Geheimakte Odessa - Clive Cussler - E-Book

Geheimakte Odessa E-Book

Clive Cussler

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Beschreibung

Exotische Orte, skrupellose Bösewichte – Dirk Pitt ist Kult!

Dirk Pitt, der Direktor der NUMA, unterstützt im Schwarzen Meer die Bergung eines Ottomanischen Schiffwracks. Da erreicht ihn der verzweifelte Hilferuf eines Frachters. Dieser wird angegriffen! Aber als Pitt und sein Partner Al Giordino den Schauplatz erreichen, entdecken sie nur noch Leichen. Pitt und Giordino stoßen auf auf einen Zusammenhang mit Schmugglern von radioaktivem Material, einem brillanten Entwickler von Kampfdrohnen und ukrainischen Rebellen. Diese Kombination wird zur größten Bedrohung, der Dirk Pitt jemals gegenüber stand!

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Buch

Dirk Pitt, der Direktor der NUMA, unterstützt im Schwarzen Meer die Bergung eines Ottomanischen Schiffwracks. Da erreicht ihn der verzweifelte Hilferuf eines Frachters. Dieser wird angegriffen! Aber als Pitt und sein Partner Al Giordino den Schauplatz erreichen, entdecken sie nur noch Leichen. Pitt und Giordino stoßen auf einen Zusammenhang mit Schmugglern von radioaktivem Material, einem brillanten Entwickler von Kampfdrohnen und ukrainischen Rebellen. Diese Kombination wird zur größten Bedrohung, der Dirk Pitt jemals gegenüberstand!

Autor

Seit er 1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand, ist jeder Roman von Clive Cussler ein »New-York-Times«-Bestseller. Auch auf der deutschen SPIEGEL-Bestsellerliste ist jeder seiner Romane vertreten. 1979 gründete er die reale NUMA, um das maritime Erbe durch die Entdeckung, Erforschung und Konservierung von Schiffswracks zu bewahren. Er lebt in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.

Dirk Cussler arbeitete nach seinem Studium in Berkeley viele Jahre lang in der Finanzwelt, bevor er sich hauptberuflich dem Schreiben widmete. Darüber hinaus nahm er an mehreren der über achtzig Expeditionen der NUMA teil.

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CLIVE CUSSLER

&

DIRK CUSSLER

Geheimakte Odessa

Ein Dirk Pitt Roman

Deutsch von Michael Kubiak

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Odessa Sea« bei Putnam’s Sons, New York.
Copyright der Originalausgabe © 2016 by Sandecker, RLLLP By arrangement with Peter Lampack Agency, Inc. 551 Fifth Avenue, Suite 1613 New York, NY 10176-0187 USA Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Joern Rauser Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (David W. Leindecker; freedarst; Alexyz3d; Sabphoto) und Maarten, CC-BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Tupolev_Tu-4_@_Central_Air_Force_Museum.jpg?uselang=de, (Bildveränderungen wie am Cover ersichtlich) Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling ISBN 978-3-641-20565-2 V002
www.blanvalet.de

PERSONEN

1917

Wadim Rostow Kapitän des russischen Zerstörers Kerch

Sir Leigh Hunt Britischer Sondergesandter und ehemaliger Generalkonsul in der englischen Botschaft in St. Petersburg

1955

Dimitri Sarchow Pilot des russischen Tupolew Tu-4 Bombers

Iwan Medew Kopilot des russischen Tupolew Tu-4 Bombers

Alexander Krajewski Flieger, russischer Tupolew Tu-4 Bomber

2017

NUMA-Team

Dirk Pitt Direktor der National Underwater and Marine Agency

Al Giordino Direktor der Abteilung Unterwassertechnologie, NUMA

Bill Stenseth Kapitän des NUMA-Forschungsschiffes Macedonia

Hiram Yaeger Direktor der Abteilung für Computer-Ressourcen, NUMA

Rudi Gunn Stellvertretender Direktor der National Underwater and Marine Agency

Summer Pitt Direktorin der Special-Projects-Abteilung, NUMA, und Tochter von Dirk Pitt

Dirk Pitt, Jr. Direktor der Special-Projects-Abteilung, NUMA, und Sohn von Dirk Pitt

Jack Dahlgren Spezialist für Unterwassertechnologie, NUMA

James Sandecker Vizepräsident der Vereinigten Staaten und ehemaliger Direktor der National Underwater and Marine Agency

Beamte, Agenten und militärisches Personal

Ana Belowa Sonderermittlerin, European Police Agency (Europol)

Petar Ralin Leutnant, Abteilung für Organisierte Kriminalität, Bulgarische Nationale Polizei

Maxim Federow Direktor der Abteilung für Spionageabwehr, Hauptverwaltung für Aufklärung des Russischen Militärnachrichtendienstes (GRU)

Viktor Mansfield Agent, GRU

Arsenij Markowitsch Kommandeur des 24. Territorial-Bataillons der Ukrainischen Streitkräfte (Bataillon Ajdar)

Martina Agent, GRU

Wladimir Popow Kommandant der russischen Fregatte Ladny

Deborah Kenfield Leitender Offizier des Aegis-Zerstörers USS Truxton

Wayne Valero Kommandant der Freiwilligen-Mannschaft der USS Constellation

Alexander Wodokow Außenministerium, Russische Botschaft, Madrid

Historiker, Experten und Mediziner

Georgi Dimitow Archäologe des Bulgarischen Kultusministeriums

Dr. Anton Kromer Chef-Archivar, Staatliches Historisches Museum Moskau

Dr. Steven Miller orthopädischer Chirurg, Muncie, Indiana

St. Julien Perlmutter Schifffahrtshistoriker und langjähriger Freund von Dirk Pitt

Dr. Charles Trehorne Professor für Meeresarchäologie, Oxford

Cecil Hawker Major, Regimentshistoriker, Royal Gibraltar Regiment

Andere

Martin Hendriks niederländischer Industrieller, Eigentümer der Peregrine Surveillance Corporation

Valentin Mankedo Eigentümer der Bergungsfirma Thracia Salvage

Ilya Vasko Partner von Thracia Salvage, Vetter von Valentin Mankedo

Brian Kennedy Austernfischer in der Chesapeake Bay und Eigner des Austernboots Lorraine

PROLOG

Wo fürchtende Stille herrscht

FEBRUAR 1917

SCHWARZES MEER

Wie Irrlichter des Todes tanzten weiß leuchtende Punkte am Horizont. Kapitän Wadim Rostow von der Kaiserlich Russischen Marine zählte fünf helle Flecken, jeder stammte von einem osmanischen Kriegsschiff, das in der Einfahrt des Bosporus Posten bezogen hatte. In dieser klaren, kalten Nacht waren seine Befehle simpel und eindeutig. Er sollte den Feind mit seinem Zerstörer angreifen und die Blockade aufbrechen. Dabei kam er sich vor wie jemand, von dem verlangt wurde, mit einem frisch geschlachteten Lamm auf dem Rücken durch einen Käfig voller hungriger Löwen zu kriechen.

Er biss fester auf den kalten Stummel einer türkischen Zigarre, die er zwischen seinen schiefen Zähnen hielt. Die dunklen, harten Augen in dem wettergegerbten Gesicht hatten die Auswirkungen unzureichender Schlachtpläne zur Genüge gesehen – zunächst während des Russisch-Japanischen Krieges im Jahr 1904 und dann noch einmal im Verlauf der Kriegshandlungen im Schwarzen Meer während der letzten vier Jahre. Rostow blickte auf fast dreißig Jahre Dienst in der Kaiserlich Russischen Marine zurück, aber alles, was er in diesen Jahrzehnten gelernt und an Erfahrungen gesammelt hatte, war nun in der Auflösung begriffen und wurde bedeutungslos. Vielleicht war es doch keine so große Schande, wenn seine Karriere mit einem Himmelfahrtskommando zu Ende ginge.

Er befahl einem jungen Leutnant, einen Signalgast zu suchen und auf die Kommandobrücke zu beordern, dann wandte er sich an den lebenden Schatten neben sich. Der Gast war ein hünenhafter Soldat in der Uniform eines Kaiserlichen Leibwächters aus dem Preobraschensker Garde-Regiment.

»Was das Schicksal für uns bereithält, wird schon bald offenkundig sein und die Sinnlosigkeit unserer Mission bestätigen«, sagte Rostow.

»Es wird keine anderen Anweisungen geben«, erwiderte der Soldat.

Rostow konnte den Mann nur bewundern. Seit er in Odessa mit den Befehlen an Bord des Zerstörers gekommen war, stand er wie eine Säule neben ihm, das Gewehr fest im Griff. Es waren Befehle, konnte der Kapitän feststellen, die von niemand Geringerem als Admiral Koltschak persönlich, dem Kommandeur der Kaiserlichen Marine, unterzeichnet worden waren. Rostow war sich ziemlich sicher, dass der Soldat direkten Zugang zu den höchsten Führungsrängen der Armee gehabt hatte, aber nur sehr wenig über die reale Welt außerhalb des Militärs wusste. Das kaiserliche Russland wäre schon bald nicht mehr als eine Erinnerung, hinweggefegt von den Kräften der Revolution. Die Tage seiner Position im Universum, in der der Soldat der bislang noch herrschenden Staatsmacht diente, waren gezählt. Im Hafen von Odessa kursierten Gerüchte, dass die Bolschewiki bereits mit den Mittelmächten, zu denen auch die Türkei zählte, einen Friedensvertrag geschlossen hätten. Rostow musste innerlich grinsen. Vielleicht ließen die vor ihnen postierten osmanischen Schiffe sie passieren und überschütteten sie noch mit Wein und Feigen.

