heiße.

Schwestern oder Die Balance des Glücks, meinen zweiten Spielfilm, habe ich 1978 geschrieben, im Herbst ’78 haben wir mit den Dreharbeiten begonnen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich auch schon das Drehbuch für Die bleierne Zeit fast fertig, eine weitere Schwesterngeschichte. Und ich wurde oft gefragt: »Hast du denn eine Schwester?« »Nein, habe ich nicht.« »Wie kommt es dann, dass du von drei Filmen zwei Filme über Schwestern machst?« Ich wusste es nicht. Den Film habe ich im März ’79 in Norddeutschland beendet, danach kam ich zurück nach München. Ein paar Tage wollte ich mir Zeit geben, und dann meine Mutter besuchen, die in privater Pflege war, zwei Autostunden von München entfernt. Sie hatte Alzheimer. Einen Tag, bevor ich hinfahren wollte, klingelte am Morgen das Telefon. Volker, der immer früher aufstand als ich, nahm den Anruf entgegen und kam weinend zurück in unser Schlafzimmer. Ich wusste sofort: sein Vater oder meine Mutter. Es war meine Mutter. Sie hatte schon seit einer Woche im Krankenhaus gelegen, aber die Pflegerin hatte mir nicht Bescheid gesagt, weil sie wusste, dass ich gerade drehte. Ich erfuhr dann, dass meine Mutter im Krankenhaus nur noch Russisch gesprochen hat. Niemand hat sie verstehen können. Die Vorstellung, dass sie dort so verlassen gestorben ist und durch ihre Demenz auch gar nicht mehr wissen konnte, wer gehört zu ihr und wer nicht … Wenn ich nur noch einmal ihre Hand hätte halten können, denn daran hat sie bis zuletzt erkannt, dass ich zu ihr gehöre. Sie war der einzige Mensch, den ich in meiner Kindheit über alles geliebt habe, und dass ich sie nun beim Sterben allein gelassen hatte, habe ich mir nicht verzeihen können.

War es Alzheimer oder Demenz? Zuerst vergaß sie die Namen der anderen, zum Schluss ihren eigenen. Es begann damit, dass sie mich einmal fragte, wo sie geboren sei, und als ich »Moskau« sagte, löste dieser Name nicht mehr die Nostalgie aus, die ich von ihr kannte. Zuletzt fragte sie mich, wer ich bin, ich komme ihr so bekannt vor, und wenn ich ihr sagte: »Ich bin deine Tochter«, freute sie sich. »Ach«, rief sie, »das erfahre ich ja heute erst, dass ich eine Tochter habe.« Sie war dann jedes Mal ganz fröhlich. Dass sie mich nicht mehr erkannte, war so schmerzlich für mich, als hätte sie mich verlassen. Ich wusste, es ist die Krankheit, aber die Seele will noch eine andere Bewandtnis darin erkennen.

Das Leben war immer schwer für sie, ohne mich hätte sie ihr Freiheitsbedürfnis ausleben können. Als Kind, in ihrer adeligen Familie, war sie die Rebellin gewesen, ihr Bruder nannte sie »das schwarze Schaf«, sie hatte immer auf dem Recht bestanden, eine eigene Meinung zu haben, sie hat um ihre ganz persönliche Freiheit gekämpft, war von Riga allein nach Deutschland gegangen, nur um selbst über sich bestimmen zu können. Und dann diese erneute Abhängigkeit. Wer weiß, ob sie nicht manchmal den Wunsch nach Unabhängigkeit, auch von ihrem Kind, verspürt hat.

Nun lag sie im Keller des Krankenhauses auf einer Pritsche, hatte einen Zettel am Fuß mit ihrem Namen. Nicht einmal die Augen hatte man ihr geschlossen. Sie sah so erschrocken aus, als hätte der Tod sie überrascht und sie ihn nicht erkannt.

Jetzt bei der Pandemie und dem Verbot, die Sterbenden im Krankenhaus zu besuchen und sich von ihnen zu verabschieden, ist es vielen Menschen so ergangen. Sie haben sich schuldig gefühlt, obwohl sie es objektiv nicht waren. Das ist ein Schmerz, der nicht vergeht. Vielleicht waren diese Schuldgefühle ein Grund dafür, dass meine Mutter mir als Rächerin erschien. Aber es gab noch etwas. Ich hatte von einem Geheimnis erfahren, das sie mir verborgen hatte.

Während ich Schwestern oder Die Balance des Glücks drehte, kam eine Dokumentarfilmerin nach Hamburg, Katja Raganelli. Sie hat ein paar Tage mitgefilmt und mich lange interviewt. Ihr habe ich zum ersten Mal von meiner Mutter und ihrem Gedächtnisverlust erzählt. Dieser Film ist nach dem Tod meiner Mutter im Fernsehen ausgestrahlt worden. Kurz darauf bekam ich einen Brief von einer Frau, die mich nach dem Namen meiner Mutter fragte. Ich antwortete ihr, meine Mutter sei nicht verheiratet gewesen, ich trage den Namen meiner Mutter und so weiter, und falls sie mir noch etwas über sie erzählen könne, denn meine Mutter habe sich zuletzt an gar nichts mehr erinnert, solle sie mir doch bitte schreiben. Und dann kam die Antwort: »Ich bin Ihre Schwester.« Sie kannte zwar meinen Namen, aber als bürgerlich verheiratete Frau hatte sie angenommen, es müsse der Name meines Vaters sein. In ihrer Geburtsurkunde stand der Name meiner Mutter. Ihre Adoptiveltern mussten während der Nazizeit nachweisen, dass sie keine Jüdin war.

