Geheilt statt behandelt - Prof. Dr. Harald Prof. Dr. Schmidt - E-Book

Geheilt statt behandelt E-Book

Prof. Dr. Harald Prof. Dr. Schmidt

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Beschreibung

Die Medizin ist ratlos. Die meisten Erkrankungen verstehen wir nicht und behandeln nur die Symptome, nicht die Ursachen. Der international renommierte Mediziner Prof. Dr. Harald Schmidt sagt daher das Ende der Medizin, wie wir sie kennen, voraus. Stattdessen wird Digitalisierung die Medizin radikal verändern. Dr. Schmidt ist einer der Pioniere der "Systemmedizin", einer kompletten Neudefinition dessen, was wir überhaupt eine "Krankheit" nennen, wie wir Medizin organisieren und Big Data nutzen, um zu heilen und vorzubeugen. Die Digitalisierung wird die Medizin radikal verändern. Diagnostik wird durch künstliche Intelligenz übernommen, dadurch sicherer und präziser. Ärzte werden zu Patienten-Coachs. Wenn wir uns all dem öffnen, warten schon jetzt ungeahnte Möglichkeiten auf uns, Gesundheit ganz neu zu denken.

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Seitenzahl: 524

Veröffentlichungsjahr: 2021

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PROF. DR. HARALD SCHMIDT

Geheiltstattbehandelt

Warum die Medizin am Endeist und wie unsere Gesundheiteine Zukunft hat

Copyright 2021:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Gestaltung Cover: Daniela Freitag

Gestaltung, Satz und Herstellung: Sabrina Slopek

Bildquelle Umschlag, Innenteil: Shutterstock

Gesamtherstellung: Daniela Freitag

Vorlektorat: Sebastian Politz

Korrektorat: Claus Rosenkranz

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86470-741-4

eISBN 978-3-86470-742-1

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Postfach 1449 • 95305 Kulmbach

Tel: +49 9221 9051-0 • Fax: +49 9221 9051-4444

E-Mail: [email protected]

www.plassen.de

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www.instagram.com/plassen_buchverlage

DANKE

… den vielen medizinischen und wissenschaftlichen Kollegen, die es mir durch ihr Feedback und ihre Einsichten ermöglicht haben, nach und nach diese umfassende Analyse und den Lösungsvorschlag der Systemmedizin zu entwickeln, meinen Aachener Freunden Andrea Gadeib und Dr. med. Christoph Pies, die mich durch ihre eigenen Buchprojekte und Tipps ermutigt haben, selbst ein Buch zu schreiben, sowie meinem kompetenten, geduldigen und ideenreichen Buchcoach Achim Gralke und dem ganzen Team des Plassen Verlags, die sofort an den Erfolg des Buchs geglaubt und es zur Vollendung gebracht haben.

FÜR BEATE

INHALT

PROLOGVIELE FRAGEN OFFEN

TEIL IVOM ENDE DER MEDIZIN, WIE WIR SIE KENNEN …

1.SPÄT DRAN

2.IHR ARZNEIMITTEL WIRKT (WAHRSCHEINLICH) NICHT

3.100 JAHRE UND NICHTS NEUES

4.CHRONISCH KRANK HEISST SYSTEMVERSAGEN

5.MANN UND UNGEBILDET: DOPPELTES PECH

6.FALSCHE ANREIZE

7.DAS ENDE VON BIG PHARMA

8.FORSCHEN FÜR DIE KARRIERE

9.ORGAN STATT MENSCH

ZWISCHENRUF 1WIE GESUND WOLLEN WIR SEIN?

TEIL IIDIE MEDIZIN DER ZUKUNFT

10.MENSCH STATT ORGAN

11.FORSCHEN FÜR DEN PATIENTEN

12.KENNE DEINE GENE

13.WIR SIND IN UNTERZAHL

14.UNSER EXPOSOM

15.BIG-DATA-MEDIZIN

16.GEHEILT STATT BEHANDELT

17.WELL TECH

ZWISCHENRUF 2DIE NEUEN SUPERMENSCHEN

TEIL IIIDIE ZUKUNFT HAT BEREITS BEGONNEN …

18.SELBST IST DIE DIAGNOSE

19.SELBST IST DIE THERAPIE

20.IHR DIGITALER ZWILLING

EPILOGRICHTIG KRANK IST NIEMAND MEHR

ENDNOTEN

SONDERSEITE 1

SONDERSEITE 2

PROLOG

VIELE FRAGEN OFFEN

Max hat erhöhten Blutdruck. Dies stellte sein Hausarzt bei einem Routinecheck fest. 140/90. Max bekommt ein Blutdruckmittel verschrieben, nimmt dies relativ regelmäßig ein und die Werte normalisieren sich. 130/80. Alles gut? Mitnichten, denn es bleiben viele Fragen offen.

Warum hat sein Hausarzt Max überhaupt ein Medikament verschrieben? Nun, erhöhter Blutdruck korreliert mit dem Auftreten von Herzinfarkt oder Schlaganfall. Diese und andere mögliche Komplikationen von einem erhöhten Blutdruck sollten vermieden werden.

Aber sein Hausarzt kann ihm weder mit Gewissheit sagen, ob er tatsächlich seine Blutdruckmedikation braucht, noch, ob er davon profitieren wird. Der Arzt hat klinische Studien im Kopf, die mit verschiedenen Blutdruckmitteln durchgeführt wurden und zeigen, dass unter der Medikation tatsächlich weniger Herzinfarkte beziehungsweise Schlaganfälle auftraten. Bei kritischer Betrachtung fällt allerdings auf, dass nur ein kleiner Prozentsatz der Patienten mit erhöhtem Blutdruck tatsächlich einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erleidet. Von diesen Herzinfarkten oder Schlaganfällen kann eine Senkung des Blutdrucks allerdings nur einen kleinen Teil verhindern. Das heißt, die meisten Patienten haben zwar einen erhöhten Blutdruck, aber überhaupt kein Risiko, einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zu erleiden. Und die Patienten, die tatsächlich einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten haben und hohen Blutdruck hatten, konnte die Behandlung mit einem Blutdruckmittel letztlich nicht schützen.

Andererseits kann der Hausarzt Max aber auch nicht davon abraten, sein Blutdruckmittel weiter zu nehmen, denn er hat keine Alternativen. Nichts zu verschreiben würde das Risiko bedeuten, dass Max zufälligerweise einer der wenigen Patienten ist, die einen Herzinfarkt oder Schlaganfall bekommen – was durch die Einnahme eines Blutdruckmittels hätte verhindert werden können.

Aber der Arzt hat noch ein viel größeres Problem: Nur bei circa fünf Prozent aller Patienten mit Bluthochdruck kann man eine Ursache finden. Das sind dann Patienten, bei denen eines der Blutgefäße, welche die Niere mit Blut versorgen, verengt ist, wodurch die Niere Hormone ausschüttet, die zu einer Erhöhung des Blutdrucks führen.

Bei Max ist das anders. Abgesehen davon, dass der Blutdruck erhöht ist, lässt sich keine weitere Diagnose stellen und die Indikation zur Verschreibung des Blutdruckmittels bleibt allein der Blutdruck. Damit ist Max keine Ausnahme. Im Gegenteil, er gehört zur großen Masse anderer Patienten mit erhöhtem Blutdruck, circa 90 bis 95 Prozent, bei denen die Diagnose wie bei Max lautet: primäre Hypertonie. Das klingt recht wissenschaftlich, heißt aber nicht anderes als: „Sie haben erhöhten Blutdruck, aber wir wissen nicht, warum.“ Und wenn die eigentliche Ursache, warum der Bluthochdruck erhöht ist, nicht bekannt ist, verbleibt behandlungstechnisch lediglich die Möglichkeit, das Symptom verschwinden zu lassen.

So verschreibt der Hausarzt Max gemäß den therapeutischen Leitlinien völlig korrekt das Blutdruckmittel regelmäßig weiter. Über die Jahre als chronischer Bluthochdruckpatient setzt Max ein bisschen Hüftgold an, bewegt sich nicht mehr so viel und sein Blutdruck steigt wieder, trotz der Therapie. Der Arzt verschreibt ihm ein zweites Blutdruckmittel und schließlich ein drittes und der Blutdruck sinkt wieder. Eines der Mittel steht im Verdacht, weißen Hautkrebs zu verursachen, ein anderes verursacht bei Max erstmals in seinem Leben Potenzprobleme. So tauscht sein Arzt schließlich beide neuen Mittel gegen zwei andere aus. Zwar sind Max diese vielen Tabletten lästig, aber ihm wird auch bewusst, dass er nun wirklich chronisch krank und ein Risikopatient ist. Er würde sich so sehr wünschen, sein Bluthochdruck verschwände, dass er quasi davon geheilt wäre, aber das scheint nicht möglich. So hofft er denn, dass er wenigstens von einem Herzinfarkt oder Schlaganfall verschont bleibt.

Es scheint ja auch keine Alternative zu geben, ein anderer Arzt sagt das Gleiche und zwei Freunden von Max geht es genauso wie ihm, auch sie nehmen dauerhaft Blutdruckmedikamente. Da kann man wohl nichts machen?

TEIL I

VOM ENDE DER MEDIZIN, WIE WIR SIE KENNEN …

KAPITEL 1

SPÄT DRAN

Liebe Leserin, lieber Leser, ich freue mich, dass Sie sich die Zeit nehmen, mich auf eine Reise zu begleiten. Ich verspreche Ihnen, es wird sich lohnen. Es geht um Medizin und Gesundheit, aber um weit mehr als das. Es geht um die weltweit nächste große gesellschaftliche und wirtschaftliche Revolution, an deren Anfang wir jetzt stehen. Und diese Revolution hat sogar schon begonnen, ist unmittelbar für Sie relevant. Große Worte, denken Sie sich vielleicht. Was kann damit gemeint sein?

Es geht mir um etwas von der Dimension, wie sie der russische Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Dmitrijewitsch Kondratjew in der bekanntesten Theorie zu Konjunkturzyklen mit den sogenannten Kondratjew-Wellen beobachtet hat. Historische Wachstums- und Entwicklungsphasen unserer Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert lassen sich oft mit Schlüsseltechnologien und Krisen, die diese erforderlich machten, erklären. Große Erfindungen verändern die Welt: das Rad, die Dampfmaschine, die Glühbirne, das Internet. Wie sähe unser Leben ohne sie aus? Große Erfindungen brauchen Zeit; manchmal beflügelt erst eine massive Krise die Einführung einer Innovation. Doch danach ist alles anders.