Derlei Überlegungen wurden durch ein leises Pfeifen über ihren Köpfen zerstreut, als eine Zwölfeinhalb-Zentimeter-Geschützgranate hinter ihnen im Meer einschlug.

»Die türkischen Kanoniere sind bei weitem nicht so zielsicher wie die deutschen«, sagte Rostow, »aber sie werden sich schon bald eingeschossen haben und ihr Ziel finden.«

»Der Feind ist in jeder Hinsicht unterlegen, und Sie sind ein gewiefter Taktiker«, sagte der Soldat.

Rostow lächelte. »Ein gewiefter Taktiker würde jedes Risiko meiden und sich an einem anderen Tag zum Kampf stellen.«

Der Signalgast des Schiffes, ein blutjunger Wehrpflichtiger in schlecht sitzender Uniform, meldete sich zum Dienst. »Kapitän?«, fragte er.

»Nehmen Sie Verbindung mit unserer Begleitung auf. Signalisieren Sie ihnen, sie sollen ihre Mission fortsetzen, während wir versuchen, den Feind abzulenken und nach Westen zu locken. Und wünschen Sie ihnen Glück.«

»Jawohl, Kapitän.« Der Marinesoldat verließ die Kommandobrücke.

Rostow wandte sich an den Gardisten. »Es wäre schön, wenn es jemanden gäbe, der auch uns Glück wünscht.«

Der Gardist musterte den Kapitän mit eisigem Blick und sagte kein Wort.

Rostow trat auf die Brückennock hinaus und beobachtete, wie der Signalgast einem auf der Backbordseite tief im Wasser und auf gleicher Höhe liegenden Schiff mit der Morselampe die gewünschte Nachricht übermittelte. Während der Signalscheinwerfer des anderen Schiffes die Antwort blinkte, erschien vor Rostows geistigem Auge für wenige Sekunden eine tödliche Vision. Das gesamte Unternehmen war der reine Wahnsinn. Vielleicht sollte er den Kurs des Zerstörers ändern und das benachbarte Schiff rammen. Und es selbst versenken, wohl wissend, was es transportierte. Wie viele müssten wegen der Eitelkeit des Zaren noch sterben?

Er verfluchte sein eigenes närrisches Ehrgefühl. Tatsache war, dass es mit der Gefolgschaftstreue innerhalb der Marine nicht mehr weit her war. Das bewies die Meuterei auf der Potemkin. Und diese hatte zehn Jahre vor der augenblicklichen Revolution stattgefunden. Die Mannschaften zahlreicher Schiffe der Flotte hatten bereits ihre Sympathie mit den Bolschewiki bekundet. Die Loyalität seiner eigenen Mannschaft stand in Frage, aber zumindest gab es bislang keinerlei Anzeichen für eine drohende Meuterei – noch nicht. Die Männer wussten ebenso wie er, dass die Kaiserliche Marine am Ende war. Unwillkürlich schüttelte Rostow den Kopf. Er hätte in Odessa das Schiff verlassen und sich in die Karpaten verkrümeln sollen, wie einige klügere Offiziere es getan hatten.

Eine weitere Mörsergranate pfiff über ihre Köpfe hinweg. Angesichts des feindlichen Beschusses rief die Pflicht, und er kehrte steifbeinig auf seinen Platz auf der Kommandobrücke zurück. Pflicht, dachte er, war in diesem Fall nur ein anderes Wort für Tod.

Die Männer der Brückenmannschaft standen einsatzbereit auf ihren Posten und sahen ihn erwartungsvoll an.

»Volle Kraft voraus«, wies er den Junior-Offizier an. »Rudergänger, gehen Sie auf Kurs zweihundertvierzig Grad.«

»Geschützbatterien feuerbereit, Kapitän.« Der Leutnant verschob den Messinggriff des Schiffstelegrafen, um die vom Kapitän geforderte Steigerung der Geschwindigkeit an den Maschinenraum zu übermitteln.

»Alle Geschützbatterien sollen das letzte Schiff am östlichen Ende der Sperrkette unter Beschuss nehmen«, befahl Rostow.

Der Schornstein des russischen Zerstörers stieß schwarze Rauchwolken aus. Die Kerch, wie der Name des Schiffes lautete, erzitterte, als die Dampfturbinen auf ihre höchste Drehzahl heraufgefahren wurden.

Die Änderung von Kurs und Geschwindigkeit überraschte die feindlichen Geschütze, und die von ihnen abgefeuerten Granaten landeten hinter dem Zerstörer im Meer – ohne Schaden anzurichten. Rostow blickte zu den Lichtern der türkischen Schiffe hinüber, die nun nach Backbord wanderten, während der Zerstörer den Kurswechsel vollzog und nach Westen dampfte. Als sie Odessa zwei Tage zuvor in Begleitung der Gnevny, ebenfalls ein leichter Zerstörer, verlassen hatten, war das Kräfteverhältnis noch weniger furchteinflößend gewesen. Aber unterwegs hatte die Gnevny mit Problemen der Antriebswelle zu kämpfen gehabt und daher umkehren müssen. Rostow hatte nicht so viel Glück. Er würde es mit der feindlichen Streitmacht alleine aufnehmen müssen.

Der Kapitän wartete damit, das Feuer zu erwidern, bis eine Granate nur zehn Meter vom Schiff entfernt ins Meer stürzte und das Deck mit einem Wasserschwall überspülte. Alle vier Zehn-Zentimeter-Geschütze des Zerstörers feuerten gleichzeitig und spuckten Flammen in den Nachthimmel.

Durch Geschick und reines Glück traf eins der russischen Geschosse sein Ziel und schlug im Munitionslager des Schiffes ein. Rostow blickte durch sein Fernglas, als das osmanische Schiff von einem Feuerball verschlungen wurde.

»Lassen Sie das nächste Schiff westlich davon ins Visier nehmen«, sagte er zu dem Leutnant. Es war ein außerordentlicher Glückstreffer gewesen. Seine Strategie – und seine Hoffnung – zielte darauf ab, die beiden Schiffe, die den östlichen Teil der Einfahrt absperrten, außer Gefecht zu setzen oder zumindest erheblich zu beschädigen und die restlichen Schiffe zu verleiten, die Jagd auf ihn zu eröffnen. Es wäre die einzige Möglichkeit, die Mission erfolgreich abzuschließen.

Flammenblitze und Donnerschläge erfüllten die Nacht. Die osmanischen Schiffe jagten Breitseite nach Breitseite hinaus, die jedes Mal von der geballten Feuerkraft des Zerstörers beantwortet wurden. Das russische Schiff war erstaunlich schnell und bewahrte eine sichere Distanz zu den türkischen Kanonieren. Aber der Abstand verringerte sich, als zwei der osmanischen Schiffe umschwenkten und direkten Kurs auf die Kerch nahmen.

»Treffer! Auf dem zweiten Schiff«, rief der Leutnant.

Rostow nickte zufrieden. Er hatte die versierteste und erfahrenste Geschützmannschaft der gesamten Schwarzmeerflotte an Bord, wie das augenblickliche Kampfgeschehen bewies. Er wandte sich an den Leibgardisten, der das Flammeninferno am Horizont beobachtete. »Vielleicht findet Ihre kaiserliche Irrfahrt doch noch ein gutes Ende.«

Der Gardist verzog das Gesicht zum Anflug eines Lächelns. Seit zwei Tagen war dies die erste menschliche Reaktion, die er sich gestattete. Dann verschwand er plötzlich in einer explodierenden Wolke schwarzen Rauchs.

Eine türkische Geschützgranate hatte an Backbord den Rand des Oberdecks getroffen. Als eine Flammensäule himmelwärts schoss, wurden die Männer auf der Kommandobrücke umgerissen.

»Rudergänger! Neuer Kurs dreihundertsechzig Grad!«, rief Rostow, ehe er sich wieder auf die Füße kämpfte. Zu seiner Linken lag der Gardist mit dem Gesicht auf dem Deck, im Rücken klaffte eine tiefe Wunde, aus der ein Granatsplitter herausragte.

Der Rudergänger wiederholte den Befehl, zog sich am Speichenrad des Ruders hoch und drehte es bis zum Anschlag nach rechts. Aber das Ausweichmanöver erfolgte zu spät. Die Türken hatten ihr Ziel aufgefasst, und eine weitere Geschützsalve regnete nun auf den Zerstörer herab. Der erste Treffer sprengte den Bug, während eine zweite Granate mittschiffs einschlug und den Rumpf aufriss. Das Schiff schüttelte sich, als Wasser in die vorderen Abschnitte eindrang, das Heck angehoben wurde und die rotierenden Propeller aus dem Wasser auftauchten.

Inmitten des Chaos auf der Brücke fand Rostow ein Megafon und gab der Mannschaft den Befehl, das Schiff zu verlassen. Der Leutnant beeilte sich, auf dem Steuerborddeck ein Rettungsboot flottzumachen. Als Rostow auf die Kommandobrücke zurückkehrte, stand der Rudergänger stocksteif hinter dem Rad und krampfte die Hände so heftig um die Speichen, dass die Knöchel weiß hervortraten.