Kurz darauf haben wir uns getroffen. Sie sah meiner Mutter viel ähnlicher als ich. Es war, als säße mir meine junge Mutter gegenüber. Meine Schwester ist sehr viel älter als ich, meine Mutter hatte sie gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben und durfte nicht mit ihr in Verbindung bleiben.

Dass meine Mutter mir einen so wesentlichen Teil ihres Lebens verschwiegen hatte, hat mich zunächst völlig aus der Bahn geworfen. Ich habe ihr als Kind immer alles erzählt, alle meine kleinen Geheimnisse, und hatte naiv geglaubt, sie hätte es genauso gehalten. Dass sie dieses Vertrauen zu mir nicht gehabt hat, hat mich erschüttert. Später habe ich mich in ihre Situation hineinversetzt. Hätte sie es mir gesagt, hätte ich sie sicherlich bedrängt, nach dieser Schwester zu suchen, denn ich hatte mir immer einen Bruder oder eine Schwester gewünscht. Vielleicht befürchtete sie auch, ich könne sie weniger lieben, wenn ich erfahren würde, dass sie ihr Kind weggegeben hatte. Sie sagte manchmal zu mir: »Dass du mich so sehr liebst … das habe ich gar nicht verdient.« Vieles, was sie gesagt hat, ist mir erst im Nachhinein, nach ihrem Tod, verständlich geworden.

Sie hat das Geheimnis um deine Schwester mit ins Grab genommen. Wenn man es recht bedenkt, eine gewaltige Lebenslüge.

Das Verrückte ist: Während ich das Drehbuch zu Schwestern oder Die Balance des Glücks schrieb, habe ich den beiden Schwestern die Namen Anna und Maria gegeben. Ich dachte dann oft: Das muss ich noch ändern, viel zu altmodisch und biblisch. Es war wie ein Zwang, ich konnte es nicht. Als ich meine Schwester traf, sagte sie mir, ihr zweiter Name sei Anna. Mein zweiter Name ist Maria. Anna und Mary waren die Namen der beiden Lieblingstanten meiner Mutter. Meine Psychotherapeutin meinte, ich hätte es natürlich gewusst, es bestehe eine telepathische Verbindung zwischen einem Kind und seiner Mutter, darüber habe schon Freud eine Abhandlung geschrieben. Vielleicht hat meine Mutter, während sie mich gestillt hat – und sie hat mich sehr lange, ein Jahr lang, gestillt –, an das andere Kind gedacht. Es hat sie, da bin ich mir sicher, geschmerzt, dass sie meine Schwester weggeben musste. Sie war arm, hatte kein Zuhause, lebte zu der Zeit in Stettin, weit entfernt von Riga, und ihre adelige Familie durfte nichts von diesem Kind wissen. Für sie war ein uneheliches Kind ein »Bastard«. Das habe ich später selbst gespürt. Dass sie mich als »Bastard« ablehnten. Noch ein Grund mehr, mich als Fremdling, mich fremd zu fühlen!

Eine innere wie äußere Ausgrenzung.

Ja. Und dann entzog mir die einzige »Lichtgestalt« ihre Liebe und wünschte mir den Tod …

Sprechen wir über Alfred Roloff: Was kannst, was möchtest du zu deinem Vater sagen? Welche Erinnerungen hast du an ihn, bevor er aus deinem Leben verschwand?

Ich wusste, er ist mein Vater, er hatte mich anerkannt, aber er lebte nie mit uns zusammen. Zu der Zeit, nach dem Krieg, ging es vielen Kindern so. Entweder waren die Väter gefallen oder sie waren in Gefangenschaft. Deswegen ist es mir als Kind gar nicht aufgefallen, dass meine Situation eine ungewöhnliche war. Außerdem wurde mir erzählt, meine Eltern wären verheiratet. Einmal im Jahr kam er zu uns nach Bad Godesberg. Ich versuchte dann jedes Mal, seine Aufmerksamkeit und Liebe zu gewinnen. Er war ein zärtlicher Vater, wenn auch vom Alter her eher ein Großvater und deswegen manchmal ungeduldig mit mir. Nach einem Monat verschwand er wieder. Erst nach seinem Tod in den fünfziger Jahren, habe ich gemerkt, dass ich belogen worden war, dass meine Eltern nie verheiratet waren. Noch so eine Lebenslüge.

Was macht das heute mit dir, wenn wir den Begriff »Vertrauen« bemühen? Kannst du Menschen sofort vertrauen? Das, was du erzählst, ist ja eine Grunderschütterung.

Die Erschütterung durch meine Mutter kam ja erst spät in meinem Leben. Ganz wichtig sind die ersten vier Lebensjahre. Ich habe zwar kein Vertrauen in die Welt, aber zu meiner Mutter war das Vertrauen absolut. Insofern habe ich wohl auch später Frauen insgesamt vertraut. Zu Männern konnte ich dieses Vertrauen nicht fassen. Sie waren nie da. Hin und wieder der Mann meiner Tante, ein alter Nazi. Auch er stammte aus Riga, und wie viele Balten hatte er sich Hitler verschrieben, weil Hitler die »Bolschewiken« bekämpfte. Dieser Onkel hatte eine Peitsche, mit der er mich ab und zu schlug, wenn die Frauen nicht da waren. Ich habe es meiner Mutter nie gesagt, weil ich nicht wollte, dass sie sich grämt, sie war ja darauf angewiesen, dass sich jemand um ihr Kind kümmerte.