So war es zum Beispiel bei der ersten Kondratjew-Welle, der Erfindung der Dampfmaschine. Was folgte, war die sogenannte industrielle Revolution mit dem Bau riesiger Fabriken. Ein neues Zeitalter brach an.

Dies war jedoch auch das Ende der bis dahin einzigen Form kommerzieller Schifffahrt, nämlich der mit Segelschiffen. Dampfschifffahrt war schneller. Die Einführung maschineller Arbeit auf See bedeutete zudem eine so große und langfristige Effizienzsteigerung, dass sie die Expansion des Reedereigeschäfts ermöglichte. Dessen Ausweitung durch englische, bremische, holländische und belgische Reedereien machte Segelschiffe schließlich nicht länger konkurrenzfähig.

Doch so leicht gaben sich die Anhänger der Segelschifffahrt nicht geschlagen. Konzepte, von denen Menschen dachten, sie seien für die Ewigkeit, lassen sich nicht so einfach verdrängen. So wie im 20. Jahrhundert einige die Ansicht vertraten, kein Privathaushalt bräuchte einen Computer und das Internet werde eine Episode bleiben oder bestenfalls ein zweitrangiges Hilfsmittel für die analoge Welt. Der deutsche Physiker Max Planck schrieb in seiner „Wissenschaftlichen Selbstbiographie“: „Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass ihre Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.“ Genauso bezweifelten Anhänger der Segelschifffahrt noch lange, dass das Segelschiff von gestern sei.1

Ähnlich epochal waren die drei weiteren sozioökonomischen Revolutionen, die Kondratjew noch selbst definierte: die Einführung der Stahlgewinnung und der Eisenbahnen, dann der Elektrotechnik und der Chemie, schließlich des Automobils und der Atomkraft. Sogar die Erfindung der Glühlampe war keine schrittweise Weiterentwicklung einer Kerze, sondern etwas komplett Neues. Kerzenbeleuchtung war fortan nur noch Dekoration, Nostalgie.

Abb. 1: Die fünf Kondratjew’schen Wellen sozioökonomischer Revolutionen durch Innovationen, die unsere Gesellschaft nachhaltig beeinflusst haben – typischerweise im Abstand von circa zwei Generationen und immer auf eine schwere Krise folgend. Was wird die sechste Welle sein?

Und seitdem? Die fünfte Welle? Zwar hat diese nicht mehr Kondratjew selbst definiert, aber ich denke, Sie werden mir zustimmen, dass die letzte große Revolution dieser Art, die wir erlebt haben, die Einführung der Informationstechnologie war: Computer, Internet und Smartphone. Ermöglicht wurde dies durch die rasante Geschwindigkeit, mit der Mikroprozessoren schneller und kleiner wurden. Aber nun stehen wir am Ende dieser Revolution. Mit Google, Amazon, Apple und anderen sind mittlerweile sieben von zehn der weltweit wertvollsten Unternehmen keine linearen Industrien mehr, die ein Produkt entwickeln, produzieren und weltweit vertreiben, sondern sogenannte Plattformen, die im Prinzip alles machen können. Darauf komme ich später noch einmal zurück …

Und jetzt? Wenn Sie den Titel des Buches nicht schon gelesen hätten, könnten Sie meinen, Industrie 4.0, erneuerbare Energien und Klimakatastrophe kennzeichnen die weiteren Wellen. Doch diese Stichworte stehen meiner Meinung nach nicht für die nächste große Revolution. Industrie 4.0 ist eine recht bescheidene Innovation; meist wird das Gleiche wie vorher gemacht, nur digitaler. Erneuerbare Energien und die Techniken dafür, um die Klimakatastrophe abzumildern, sind prinzipiell längst vorhanden. Sie müssen nur eingesetzt werden, der Rest ist Management.

Ich hätte dieses Buch nicht geschrieben und auch meine gesamte wissenschaftliche Arbeit nicht komplett umgekrempelt, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass die sechste Kondratjew-Welle eine komplette Neudefinition von Gesundheit, Krankheit, Vorsorge, Behandlung und Heilung sein wird und dies auf eine maximal demokratische, kostensparende Weise; das bedeutet auch, dass die so entstehende neue Medizin keine Luxusmedizin der reichen Industrienationen und ihrer Bürger sein wird, sondern allen Menschen zugutekommen kann.

Aber wie bei allen Kondratjew-Wellen wird all dies nicht passieren, nur weil neue Technologien aufgekommen sind, sondern weil uns die gewaltige Krise der gegenwärtigen Medizin und unseres Gesundheitssystems gar keine andere Wahl lässt. Auch werden große Widerstände zu überwinden sein, so wie dies Max Planck beschrieben hat. Sie mögen sich jetzt fragen: „Krise? Welche Krise?“ Lesen Sie weiter …

Krise, welche Krise?

Mein Buch besteht zunächst aus zwei Teilen – einer negativen Gegenwartsbeschreibung und einer positiven Zukunftsvorhersage. Zu Beginn geht es also um das Negative, die Krise, die erst den Handlungsdruck erzeugt, um dann in der Zukunft die radikale Veränderung der Medizin zu bewirken. Enthält der zweite Teil reine Zukunftsmusik? Nein. Denn zum Glück sind wir ja schon am Anfang der revolutionären Weiter- oder Neuentwicklung der Medizin, sodass ich Ihnen viele Beispiele dafür aufzeigen kann, wie die aktuellen Schwächen und Fehler korrigiert werden können. Um Ihnen nicht das Gefühl zu geben, Sie hätten lediglich einen Vorgeschmack auf eine wunderbare, aber noch entfernt liegende Zukunft der Medizin gelesen, folgt zum Schluss ein kleiner, dritter Teil mit konkreten Tipps, die Sie schon jetzt zur Nutzung der bereits verfügbaren Innovationen nutzen beziehungsweise anwenden können; denn die Zukunft hat ja bereits begonnen.

Im ersten Teil werde ich Ihnen zeigen, dass bisher so gut wie keine Erkrankung hinsichtlich ihrer Ursachen verstanden worden ist. Darum scheiden Frühdiagnosen aus, stattdessen warten wir beziehungsweise werden von ersten Symptomen überrascht. Danach bleibt in der Regel auch nur eine Behandlung der Symptome, die, da wir ja die Krankheitsursachen nicht kennen, unpräzise ist und meist chronisch durchgeführt werden muss. Heilung ausgeschlossen. Oder denken Sie, das Arzneimittel, das Sie chronisch verschrieben bekommen und einnehmen, verschafft Ihnen einen Vorteil? Sie werden überrascht sein: in den allermeisten Fällen nicht. Eventuell spüren Sie sogar nur die Nebenwirkungen.

Der Zugewinn an Lebenserwartung und Lebensqualität stagniert seit vielen Jahren, obwohl wir immer mehr Geld in unser Gesundheitssystem pumpen, unter anderem auch durch falsche Anreize. Sowohl die Forschung als auch die Pharmaindustrie – früher mal als Big Pharma bezeichnet, als einige davon noch zu den zehn größten Unternehmen der Welt gehörten – stagnieren. Über die Hälfte der veröffentlichen biomedizinischen Forschung stellt sich hinterher als nicht reproduzierbar heraus und dient lediglich dazu, Forscherkarrieren zu ermöglichen. Die pharmazeutische Industrie fährt gegenwärtig gegen die Wand, sie wird in der gegenwärtigen Form innerhalb der nächsten zehn Jahre verschwinden. Der Ansatz, früh mit Prävention zu beginnen, anstatt spät im Laufe eines Krankheitsgeschehens Arzneimittel einzunehmen, bleibt weitgehend ungenutzt, obwohl ein Großteil aller chronischen Erkrankungen durch gesünderen Lebensstil und Umweltfaktoren zu verhindern oder zumindest günstig zu beeinflussen wäre. Eine Ursache ist sicher das mangelnde Wissen um die einfachsten Komponenten eines gesunden Lebensstils. Mangelnde Bildung kostet acht Lebensjahre; ist man zudem noch männlich, reduziert sich die Lebenserwartung noch einmal um sieben Jahre. Und das Erschreckende ist: Beides addiert sich. Ungebildete Männer leben 15 Jahre kürzer als gebildete Frauen. Stimmen Sie mir also zu, dass wir eine Krise haben?

Bevor ich mit Ihnen in die Details gehe, möchte ich vorweg noch eine Bemerkung machen, die mir sehr am Herzen liegt. Ich werde nachfolgend viel Kritik üben und diese auch belegen, aber verstehen Sie das bitte nicht als pauschale Verurteilung aller Ärzte, Wissenschaftler und Industrieforscher. Die weitaus meisten Ärzte, bis auf einige wenige schwarze Schafe, wollen ausschließlich und absolut das Beste für ihre Patienten und tun auch das Menschenmögliche hierfür. Sie können aber nur das tun, was medizinisch überhaupt möglich ist. Wenn die Diagnosen und möglichen Therapien so unpräzise sind, wie sie nun mal sind, kann auch der engagierteste Arzt dies nicht ändern. Auch die Pharmaindustrie kann nur dann präzise Arzneimittel entwickeln, wenn es präzise Krankheitsdefinitionen gibt. Wenn der Forschungsbetrieb so läuft, wie er läuft, dann kann ein einzelner Wissenschaftler ihn nicht so einfach ändern, ohne aus dem System herauszufallen – und schon gar nicht ein junger Nachwuchswissenschaftler.

Wofür ich aber kein Verständnis haben werde: Wenn nach (!) der Lektüre dieses Buches diejenigen, die wesentliche Entscheidungen in der biomedizinischen Forschung, an Hochschulen und im Gesundheitssystem treffen können – und ich werde Ross und Reiter benennen –, danach noch immer behaupten, wir könnten so weitermachen wie bisher; dann handeln sie wider besseres Wissen. Ich möchte also im Gesundheitssystem und der biomedizinischen Forschung etwas Wesentliches bewegen beziehungsweise einen nachhaltigen Anstoß geben. Lassen Sie uns daher in die Details gehen.

Wir haben ein Krankheitssystem

Wenn wir ehrlich sind, haben wir gegenwärtig kein Gesundheitssystem, sondern ein Krankheitssystem. Der Versicherungsfall tritt in der Regel erst ein, wenn Symptome auftreten und eine Erkrankung besteht. Die Symptome werden dann behandelt, meist chronisch.