»Sascha, such dir eine Schwimmweste und sieh zu, dass du vom Schiff runterkommst«, sagte Rostow mit sanfter Stimme. Er holte leicht aus und versetzte dem Jungen mit der Rückhand eine leichte Ohrfeige.

Aus seiner Angststarre aufgeschreckt, verließ der Rudergänger schwankend die Kommandobrücke, wobei er benommen murmelte: »Ja, Kapitän. Ja, Kapitän.«

Rostow blieb als Einziger auf der Kommandobrücke. Ein lauter, dumpfer Knall im Schiffsheck ließ den stählernen Rumpf erzittern. Ein Treibstofftank war geplatzt, und sein Inhalt hatte sich explosionsartig entzündet. Rostow hatte Mühe, das Gleichgewicht zu behalten, und suchte tastend nach seinem Fernglas. Er schaute mit Augen, die vom Qualm brannten, hindurch und suchte das Meer jenseits der Flammenwand ab, die von dem schräg geneigten Deck hochloderte.

Nur für einen winzigen Moment konnte er einen Blick auf das Objekt seines Interesses erhaschen. Ein einzelner Mast, der anscheinend aus dem Wasser herausragte, entfernte sich in zügiger Fahrt in Richtung Bosporus und zog eine schmale Heckwelle hinter sich her. Ein Pfeifen ertönte über seinem Kopf, während der Kapitän der verschwindenden Erscheinung einen letzten Abschiedsgruß hinterherschickte. »Auftrag ausgeführt«, murmelte er.

Eine Sekunde später schlugen die beiden Mörsergranaten ein, radierten die Kommandobrücke aus und schickten die zertrümmerten Überreste des Kriegsschiffs auf den Meeresgrund hinab.

APRIL 1955

SCHWARZES MEER

Eisblaue Blitze zuckten vor Dimitri Sarchows müden Augen. Mit einem heftigen Blinzeln vertrieb der Pilot die Lichtpunkte auf seinen Netzhäuten und konzentrierte sich wieder auf die Anzeigeinstrumente und Skalen des Armaturenbretts. Im Sichtfenster des Höhenmessers zitterte die Zweitausendsechshundert-Meter-Markierung. Eine heftige Windböe zerrte am Steuerknüppel, und die schwere Maschine war kaum einen Pulsschlag später um dreißig Meter abgesackt.

»Verdammtes Gewitter.« Der Kopilot, ein Mann namens Medew mit einem Mondgesicht, wischte mit einem Taschentuch Tropfen von Kaffee weg, die aus einer Tasse auf sein Hosenbein gespritzt waren.

Sarchow schüttelte den Kopf. »Die Wetterzentrale nannte dies hier eine leichte Tiefdruckfront.« Dicke Regentropfen zerplatzten auf der Windschutzscheibe, sodass vom nächtlichen Himmel nichts mehr zu erkennen war.

»Die können ein Gewitter nicht von einem Feuerwerk unterscheiden. Möchte bloß wissen, wer in der Flugleitung die geniale Idee hatte, uns bei diesem Wetter zu einer Flugübung starten zu lassen. Vor allem wenn man sich überlegt, was wir an Bord haben.«

»Ich gehe fünfhundert Meter tiefer, wo die Luft vielleicht ein wenig ruhiger ist.« Sarchow stemmte sich gegen den Steuerknüppel.

Sie kämpften sich in einer Tupolew Tu-4 durch den Gewittersturm – dies war ein schwerer viermotoriger Langstreckenbomber mit einer Flügelspannweite von dreiundvierzig Metern, die der Höhe eines mehrstöckigen Hauses entsprach. Über dem Motorenlärm war das Knirschen und Ächzen der Flugzeugzelle zu hören. Eine heftige Turbulenz schüttelte die Maschine durch und löste das hektische Blinken einer roten Warnlampe auf der Instrumententafel aus.

»Die Bombenschachtklappe«, stellte Sarchow fest. »Wahrscheinlich hat sie den Sensor gestreift.«

»Oder unsere Elektronik spielt mal wieder verrückt.« Medew rief den Bombenschützen, um sich zu informieren, erhielt jedoch keine Antwort. »Wassili schläft wahrscheinlich. Ich gehe nach hinten und sehe nach. Wenn die Bombenschachtklappe offen steht, befördere ich ihn vielleicht mit einem Fußtritt nach draußen.«

Sarchow grinste verkniffen. »Pass bloß auf, dass nicht noch was anderes rausfällt.«

Medew erhob sich aus seinem Sitz und schlängelte sich durch den Flugzeugrumpf zum Heck. Nach ein paar Minuten kehrte er ins Cockpit zurück. »Die Klappen sind geschlossen und offenbar intakt, die Ladung ist sicher. Und Wassili hat tatsächlich geschlafen. Dafür hat er jetzt einen Abdruck meines Stiefels auf dem Rücken.«

Das Flugzeug legte sich plötzlich auf die Seite und sackte ab. Ein lautes Dröhnen erklang im Heck der Maschine, während Medew gegen eine Instrumentengruppe über seinem Kopf geschleudert wurde. Der Kopilot sackte in seinem Sitz zusammen, wobei seine Beine die Gashebel der Steuerbordmotoren blockierten.

»Iwan?«, rief Sarchow. Ein Blutfaden sickerte über Medews Stirn. Sarchow beugte sich über ihn und versuchte, die Gashebel zurückzuziehen. Aber angesichts der Körpermasse des bewusstlosen Kopiloten und seiner verkeilten Beine hatten diese Bemühungen nur geringen Erfolg.

Um Sarchow herum schien die Welt zu explodieren. Die Instrumententafel war ein Durcheinander von blinkenden Warnlampen und Alarmsignalen, und aus seinem Kopfhörer drangen die Schreie seiner Männer. Der Bomber befand sich im Zentrum eines mörderischen Unwetters und wurde von brutalen Windböen attackiert. Während er verzweifelt darum kämpfte, die Kontrolle über die Maschine zu behalten, nahm Sarchow einen stechenden Geruch wahr. Die Kakophonie der verzweifelten Stimmen in seinem Headset reduzierte sich auf eine einzige panische Stimme.

»Kapitän, hier spricht der Navigator. Es brennt. Ich wiederhole, wir haben ein Feuer im Reserve-Fluggenerator. Navigation und Sprechfunk sind ausgef…«

»Navigator, sind Sie da? Wassili? Fodorski?«

Keine Antwort.

Rauch wallte ins Cockpit und brannte in Sarchows Augen. Durch den Dunst nahm er eine weitere Reihe von Warnlichtern wahr. Die Temperatur der hochtourig dröhnenden Steuerbordmotoren, deren Ölleitungen geplatzt waren, stieg in gefährliche Bereiche.

Der Pilot drückte die Nase des Bombers nach unten, als er die Gashebel der Steuerbordmotoren gegen Medews schlaffe Beine presste. Den Höhenmesser im Auge behaltend verfolgte er, wie der Bomber in den Sinkflug ging. Er beabsichtigte, die Maschine bei eintausend Metern abzufangen und der Mannschaft den Befehl zum Aussteigen zu geben. Aber ein greller Lichtschein außerhalb des Seitenfensters vereitelte dieses Vorhaben. Überhitzt und von der lebenswichtigen Schmierölzufuhr abgeschnitten, fing der innere Steuerbordmotor Feuer und verschwand in einem Meer aus Flammen.

Sarchow zog die Gashebel der Backbordmotoren zurück, ohne eine spürbare Wirkung zu erzeugen. Während die Maschine an Höhe verlor, wurden die Turbulenzen heftiger. Er wies die Crew an, sofort auszusteigen, hatte jedoch keine Ahnung, ob ihn überhaupt jemand hören konnte. Bei eintausend Metern füllte sich die Kabine mit schwarzem Qualm. Nach weiteren fünfhundert Metern Sturzflug spürte er die Hitze der Flammen, die durch die Rückwand des Cockpits drang.

Schweiß tropfte von seiner Stirn – das rührte nicht von der kochenden Luft in der Kabine, sondern von der Anstrengung her, den rasenden Sinkflug der riesigen Maschine unter Kontrolle zu halten. An sein eigenes Aussteigen brauchte er keinen Gedanken zu verschwenden, nicht bei der Flammenwand, die er dazu überwinden müsste, und angesichts der Notwendigkeit, Medew im Stich zu lassen. Seine einzige Möglichkeit war, das Flugzeug zur Erde zu bringen, bevor Seitenruder- und Querruderkontrollen ein Raub der Flammen wurden. Er drückte den Steuerknüppel weiter nach vorn, um in ruhigere Luftschichten vorzustoßen und sich einen Landeplatz zu suchen.

In einhundert Metern Höhe über Grund schaltete er die Landescheinwerfer ein, aber der dichte Regen verhüllte die Sicht vollkommen. Befanden sie sich über Festland? Er glaubte eine schwarze, konturlose Fläche zu erkennen.

Die Flammen fraßen sich ins Cockpit und entzündeten die Flugpläne auf einem Klemmbrett, das zwischen dem Piloten- und Kopilotensitz vom Cockpitdach herabhing. Sarchow atmete tief durch, unterbrach die Treibstoffzufuhr zu den drei intakten Motoren und spürte dabei, wie das Flugzeug augenblicklich absackte.