Es ist die erste Gewalterfahrung durch einen Mann.

Ja. Er war sicherlich sehr frustriert. Verlust der Heimat, und dann auch noch der verlorene Krieg. Sein Hass auf die Kommunisten. Alle in der Familie waren Antikommunisten, nur meine Mutter meinte, die Revolution habe stattfinden müssen, so wie die Zarenfamilie, die Adligen und Großgrundbesitzer sich den Bauern und Arbeitern gegenüber verhalten hätten. Sie hat unter dem Verlust des geliebten Moskaus ihrer Kindheit genau so sehr gelitten wie ihre Geschwister, im Unterschied zu ihnen aber zumindest versucht zu verstehen.

Nun, an wem sollte dieser Onkel seine Niederlage und Enttäuschung auslassen? Und da ich ein lebhaftes, auch freches Kind war, konnte er sich damit rechtfertigen, dass ich eine Strafe verdiente. Die Männer, die aus der Gefangenschaft zurückkamen, waren sehr oft traumatisierte und verstörte Gestalten …

… die über das, was sie erlebt haben – das thematisierst du auch in deinen Filmen –, geschwiegen haben.

Die auch nicht reden konnten. Genau.

Eine bleierne Stille lag über allem.

Die bleierne Zeit der fünfziger Jahre.

Eine Nicht-Kommunikation … Wann trat denn die Kultur – vor allem natürlich der Film und die Literatur – in dein Leben als Jugendliche?

Literatur sehr früh. Film, also nicht Kintopp, sondern der ernstzunehmende Film, erst später. In Paris. Meine Mutter ging manchmal mit mir ins Kino, aber ich glaube, nur zur Ablenkung, richtig ernst genommen hat sie es nie. Für sie zählte nur Literatur, Malerei, Musik, vor allem die Oper: La Traviata, Tristan und Isolde, Madame Butterfly … Alles tragische Frauenfiguren. Alexander Kluge sagt, dass ein Teil dessen, was in unseren Körpern und Herzen sitzt, sich im normalen Leben nicht äußern kann. Um das auszugleichen, sei die Oper da. Da meine Mutter so vieles nicht hat äußern können … Aber zurück zum Kintopp. Das begann in Düsseldorf, an ein Davor kann ich mich nicht erinnern. Wenn es am Sonntag regnete und wir nichts anderes zu tun hatten, gingen wir ins Kino. Das war auch billig damals.

Die deutschen Heimatfilme der Nachkriegszeit.

Auch Filme mit Maria Schell, die immer nur weinte. Sie war insofern genial, als sie gleichzeitig weinen und lachen konnte. Das habe ich später auch versucht, als ich mit Fassbinder gedreht habe.

Maria Schell, die damals »Seelchen« genannt wurde.

Oder Melodramen mit O.W. Fischer und Ruth Leuwerik. Als eine ernsthafte Kunstform haben wir das wohl nie angesehen. Das war, obwohl man oft weinen musste, Entertainment, auch wenn die Geschichten tragisch endeten.

»Echte Kunst«, das war Malerei. Und Literatur. Vor allem die russische natürlich. Ich habe sehr früh Dostojewski gelesen, auch Lermontow, Ein Held unserer Zeit – und Tschechow, nein, Tschechow kam später. Ein Lieblingsbuch meiner Mutter war Väter und Söhne von Turgenjew. Leider konnte ich all diese Bücher nicht auf Russisch lesen, denn im Krieg konnte sie mir das nicht beibringen. Die Russen waren unsere Feinde, und ein kleines Kind hätte nicht verstanden, warum es zwar zu Hause Russisch sprechen durfte, aber nicht auf der Straße. Deswegen habe ich auch die Schönheit der Sprache von Puschkins Eugen Onegin nie nachempfinden können. Meine Mutter schwärmte von seiner Sprache, die schönste Sprache überhaupt, und mit der Ansicht war sie nicht allein, ich habe sie von vielen Russischsprachigen gehört. Die deutsche Übersetzung erschien mir hölzern und ungelenk. Auch die Gedichte von Achmatowa oder Zwetajewa haben mich in der deutschen Übersetzung nie nachempfinden lassen, wieso sie zu den größten Dichterinnen Russlands gezählt werden. Vielleicht eignet sich die deutsche Sprache weniger. Wenn ich dagegen Achmatowas Gedichte in französischer Übersetzung lese, begreife ich ihre Meisterschaft. Nur Celan hat, meiner Kenntnis nach, Mandelstam so ins Deutsche übersetzt, dass er als großer Dichter zu erkennen ist.

Dostojewski hat mich als Fünfzehnjährige sehr bewegt und aufgewühlt, Die Brüder Karamasow, Die Dämonen, und ganz besonders Der Idiot, Fürst Myschkin und Rogoschin als Antipoden. Wie die Figuren bei Hitchcock. Dostojewski war lange mein Lieblingsschriftsteller. Meine Mutter meinte: »Du wirst später erkennen, dass Tolstoi der bessere Schriftsteller ist.«

Für deine Mutter war das eine Art Heimatliteratur.