In der Regel ist es so, dass plötzlich – wie im Prolog beschrieben – ein Messwert, den der Arzt routinemäßig feststellt, nicht mehr im Normalbereich liegt, und das mehrmals. Zum Beispiel wird ein erhöhter Blutdruck gemessen oder die Cholesterinwerte sind erhöht oder der Blutzucker. Gespürt hat der Patient bisher nichts, hat sich eigentlich kerngesund gefühlt und nun das. Er würde sich ja noch immer gesund fühlen, wenn ihm der Arzt nicht sagen würde, er sei jetzt ein Patient.

Es kann aber auch sein, dass Sie aus völliger Gesundheit heraus plötzlich Symptome bei sich bemerken oder erste Beschwerden haben, zum Beispiel plötzliche Herzschmerzen bei Belastung. Oder Sie merken, Sie bekommen nicht mehr so gut Luft, zum Beispiel im Frühjahr beim Pollenflug oder in der Kälte. Oder das Joggen oder sogar das Treppensteigen gehen nicht mehr so richtig und Sie müssen immer öfter langsam machen oder eine Pause einlegen. Oder die Schulter, die Hüfte oder das Knie tun immer häufiger weh.

Und wie lautet dann die Diagnose? Meist genauso wie die Symptome: Der Blutdruck ist erhöht, also lautet die Diagnose Bluthochdruck oder – auf Latein, aber nicht genauer – primäre Hypertonie; ist das Cholesterin erhöht, lautet die Diagnose Hypercholesterinämie, was nichts anderes bedeutet, als dass das Cholesterin im Blut erhöht ist, nur auf Latein. Oder Sie kommen schnell außer Atem, weil ihr Herz schwächer ist; dann lautet die Diagnose Herzinsuffizienz, was nichts anderes bedeutet, als dass Ihr Herz nicht mehr gut funktioniert. Oder Sie bekommen sogar im Ruhezustand schlecht Luft, weil die Atemwege verengt sind; dann kann die Diagnose Asthma bronchiale lauten, was nichts anderes bedeutet, als dass die Bronchien verengt sind und Sie schlechter Luft bekommen – aber das wussten Sie ja schon.

Ich nehme gern das Auto als bildhaften Vergleich. Das liegt ein bisschen daran, dass wir Deutschen – vor allem wir Männer – uns so liebevoll um unser Auto kümmern, es öfter zur Wartung bringen und pflegen als uns selbst – aber uns so gut wie nie zum „Check-up Mann“ bringen, wie das mein Kollege Christoph Pies in seinem sehr empfehlenswerten Buch nennt. Stellen Sie sich also vor, Sie gehen mit Ihrem Auto in die Werkstatt, weil schon zum dritten Mal in den vergangenen Monaten die Scheinwerfer ausgefallen sind. Nach einer eingehenden Inspektion des Autos diagnostiziert der Werkstattmeister einen chronischen Scheinwerferdefekt. Da würden Sie doch verblüfft gucken und nachbohren, ob die Diagnose nicht ein wenig genauer gestellt werden könnte, denn dass die Scheinwerfer ständig kaputtgingen, wüssten Sie ja schon selbst. Dazu bräuchten Sie nicht in die Werkstatt zu kommen. Was Sie interessiert, ist, warum das ständig passiert, was dahintersteckt und was Sie machen können, damit das nicht mehr passiert. Die eigentliche Ursache für defekte Scheinwerfer könnte ja, wenn sie auf Dauer unentdeckt bleibt, vielleicht noch weit größere Schäden anrichten: Sie bleiben irgendwann mit dem Auto auf der Autobahn liegen, weil vielleicht die ganze Elektrik ausgefallen ist, die Lichtmaschine einen Schaden hat oder die Batterie zu alt war. Jedenfalls würden sie doch als Autobesitzer nicht lockerlassen und wenn die Werkstatt bei ihrer lapidaren Diagnose bleibt, würden Sie wohl recht bald die Werkstatt wechseln und Ihren Bekannten davon erzählen: „Also da kann man nicht mehr hingehen. Die haben keine Ahnung. Was die können, kann ich auch. Dafür braucht man keine Werkstatt.“

Tja, aber bei uns selbst, bei unserem eigenen Körper akzeptieren wir, dass wir die Ursache nicht genannt bekommen beziehungsweise das körperliche Symptom zur Krankheitsdiagnose wird. Daher kann auch nur das Symptom behandelt werden. Und da die Ursache nicht behandelt wird, treten die Symptome immer wieder auf und müssen immer wieder behandelt werden. Auf diese Weise bekommen wir eine chronische Erkrankung. Zu diesen zählen zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und chronische Lungenerkrankungen. Allein auf diese drei Krankheitsgruppen entfallen drei Viertel aller Todesfälle und rund ein Viertel aller Krankheitskosten. Hinzu kommen noch chronische Erkrankungen der Muskulatur, Knochen und Gelenke sowie der Psyche, Sehstörungen oder Hörprobleme. Und jeder zehnte Deutsche ist inzwischen Diabetiker!

Jetzt könnten Sie sich sagen, dass Ihr Blutdruckmittel Ihren Blutdruck doch senkt, falls Sie es regelmäßig einnehmen – das tut übrigens nur ein Fünftel aller Blutdruckpatienten. Aber was genau passiert da, wenn Sie es einnehmen? Ihr Blutdruckmittel kann im Wesentlichen auf zwei Arten wirken. Es kann dazu führen, dass sich Ihre Blutgefäße erweitern, wodurch – Überraschung, Überraschung! – Ihr Blutdruck sinkt, ähnlich, wie in einem Gartenschlauch der Druck sinkt, wenn der Durchmesser des Schlauchs größer wird. Eine andere Art von Blutdruckmitteln führt dazu, dass Ihr Herz langsamer schlägt. So wird weniger Blut in die Blutgefäße gepumpt und auch so sinkt der Blutdruck – in etwa so, als würde man den Hahn, an dem der Gartenschlauch angeschlossen ist, etwas zudrehen.

Warum reicht das aber nicht aus? Bleiben wir beim Beispiel des Gartenschlauchs außen am Haus. Der Gartenschlauch selbst wird nicht das Problem sein. Vielleicht ist aber zum Beispiel die Wasserpumpe in Ihrem Haus defekt und dadurch der Druck im ganzen Haus viel zu hoch. Doch diese mögliche Ursache kennen Sie nicht und so wird am Gartenschlauch das Symptom behandelt, bis irgendwann eine Wasserleitung im Haus platzt, das Haus überflutet ist und ein riesiger, vielleicht irreparabler Wasserschaden entstanden ist.

Genauso bei Ihrem Blutdruck. Warum bei Ihnen der Blutdruck gestiegen ist und ob Ihr Blutdruckanstieg die gleiche Ursache hat wie bei anderen Patienten, bleibt in den meisten Fällen im Unklaren; bei hohem Blutdruck gilt das für 95 Prozent aller Patienten. Als Bluthochdruckpatient kommen Sie ab sofort regelmäßig in die Arztpraxis, bekommen Ihr Rezept, irgendwann sehen Sie schon gar nicht mehr den Arzt, sondern rufen nur noch die Sprechstundenhilfe an, dass Sie wieder ein neues Rezept brauchen, und so weiter … Trotzdem alles gut? Nein. Ob es Alternativen zu Arzneimitteln gab und ob Sie von diesen Blutdruckmitteln wirklich einen Vorteil haben werden, wird für Sie unbeantwortet bleiben, bis das Gleiche wie mit der Hauswasserleitung passiert. Es kommt zu einem schweren Schaden. Im Fall von Bluthochdruck können dies zum Beispiel ein plötzlicher Herztod oder eine Hirnblutung sein. Nur die wenigsten dieser Komplikationen werden durch Blutdrucksenker verhindert. Dazu kommen wir aber noch später.

Genauso ist es beim Cholesterin. Ihr entsprechender Wert im Blut sinkt, weil Sie einen der sogenannten Cholesterinsenker einnehmen. Sie wirken vor allem in der Leber und führen dazu, dass Cholesterin aus dem Blut transportiert wird. Der Cholesterinwert im Blut sinkt. Alles gut? Nein. Warum er gestiegen war, ob es Alternativen zur Arzneimittelbehandlung gab und ob Sie von diesen Cholesterinsenkern wirklich einen Vorteil haben werden, wird zeitlebens für Sie unbeantwortet bleiben, bis Sie, wie bei den Blutdrucksenkern im obigen Beispiel, doch irgendwann einen Herzinfarkt oder Schlaganfall haben – denn nur die wenigsten der Herzinfarkte und Schlaganfälle werden durch Cholesterinsenker verhindert.

Und genauso lässt sich dies für Herzschwäche und Asthma weiterführen. Bei Herzschwäche oder Herzinsuffizienz sind etwa die Hälfte aller Formen noch nicht einmal symptomatisch behandelbar und jeder zehnte Patient stirbt innerhalb von zwei Jahren. Das ist eine schlechtere Prognose als bei vielen Krebserkrankungen.

Als Asthmatiker nehmen Sie Arzneimittel ein, die entweder die Atemwege (wieder ähnlich wie bei dem Gartenschlauch-Beispiel und Bluthochdruck) erweitern, oder solche, die antientzündlich wirken. Warum aber Ihre Atemwege sich verengt haben oder warum sie entzündet waren, bleibt in den meisten Fällen unbeantwortet. Die Symptome sind beseitigt; mehr ist nicht möglich. Beim Asthmatiker lässt sich immerhin sagen, dass die Lebenserwartung bei angemessener Behandlung derjenigen eines Gesunden entspricht und auch die Lebensqualität muss keineswegs eingeschränkt sein. Dennoch: Die Ursache bleibt unerkannt und unbehandelt.

Medizin und unser Gesundheitssystem sind also im Wesentlichen auf Krankheit ausgerichtet, kennen die Ursachen der Erkrankungen nicht und behandeln Patienten symptomatisch, um so zu versuchen, ernstere Konsequenzen zu verhindern – und das chronisch, da eine Heilung auf die Weise nicht erzielbar ist. So werden bereits zehn Prozent aller 18- bis 29-Jährigen als chronisch krank eingestuft; ab 30 schon jeder Fünfte; ab 60 über ein Drittel und ab 70 jeder Zweite. Dass Krankheiten mit dem Alter zunehmen, mag noch zu erwarten sein – doch warum sind so viele Erkrankungen chronisch?