Aus der Ferne betrachtet erschien der Bomber wie ein glühender Komet mit loderndem Flammenmantel. Der Feuerball stürzte durch die schwarze, regengepeitschte Nacht in den vom Sturm aufgewühlten Ozean und verschwand, als hätte er niemals existiert.

TEIL I

Die Nebel der Tiefe

1

JULI 2017

Schwarzes Meer

Ein mattes Leuchten bedeckte den südlichen Horizont wie eine flauschige Glasur. Obgleich Istanbul noch mehr als fünfundsiebzig Kilometer weit entfernt war, erhellte der elektrische Glanz seiner vierzehn Millionen Einwohner den nächtlichen Himmel wie ein gigantischer Laternenzug. Dem Lichtschein langsam entgegenstampfend wühlte sich ein von Wind und Wetter gezeichneter schwarzer Frachter durch eine kabbelige See. Das Schiff lag tief im Wasser und traf gelegentlich auf eine höhere Welle, die sich schäumend am Bug brach, für Sekunden das Vorschiff in einer Gischtwolke verschwinden ließ und das Hauptdeck fast bis zur Schiffsmitte überspülte.

Auf der breiten Kommandobrücke drehte der Rudergänger das Rad ein wenig nach Backbord, um eine steife Brise auszugleichen, die das Schiff von seinem Kurs abzulenken drohte.

»Geschwindigkeit?«

Die Frage kam von einem bärtigen Mann, der sich über einen Kartentisch beugte. Seine grauen Augen hatten einen glasigen Glanz und waren blutunterlaufen. In der Art und Weise, wie er seine Frage stellte, war ein leichtes Lallen nicht zu überhören. Seine schweißgetränkte Kleidung verriet, dass Hygiene nicht zu seinen vordringlichsten Bedürfnissen zählte. Wie die Mannschaft aus Erfahrung wusste, hatte der Kapitän während der beiden Tage, nachdem das Schiff den Hafen verlassen hatte, bereits seine dritte Flasche Wodka in Angriff genommen.

»Acht Knoten, Käpt’n«, sagte der Rudergänger.

Der Kapitän nahm die Auskunft mit einem Knurren zur Kenntnis und überschlug im Kopf die Zeit, die sie brauchen würden, um den Bosporus zu passieren.

Eine der Seitentüren, die zur Brückennock führten, wurde geöffnet, und ein bewaffneter Mann in brauner Tarnkleidung trat ein. Er näherte sich dem Kapitän, dessen glasiger Blick ihn flüchtig streifte, mit einer Haltung, die Sorge und Verachtung zugleich ausdrückte. »Die See wird rauer. Die Brecher ergießen sich bereits über die Decks.«

Der Kapitän fixierte nun den Mann und kicherte spöttisch. »Sind Sie sicher, dass es nicht nur Ihre Kotze ist, die man auf meinen Decks findet?«

Grün um die Nase, fand der bewaffnete Mann die Bemerkung nicht im Mindesten spaßig. »Ich bin für die Ladung verantwortlich. Vielleicht sollten wir lieber einem Kurs folgen, der näher an der Küste verläuft.«

Der Kapitän schüttelte den Kopf. Er hatte schon ein ungutes Gefühl gehabt, als der Schiffseigner ihn wenige Minuten vor ihrer Abfahrt in Sewastopol angerufen und instruiert hatte, noch eine weitere Fracht zu übernehmen. Die bewaffneten Männer, die in einem ramponierten Kastenwagen erschienen, steigerten nur noch sein Misstrauen, als er sie dabei beobachtete, wie sie einen großen stählernen Behälter ausluden. Dann hatte er lautstark protestiert, als sie darauf bestanden, die Kiste im Maschinenraum zu deponieren, seinen Widerstand jedoch schnell aufgegeben, als man ihm einen Stapel druckfrischer Rubelscheine zusteckte. Nun musste er sich mit einem der beiden bewaffneten Männer herumschlagen, die die geheime Fracht begleiteten.

»Verschwinden Sie von meiner Brücke, Sie verdammter Narr. Dieser Seegang ist etwas für Kinder. Die Crimean Star wird mit Wellen fertig, die fünf Mal höher sind, und bringt Ihre Fracht immer noch sicher ans Ziel.«

Der bewaffnete Mann balancierte die Bewegungen des Schiffes aus und sah den Kapitän drohend an. »Die Fracht wird planmäßig geliefert – oder ich sorge dafür, dass Sie in Zukunft das Deck eines Eisbrechers in Murmansk schrubben dürfen.« Der Mann trat wieder auf die Brückennock hinaus. Er blieb in der Nähe der Tür und trotzte dem Wind, der seine Seekrankheit ein wenig erträglicher machte.

Der Kapitän ignorierte ihn, studierte weiterhin seine Seekarten und vergewisserte sich, dass sich das Schiff noch auf dem richtigen Kurs befand.

Der Frachter setzte seine rollende Fahrt für weitere zwanzig Minuten fort, ehe sich der Rudergänger wieder zu Wort meldete. »Käpt’n, von der Seite nähert sich ein Schiff, das offenbar den gleichen Kurs hat wie wir.«

Der Kapitän verließ seinen Platz am Kartentisch und trat ans Ruder. Er warf einen Blick auf den Radarschirm, auf dem der grüne Punkt eines Schiffes zu erkennen war, das sich ihnen von achtern näherte. Ein schwacher, kleinerer Leuchtpunkt erschien für einen winzigen Moment etwa eine Meile vor dem Schiff. »Achtung, neuer Kurs zweihundertdreißig Grad.«

»Ruder verstanden, zweihundertdreißig Grad.« Der Rudergänger kurbelte am Steuerrad.

Der Frachter schwenkte langsam in die neue Richtung. Wenige Minuten später war zu beobachten, dass das verfolgende Schiff das gleiche Manöver ausführte.

Mürrisch verzog der Kapitän die Miene. »Wahrscheinlich ein unerfahrener Steuermann, der einen Führer durch die Meerenge braucht. Halten Sie diesen Kurs.«

Nach einem kurzen Moment hallte ein dumpfer Laut über die Wellen, gefolgt von einer leichten Schwingung, die durch das ganze Schiff lief.

»Was war das?«, fragte der Bewaffnete, der die geheimnisvolle Fracht begleitete.

Der Kapitän blickte durch das Brückenfenster und hielt Ausschau nach der Geräuschquelle.

»Käpt’n, es war eine Explosion im Wasser.« Der Rudergänger deutete in die Richtung des Bugs. »Direkt vor uns.«

Der Kapitän folgte dem ausgestreckten Finger des Steuermanns und entdeckte die schäumenden Überreste einer in sich zusammenfallenden Wassersäule etwa einhundert Meter vor dem Schiff.

»Maschine, ein Drittel Kraft voraus.« Er griff nach einem Fernglas.

Außer einer nahezu kreisrunden Fläche schaumgekrönter Wellen gab es nur wenig zu sehen. Er blickte durch das hintere Brückenfenster und stellte fest, dass die Positionslichter des verfolgenden Schiffes näher gekommen waren. Tatsächlich waren es zwei Schiffe – ein großes Arbeitsschiff mit einem Lastkahn im Schlepptau.

Ein beißender Geruch hüllte die Kommandobrücke ein, anfangs war er noch kaum wahrnehmbar, dann überwältigend. Der bewaffnete Mann an der Tür zur Brückennock spürte die Wirkung zuerst. Er würgte und hustete, ließ die Pistole fallen und sank auf die Knie. Der Steuermann folgte seinem Beispiel, rang verzweifelt nach Luft und brach auf dem Deck zusammen.

Da seine Sinne vom Alkohol benebelt waren, verspürte der Kapitän die unsichtbare Attacke verspätet. Während die beiden Männer, die mit ihm die Kommandobrücke bevölkerten, verstummten und stocksteif auf dem Deck liegen blieben, versuchte er zu begreifen, was sich vor seinen Augen abspielte. Irgendwo in nächster Nähe hörte er einen Pistolenschuss, dann hatte er das Gefühl, als zöge sich seine Kehle zusammen. Sein Puls raste, während er nach Luft rang. Er taumelte zum Steuerstand, angelte das Sprechfunkgerät aus seiner Halterung und rief mit krächzender Stimme: »Mayday! Mayday! Hier ist die Crimean Star. Wir werden angegriffen und brauchen Hilfe!«

Verwirrung und Angst wurden von einem elementaren Schmerz überlagert. Einige Sekunden lang stand er schwankend neben dem verwaisten Steuerrad, bis das Sprechfunkgerät seinen Händen entglitt und er selbst tot aufs Deck stürzte.

2

»Sir, wir erhalten auf dem Notrufkanal keine Antwort.« Der jugendliche Dritte Offizier schaute von der Konsole der Kommunikationsstation zu dem schlanken Mann hinüber, der den Radarschirm studierte.