So könnte man das nennen. Moskau, Moskau, Moskau … Wie in den Drei Schwestern von Tschechow. Wann können wir Moskau wiedersehen? Sie hat ihre Geburtsstadt nie wiedergesehen. Ich bin schon Anfang 1970 nach Moskau eingeladen worden, zusammen mit Volker, ins Haus des Films. Sie hätte eine Reise dorthin wagen können, aber sie hatte eine irrationale Angst davor, verhaftet zu werden. Wie viele, die vor dem Terror hatten fliehen müssen. Mit ihrem Bruder und ihrer Schwester hat sie oft Russisch gesprochen, besonders, wenn ich etwas nicht verstehen sollte, was mich dazu brachte, dass ich so tat, als spräche ich Russisch, wenn ich mit mir allein war. Ich stellte mir dann vor, alle anderen würden mir glauben.

Statt nach Moskau kam sie dann nach Berlin.

Lieber wäre sie wohl in Paris gewesen. Berlin war sozusagen nicht ihre erste Wahl! Aber immerhin, sie konnte in die Oper gehen, ins Theater. Nachdem sie aus Moskau geflohen war, hatte sie nie Geld. In Russland war ihre Familie reich gewesen, sie hatte eine unbeschwerte Kindheit gehabt. Aber diese adeligen Fräulein lernten ja außer Klavierspiel und Zeichnen nichts, und damit konnte sie nach ihrer Flucht nicht viel anfangen. Sie musste einen Steno- und Schreibmaschinenkurs machen, um zu überleben. Seltsamerweise hat sie nie geklagt. Ich habe vor langer Zeit in einem Buch über russische Emigranten in den zwanziger Jahren in Berlin gelesen, dass ein deutscher Schriftsteller sich wunderte, wieso die Emigranten nur über Kunst sprachen, obwohl sie nichts zu essen hatten.

Meine Mutter hat mir später erzählt, dass es ihr leid tat, dass sie mir gewisse Dinge nicht kaufen konnte. Meine Freundinnen waren immer viel besser gekleidet. Wir gingen an die erste und billigste Stange bei C&A, mehr war nicht drin. Das war, denke ich, eine gute Lehre. Angst vor Armut hatte ich in meinem Leben nie. Ich weiß, mit ein paar Büchern und ein wenig Musik kann ich es in einem kleinen Zimmer aushalten.

Du hängst bis heute nicht an Materiellem.

Nein. Ich habe viel über meine Ängste gesprochen. Angst vor Verarmung habe ich nicht.

Vielleicht noch einmal kurz zu der Zeit in Düsseldorf. Mein Bereich in unserem Untermietzimmer war nur mein Bett. Um mein Bett herum hatte ich meine Bücher verteilt. Und an der Wand Kunstpostkarten aufgehängt. Meine Mutter gab mir jeden Morgen Geld, damit ich mir mittags nach der Schule etwas zu essen kaufen konnte, aber anstatt zu essen, habe ich mir Kunstpostkarten gekauft und ihr abends etwas vorphantasiert, damit sie sich keine Sorgen machte.

Kunstpostkarten als Ersatz für Essen, gewissermaßen geistige Nahrung.

Na ja, Kunst ist auch Nahrung. Ebenso wichtig wie Brot. Und Liebe. Es gab ein Buch, ich weiß nicht mehr, von wem es war, ich glaube, erschienen in der rororo-Reihe, es hieß: Liebe – Brot der Armen. Sicher ist es ein ziemlicher Schmöker gewesen, aber manchmal denke ich daran, denn genau das traf für mich zu: Liebe – Brot der Armen.

Eigentlich ein schöner Titel, aber wahrscheinlich ein Kitschroman.

Es muss etwas in der Art gewesen sein. Die rororo-Reihe, das waren die ersten Taschenbücher.

In den fünfziger Jahren. Du warst eine frühe Bücherverschlingerin.

Ich hatte eine Freundin in Düsseldorf, deren Vater war Bildhauer. Er und seine Frau hatten diese Reihe von Anfang an abonniert, und die Bücher kamen mit der Post ins Haus. Sie erlaubten mir, die Bücher auszuleihen, weil sie hofften, dass ich ihre Tochter damit zum Lesen bewegen würde. Aber sie hatte keine Lust zu lesen, sie hat sich von mir den Inhalt erzählen lassen, das genügte ihr. Später wurde sie Goldschmiedin. Es waren sehr unterschiedliche Bücher, ich glaube, sie waren auch nicht alle gut, manche habe ich wohl auch nicht verstanden.

Apropos frühe Lektüren: Du zitierst oft den Schlusssatz aus Franz Kafkas Erzählung Ein Landarzt. Ich habe die Erzählung jetzt noch mal gelesen. Sie umfasst lediglich sechs Seiten und stammt aus dem Jahr 1918, sechs Jahre später starb Kafka, er wurde nur knapp einundvierzig. Somit gehört sie zum Spätwerk. Es geht um einen Landarzt, der im Winter keine Pferde hat, dann über einen Knecht zwei Pferde bekommt und einen Jungen auf dem Land besuchen muss, einen bettlägerigen Jungen, der eine Wunde hat, aus der Würmer quellen, die Gesichter und Füße haben.