Alle sind zufrieden

Die Ursachen hierfür sind vielfältig und obwohl sich alle Beteiligten im System, wie Ärzte, Krankenkassen, Patienten, Arzneimittelhersteller und so weiter, mit dieser Situation irgendwie eingerichtet haben, auch finanziell, würde ich keinem unterstellen, sie täten dies aus kommerziellem Interesse. Wir können es gegenwärtig in der Medizin einfach nicht besser.

Nicht nur bei meinem Lieblingsbeispiel (weil es so häufig und grotesk ist) Bluthochdruck, bei fast allen, insbesondere chronischen Erkrankungen ist die Ursache unklar. Mit Ursache ist der genaue molekulare Mechanismus gemeint, der die Symptome verursacht. Mit molekularem Mechanismus meint man das genaue Wissen, welche Moleküle, Botenstoffe, Hormone oder Signalwege in unserem Körper verändert sind, sodass die Symptome entstehen, aber auch die langfristigen ernsten Konsequenzen, wie zum Beispiel ein Herzinfarkt oder Schlaganfall. Es macht eben einen gewaltigen Unterschied, ob ich auf Symptome oder Ursachen schaue. Behandele ich lediglich Symptome und nicht die Ursachen, werden die Symptome immer wieder auftreten und müssen immer wieder behandelt werden. Nur wenn ich die Ursache gefunden habe, besteht eine prinzipielle Hoffnung auf Heilung. Da dies aber bei den meisten Krankheiten nicht der Fall ist, wird man als Patient eben als chronisch krank definiert, die Symptome treten immer wieder auf und müssen ständig unterdrückt werden.

Zumeist geschieht die Symptombehandlung mit Arzneimitteln. Circa 70 Prozent aller ärztlichen Maßnahmen beinhalten die Verschreibung eines Arzneimittels. Was jeweils Stand der Wissenschaft ist oder innerhalb eines Landes oder Gesundheitssystems als solcher angesehen wird, wird in sogenannten Behandlungsleitlinien festgehalten. Im Idealfall basieren diese auf soliden wissenschaftlichen Erkenntnissen, oftmals aber auch nur auf Expertenmeinungen. Wie diese durchaus fundamental divergieren können, haben wir in der Corona-Pandemie erlebt.

Wichtig für das System ist, dass leitliniengerechte Behandlung von den Krankenkassen erstattet wird. So sind alle zufrieden: Sie als Patient denken – zumindest bis Sie den ersten Teil meines Buches zu Ende gelesen haben –, Sie seien gut behandelt. Sie sind halt Chroniker. Der Arzt hat mit Ihnen einen regelmäßig erscheinenden Patienten, der jedes Quartal seine Versichertenkarte einlesen lässt, da Sie ja ein neues Rezept brauchen – offiziell natürlich nur nach einem mit der Krankenkasse abrechenbaren persönlichen Gespräch mit dem behandelnden Arzt und nicht etwa nur mit der Sprechstundenhilfe vorne am Empfang. Auch die Apotheke ist zufrieden: ein Rezept und vielleicht noch ein Zusatzverkauf jedes Quartal (ein Anreiz, kritisch zu beraten, besteht ja nicht, da Apotheker nicht ihre Arzneimittelberatung, sondern ausschließlich ihre Kosten nach abgegebenen Arzneimitteln erstattet bekommen). Die Pharmaindustrie ist auch zufrieden und das Krankenhaus auch, da die Symptome gelegentlich ernster werden und ein Krankenhausaufenthalt erforderlich ist.

Abb. 2: Die Entstehung einer chronischen Erkrankung. Unten die Zeitachse, links die Verschlimmerung der Symptome oder Krankheit. Lange Zeit passiert nichts; Sie wissen gar nicht, dass eine Krankheit in Ihnen brodelt. Deren Ursachen sind auch unklar. Dann treten plötzlich Symptome auf, die einer Behandlung bedürfen. Die Ursache ist aber noch immer unklar. Also können nur Ihre Symptome immer wieder durch regelmäßige Einnahme von Tabletten behoben werden. Die eigentliche Ursache der Erkrankung brodelt aber weiter in Ihnen und ob Sie irgendwann dadurch eine schwere Komplikation erleiden oder früher sterben werden, bleibt zeitlebens ungewiss.

Alles läuft Hand in Hand. Nicht perfekt, aber alle Beteiligten haben sich irgendwie eingerichtet. Doch wo ist der Haken in diesem Krankheitssystem? Er liegt darin, dass der Ausgang, was die für den Patienten relevanten Konsequenzen betrifft, komplett ungewiss ist. Denn die Behandlung der Symptome ist oft nicht das, was den Patienten wirklich interessiert, sondern es sind die Langzeitkonsequenzen: Blutdruck tut nicht weh, sondern der damit assoziierte plötzliche Herztod oder die Hirnblutung; auch der erhöhte Cholesterinwert im Blut tut nicht weh, sondern der damit assoziierte Herzinfarkt oder der Schlaganfall; nicht die gelegentliche Atemnot, sondern das tödliche Herzversagen; auch die erhöhten Zuckerspiegel machen dem Diabetiker lange Zeit nichts aus, wichtiger ist die Frage, ob er vor Nierenversagen, Nervenschäden und Erblindung geschützt ist. All dies kann dem Patienten kein Arzt versprechen. Der Ausgang ist und bleibt ungewiss. Aber bitte nächstes Quartal wiederkommen wegen des Rezepts. Können Sie denn wenigstens davon ausgehen, dass Sie zumindest einen kleinen Vorteil von dem Arzneimittel haben, das Sie einnehmen? Nein, im Gegenteil. Sie können davon ausgehen, dass Sie keinen Vorteil davon haben werden …

KAPITEL 2

IHR ARZNEIMITTEL WIRKT (WAHRSCHEINLICH) NICHT

Klarer Fall: Wenn Sie ein Medikament verschrieben bekommen und es einnehmen, tun Sie das in der Hoffnung, dass es wirkt. Warum sollten Sie es sonst nehmen? Aber leider ist diese Hoffnung in viel zu vielen Fällen trügerisch. Denn jeden Tag nehmen Millionen von Menschen Medikamente ein, die ihnen nicht helfen werden.

Wie ich darauf komme? Nun, alle klinischen Studien zu den zehn in den USA im Jahr 2015 meistverkauften Medikamenten belegen, dass diese nur einem von vier oder gar nur einem von 25 Patienten, die sie einnehmen, helfen. Das heißt im Umkehrschluss: Drei von vier beziehungsweise 24 von 25 Patienten haben keinerlei Vorteil von dem Medikament!

Bei einigen Medikamenten, wie zum Beispiel den im vorigen Kapitel schon erwähnten, routinemäßig zur Senkung des Cholesterinspiegels eingesetzten Cholesterinsenkern, den sogenannten Statinen, profitiert sogar nur einer von 50 Patienten.2 Es gibt überdies Medikamente, die aufgrund der Tatsache, dass die meisten Studien an weißen westlichen Patienten getestet werden, für bestimmte ethnische Gruppen schädlich sind. Ein Beispiel sind lang wirksame Arzneimittel, die die Atemwege erweitern, die bei Afroamerikanern zu lebensgefährlichen Nebenwirkungen und Todesfällen führen können.3

Abb. 3: Von den hier beispielhaft gezeigten Arzneimitteln, die 2015 den höchsten Umsatz hatten, haben nur die schwarz dargestellten Patienten einen Vorteil. Die weiß dargestellten bekommen diese Arzneimittel zwar auch nach allen Therapierichtlinien verschrieben, wir wissen aber von allen klinischen Studien, dass sie keinen Vorteil von ihnen haben werden, sondern im ungünstigen Fall sogar nur die unerwünschten Nebenwirkungen erleiden. Dies sind keine Sonderfälle, sondern es ist eher die Regel und lässt sich prinzipiell auf fast alle Arzneimittel übertragen. Es gibt gegenwärtig kaum Möglichkeiten, die beiden Patientengruppen vor Therapiebeginn zu differenzieren.1

Ein Grund für diesen Mangel an Präzision in der Arzneimitteltherapie ist wieder der Unterschied zwischen Symptom und Ursache. In den meisten Zulassungsstudien für Arzneimittel wird eine Handvoll Messungen an wenigen Tausend Patienten durchgeführt. Wichtig ist dann nicht, ob jeder Patient einen Vorteil hatte, sondern lediglich, ob bei einem Vergleich der behandelten und der unbehandelten Gruppe ein statistisch signifikanter Vorteil zu messen war. Die meisten Medikamente sind allerdings nur bei einer kleinen Fraktion der Patienten wirksam. Um diese erreichen zu können, setzen wir die andere, viel größere Fraktion unnötigerweise Nebenwirkungen aus, ohne dass ein Nutzen damit verbunden ist. Tabelle 1 zeigt als Beispiel sechs klinische Arzneimittelstudien, die als Meilensteine der Herz-Kreislauf-Medizin gelten und aufgrund deren neue Medikamente wie der Cholesterinsenker Simvastatin, das Blutdruckmittel Ramipril und – vereinfacht ausgedrückt – Blutverdünner wie Aspirin, verschiedene Thrombolytika, Abciximab und Clopidogrel in wichtige therapeutische Leitlinien aufgenommen wurden.

Es wird Sie überraschen, dass diese Arzneistoffe trotzdem, obwohl nur 1,9 bis 9 Prozent der Patienten einen Vorteil von ihrer Medikation hatten und dementsprechend 91 bis 98,1 Prozent keinen Vorteil beziehungsweise lediglich ein Risiko für unerwünschte Nebenwirkungen, in alle wesentlichen Leitlinien zur Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen aufgenommen wurden. Sie könnten sich sagen: Das sind doch schlechte Ergebnisse und deswegen hätten diese Arzneimittel gar nicht zugelassen werden oder auf den Markt kommen dürfen. Leider sind dies aber im Vergleich zu vielen anderen Arzneistoffen und deren Präzision sogar noch recht gute Daten! Besser geht es im Moment nicht und unbehandelt kann man diese Patienten auch nicht lassen, sonst würden wir ja noch nicht einmal die 1,9 bis 9 Prozent der Patienten schützen, bei denen das Arzneimittel helfen kann, oft lebensrettend. Das ist eben der Nachteil, wenn man Symptome behandelt (Cholesterol, Blutdruck), aber eigentlich patientenrelevantere Ziele verfolgen sollte (nämlich, Herzinfarkt, Schlaganfall oder Tod zu verhindern).