Dirk Pitt nickte bestätigend, ohne den Blick auch nur für eine Sekunde vom Radarschirm zu lösen. »In Ordnung, Chavez. Geben Sie ihnen Bescheid, dass wir unterwegs sind. Danach sollten Sie am besten den Kapitän wecken.«

Pitt richtete sich zu seiner vollen Größe auf und wandte sich an den Steuermann. »Der Bosporus liegt hinter uns, deshalb können Sie wieder auf volle Fahrt gehen. So wie es aussieht, beträgt die Entfernung zur Crimean Star etwa dreizehn Meilen. Setzen Sie einen Kurs von fünfundfünfzig Grad, und holen Sie an Tempo alles heraus, was das Schiff hergibt.«

Während der Steuermann den Befehl ordnungsgemäß wiederholte, rief Pitt per schiffsinterner Sprechanlage den Maschinenraum und informierte den Chefingenieur über die Gründe für das überraschende Manöver. Noch während des Gesprächs steigerte sich die Drehzahl der Zwillingsschrauben, und das dumpfe Dröhnen der PS-starken Dieselmotoren ließ das gesamte fünfzig Meter lange ozeanographische Forschungsschiff erzittern. Ein paar Minuten später erschien ein athletischer, rotblonder Mann namens Bill Stenseth auf der Kommandobrücke. Ihm folgte der Dritte Offizier Chavez, der sofort seinen Platz an der Funkstation wieder einnahm.

Stenseth unterdrückte ein Gähnen. »Wir haben ein Mayday-Signal aufgefangen?«

»Einen einzigen Notruf von einem Schiff namens Crimean Star«, bestätigte Pitt. »Ein Massengutfrachter, der unter rumänischer Flagge fährt. Das Schiff befindet sich etwa ein Dutzend Meilen vor uns auf direktem Kurs in Richtung Hafen.«

Stenseth blickte auf den Radarschirm, dann bemerkte er die zunehmende Geschwindigkeit seines eigenen Schiffes. »Wissen wir etwas über die Art ihrer Notlage?«

»Alles, was wir aufgefangen haben, war ein einzelner Notruf. Chavez hat sie wiederholt angefunkt, aber keine Antwort erhalten.« Pitt tippte mit einem Finger auf den Radarschirm. »So wie es aussieht, sind wir das nächste Schiff in der Region.«

»Die türkische Küstenwache unterhält vielleicht in der Nähe einen Stützpunkt, von dem aus ein schnelles Eingreifen möglich ist.« Er wandte sich an den Dritten Offizier. »Versuchen Sie doch mal, sie zu erreichen, Chavez.«

Pitt nahm ein tragbares Sprechfunkgerät aus einer Ladestation und ging zu einer Brückennocktür. »Chavez, könnten Sie anschließend Al Giordino rufen und ihm bestellen, dass ich ihn in zehn Minuten auf dem Achterdeck erwarte? Ich bereite ein Zodiac-Boot vor, nur für den Fall, dass wir an Bord gebraucht werden. Geben Sie mir Bescheid, wenn wir starten können.«

»Wird gemacht«, sagte Chavez.

Während Pitt sich bereits anschickte, die Kommandobrücke zu verlassen, warf Stenseth einen Blick auf einen Chronometer am Brückenschott neben dem Steuerstand. Die Zeiger standen auf zwei Uhr morgens. »Was hatten Sie eigentlich um diese Zeit auf der Kommandobrücke zu suchen?«

»Ein loser Davit schlug ständig gegen mein Kabinenschott und weckte mich. Nachdem ich ihn fixiert hatte, bin ich heraufgekommen, um nachzusehen, wo wir sind.«

»Da hat sich wohl Ihr sechster Sinn gemeldet, würde ich sagen.«

Pitt lächelte versonnen, während er die Kommandobrücke verließ. Im Laufe der Jahre hatte er offenbar eine besondere Fähigkeit entwickelt, Probleme in seiner Umgebung aufzuspüren. Vielleicht war es aber auch so, dass er die Probleme magisch anzog.

Der Direktor der National Underwater and Marine Agency stieg zwei Stockwerke abwärts, dann eilte er über das Hauptdeck zum Heckabschnitt des ozeanographischen Forschungsschiffes. Der Motorenlärm, der aus dem Maschinenraum heraufdrang, verriet, dass der türkisfarbene Rumpf der Macedonia mit siebzehn Knoten Höchstgeschwindigkeit durch die Wellen pflügte und eine schnurgerade schäumende Kiellinie in die schwarzen Fluten des Bosporus zeichnete. Die Macedonia war eins von mehreren Dutzend Forschungsschiffen der NUMA-Flotte, die in ständigem Einsatz auf den Weltmeeren kreuzten und vielfältige wissenschaftliche Untersuchungen durchführten.

Auf dem Achterdeck löste Pitt die Leinen des Zodiac-Schlauchboots, mit denen es in einem Tragegerüst festgezurrt war, und schlug die Persenning zurück, die das Bootsinnere zwischen den Einsätzen vor Regen schützte. Er überprüfte noch den Inhalt des Treibstofftanks, und dann klinkte er ein Kranseil in die dafür vorgesehenen Ösen auf den Seitenwülsten des Bootes ein. Da einem sofortigen Einsatz des Zodiac nichts mehr im Wege stand, trat er an die Heckreling des Forschungsschiffes und hielt nach den fernen Lichtern der Crimean Star Ausschau.

Eigentlich sollte er gar nicht an diesem Ort sein, dachte Pitt. Er war am Tag zuvor in Istanbul an Bord der Macedonia gegangen, nachdem er ziemlich überstürzt sein Büro in der NUMA-Zentrale in Washington D.C. verlassen hatte. Eine dringende, kurzfristig geäußerte Bitte des bulgarischen Kultusministeriums, bei der Suche nach einem verschollenen osmanischen Schiff behilflich zu sein, hatte ihn um den halben Erdball hierhergelockt.

Zwanzig Minuten später stoppte das NUMA-Forschungsschiff in sicherer Entfernung neben dem schwarzen Frachter, der trotz eingeschalteter Positionslampen und Decksbeleuchtung stumm und ohne Lebenszeichen wie ein Geisterschiff in den Wellen der Meerenge trieb. Kapitän Stenseth stand auf der Kommandobrücke der Macedonia und inspizierte das Handelsschiff durch ein Nachtfernglas.

»Noch immer keine Antwort von dem Frachter«, sagte Chavez. »Die türkischen Behörden melden, dass ein Kutter unterwegs ist und in Istanbul ein Hubschrauber in Marsch gesetzt wurde, der in sechsundzwanzig Minuten hier eintreffen soll.«

Stenseth nickte, ohne das Fernglas abzusetzen. Nichts rührte sich an Bord des fremden Schiffes. Er warf einen Blick auf den Radarschirm. In einer halben Meile Entfernung bewegte sich ein Lichtpunkt von dem Frachter weg. Als er wieder durchs Fernglas blickte, gewahrte er die vagen Umrisse eines kleinen Schiffes mit gelöschten Positionslampen. Er schaltete ein Sprechfunkgerät ein. »Brücke an Pitt.«

»Pitt hier.«

»Der Frachter ist wie ausgestorben und macht keine Fahrt. Von einer Schlagseite oder irgendwelchen Beschädigungen ist nichts zu sehen. Ein Kommando der türkischen Küstenwache ist im Anmarsch, falls Sie noch warten wollen, das Schiff zu betreten.«

»Das möchte ich eigentlich nicht. Auf dem Schiff könnten Leben in Gefahr sein. Al und ich werden versuchen, an Bord zu gelangen. Pitt Ende.«

Er drehte sich zu einem untersetzten Mann mit schläfrigen Augen um, der neben dem Zodiac stand. Er hatte eine breite, muskulöse Statur, die aussah, als sei sie aus solidem Fels herausgemeißelt worden.

»Sehen wir zu, dass wir in die Gänge kommen«, sagte Pitt.

Al Giordino gähnte. »Ich kann nur hoffen, dass dies ein echter Notfall ist. Ich hatte grad gemütlich in meiner Koje gelegen und geträumt, ich sei in einem türkischen Harem, und jeden Moment sollten die letzten Schleier fallen.«

Pitt grinste. »Die Frauen im Harem werden mir dankbar sein.«

Sie schwenkten das Zodiac über die Seitenreling und setzten es ins Wasser, kletterten eine Strickleiter hinab und hakten das Kranseil aus den Ösen. Pitt startete den Außenbordmotor, drehte am Gasgriff und nahm Kurs auf den Frachter gegenüber. Als er das Schlauchboot durch die kabbelige See am Frachter entlang lenkte, entdeckte er in der Nähe des Hecks eine heruntergelassene Fallreepstreppe.

»Wie nett von ihnen, dass sie den roten Teppich ausgerollt haben.« Giordino schwang sich auf die Plattform der Treppe und machte mit einer Leine das Zodiac fest. Schnüffelnd sog er die Luft ein und runzelte die Stirn. »Es riecht, als hätte uns der Osterhase ein Nest fauler Eier zurückgelassen.«

»Wahrscheinlich irgendwas in den Laderäumen«, vermutete Pitt. Aber der Geruch hatte seinen Ursprung anscheinend nicht auf oder in dem Schiff.

Die beiden Männer eilten die Treppe hinauf und kletterten an Bord. Dabei stellten sie fest, dass der Geruch nach und nach schwächer wurde. Im grellen Lichtschein der Decklampen erschienen die Laufgänge menschenleer, während sie zum Deckaufbau mit Kommandobrücke und Mannschaftsunterkünften gingen. Die Decksluken waren geschlossen und verriegelt, und das Schiff wies offensichtlich keinerlei Schäden auf, wie Stenseth bereits durch das Fernglas hatte feststellen können.