Der letzte Absatz lautet: »Niemals komme ich so nach Hause; meine blühende Praxis ist verloren; ein Nachfolger bestiehlt mich, aber ohne Nutzen, denn er kann mich nicht ersetzen; in meinem Hause wütet der ekle Pferdeknecht; Rosa ist sein Opfer; ich will es nicht ausdenken. Nackt, dem Froste dieses unglückseligsten Zeitalters ausgesetzt, mit irdischem Wagen, unirdischen Pferden, treibe ich mich alter Mann umher. Mein Pelz hängt hinten am Wagen, ich kann ihn aber nicht erreichen, und keiner aus dem beweglichen Gesindel der Patienten rührt den Finger. Betrogen! Betrogen! Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen.«

Ich erinnere mich ganz besonders an den letzten Satz. Ich weiß auch nicht, aus welchem Grund er mir präsent geblieben ist. Die Erzählung fängt mit der Nachtglocke an.

Der Landarzt beklagt auch, dass er die Nachtglocke überhaupt hat, da alle ihn immerzu anklingeln.

Und da wird er eben mitten in der Nacht zu einem kranken Kind geholt, das ihn dann aber bedroht und, ganz wie ein böser Geist, anfällt.

Hier ist die Stelle: »Daran bin ich gewöhnt, mit Hilfe meiner Nachtglocke martert mich der ganze Bezirk.«

Ja, aber er ist ja als Arzt auch verpflichtet, den Menschen zu helfen. Und er fährt zu dem Kind hin. Und dann wendet sich alles gegen ihn.

Alles. Das Dorf, die Welt, das Wetter.

Nachdem ich die Geschichte gelesen hatte, gab es schon einmal diesen Moment, in dem ich glaubte, wahnsinnig zu werden. Sie hat mich so verfolgt, dass ich nächtelang nicht schlafen konnte. Es war eine existenzielle Angst, nicht vor einer Person oder einem Ereignis. Ich hatte kurz zuvor auf der Straße eine tote Katze gesehen, deren Bauch offen war. In dieser offenen Wunde wimmelte es von weißen Maden. Das sah ekelig aus. Ich konnte aber meinen Blick nicht abwenden. Das beschreibt Kafka im Landarzt.

Hier ist die Stelle. Erst diagnostiziert er – und das hat auch etwas ganz Frappierendes –, dass der Junge kerngesund ist, dass er gar nichts hat. Der Junge fleht ihn am Anfang an: »Hilf mir zu sterben!« Er ist aber vollkommen gesund. Dann lässt der Landarzt sich vom Vater, von der Mutter, von der Familie letztlich instrumentalisieren. Der Landarzt sagt dann: »Und nun finde ich: Ja, der Junge ist krank. In seiner rechten Seite, in der Hüftgegend, hat sich eine handtellergroße Wunde aufgetan. Rosa, in vielen Schattierungen, dunkel in der Tiefe, hellwerdend zu den Rändern, zartkörnig, mit ungleichmäßig sich aufsammelndem Blut, offen wie ein Bergwerk obertags. So aus der Entfernung. In der Nähe zeigt sich noch eine Erschwerung. Wer kann das ansehen, ohne leise zu pfeifen? Würmer, an Stärke und Länge meinem kleinen Finger gleich, rosig aus eigenem und außerdem blutbespritzt, winden sich, im Innern der Wunde festgehalten, mit weißen Köpfchen, mit vielen Beinchen ans Licht. Armer Junge, dir ist nicht zu helfen.«

Genau. Das war das Bild, das ich nicht mehr loswurde, diese weißen Maden im Körper des Jungen. Später habe ich diese morbide Anziehung in einem Gedicht von Baudelaire, Une Charogne wiedergefunden:

Les mouches bourdonnaient sur ce ventre putride,

D’où sortaient de noirs bataillons

De larves qui coulaient comme un épais liquide

Le long de ces vivants haillons …

Dieser Schlusssatz um das Fehlläuten der Nachtglocke – was macht der heute mit dir? Wieso klingt der bis heute so nach?

Ich weiß es nicht. Da müsste man wirklich mal jemanden befragen, der sich mit der Psyche auskennt.

»Es ist niemals gutzumachen.«

Diese Angst vor dem Verderben, die ist sicherlich ganz tief in mir verwurzelt. Ich kann sie durch Schreiben und durch andere Tätigkeiten, auch durch Auftritte bei Festivals, überwinden. Vielleicht muss ich deswegen so viel durch die Welt fahren, mich immer wieder an einen anderen Ort begeben, weil ich Angst habe, wenn ich mich niederlasse oder zur Ruhe komme, dass dann die Nachtgespenster wieder auftauchen. Ich habe fast mein ganzes Leben nur Albträume gehabt, das erklärt vielleicht auch einiges.

Es ist eine schwere Belastung, aus einem Albtraum aufzuwachen. Man denke etwa an E.T.A. Hoffmann.

Ja, auch er ist einer meiner Lieblingsautoren gewesen, während meiner Studentenzeit. Die Nachtstücke, Das Fräulein von Scuderi oder Die Elixiere des Teufels.

Romy Schneider hat es einmal benannt: »das Nahen der Nacht«.

Ja, auch sie hatte Angst vor der Nacht.

1999 hast du mir einmal gesagt: »Mir gelingt es immer wieder zu provozieren und dabei regelrechte Hasstiraden auf mich zu ziehen. Wenn alle echte Pfeile wären, wäre ich schon lange tot. Die Hauptsache ist doch, einfach weiterzumachen, nicht unterzugehen. »Wer spricht vom Siegen? Überstehn ist alles.« Dieser Satz von Rilke war lange mein Motto. Ohne zu filmen, wäre ich vielleicht auch schon tot. Film gehört für mich zum Leben. Ich filme, um zu überleben.« Das wurde damals unser erster Buchtitel: Filmen, um zu überleben. Und das knüpft gerade sehr an das an, was du zum Schlusssatz von Kafkas Landarzt gesagt hast.