Tab. 1: Arzneimitteltherapien, die aufgrund einer klinischen Studie in der angegebenen Indikation als ausreichend wirksam beurteilt wurden, und, im Vergleich dazu, der Prozentsatz der Patienten, die von dieser Behandlung einen oder keinen Vorteil hatten.4

Einen Wermutstropfen gibt es allerdings, denn wirklich übertragbar auf Sie als Patient sind diese Erfolgsraten dann wahrscheinlich doch leider nicht. In derartigen Studien werden nämlich die teilnehmenden Patienten handverlesen, damit die Studie auch ja positiv wird; mit Ihnen haben diese Patienten möglicherweise wenig zu tun – zum Beispiel eher mittleres Alter, sonst keine weiteren Beschwerden und so weiter. Außerdem werden Patienten in Studien sehr genau daraufhin überwacht, ob sie ihre Arzneimittel auch regelmäßig und in der richtigen Menge eingenommen haben. In der Realität ist das ja leider anders. Schon mir fällt es schwer, wenn ich mal ein Antibiotikum für ein paar Tage einnehmen muss, mich jeden Morgen und Abend daran zu erinnern. Gerade ältere Patienten bekommen aber in der Realität oft vier und mehr Medikamente aufgeschrieben. Da vergisst man mal leicht eines oder die Gewissenhaftigkeit (die sogenannte Compliance) lässt nach und das Medikament wird über weite Strecken gar nicht mehr oder doppelt eingenommen.

Ein typisches Beispiel für schlechte Patienten-Compliance sind die zur Blutdrucksenkung eingesetzten Betablocker. Eine ihrer Nebenwirkungen ist, dass sie paradoxerweise die Blutgefäße an Händen, Füßen, aber bei Männern auch im Penis verengen. Eine Konsequenz sind daher Potenzprobleme, weswegen die Patienten dann gern einmal oder auch längere Zeit den Betablocker weggelassen. Kurz vor dem nächsten Arztbesuch werden sie natürlich wieder eingenommen. Der Blutdruck ist dann normal und alle sind zufrieden. Jetzt könnten Sie denken: Egal, die Chance, dass der Betablocker dem Patienten hilft, ist doch nach meinen Erläuterungen ohnehin klein. Sie ist klein, das stimmt, aber dieser Patient könnte genau der eine „Glückliche“ sein, dem der Betablocker das Leben rettet, und an all den Tagen, an denen er ihn nicht eingenommen hat, entfällt diese – wenn auch kleine – Chance, dass der Betablocker einen Herzinfarkt oder Schlaganfall verhindert (siehe die folgende Seite zur Number Needed to Treat).

Zum anderen werden in großen Studien, bei denen es, nachdem viele Millionen Euro in die Entwicklung investiert wurden, letztlich um die Zulassung geht, die Patientengruppen so zusammengestellt, dass die Wahrscheinlichkeit eines positiven Effekts möglichst hoch ist. Das kann heißen, Patienten mit hohem Risiko oder schweren Symptomen auszuwählen, nicht zu alt, aber auch nicht zu jung und mit möglichst wenigen zusätzlichen Erkrankungen. Nach der Zulassung in der alltäglichen ärztlichen Praxis werden dann natürlich auch Patienten mit leichteren Symptomen oder niedrigerem Risiko, auch ältere Patienten als in der Studie und auch solche mit weiteren Erkrankungen behandelt. Dies hat dann bei solchen sogenannten „Real World“-Patienten zur Konsequenz, dass die Wirkung noch geringer beziehungsweise die Nebenwirkungen stärker sind als in der ursprünglichen Zulassungsstudie. Bei einigen Medikamenten wie Statinen, die routinemäßig zur Senkung des Cholesterinspiegels eingesetzt werden, kann es dann sein, dass unter den normalen Patienten nur noch einer von 50 davon profitiert; bei Bluthochdruckmitteln nur noch einer von 100. Zur Erinnerung: Dies bedeutet für 49 beziehungsweise 99 Patienten, dass es für sie in dem Beispiel keinen Unterschied macht, ob sie ihre Arzneimittel nehmen oder nicht, sie werden keinen Vorteil haben, eher Nachteile.

Da wir gegenwärtig in der Medizin keine Möglichkeit haben, diese beiden Patientengruppen – die, die einen Vorteil haben, und die vielen anderen, die keinen Vorteil haben werden – auseinanderzuhalten und daher alle therapieren müssen, sollten Sie all diese Beispiele gegenwärtig bitte nicht (!) zum Anlass nehmen, auch nur eines Ihrer Medikamente abzusetzen. Sie wissen ja nicht, zu welcher Gruppe Sie gehören; vielleicht genau zu der, denen das Medikament das Leben rettet, das heißt zum Beispiel einen schweren Herzinfarkt oder Schlaganfall verhindert. Wir wissen es einfach nicht und Ihr Arzt auch nicht. Es ist also nicht ein Fehler Ihres Arztes, Ihnen dieses Medikament zu verschreiben. Es gibt gegenwärtig keine bessere Alternative. Es ist wahrscheinlich noch nicht einmal ein Fehler Ihres Arztes, Sie nicht über die mangelnde Präzision Ihres Arzneimittels und die geringe Wahrscheinlichkeit, dass Sie davon profitieren werden, aufzuklären. Würde er das bei allen Patienten machen, würde wahrscheinlich bald gar kein Patient mehr seine Medikation nehmen, auch diejenigen, deren Leben er damit hätte retten können. Wenn die möglichen Nebenwirkungen also nicht allzu ernst sind, nimmt man dieses Risiko eben in Kauf. Man muss es in Kauf nehmen.

Sie könnten sich jetzt denken, dass das ja fast nach einem Skandal klingt. Habe ich mir hier als Autor ein paar extreme Arzneimittelbeispiele herausgesucht, um zu dramatisieren und meinen Punkt zu machen? Wirken viele der anderen Arzneimittel nicht doch bei den meisten Patienten? Nein, lassen Sie uns dazu noch etwas tiefer in die Zahlen eintauchen (nicht zu tief, keine Angst, ich bin kein Freund von Mathematik, aber es ist wichtig und erhellend), und zwar in den Begriff der „Number Needed to Treat“ …

Die Number Needed to Treat

Es gibt einen Weg, um zu verstehen, wie viel die aktuelle Medizin dem einzelnen Patienten zu bieten hat. Es handelt sich um ein einfaches statistisches Konzept, das „Number Needed to Treat“ oder kurz „NNT“ genannt wird, auf Deutsch: die Patientenanzahl, die behandelt werden muss, damit ein Patient einen Vorteil hat. Die NNT misst die Wirkung eines Medikaments oder einer anderen Therapie, wie zum Beispiel einer Operation, indem sie die Anzahl der Patienten schätzt, die behandelt werden müssen, um eine positive, gewünschte Wirkung für eine einzige Person zu erzielen, zum Beispiel ein Krankheitsrisiko wie Herzinfarkt oder Schlaganfall zu senken beziehungsweise zu eliminieren. Das Konzept ist zwar etwas trockene Statistik, aber doch einleuchtend, denn wir wissen ja inzwischen, dass nicht allen Menschen durch ein Medikament oder eine Intervention geholfen wird – manche profitieren, manche werden geschädigt und manche bleiben unbeeinflusst.

Die NNT lässt sich aus jeder klinischen Studie mit einem Arzneimittel oder einer anderen Intervention wie einer Operation et cetera berechnen. Da die meisten Medikamente und Interventionen irgendwann einmal in einer klinischen Studie untersucht worden sind, können wir eine NNT für viele (wenn nicht sogar für die meisten) der ärztlichen Behandlungen abschätzen. Das bedeutet, dass Ärzte und ihre Patienten die Wahrscheinlichkeit, dass einem Patienten durch ein bestimmtes Medikament oder Verfahren geholfen oder Schaden zugefügt wird, leicht bestimmen können. Für jedes Ihrer Arzneimittel und die dazugehörige Anwendung können Sie die NNT recherchieren: auf der Internetseite des NNT-Teams.5 Diese seit 2010 bestehenden Gruppe von Ärzten, geleitet von dem Notfallmediziner Prof. Shahriar Zehtabchi, hat ein einzigartiges System entwickelt, um entweder Therapien (auf der Grundlage ihres patientenrelevanten Nutzens beziehungsweise Schadens) oder Diagnostik (anhand von Symptomen, Labortests oder klinischen Studien) für jedermann nachvollziehbar sehr einfach zu bewerten, wenn auch auf Englisch.

Neben der NNT lässt sich übrigens noch eine zweite, auch nicht unwichtige Zahl berechnen, nämlich die „Number Needed to Harm“ (NNH), auf Deutsch: die Zahl an Patienten, die behandelt werden muss, damit ein Patient eine relevante, schwere Nebenwirkung zeigt, für die die Behandlung verantwortlich ist. Eigentlich muss man diese Zahlen vergleichen, um eine Nutzen-Schaden-Bilanz zu erstellen.

Das NNT-Team verwendet nur die qualitativ hochwertigsten, evidenzbasierten Studien6 und akzeptiert weder Drittmittel noch Werbung. Man kann dort zum Beispiel nach den Cholesterinsenkern (Statinen) suchen und findet dann verschiedene Optionen (Tabelle 2): zur Herz-Kreislauf-Prävention mit oder ohne vorbestehendem Risiko, bei bekannter Herzkrankheit oder bei akuter Angina Pectoris beziehungsweise Herzinfarkt. Betrachten wir den häufigsten Fall: Ohne dass ein Patient schon einmal eine vorherige Herzerkrankung hatte, wird aufgrund seines allgemeinen Risikos und von erhöhten Cholesterinwerten im Blut ein Statin verschrieben, und zwar zur Prävention von schweren Herz-Kreislauf-Krankheiten, also einer Herzattacke oder eines Schlaganfalls oder sogar des Todes.

Es überrascht, dass kein einziges Leben gerettet wird und nur zwei schwere Ereignisse wie ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall verhindert werden, wofür aber insgesamt 258 Patienten behandelt werden mussten. Einschränkend muss man zu diesen Zahlen sagen, dass es umstritten ist, ob die Sterblichkeit durch Statine in dieser Gruppe von Patienten reduziert wird. Das NNT-Team glaubt nicht, dass dies so ist, ist sich aber bewusst, dass andere die vorliegenden Daten anders interpretieren.