Als sie sich dem Niedergang zur Kommandobrücke näherten, zögerten sie. Etwas versperrte den Zugang. Es war der Körper eines jungen Mannes mit militärischem Kurzhaarschnitt, bekleidet mit einem dunklen Tarnanzug. Der Ausdruck seines im Tod erstarrten Gesichts entsprach einer Mischung aus Verwirrung und Schmerz. In seinen weit aufgerissenen blauen Augen stand die stumme Frage nach dem Warum. Seine erstarrten Hände umklammerten ein AK-47.

»Er hat sich gegen irgendjemanden gewehrt.« Pitt tippte mit der Schuhspitze auf das Deck: Gleich daneben lag eine Handvoll leerer Patronenhülsen.

Giordino ließ den Lichtstrahl einer Stablampe über den Leichnam wandern. »Rein äußerlich ist keine Todesursache zu erkennen.«

Sie stiegen über den Toten hinweg und betraten den Niedergang, der sie nach oben zur Kommandobrücke im fünften Stock des Deckaufbaus führte. Dort erwartete sie eine weitere gespenstische Szene. Ein bewaffneter Mann in Tarnkleidung lag in der Nähe des Steuerstandes ausgestreckt neben einem Mannschaftsmitglied. Ein älterer bärtiger Mann, wahrscheinlich der Kapitän, war unweit eines Kartentisches zusammengebrochen. Giordino untersuchte die Gestürzten auf etwaige Lebenszeichen, aber hervorquellende Augen, bläulich angelaufene Haut und verzerrte Mundpartien deuteten auf ein schnelles, aber qualvolles Ende hin.

»Genau wie der erste Mann unten: keinerlei äußerliche Verletzungen«, sagte Giordino.

Pitt nahm Schwefelgeruch wahr und öffnete ein Brückenfenster. »Wahrscheinlich ein Gasleck. Halt doch mal in den Mannschaftsquartieren nach möglichen Überlebenden Ausschau. Ich gebe inzwischen zur Macedonia durch, was wir gefunden haben. Danach versuche ich, den schwimmenden Sarg wieder flottzumachen.«

Giordino stieg auf dem Niedergang zu den Mannschaftsquartieren unterhalb der Kommandobrücke hinab. Pitt übermittelte Stenseth eine knappe Schilderung der aktuellen Lage, dann startete er die Maschinen des Frachters und gab einen Kurs nach Istanbul ein, auf dem die Macedonia sie begleiten würde.

Der Frachter nahm langsam Geschwindigkeit auf und pflügte durch eine endlose Folge hoher Dünungswellen, während er nach Süden schwenkte. Pitt suchte auf dem Radarschirm nach weiterem Schiffsverkehr in ihrer Umgebung, als am Heck ein lauter Knall ertönte und durch das gesamte Schiff hallte. Er fuhr herum und sah an Backbord neben dem Schiffsrumpf eine weiß schäumende Wassersäule aufsteigen. Der Frachter erschauerte, während auf der Instrumententafel des Steuerstands ein wahres Feuerwerk von roten Warnlampen aufflammte.

»Was war das?«, drang Giordinos Stimme verzerrt aus dem Lautsprecher des tragbaren Sprechfunkgeräts.

»Eine kleine Explosion am Heck.«

»Versucht etwa jemand, das Schiff zu versenken?«

»Schon möglich.«

Pitt studierte einen Navigationsmonitor. Die Entfernung bis zum nächsten Festland betrug acht Meilen. Er änderte den Kurs in der Hoffnung, das Schiff falls nötig auf Grund laufen zu lassen. Zusätzliche rote Warnlichter auf der Konsole machten ihm klar, dass sie es nicht schaffen würden. Einige Papiere rutschten von einem Tisch in einer Ecke des Brückenraums und bestätigten die zunehmende Schlagseite, die er bereits unter seinen Füßen spüren konnte.

»Das Schiff wird geflutet«, gab er an Giordino durch. »Wie sieht es bei dir aus?«

»Zwei Matrosen tot in ihren Kojen. Ich glaube, ein Deck tiefer befinden sich noch einige Kabinen, die überprüft werden sollten.«

Pitt nahm im Augenwinkel etwas wahr. Auf einen Monitor der schiffsinternen Videoüberwachungsanlage wurden Echtzeitbilder aus Bug- und Heckbereich sowie aus dem Maschinenraum übertragen. In Letzterem glaubte er eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Als er genauer hinsah, konnte er im Hintergrund des Bildes einigermaßen deutlich eine auf dem Bauch liegende Gestalt ausmachen.

»Al, sieh zu, dass du da unten fertig wirst, und komm in fünf Minuten an Deck. Ich werfe noch einen Blick in den Maschinenraum.«

Die Konsole des Steuerstands steigerte sich zu einem wahren Inferno hektisch pulsierender Warnlichter, als sich die unteren Bereiche des Frachters mit Seewasser füllten. Der Bug hob sich bereits aus den Wellen, während das Heck absackte. Prüfend schaute Pitt zu den fernen Lichtern auf dem Festland hinüber, dann verließ er im Laufschritt die Kommandobrücke. Er gelangte aufs Hauptdeck und fand den Niedergang zum Maschinenraum.

Dort wurde der Boden bereits überspült, aber die Stromgeneratoren verrichteten weiterhin ihre Arbeit mit ohrenbetäubendem Lärm. Im Licht der gelegentlich flackernden Beleuchtung erkannte Pitt nun eine Gestalt, die hinter einem der Generatoren auf einem rechteckigen grauen Behälter lag. Er watete durch das knöcheltiefe Wasser hinüber und fand einen jungen Matrosen in einem ölverschmierten Overall, dessen Füße im steigenden Seewasser hingen. Sein Gesicht hatte einen bläulichen Schimmer, während er Pitt mit trüben Augen anstarrte und schließlich ein schwerfälliges Blinzeln zustande brachte.

»Halte durch, mein Junge«, sagte Pitt. »Ich hol dich hier raus.«

Er schlang einen Arm um den angeschlagenen Mann, zog ihn auf die Füße hoch und hievte ihn die steilen Stufen des Niedergangs hinauf. Dabei schaute er sich nach weiteren Überlebenden um, aber der Raum war leer. Er arbeitete sich mit seiner Last die Treppe hinauf, was ihn wegen der Schlagseite des Schiffes zusätzliche Mühe kostete. Sie gelangten zu einer Luke, die Pitt mit einem Fußtritt öffnete, während ein Generator unter ihnen, vom Seewasser überspült, zischend und knisternd den Geist aufgab.

Giordino wartete an der Reling und kam eilig herüber, um zu helfen. »Dieser Eimer geht jeden Moment unter. Von der Macedonia kam soeben die Aufforderung, uns schnellstens in Sicherheit zu bringen.«

Für einen kurzen Moment wurden sie geblendet, als auf dem NUMA-Schiff ein Suchscheinwerfer aufflammte und sein greller Lichtstrahl über das schräg geneigte Deck des tödlich verwundeten Frachters glitt. Pitt blickte nach achtern. Erste Wellen rollten über das Heck und brachen sich an der Reling. Ein metallisches Ächzen und Stöhnen lag in der Luft, begleitet von gelegentlichem Krachen und Poltern, wenn Teile der Ladung verrutschten. Es konnte nur noch eine Frage von Sekunden sein, bis der Frachter endgültig sank.

Pitt und Giordino schleppten den Matrosen zum Fallreep. Durch die Schlagseite des Frachters nahm die Leiter eine nahezu perfekte horizontale Lage ein. Giordino begann als Erster mit dem Abstieg und trug den Techniker auf den Schultern, während Pitt den Verletzten am Kragen gepackt hatte und behutsam herabließ. Der Rumpf des Frachters erbebte, als ob er sich dagegen wehrte, in die Tiefe gezogen zu werden.

»Wir haben ein Problem«, sagte Giordino.

Pitt schaute zum Zodiac hinab. Teilweise untergetaucht, stand das Schlauchboot praktisch auf dem Kopf im Wasser. Während das Schiff absackte, war auch das Fallreep ins Wasser eingetaucht. Gleichzeitig hatte die Bugleine das Zodiac so weit hinuntergezogen, dass es wie ein Korken im Meer tanzte.

Den Frachter durchlief ein weiterer Ruck, und sein Bug schoss in die Höhe, während das Heck allmählich in die Tiefe glitt. Sie konnten ein paar Sekunden lang warten und dann mit einem Schritt vom Fallreep ins Meer überwechseln, würden in diesem Fall jedoch das Risiko eingehen, vom Sog des havarierten Schiffes erfasst zu werden und ihm in die Tiefe zu folgen. Selbst wenn sie es schaffen sollten, sich schwimmend aus dieser Zwangslage zu befreien, erschien es so gut wie sicher, dass der Techniker ertrinken würde.

»Übernimm ihn und halt dich am Zodiac fest!«, rief Pitt. Dann hechtete er vom Fallreep in die bewegte See.