Ich glaube das hängt alles miteinander zusammen. Dass man immer wieder auf die gleichen Motive kommt. Inzwischen bin ich etwas abgeklärter, und ich vergesse meine Träume. Wenn ich noch an sie herankäme, wenn ich sie noch lesen könnte, wären sie immer noch die gleichen. Sie handelten von Verfolgung, Missachtung, vom Ausgesetztsein, Tod. Zum Beispiel in einer fremden Gegend aufwachen und nicht wissen, wo ich bin, wer ich bin, und ich finde niemanden, den ich fragen könnte. So muss es Alzheimerkranken gehen. Diese furchtbare Hilflosigkeit. Und dennoch: Vergessen kann auch eine Rettung sein.

»Glück bedeutet, eine gute Gesundheit und ein schlechtes Gedächtnis«, sagte die wunderbare Ingrid Bergman einmal.

Ich habe leider ein sehr gutes Gedächtnis. Manches sollte man aber verbannen und eliminieren können. Es gibt ein Buch, ich glaube von einem schwedischen oder norwegischen Wissenschaftler, über einen Mann, der absolut gar nichts vergessen konnte, jeder Moment seines Lebens war unentwegt für ihn präsent. Er konnte zuletzt nur noch in einem abgedunkelten Raum sein, in dem er nichts mehr hinzuerlebte, sonst wäre er vernichtet worden. Vergessen kann in dem Zusammenhang heilsam sein. Wenn all die Demütigungen und Verletzungen, die du im Leben erfahren musst, auch all deine Verfehlungen und Irrtümer, dich immerfort begleiten, kannst du sie nur, so wie Ingmar Bergman es vorgemacht hat, in Kunst verwandeln. Insofern hat meine Psychotherapeutin mir den richtigen Weg gezeigt.

Kommen wir noch mal zurück zum Themenkomplex Heimat und Fremdheit. In welchem Alter bist du denn nach Paris gegangen, was hat dich dorthin gelockt – vom Rhein herüber?

Von Düsseldorf aus war das nicht so weit entfernt. Mit sechzehn bin ich einmal dorthin getrampt, zusammen mit einem italienischen Freund, der unbedingt den Eiffelturm sehen wollte. Wir sind dann aber nicht hinaufgestiegen. Bis heute bin ich noch nie oben gewesen, sicherlich aus einer Abneigung gegen Touristen.

Durch diese erste Reise ist Paris aber für mich noch kein Sehnsuchtsort geworden. Das kam später. Viele junge Frauen haben sich damals in Deutschland nicht wohl gefühlt, eher wie eingesperrt, und die Reise nach Paris hat ihnen das Gefühl von Ausbruch und Freiheit gegeben. Einige von ihnen gingen später zum Film. Hanna Schygulla, Jutta Brückner, Ula Stöckl … Alle wurden wir filles au pair. Die Stadt hatte für uns einen anziehenden Glanz, sie galt als die »Stadt der Liebe« – Ganz Paris träumt von der Liebe war so ein Schlager. Wenn man sich in Rom auf offener Straße küsste, musste man eine Strafe dafür zahlen wie für ein falsch geparktes Auto. In Paris küsste man sich ganz unbehelligt, und die sich küssenden Paare gehörten zum Charme der Stadt …

Liebe und Existenzialismus. So vieles hofften wir, dort zu erfahren und zu erleben, für das es im muffigen Deutschland keine Gelegenheit und keine Offenheit gab. Außerdem lernte man ganz nebenbei Französisch, konnte die Piaf oder Juliette Gréco, Georges Brassens und Léo Ferré hören, eine Wohltat gegenüber den schmalzigen Schlagertexten in Deutschland. Gerade habe ich, nach langer Zeit, wieder einmal Chansons von Léo Ferré gehört. Ein Lied, das er allerdings viel später geschrieben hat, heißt: »Avec le temps … avec le temps, va, tout s’en va …« Das trifft nun eher für mich in meinem jetzigen Alter zu, und als er es sang, hatte er auch schon weiße Haare. »Avec le temps … tout s’en va.« Aber wir waren damals weit vom Alter entfernt. Es fing ja alles erst an …

Allerdings erschien mir die Stadt zunächst nicht ganz so glanzvoll, wie ich sie mir erträumt hatte. Ich kam im Januar dort an, es war kalt und sehr grau. Die Häuser geschwärzt von der pollution. Erst Malraux, Kulturminister unter de Gaulle, hat per Gesetz die Hauseigentümer verpflichtet, alle zehn Jahre ihre Häuser neu reinigen zu lassen. Damals sah Paris aus wie auf den Bildern von Bernard Buffet. Und mein Schulfranzösisch reichte nicht. Ich blieb einen Monat lang stumm, hörte nur zu. Danach machte ich den Mund auf, und es kam ein flüssiges Französisch heraus. Als ob sich eine Tür öffnete, und ich ging hindurch.

Und dann gingen wir tanzen. Es gab eine boîte in der Rue de la Huchette, eine bekannte Jazzkneipe, in der schon Sidney Bechet gespielt hatte. Dort traf ich meine »erste große Liebe«, beim Tanzen von Rock ’n ’ Roll.