Es fällt auf, dass der Schaden, der von Statinen verursacht werden kann, weniger publik gemacht wird als der überschaubare Nutzen. Am häufigsten tritt bei der Behandlung mit Statinen ein schwerer Muskelschmerz beziehungsweise Muskelschaden auf, eine Nebenwirkung, die sich noch relativ gut bemerken und den Statinen zuordnen lässt. Die hier aufgeführte Häufigkeit von 1:10, also zehn Prozent, ist eher eine relativ konservative Schätzung für diese Nebenwirkung.8 Diese ist aber möglicherweise der Hauptgrund, warum Patienten Statine so häufig eigenmächtig absetzen oder zumindest unregelmäßig einnehmen.9

Tab. 2: Vorteile (Number Needed to Treat, NNT) und Schäden (Number Needed to Harm, NNH) einer Therapie mit cholesterinsenkenden Statinen zur Vorbeugung von Herzkrankheiten bei Patienten ohne vorherige Herzerkrankung.7

Eine weitere, besorgniserregende Nebenwirkung ist ein durch Statine neu aufgetretener Diabetes mellitus.10 Das Risiko von 1:50 ist dabei eher konservativ geschätzt. Da zehn Prozent aller Deutschen inzwischen bereits Diabetiker sind, besteht bei diesen Patienten das Risiko, einen bestehenden Diabetes noch weiter zu verschlechtern, wodurch die Patienten unfähig werden, ihren Diabetes mithilfe von Lebensstiländerungen jemals in den Griff zu bekommen oder heilen zu können. Da solche Patienten in der Regel von Statin-Studien ausgeschlossen sind, kann man dieses Risiko nur schätzen. Auch sind die Quellen der überwiegenden Mehrheit dieser Daten industriegesponserte und -finanzierte Studien, was darauf hindeutet, dass die obigen Zahlen (1:50-Risiko) eher ein Best-Case-Szenario darstellen.

Sind Statine also eine geeignete Wahl für die Verhinderung eines Herzinfarkts oder Schlaganfalls? Zumindest verdeutlicht dieses Beispiel, dass man bei dem Symptom „erhöhtes Cholesterin“ nicht unbedingt reflexhaft ein Statin einnehmen muss. Das sollte gemeinsam mit einem oder mehreren Ärzten sorgfältig überdacht werden – natürlich auch vor allem mit Blick auf individuelle Präferenzen des Patienten. Im besten Fall ist ja durchaus ein Nutzen der Statine gegeben, der mögliche Schaden wird aber leicht unterschätzt. Die Alternative einer Lebensstiländerung wie zum Beispiel einer mehr oder rein pflanzlichen Ernährung ist wesentlich wirksamer als Statin-Medikamente, um kardiovaskuläre Vorteile zu erzielen, und das, ohne potenzielle Schäden zu verursachen.

Es gibt aber einen weiteren Trick, um diesen inzwischen mehr und mehr publik gewordenen Nachteil aus dem Fokus zu nehmen und die Risikoverminderung durch ein Arzneimittel marketingtechnisch schönzurechnen. Und ich denke, dass auch so mancher Arzt darauf schon reingefallen ist. Leider müssen wir dazu noch etwas mehr in die Trickkiste der Mathematik greifen. Folgen Sie mir, es lohnt sich.

Absolutes und relatives Risiko

Mit einer Arzneitherapie will ich oft nicht nur ein Symptom beseitigen, sondern ein damit assoziiertes Risiko langfristig senken. Nun gibt es zwei Arten, wie man dieses Risiko darstellen kann: absolut und relativ.

Bei kontrollierten klinischen Studien medizinischer Interventionen (Medikamente, Operationen und so weiter) gibt es immer einen möglichst patientenrelevanten Endpunkt, das heißt, dass gemessen werden kann, ob die Intervention im Vergleich zur Standardtherapie besser war oder nicht. Im dramatischsten Fall kann das sein: weniger Todesfälle oder – wie in der Abbildung 4 – keinen Herzinfarkt oder keinen Schlaganfall zu erleiden.

In den Informationen, die gern auch von der pharmazeutischen Industrie verwendet werden, wird oft ein anderer Wert berechnet und kommuniziert, der weitaus beeindruckendere Zahlen hergibt: die Relative Risiko-Reduktion (RRR). In Abbildung 4 habe ich die Zahlen ein wenig vereinfacht, um sie leichter umrechnen zu können. Gehen wir von einer NNT von 1:50 für das Vermeiden eines Todesfalls aus. Das bedeutet in Prozent, dass zwei Prozent aller behandelten Patienten tatsächlich einen Vorteil haben, weil sie nicht sterben. Nun sterben ja glücklicherweise die allerwenigsten Patienten im Laufe einer klinischen Studie. Nehmen wir einmal an, es sind – ohne Behandlung – von 100 Patienten normalerweise zehn, die sterben, und nun – mit Behandlung – zwei weniger, also nur acht, die noch sterben. Zwei Prozent ist dann die Absolute Risiko-Reduktion (ARR). Klingt nicht besonders beeindruckend, ist aber ehrlich und bezieht alle Patienten ein, die mit dem Medikament behandelt wurden. 98 Prozent der Patienten haben demnach keinen Vorteil: 90 Prozent wären sowieso nicht gestorben und acht Prozent sind trotz des Medikaments gestorben.

Nun lässt sich aber auch ein anderer Wert berechnen, der nicht grundsätzlich falsch ist, aber irreführend verwendet werden kann und oft so verwendet wird, die Relative Risiko-Reduktion (RRR). Hierzu schaut man sich nur die Todesfälle an und ignoriert alle anderen Patienten, die das Medikament auch noch, aber sinnloserweise genommen haben. Ohne Therapie sind demnach zehn gestorben, mit Therapie nur acht, also eine beeindruckender klingende 20-prozentige Reduktion dieses relativen – das heißt nur auf die Todesfälle bezogenen – Risikos (RRR). Nicht falsch, aber maximal geschönt.

Abb. 4: Relative (RRR) und Absolute Risiko-Reduktion (ARR) einer Therapie. 100 Patienten werden behandelt. Unbehandelt (weiße Balken) würden zehn sterben, behandelt (schwarze Balken) nur acht. Zwei von 100 (zwei Prozent) leben dank der Therapie weiter, haben also einen Vorteil. Das Absolute Risiko (ARR) wurde um zwei Prozent reduziert; die NNT ist 50. Acht sterben aber trotzdem; 90 hätten so oder so weitergelebt; macht zusammen 98 Prozent der Patienten, die keinen Vorteil haben. Schaut man sich jedoch nur die zehn Todesfälle an, wird diese Zahl durch die Behandlung um 20 Prozent von zehn auf acht relativ reduziert (RRR).

Das Problem mit dieser Art von Beschreibung ist, dass sie zwar mathematisch und semantisch korrekt, aber zutiefst irreführend ist. Das liegt daran, dass ja beide, Patient und Arzt, vor Beginn einer Behandlung nicht wissen können, ob einem Patienten durch die Behandlung geholfen, ob er geschädigt oder gar nicht beeinflusst wird. Wenn in einem Gespräch mit einem Patienten die RRR verwendet wird, um zu beschreiben, wie wahrscheinlich es ist, dass die Therapie Erfolg hat (das heißt, es reduziert in obigem Beispiel die Chance, zu sterben, um 20 Prozent), dann haben wir die viel größere Wahrscheinlichkeit (das heißt 98 Prozent, wie wir oben berechnet haben), dass ein Patient keinen Vorteil haben wird, ignoriert.

Personen oder Gruppen, die ein kommerzielles Gewinnmotiv haben, können so versuchen, einen Patienten in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen. An dieser Stelle wäre die NNT am wertvollsten, nämlich als Instrument zur Standardisierung der Kommunikation. Die NNT verwendet nur die ARR. Wenn Patienten und Ärzte die NNT verwenden, gibt es keine Täuschung oder Übertreibung hinsichtlich der zu erwartenden Wirkung. Hat man einmal die Berechnung und das Konzept der NNT verstanden, ist sie leicht anzuwenden. Aber so offensichtlich sinnvoll, wie die NNT ist, so wenig wird sie leider im täglichen medizinischen Alltag benutzt. Viele Ärzte sind sogar überrascht, wie hoch die NNT für die von ihnen routinemäßig verschriebenen Arzneimittel ist – obwohl doch jeder Arzt klinische Studien richtig lesen und kritisch interpretieren können sollte.

Nun fehlt noch eine weitere Komplikation für all diese Überlegungen: der Wechsel von relativ künstlichen Studiendaten zu sogenannten Real-World-Daten, also Daten mit Relevanz für ganz normale Patienten wie Sie, nicht nur die, die für die Zulassungsstudie der Industrie handverlesen wurden. Diese Daten können naturgemäß erst nach der Zulassung in sogenannten Nachbeobachtungsstudien erhoben werden, wenn das neue Arzneimittel im täglichen Alltag eingesetzt wird, also bei „normalen“ Patienten und nicht bei denen, die für eine Zulassungsstudie der Industrie ausgewählt und hinsichtlich der Arzneimitteldosierung optimal eingestellt wurden. Unter diesen sogenannten „Real World“-Bedingungen können sich dann die Risikoreduktion (ARR) und die NNT noch deutlich verschlechtern, oft sogar so weit, dass ein neues Arzneimittel als „ohne jeglichen Nutzen gegenüber der vorher schon existierenden Standardtherapie“ nachbeurteilt und manchmal sogar, wenn zum Beispiel vorher nicht beobachtete Nebenwirkungen hinzukommen, wieder vom Markt genommen wird.