Pitt tauchte dicht neben dem aufrecht stehenden Zodiac ins Wasser. Es war eisig kalt und prickelte auf seiner Haut. Während er mit kräftigen Beinstößen in die Tiefe strebte, tastete er sich an dem starren Glasfiberboden des Schlauchboots entlang. Das Zodiac geriet schlagartig außer Reichweite, als der Frachter die letzte Etappe seiner Reise zum Meeresgrund begann. Pitt verstärkte seine Bemühungen, um den Kontakt nicht zu verlieren, und zog sich am Schlauchboot entlang, wo immer er einen Haltegriff finden konnte. Im nachtschwarzen Wasser streckte er einen Arm aus und spürte unter seiner Hand die Bugspitze des Bootes. Er hielt sich fest und suchte mit der anderen Hand die Bugleine.

Sie war innerhalb des Zodiac mehrfach verknotet, sodass seine einzige Chance, das Boot zu befreien, darin bestand, die Leine vom Fallreep zu lösen. Er kämpfte, sich Hand über Hand am Boot entlangziehend, gegen den Sog des Wassers an, wobei eine dichte Wolke kleiner Luftbläschen seine ohnehin nur minimale Sicht noch weiter verschlechterte. Der zunehmende Wasserdruck legte sich auf seine Ohren und seine Lunge, während er darauf achtete, die Leine nicht aus dem Griff zu verlieren. Seine ausgestreckte Hand stieß schließlich gegen die Plattform des Fallreeps, und er ergriff die Öse, durch die die Leine gefädelt war. Das Seil war durch den Sog des sinkenden Frachters straff gespannt, aber er fand sein Ende und zerrte daran herum, um es zu lockern. Nach einer letzten Anstrengung löste sich der Knoten auf, und das Seil rutschte aus der Öse.

Das Fallreep schwenkte herum und prallte gegen seinen Brustkorb, während das Schlauchboot zur Wasseroberfläche hinaufschoss. Pitt hatte das Gefühl, seine Lunge würde platzen, aber er klammerte sich mit aller Kraft an die Leine. Da der Frachter neben ihm in die Tiefe glitt, hatte er nicht das Gefühl aufzusteigen, bis er ein Knacken in den Ohren spürte. Nur eine Sekunde später wurde er vom Schwung des auftauchenden Zodiac aus dem Wasser gerissen und durch die Luft geschleudert. Er orientierte sich kurz, dann gelangte er mit wenigen Schwimmzügen zum Schlauchboot. Al Giordino, der es noch geschafft hatte, sich rechtzeitig ins Boot zu rollen, fasste über den Randwulst und half Pitt beim Einsteigen. Er grinste ihn an. »Ich freue mich aufrichtig, dass du mit dem Lösen der Leine nicht gewartet hast, bis wir auf dem Meeresgrund aufgesetzt haben.«

Pitt reagierte mit einem erschöpften Lächeln. »Na, ich wollte dir schließlich was bieten fürs Geld. Wie geht’s unserem Freund?«

»Wenn du Russisch verstehst, kann er es dir selbst erzählen. Er hat während unserer Rettungsaktion ein wenig Meerwasser geschluckt, aber nachdem er es gründlich wieder rausgewürgt hat, scheint es ihm erheblich besser zu gehen.«

Der Techniker saß auf dem Boden des Schlauchboots und hatte die Arme um eine Sitzbank geschlungen. Obgleich er totenbleich war, waren seine Augen klar, und er atmete gleichmäßig. Er schaute zu Pitt hoch und nickte.

Um sie herum bedeckte eine Kollektion von Trümmern und Treibgut die Meeresoberfläche. Ein Motor erklang in der Nähe, und ein zweites Zodiac näherte sich in zügiger Fahrt von der Macedonia, um das ramponierte Schlauchboot zum NUMA-Schiff zurückzuschleppen. Der Techniker des Frachters wurde sofort in die Krankenstation gebracht, während sich Pitt und Giordino auf die Kommandobrücke begaben.

Kapitän Stenseth begrüßte sie mit großen Tassen dampfenden Kaffees. »Das war ein verdammt knapper Abgang.«

Giordino trank genussvoll einen Schluck von dem heißen Gebräu. »In einer so schönen Nacht wollten wir unbedingt die Gelegenheit nutzen und ein kleines Bad nehmen.«

»Gab es nur einen einzigen Überlebenden?«

»Ich fürchte, ja«, antwortete Pitt. »Die anderen Mannschaftsmitglieder zeigten keinerlei äußere Verletzungen. Die Ursache war anscheinend chemischer Natur oder ein Gasleck.«

»Vielleicht eine Folge der Explosion?«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Pitt. »Sie erfolgte weit hinter den Frachträumen.«

»Das Schiff war keinesfalls alt genug für eine Selbstversenkung, um die Versicherungssumme zu kassieren«, sagte Giordino. »Bleibt als einzige Erklärung ein Unfall oder ein vorzeitig abgebrochenes Hijacking.«

Sie wurden durch den Funkruf eines im Anflug befindlichen Hubschraubers der türkischen Küstenwache unterbrochen.

Stenseth meinte zu Chavez: »Teilen Sie ihnen mit, dass die Crimean Star untergegangen ist und wir uns am Ort des Geschehens befinden. Und dass wir uns für ihre Mithilfe bei der Suche nach Überlebenden bedanken.«

Das Flappen der Rotoren des Rettungshubschraubers erklang Sekunden später in nächster Nähe. Pitt und Giordino traten auf die Brückennock hinaus, während die Maschine über dem Unglücksort kreiste. Ihr Suchscheinwerfer konzentrierte sich auf zwei im Wasser treibende menschliche Körper.

Giordino schüttelte den Kopf. »Bis auf einen Mann hat es die gesamte Mannschaft erwischt.«

Pitt ließ den Blick über die aufgewühlte See schweifen und nickte. »Ein dem Tod geweihtes Schiff, das seine Geheimnisse mit sich in die Tiefe genommen hat. Zumindest vorerst.«

3

»Möchtest du die letzte Baniza?«

Ana Belowa schaute auf die mit Fettflecken übersäte Papiertüte, die ihr einladend hingehalten wurde, und schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Selbst wenn ich Appetit auf einen Mitternachtssnack hätte, würde ich etwas vorziehen, das mir nicht die Arterien verkalkt.«

Ihr Partner, ein stets lässig auftretender Mann namens Petar Ralin, tauchte auf der Mittelkonsole zwischen Fahrer- und Beifahrersitz mit der Hand in die Tüte, angelte das mit Apfelkompott gefüllte Gebäck heraus und schob es sich in den Mund. Der bulgarische Gesetzesvertreter absolvierte offenbar keinen Einsatz ohne einen ausreichenden Vorrat an Proviant oder Süßigkeiten, dachte Ana Belowa, was man seiner schlanken Figur jedoch nicht ansah.

Er wischte sich einen Krümel von der Brust. »Es sieht so aus, als ob unsere großartigen Chefs mit ihrem Informanten eine Niete gezogen hätten. Seit zwei Stunden ist hier kein einziger Lastwagen mehr aufgetaucht.«

Ana beobachtete durch die Windschutzscheibe ihrer grauen Škoda-Limousine die Grenzstation von Malko Tarnowo. Der kleinste einer bescheidenen Anzahl von Grenzübergängen zwischen Bulgarien und der Türkei wurde vorwiegend von leichtem Fracht- und Touristenverkehr in Richtung Schwarzmeerküste frequentiert. Die bulgarische Seite der Grenze wurde von der wilden Waldlandschaft des Strandscha-Naturparks beherrscht, während sich auf türkischem Gebiet eine wenig abwechslungsreiche öde Landschaft ausbreitete.

Auf türkischer Seite weniger als fünfzig Meter von der Grenze entfernt parkend, verfolgte Ana, wie sich ein junger Mann auf einem Motorrad dem Kontrollpunkt näherte. Als er seine Fahrt fortsetzte und den Škoda passierte, sah sie, dass er in einer Kiste, die auf dem Gepäckträger befestigt war, ein junges Ferkel transportierte.

»Nachschub für das nächtliche Grillfest?«, fragte Ralin.

»Du meinst wohl eher ein Grillfrühstück.« Ana unterdrückte ein Gähnen. »Ich denke, wir haben genügend Zeit vergeudet und Banizas verzehrt, um Feierabend zu machen.«

»Warte einen Moment. Da kommt noch ein Fahrzeug.«

Ein gelber Lichtschein erschien oberhalb eines Berghangs und fächerte sich zu einem Paar Scheinwerferstrahlen auf, als er näher kam. Das Fahrzeug rollte vor dem Kontrollpunkt aus und hielt an. Es war ein altersschwacher Lastwagen mit Gitterbehälter auf der Ladefläche, der mit einer Schutzplane bedeckt war. Ein mit Schlamm bespritztes schwarz-weißes Nummernschild verriet, dass er in der Türkei registriert war.

»Warum siehst du nicht nach, ob der Grenzwächter wach ist, während ich das Nummernschild überprüfe?«, meinte Ana.

Ralin verzehrte den letzten Bissen seiner Baniza, wischte sich die Hand am Oberschenkel ab, stieg aus und schlenderte dann auf den Lastwagen zu, der mit laufendem Motor darauf wartete, abgefertigt zu werden. Ana richtete ein Fernglas auf den Lastwagen und notierte das amtliche Kennzeichen. Dann tauschte sie das Fernglas gegen einen Laptop und tippte die Autonummer ein, als sie einen lauten Ruf hörte.