Den französischen Philosophiestudenten?

Ja, und er hat mich in die französische Kultur eingeführt. In Deutschland gab es das Fach Philosophie nicht in der Schule, es gab auch noch keinen Ethikunterricht. Platon, Kant, Spinoza … Sogar Heidegger habe ich mit diesem Freund gelesen, auf Französisch. Und ich hatte sogar den Eindruck, ihn zu verstehen! Bücher von Freud gab er mir auch. Ich habe mehrere Bücher von Freud auf Französisch gelesen, ich hatte ja kein Geld, sie mir auf Deutsch zu kaufen. Ziemlich absurd. Die Traumdeutung auf Französisch!

War für euch der Existenzialismus ein Thema? Sartre, de Beauvoir, die sich im legendären Café de Flore getroffen haben. Camus war inzwischen gestorben, viel zu früh, viel zu jung, im Januar 1960.

Die eigentliche Hochzeit des Existenzialismus war schon vorbei. Er war zwar noch präsent, man hat »existentiell« dahergeredet. Mit einer Freundin bin ich oft ins Café Bonaparte gegangen, neben dem Café de Flore und dem Deux Magots im Quartier Saint Germain, in der Hoffnung, einem dieser berühmten Existenzialisten zu begegnen, aber weder Simone de Beauvoir noch Jean Paul Sartre ließen sich blicken. Wir trugen Rollkragenpullover, um auszusehen wie Juliette Gréco!

De Beauvoir war berühmt, aber Bücher von ihr habe ich zu der Zeit noch nicht gelesen. Sartre dagegen schon, in der rororo-Taschenbuchreihe. Von dieser Reihe habe ich ja eine Zeit lang gelebt … Camus hatte ich gelesen, bevor ich nach Paris kam. Die Pest. Der Mythos des Sisyphos kam später. Das letzte Buch von ihm, das erst fünfunddreißig Jahre nach seinem Tod erschienen ist, Der erste Mensch, ist zu meinem Lieblingsbuch von ihm geworden. Wie er die Stimmung beschreibt, die damals in Algerien geherrscht hat, und das besondere Licht, die Kraft, die Unerbittlichkeit der Sonne, die Schönheit … Aber vor allem die Liebe zu seiner Mutter, einer Invalidin, körperlich und auch geistig. Die Liebe zur Mutter und die Armut, in der er mit ihr lebte. Hätte Camus nicht einen klugen Lehrer gehabt, der seine Begabung erkannte und dafür sorgte, dass er aufs Gymnasium gehen konnte, wäre aus ihm wohl nicht der bedeutende Schriftsteller geworden.

Auch Baudelaire hat übrigens nur seine Mutter geliebt und ihr regelmäßig, bis zu seinem Tod, Briefe geschrieben, und Sartre ist nur von Frauen aufgezogen worden. Seltsame Übereinstimmungen … Aber Sartre und Camus waren dennoch Antipoden. Vielleicht kann man, wenn man in einer Großstadt wie Paris aufwächst, nicht diese Liebe zur humanité, nicht dieselbe Toleranz Menschen gegenüber entwickeln wie Camus. Die Häuser in Paris waren grau, in Algerien waren sie weiß. Alger la blanche. Mag sein, dass auch die Farben einer Stadt auf den Charakter eines Kindes einwirken.

Wie haben die Franzosen gerade euch junge Frauen aus Deutschland damals behandelt, keine zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs?

Die Jungen stellten uns nach. Draguer nannten sie das, aufreißen, ein Studentensport. Dass man sich auf sie einließ, war oft ein Abenteuer, aber auch Wissbegierde. Mein Philosophiefreund hat mir nicht nur die Philosophie erklärt, er war überhaupt mein Lehrer, auch für die französische Literatur. Baudelaire, Verlaine, Victor Hugo. Vieles von Baudelaire kann ich noch heute auswendig, zum Beispiel: »… mon enfant, ma soeur, songe à la douceur d’aller là-bas vivre ensemble …« Ich habe sogar in jugendlicher Hybris versucht, Gedichte von Baudelaire ins Deutsche zu übersetzen. Ich saß dann mit meinem Au-pair-Kind in einem Square, das Kind spielte mit anderen Kindern im Sand, und ich suchte nach Entsprechungen von »valse mélancholique et langoureux vertige« (»Harmonie du Soir«) im Deutschen. Rührend geradezu. Aber all diese Momente eines Versprechens, fähig zu werden, sich die Reichtümer der fremden, aber auch der eigenen Sprache zu erschließen, möchte ich in meiner Biographie nicht missen …

Ist das dann eine Form eines ersten, neuen Angekommenseins?