Dies droht insbesondere dann, wenn es schon eine wirksame Therapie (ein Arzneimittel oder eine Operation) gibt. Dann muss nämlich jede neue Therapie (neues Arzneimittel oder neue Operationstechnik) einen Zusatznutzen zu der bereits bestehenden aufzeigen, entweder eine stärkere erwünschte Wirkung oder deutlich weniger unerwünschte Nebenwirkungen. Bei unseren gegenwärtig so unpräzisen Krankheitsdefinitionen, deren Ursachen meist nicht bekannt sind, weswegen in der Regel nur Symptome behandelt werden, ist das sehr schwer zu erreichen. So müssen oftmals Tausende von Patienten in eine solche Studie eingeschlossen werden, um kleinste Prozentzahlen an absolutem (!) Zusatznutzen zu zeigen. Verfolgt man nach der Zulassung des Arzneimittels, ob dieser Nutzen auch bei normalen Patienten erhalten bleibt, kann es vorkommen, dass nichts mehr von dem Nutzen übrig bleibt. Manchmal überwiegt sogar der Schaden und das Arzneimittel muss wieder vom Markt genommen werden. Kommt das selten vor? Erstaunlicherweise nein. Es ist sogar eher die Regel …

Neue Arzneimittel meist ohne jeden Nutzen

Mit der Reform des Arzneimittelmarktgesetzes hat Deutschland 2011 die frühe Nutzenbewertung neuer Arzneimittel eingeführt. Ziel ist es, festzustellen, ob ein neues Arzneimittel einen Zusatznutzen gegenüber der Standardversorgung hat. Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA), das Hauptentscheidungsgremium in der gesetzlichen Krankenversicherung, ist für das Bewertungsverfahren zuständig und entscheidet letztlich über den Zusatznutzen. Er legt die Regelversorgung auf der Grundlage gesetzlich festgelegter Kriterien fest. Nach diesen Kriterien ist die Regelversorgung eine genehmigte und erstattete Maßnahme, für die ein Nutzen nach den Standards der evidenzbasierten Medizin (das heißt überwiegend auf der Grundlage von Studien mit patientenrelevanten Endpunkten) nachgewiesen ist.

Der Zusatznutzen eines neuen Medikaments wird in erster Linie durch einen direkten oder geeigneten indirekten Vergleich mit der Standardversorgung anhand der Endpunkte Sterblichkeit, Krankheitshäufigkeit oder gesundheitsbezogene Lebensqualität bestimmt. Der Nachweis erfordert einen statistisch signifikanten Nutzen für patientenrelevante Endpunkte in einer randomisierten (das heißt unter Verwendung eines Zufallsmechanismus besetzten) kontrollierten Studie oder einen sehr großen Nutzen in einer nicht randomisierten Studie.

Wenn ein neu zugelassenes Medikament auf den deutschen Markt kommt, muss die verantwortliche Arzneimittelfirma ein standardisiertes Dossier vorlegen, das alle verfügbaren Belege für den Zusatznutzen des Medikaments gegenüber der Standardversorgung enthält. Nach Markteintritt wird das unabhängige Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) mit der Nutzenbewertung beauftragt. Die Ergebnisse dieser Bewertung dienen als Grundlage für die endgültige Entscheidung, ob ein Zusatznutzen besteht. Dies und sämtliche Stellungnahmen sind auf der Website des Gemeinsamen Bundesausschusses verfügbar.11

Die Schlussfolgerungen zum Zusatznutzen haben zwei wichtige Funktionen. Erstens dienen sie als Grundlage für Preisverhandlungen zwischen dem Dachverband der gesetzlichen Krankenversicherung und dem Arzneimittelhersteller. Auch wenn der G-BA zu dem Schluss kommt, dass ein neues Arzneimittel keinen Zusatznutzen hat, darf das Arzneimittel auf dem Markt bleiben, darf dann aber nicht mehr als die Standardversorgung kosten. Zweitens können die Schlussfolgerungen für ärztliche Behandlungsleitlinien und individuelle Behandlungsentscheidungen verwendet werden.

2019 veröffentlichte das IQWiG eine Übersicht aller zwischen 2011 und 2017 bewerteten Arzneimittel, die nach der Zulassung auf den deutschen Markt kamen, insgesamt 152 neue Wirkstoffe und 64 bereits zugelassene Arzneimittel in einer neuen Indikation.12 Nur 54 der 216 bewerteten Medikamente (25 Prozent) wurden als Arzneimittel mit einem beträchtlichen oder großen Zusatznutzen eingestuft. Bei 35 (16 Prozent) war der Zusatznutzen entweder gering oder konnte nicht quantifiziert werden. Bei 125 Arzneimitteln (58 Prozent), also bei weit über der Hälfte, konnte kein Zusatznutzen gegenüber der Standardversorgung in Bezug auf Sterblichkeit, Krankheitshäufigkeit oder gesundheitsbezogene Lebensqualität in der zugelassenen Patientenpopulation nachgewiesen werden (Abbildung 5).

Abb. 5: Die Anteile neu zugelassener Arzneimittel, für die ein zusätzlicher Nutzen gegenüber der bisherigen Standardversorgung besteht (weiß), und solche, bei denen das nicht der Fall ist (schwarz). Insgesamt können also zwei Drittel aller neu zugelassenen Arzneimittel diesen Nachweis nicht erbringen, wobei einige Indikationen wie Psychiatrie / Neurologie und Diabetes besonders schlecht abschneiden.

Schlüsselt man diese Daten noch weiter hinsichtlich der verschiedenen medizinischen Fachgebiete auf, ist die Situation teilweise regelrecht erschreckend. So wurde zum Beispiel in der Psychiatrie/Neurologie und bei Diabetes in nur sechs Prozent (1/18) beziehungsweise 17 Prozent (1/6) der Bewertungen ein Zusatznutzen nachgewiesen (rechter Teil der Abbildung 5). Auch ist zu erkennen, dass die Entwicklung und Zulassung von Arzneimitteln nicht gleichmäßig über die verschiedenen Indikationen verteilt ist; es besteht eine große Neigung der pharmazeutischen Industrie, mehr Krebsmittel und weniger psychiatrische beziehungsweise neurologische Medikamente zu entwickeln. Viele Firmen habe sich aus den letzten beiden Indikationen nahezu zurückgezogen.

Diese Daten sind nicht nur für Deutschland relevant, denn nahezu alle diese Arzneimittel wurden von der Europäischen Arzneimittelagentur (European Medical Agency, EMA) für den Einsatz in ganz Europa zugelassen. Die Ergebnisse spiegeln daher den Stand der gesamten europäischen Arzneimittelentwicklung und -politik wider und verdeutlichen, dass die gesamten Prozesse bis zur Zulassung dringend reformiert werden müssen. Alle Arzneimittelbehörden verfolgen weltweit eine Strategie, die darauf abzielt, die Entwicklung und Zulassung von Medikamenten zu beschleunigen13, basierend auf der Annahme, ein schnellerer Zugang zu neuen Medikamenten käme den Patienten zugute. Die Rhetorik von Neuheit und Innovation erzeugt den Glauben, dass neue Arzneimittel immer besser seien als bestehende. Zwar gibt es zweifellos dramatische Lücken im Arzneimittelarsenal (siehe die beiden vorherigen Abschnitte „Die meisten Arzneimittel wirken nicht“ und „Die Number Needed to Treat“), aber seit den 1970er-Jahren bietet nur eine begrenzte Anzahl von unter 15 Prozent der neuen Medikamente echte Fortschritte gegenüber den vorhandenen Arzneimitteln und das ohne einen Trend zur Verbesserung. Arzneimittelbehörden wollten den frühen Zugang zu innovativen Medikamenten ermöglichen – oder wurden dazu gedrängt. Die Hoffnung war, das Manko nur begrenzter Informationen zum Zeitpunkt der beschleunigten behördlichen Zulassung dadurch auszugleichen, dass die nachfolgende breite Anwendung am Patienten und hierzu durchgeführte Forschung schließlich den Nutzen für die Patienten belegen würde.14

Die Realität sieht jedoch ganz anders aus. Beispielsweise zeigte eine systematische Bewertung der Krebsmedikamente, die zwischen 2009 und 2013 von der EMA zugelassen wurden, dass die meisten von ihnen ohne Nachweis eines klinisch sinnvollen Nutzens für patientenrelevante Endpunkte (Überleben und Lebensqualität) zugelassen worden waren und sich einige Jahre später diese Situation kaum verändert hatte.15 Noch beunruhigender ist vielleicht, dass eine systematische Überprüfung neuer Medikamente für über 100 Indikationen, die von der US-Arzneimittelbehörde FDA zugelassen wurden, ergab, dass in weniger als zehn16 beziehungsweise 20 Prozent17 der Fälle eine überlegene Wirksamkeit bestätigt wurde.

Zudem werden solche Post-Marketing-Studien, zu denen die Arzneimittelfirmen nach dem Inverkehrbringen eigentlich verpflichtet sind, häufig nicht durchgeführt und nur zur Hälfte rechtzeitig beziehungsweise innerhalb von fünf bis sechs Jahren abgeschlossen.18 In Deutschland wurde keine der sechs Nachzulassungsstudien, die auf der Grundlage der ersten Bewertung beantragt worden waren und zwischen 2011 und 2017 zur Neubewertung anstehen sollten, tatsächlich durchgeführt. Weltweit tun Aufsichtsbehörden wenig, um nicht kooperierende Unternehmen zu sanktionieren.

Pseudo-Innovation „Me too“

Selbst unter den Medikamenten mit einem Zusatznutzen gibt es viele Pseudo-Innovationen, sogenannte „Me too“-Präparate. „Me too“ heißt im Deutschen „Ich auch“. Hat eine Firma ein wirksames Arzneistoffprinzip entdeckt, ziehen andere Firmen nach und wollen auf Basis desselben Prinzips auch Arzneimittel auf den Markt bringen. Ähnlich wie in der Autoindustrie: Fängt eine Firma an, erfolgreich SUVs zu verkaufen, wollen das alle. Fängt ein anderer an, Mini-SUVs zu verkaufen, ziehen wieder alle nach. Innovation ist das nicht, zumindest würde sich kein Autobauer trauen, das zu behaupten.

So ergab die IQWiG-Analyse, dass in Deutschland 12 von 48 erfolgreichen Bewertungen (25 Prozent) in der Onkologie dasselbe Wirkprinzip hatten. Auch die verschiedenen Medikamente, die bei Hepatitis C einen Zusatznutzen zeigten, verwenden alle einen der drei gleichen Mechanismen oder kombinierten diese. Ein Medikament, das ähnlich ist, bedeutet zwar nicht automatisch, dass es das gleiche ist. Prinzipiell könnten unterschiedliche Nebenwirkungsprofile Behandlungen für solche Patienten ermöglichen, für die andere Arzneimittel mit demselben Wirkprinzip unverträglich sind. Dies wird aber bereits standardmäßig ohnehin durch das IQWiG als zusätzlicher Nutzen berücksichtigt.

Und auch die Zukunft verheißt nichts Gutes. Die Analysen der Entwicklungspipelines für Medikamente zeigen ein ähnliches Muster. Eine große Zahl laufender und geplanter Studien in der Onkologie untersucht Medikamente mit demselben Mechanismus.19 Aus Patientensicht ist dies in zweierlei Hinsicht bedenklich. Einerseits nehmen diese Patienten an Studien teil, von denen keine echte Verbesserung gegenüber der Standardtherapie zu erwarten ist, andererseits stehen sie anderen, möglicherweise wirklich innovativen Studien nicht zur Verfügung (zum Problem klinischer Forschung in Deutschland komme ich später noch). So wird Geld für überflüssige Entwicklungen verschwendet und versäumt, neue Ansätze mit anderen Wirkmechanismen zu entwickeln und testen. Der „Me too“-Trend ist eines der größten Hindernisse für ernsthafte therapeutische Fortschritte.20

Angesichts der derzeitigen Informationslücken ist es nicht möglich, Ärzten und vor allem Patienten unparteiische und vollständige Informationen darüber zur Verfügung zu stellen, was sie von einer bestimmten Behandlung zu erwarten haben, einschließlich Informationen über den Nutzen alternativer Behandlungen oder keiner Behandlung. Dadurch wird die Fähigkeit der Patienten, informierte Behandlungsentscheidungen im Einklang mit ihren Präferenzen zu treffen, beeinträchtigt. Letztlich führt das zu einer unethischen Situation für ein Gesundheitssystem wie das unsrige, das sich als patientenzentriert bezeichnet.21 Da die Arzneimittelentwicklung, -zulassung, -erstattung und -preisgestaltung stark reguliert sind, deutet der derzeitige Stand der Dinge letztlich auf ein Versagen der Gesundheitspolitik hin.

Oft wird als letztes Gegenargument noch behauptet, dass mehrere „Me too“-Arzneimittel auf dem Markt die Kosten nach unten treiben würden, da sich das Gesundheitssystem dann nicht mit einem Monopol und möglicherweise anhaltend hohen Preisen konfrontiert sehen würde. Leider erfüllt sich diese Hoffnung auf wettbewerbsbedingte Preissenkungen oft nicht.22 Und selbst wenn es einen wesentlichen Einfluss auf die Preisgestaltung gäbe, würde dies noch immer nicht die immense „Me too“-Entwicklung erfordern, wie dies gegenwärtig der Fall ist.23

Doch selbst das effektivste und für sich allein sicherste Medikament kann noch Probleme erzeugen. Denn wer nimmt die meisten Medikamente? Ältere Menschen. Und die haben meistens mehr als ein Symptom. So nehmen viele mit der Zeit eine nur noch schwer überschaubare Menge an von verschiedenen Ärzten verschriebenen und selbst gekauften Arzneistoffen ein. Diese tagtägliche therapeutische Realität wird Polypharmazie genannt und schafft Probleme, welche die Patienten ohne Arzneimittel nie gehabt hätten …

Polypharmazie

Wir befinden uns im Zeitalter der Polypharmazie und setzen immer mehr Medikamente gleichzeitig zur Behandlung der meisten wichtigen Herz-Kreislauf-Erkrankungen ein, darunter Herzschwäche, Angina Pectoris und Erkrankungen der Herzkranzgefäße sowie Bluthochdruck. Eine typische, leitliniengerechte medikamentöse Behandlung der Herzschwäche umfasst heute zum Beispiel vier und mehr Arzneistoffe für denselben Patienten. Die meisten Patienten mit Durchblutungsstörungen des Herzmuskels erhalten heute Aspirin, Betablocker, Nitrate, ACE-Hemmer, Statine und Clopidogrel. So erhalten 80-jährige Patienten im Schnitt acht Arzneimittel. Das verwundert nicht, wenn man sich klarmacht, dass jede therapeutische Leitlinie pro Diagnose im Schnitt drei Arzneimittel empfiehlt.

Eigentlich ist der Begriff Polypharmazie unfair. Er legt nahe, viele Arzneimittel würden unkontrolliert von der Pharmazie, also dem Apotheker, abgegeben. Dem ist aber nicht so; die meisten Probleme resultieren daraus, dass verschiedene Ärzte mehrere Arzneimittel für denselben Patienten verschreiben, ohne die Verordnungen der anderen Ärzte und eventuelle Selbstmedikationen des Patienten gegenzuchecken. Es ist also fairerweise gesagt in der Regel ein ärztliches Problem, eine Polymedizin.

Ältere Menschen gelten, wie Kinder und Schwangere, medizinisch gesehen als besondere Bevölkerungsgruppe. Das haben wir ja zum Beispiel in der Covid-19-Pandemie erlebt. Was Arzneimittel betrifft, weisen ältere Menschen im Vergleich zum Rest der Bevölkerung große Unterschiede hinsichtlich dessen auf, wie ihr Körper mit Arzneimitteln interagiert. Dies betrifft die Aufnahme in den Körper, zum Beispiel aus einer Tablette, wie sich der Arzneistoff verteilt, wie er verstoffwechselt und wie er wieder ausgeschieden wird. Aber auch unabhängig hiervon sind die Wirkung des Arzneimittels, dessen Verträglichkeit und die Compliance des Patienten (also die Regelmäßigkeit, mit der ein dauerhaft verschriebenes Arzneimittel eingenommen wird) beim älteren Menschen stark beeinträchtigt. Ist zum Beispiel die Leberfunktion eingeschränkt, werden viele Arzneistoffe langsamer verstoffwechselt, was zu höheren Blutspiegeln und einer viel zu starken Wirkung führen kann. Ebenso kann die Nierenfunktion eingeschränkt sein, was auch dazu führt, dass ein Arzneistoff langsamer über den Urin ausgeschieden wird, wodurch sich wieder Blutspiegel und damit Wirkungsstärke über einen längeren Zeitraum erhöhen.

Für einen einzelnen Arzneistoff könnte dies noch durch einen sorgfältig verschreibenden Arzt, der zum Beispiel berücksichtigt, wie ein Arzneistoff verstoffwechselt und ausgeschieden wird und wie Leber- und Nierenfunktion des Patienten sind, über eine veränderte Dosierung angepasst werden. Das Problem ist aber, dass ältere Personen häufig mehrere Medikamente einnehmen, da im Alter mehr und mehr Krankheitsdiagnosen hinzukommen. So haben ältere Menschen ab einem Alter von über 80 Jahren im Durchschnitt drei Diagnosen24, die dadurch, dass pro Diagnose oft mehr als ein Arzneimittel verschrieben wird und noch Selbstmedikation hinzukommt, zur Polypharmazie führen. In Deutschland nehmen ein Drittel aller Männer und Frauen über 65 Jahre fünf oder mehr Medikamente ein.25

Das Fatale ist, dass hierdurch bei älteren Personen die Wahrscheinlichkeit unerwünschter Arzneimittelwirkungen, die einen Krankenhausaufenthalt erfordern, fast siebenmal so hoch ist wie bei jüngeren Personen.26 Unerwünschte Arzneimittelwirkungen sind mit einem durchschnittlichen Anteil von 6,5 Prozent ein relevanter Grund für Vorstellungen in der Notaufnahme, führen häufig zu stationären Aufnahmen in Krankenhäusern27 und sind die vierthäufigste Todesursache.28 Gemäß einer Studie der Europäischen Kommission beläuft sich die volkswirtschaftliche Belastung in Deutschland bei Krankenhausaufenthalten durch arzneimittelbezogene Probleme auf circa 4,94 Milliarden Euro. Die Kosten für Medikationsfehler wurden seitens der Europäischen Kommission für 2016 auf bis zu 5.689 Euro pro Patientenfall geschätzt.

Da diese Gruppe älterer Menschen oft von Arzneimittelstudien ausgeschlossen wird (man will ja ein möglichst gutes Sicherheitsprofil demonstrieren), gibt es in der Regel kaum Daten bezüglich Sicherheit, Wirksamkeit, Risiken und Nutzen einer medikamentösen Therapie für ältere Menschen sowie infolgedessen nur sehr wenige klare therapeutische Leitlinien für diese Altersgruppe. Dies wird oft als Spezialfall „Gerontomedizin“ oder „Gerontotherapie“ dargestellt; sie stellt aber quantitativ in der alltäglichen Medizin eher die Regel dar. Es besteht daher ein großer Bedarf, die Qualität der Individualisierung der Arzneimittelversorgung und damit letztlich die Lebensqualität älterer Menschen zu verbessern.

Ähnlich verhält es sich übrigens bei der Arzneitherapie für Kinder. Hier gibt es so gut wie keine klinischen Studien und sämtliche Dosierungen sind Schätzwerte. Viele Arzneimittel, die bei Kindern eingesetzt werden, sind nicht ausreichend an Kindern geprüft (welche Eltern würden ihr Kind schon für eine Arzneimittelstudie zur Verfügung stellen, außer es handelt sich um eine lebensbedrohliche Situation und die letzte Rettung) und deshalb auch nicht für Kinder zugelassen. Daher ist die geeignete – das heißt die zugleich wirksame und sichere – Dosierung in der Regel überhaupt nicht bekannt. Zusätzlich fehlt es häufig an für Kinder geeigneten Darreichungsformen. So sind Kinder- und Jugendmediziner häufig darauf angewiesen, Arzneimittel, die eigentlich nur an Erwachsenen ausreichend geprüft wurden, auch bei Kindern anzuwenden. Aber das nur am Rande. Kinder nehmen ja in der Regel nur gelegentlich und dann nur wenige Arzneimittel ein, haben also kein Polypharmazie-Problem.

Viele Medikamente fördern gerade bei älteren Patienten Verwirrtheit bis hin zur medikamentös verursachten Demenz, erhöhen die Sturzgefahr und verlängern die Behandlungszeiten im Krankenhaus. Um nun die Arzneimitteltherapie bei älteren Patienten sicherer zu machen und polypharmaziebedingte Krankenhauseinweisungen und Todesfälle zu vermeiden, wurden sogenannte Negativlisten entwickelt, zum Beispiel die Beers-Kriterien-Liste, die STOPP-Kriterien-Liste (Screening Tool of Older Person’s Prescription) oder die deutsche PRISCUS-Liste.29 Sie sind entwickelt worden, um die Optimierung von Medikationsschemata durch Streichung von Arzneimitteln zu unterstützen. Solche Negativlisten sind zwar einfach anzuwenden, da es sich um eindeutige Empfehlungen handelt, die keine vertieften Kenntnisse über den Patienten erfordern. Allerdings gibt es keine Untersuchung, ob durch diese Elimination von Arzneimitteln das Problem der Polypharmazie behoben ist, also weniger Krankenhauseinweisungen und Todesfälle vorkommen.30