Nein. Angekommen bin ich nie irgendwo wirklich. Es war eine neue Fremde. Ich war immer noch staatenlos. Ich habe sogar versucht, die französische Staatsangehörigkeit zu erwerben. Dafür hätte ich jedoch erst einmal fünf Jahre in Frankreich leben müssen …

Die Freunde meines Freundes, die aus Frankreich, aber auch aus Marokko stammten, waren bald auch meine Freunde. Einerseits. Andererseits, wenn es um Politik und den Zweiten Weltkrieg ging, haben sie mich oft heftig angegriffen, und ich wurde für die Gräuel der Nationalsozialisten verantwortlich gemacht. Da konnte ich noch so oft sagen: Ich bin staatenlos, das war für sie keine Entschuldigung. Ich war eine boche, so nannten die Franzosen abfällig die Deutschen: les boches. Ich konnte mich auch nicht wirklich verteidigen, denn man hatte uns nichts mitgeteilt, die Eltern haben geschwiegen, und in der Schule wurde über die Zeit des Nationalsozialismus nicht gesprochen. Folglich hatten wir keine Ahnung, was die Elterngeneration für Verbrechen begangen hatte. Meine französischen Freunde haben mich aufgeklärt, nicht unsere Lehrer in der Schule. Und ich erinnere mich, als die Mauer gebaut wurde, zeigten sie keinerlei Mitleid oder Bedauern, sie empfanden es als gerechte Strafe für Deutschland. Im Geschichtsunterricht haben wir zwar alle Schlachten der Griechen auswendig lernen müssen, aber schon nach dem Ersten Weltkrieg hörte bei uns das Pensum auf. Und es ging weiter mit der Gründung der Bundesrepublik. Dazwischen klaffte eine große Lücke.

Heute lebst du in verschiedenen Städten – in München, manchmal auch in Paris, zuvor hast du eine Zeit lang in Rom gelebt …

Dennoch bleibe ich »das Mädchen aus der Fremde«, wie Hannah Arendt das einmal über sich sagte. »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.« Dieses Lied aus Schuberts Winterreise beschreibt vielleicht am besten mein Lebensgefühl. Es gibt Menschen, die sich überall zu Hause fühlen, und die, die sich fremd fühlen, selbst wenn sie sich einrichten und in den jeweiligen Ländern oder Städten gut zurechtkommen. Das ist kein Lamento, sondern die Beschreibung eines Zustands. Solange ich in einem Land leben darf, in dem kein Krieg herrscht, in dem die Städte nicht zerstört werden, in denen ich durch die Straßen gehen kann, die Vergangenheit und die Gegenwart gleichermaßen spürend, teilhaben darf an dem jeweiligen kulturellen Leben, ist das für mich genug, ich brauche mich nicht »zu Hause« zu fühlen.

»I always felt lonely.«

Ingmar Bergman

Du hast schon erzählt, dass Film dir in Deutschland nicht viel bedeutet hat. Bis du nach Paris kamst …

Meine Freunde waren begeisterte cinéphiles. Nouvelle Vague, das war ein Zauberwort. Alle wollten sie plötzlich auf die Straße gehen und Filme machen wie Godard oder Chabrol. Bis zu dem Zeitpunkt waren die Filme im Studio gedreht worden und eine teure Angelegenheit. Jetzt brauchte man keine Stars, keine teuren Schauspieler mehr, man schrieb rasch eine kleine Geschichte und drehte sie mit Freunden in den Pariser Straßen.

Eines Tages nahm mein Freund mich mit ins Champo, ein Filmkunstkino, das heute noch existiert, gleich neben der Sorbonne, und wir sahen Das siebente Siegel von Ingmar Bergman. Das war ein so einschneidendes Erlebnis für mich, dass damals schon der Wunsch in mir entstand, einmal selber Filme machen zu können. Aber ich hätte nie gewagt, ihn laut auszusprechen. Für eine Frau war das noch ganz undenkbar. Es gab zwar schon eine Agnès Varda, aber sie gehörte so sehr zur Nouvelle Vague, dass man sich darüber gar keine Gedanken machte, wie ungewöhnlich es war, dass sie eine Frau war.

Die Autoren-Theorie – les auteurs. In Frankreich war sie längst eingeführt und insbesondere durch die Redaktion der renommierten Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma etabliert.

Wir gingen nicht mehr wegen der Schauspieler ins Kino, sondern wegen der Regisseure. Bergman, Hitchcock, Howard Hawks, John Ford, William Wyler, Billy Wilder … Viele könnte ich noch nennen. Nur deutsche Filme sahen wir nicht, auch keine deutschen Stummfilme. Vielleicht, weil meine Freunde die boches nicht mochten. Denn Filme von Lang, Murnau, Pabst wurden sehr wohl gezeigt. Volker erzählte mir später, dass er in der Cinémathèque die deutschen Zwischentitel ins Französische übersetzte und einsprach.

Das siebente Siegel hast du gerade erwähnt, es war der erste Bergman-Film, den du gesehen hast. Aber es ist nicht dein Lieblingsfilm von ihm. War das nicht eher Abend der Gaukler?

Abend der Gaukler habe ich als zweiten Film gesehen, und war wieder fasziniert von seiner Bildsprache und auch von den Schauspielern. Besonders der Beginn des Films: der Wagen der Gaukler im Frühlicht. Auf dem Bock der Kutscher, der dem Zirkusdirektor die tragische Geschichte des Clowns erzählt. Plötzlich wird der Film zum Stummfilm, das Weiß überstrahlend weiß, das Schwarz tiefschwarz. Die Frau des Clowns hatte sich mit einer Gruppe von Soldaten eingelassen, die sich an ihrem Exhibitionismus zwar erfreuen, sie gleichzeitig aber auf widerwärtige Weise verhöhnen. Der Clown, vom Zirkus herbeigerufen, hält die Schmach für seine Frau nicht aus, zerrt sie weg von den Soldaten, nimmt sie auf den Arm und trägt sie, barfüßig, einen langen steinigen Weg entlang, fällt mehrmals hin, steht immer wieder auf, sein Gesicht verzerrt vor Schmerz.