Der Lastwagen fuhr mit aufheulendem Motor an. Der Grenzposten kehrte in sein Büro zurück, ohne den Lastwagen zu kontrollieren oder ihn auch nur aufzuhalten, damit Ralin ihn inspizieren konnte, wie sie es verabredet hatten. Ana war zu weit entfernt, um das Bündel Geldscheine zu erkennen, das aus der Hemdtasche des Grenzwächters ragte.

Ralin hatte den Ruf ausgestoßen und den Lastwagenfahrer zum Stehenbleiben aufgefordert. Den linken Arm hochgereckt wie ein Verkehrspolizist, griff er mit der anderen Hand nach seiner Dienstwaffe. Anstatt anzuhalten, gab der Lastwagenfahrer jedoch Gas und steuerte direkt auf Ralin zu. Der Polizeiagent musste sich durch einen Sprung in Sicherheit bringen, um nicht über den Haufen gefahren zu werden. Der Kotflügel des Lastwagens streifte seine Beine und schleuderte ihn zu Boden.

Ana schlängelte sich auf den Fahrersitz des Škoda und drehte den Zündschlüssel. Während sie in den ersten Gang schaltete, gab sie Gas und stieß einen Fluch aus, als der Lastwagen an ihr vorbeirumpelte, ehe sie ihm den Weg versperren konnte. Sie zögerte einen Moment und blickte zu Ralin. Der Polizist umklammerte seinen Fußknöchel, drehte sich jedoch zu ihr um und gab ihr durch ein Handzeichen zu verstehen, dass sie den Lastwagen ohne ihn verfolgen solle.

Die Reifen des Škoda quietschten auf dem Asphalt, während sie am Lenkrad kurbelte und das Gaspedal bis aufs Bodenblech durchtrat. Der Lastwagen war nicht sehr weit gekommen, und sie holte ihn innerhalb weniger Sekunden ein. Als sie sah, wie die Abdeckplane im Fahrtwind flatterte, hoffte sie inständig, dass die Ladefläche nicht mit bewaffneten Gangstern besetzt war. Stattdessen entdeckte sie, als der Lastwagen in den Lichtkreis einer Straßenlaterne geriet, einen Berg von Wassermelonen unter der Abdeckplane. Aber die Fahrweise des Mannes hinter dem Lenkrad war nicht die eines Farmers.

Der Lastwagen raste eine gewundene Bergstraße hinab und ins Zentrum von Malko Tarnowo, einem verschlafenen bulgarischen Städtchen, knapp vierzig Kilometer vom Schwarzen Meer entfernt. Umgeben war es von einer dunklen, hügeligen Landschaft, die sich fast zwanzig Kilometer weit bis zum nächsten Dorf erstreckte. Ana hatte wenig Lust, sich in dieser einsamen Region allein mit den Insassen des Lastwagens herumzuschlagen. Entschlossen aufs Gaspedal tretend versuchte sie, sich neben den Lastwagen zu setzen. Dessen Fahrer durchschaute ihre Absicht und lenkte den Laster zur Seite, um die Lücke zum Straßenrand zu schließen. Ana wurde zu einer Vollbremsung gezwungen, um einem geparkten Pkw auszuweichen, während der Lastwagen die Mitte der Straße besetzte. Sie hatte keine Möglichkeit, an ihm vorbeizufahren.

Ana vergegenwärtigte sich den Grundriss der Stadt und erinnerte sich an eine Hauptstraße, die durch das Zentrum von Malko Tarnowo führte, und an zwei parallel verlaufende Straßen, die sich etwa acht Blocks weit erstreckten. Als sie sich der ersten Seitenstraße näherte, bremste Ana abermals und bog nach links ab. Sie fuhr zügig bis zur nächsten Querstraße und lenkte nach rechts in die Parallele zur Hauptstraße. Dort gab sie Vollgas, schaltete in schneller Folge hoch und raste durch die Häusergasse, wobei die Limousine nach jeder Bodenwelle eine kurze Flugstrecke zurücklegte.

Der Škoda fraß fünf Blocks, während Ana gleichzeitig den Sicherheitsgurt einrasten ließ. Sie schwenkte nach rechts in die letzte Seitenstraße, wobei das Wagenheck ausbrach und zwei Mülltonnen von ihren Standplätzen fegte, als der Wagen um die Straßenecke schleuderte. Dorfbewohner, die aus dem Schlaf gerissen worden waren, blickten aus den Fenstern auf den grauen Wagen, dessen Motor röhrte, als stünde er dicht vor der Explosion.

Während Ana sich wieder der Hauptstraße näherte, tauchten von rechts die Scheinwerferstrahlen des Lastwagens auf. Die Polizistin hatte einen knappen Vorsprung, der jedoch nicht ausreichte, um sich ungefährdet vor den Lastwagen zu setzen. Eilig die Entfernung abschätzend, behielt sie den Fuß auf dem Gaspedal, und dann folgte eine Vollbremsung. Während sich der Wagen gegen die blockierenden Bremsen aufbäumte und wie ein wildes Pferd bockte, riss sie das Lenkrad nach links herum.

Der Wagen vollführte eine halbe Drehung, ehe es zum Kontakt kam und die rechte Seite der Stoßstange gegen den linken vorderen Radkasten des Lastwagens prallte. Der blecherne Knall ließ die Fensterscheiben entlang der Straße klirren. Die Motorhaube des Škoda verschwand unter der Masse des Lastwagens, der gegen den Bordstein schleuderte, nachdem das Vorderrad abbrach. Vom Schwung des Lastwagens mitgerissen, rutschten beide Fahrzeuge vorwärts, bis sie über einen Bordstein hüpften und gegen einen Laternenmast krachten.

Beißender Qualm füllte das Führerhaus des Lastwagens, während sein Fahrer versuchte, die Nachwirkungen der Kollision abzuschütteln. »Josef?«, rief er den Namen seines Partners, der regungslos auf dem Armaturenbrett lag, bewusstlos oder tot. Der Fahrer machte sich nicht einmal die Mühe, es zu überprüfen. Sofort stieß er die zerbeulte Tür auf und ließ sich mit der Absicht, schnellstens die Flucht zu ergreifen, auf die Straße fallen. Er warf einen Blick auf den zertrümmerten Škoda. Ein schlaffer Airbag deckte das Lenkrad zu, aber von einem Fahrer war nichts zu sehen. Er wandte sich um – und starrte in die Mündung einer SIG-Sauer-P228-Automatik.

Mit roten Flecken im Gesicht – vom Kontakt mit dem Airbag – und heftig atmend stand Ana mit ausgestrecktem Arm vor dem Lastwagenwrack und drückte den Lauf der Pistole gegen die Wange des Fahrers.

»Auf die Knie. Hände über den Kopf«, befahl sie mit rauer Altstimme und bemühte sich, ihren eigenen Schockzustand zu kaschieren. Der benommene Fahrer gehorchte sofort.

Weniger als eine Minute später erschienen Ralin und ein Grenzbeamter in einem Wagen der Zollbehörden. Ralin sprang aus dem Wagen und näherte sich humpelnd, während er gleichzeitig seine Pistole zückte und auf den Lastwagenfahrer richtete. »Ist mit dir alles in Ordnung?«

Ana nickte und beobachtete erleichtert, wie Ralin dem Fahrer Handschellen anlegte und ihn auf den Rücksitz des Zollfahrzeugs verfrachtete.

Der Grenzbeamte untersuchte flüchtig den zweiten Mann im Führerhaus des Lastwagens und kam kopfschüttelnd zurück. »Der andere ist tot.«

Ralin legte einen Arm um Anas Schultern, als ihre Knie nachzugeben drohten und sie ihre Waffe im Holster verstaute.

»Nachdem er dich erwischt hat, habe ich einfach reagiert.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich wollte nicht, dass er sich aus dem Staub macht.«

»Das hast du geschafft.« Ralin warf einen Blick auf den demolierten Škoda. »Aber ich bin mir nicht sicher, dass der Chef unserer Abteilung besonders glücklich darüber sein wird, dass eine neue Dienstlimousine für eine Wagenladung Wassermelonen geopfert wurde.«

»Wassermelonen«, murmelte Ana, kletterte auf die Ladefläche des Lastwagens und begann, Melonen beiseitezuräumen. Ihre Arme schmerzten, als sie sich bis auf die Ladefläche gegraben hatte und drei längliche Holzkisten freilegte.

Ralin half ihr, eine der Kisten von der Ladefläche herunterzuziehen und auf die Straße zu legen. Im Werkzeugkasten des Lastwagens fand er ein Reifenmontiereisen, das er benutzte, um die Kiste aufzuhebeln. Als er den Deckel entfernte, lachten ihn säuberlich nebeneinander aufgereiht in Albanien hergestellte AK-47 Sturmgewehre an, die für den schwarzen Markt bestimmt waren. »Ganz wie angekündigt«, sagte Ralin. »Ein Punkt für unseren bezahlten Informanten.«

»Ich vermute, dass sein Honorar aus einer verkürzten Gefängnisstrafe besteht«, sagte Ana Belowa. »Nicht gerade unsere umfangreichste Beute, aber immerhin dürften wir damit einige unschuldige Leben gerettet haben.«

»Und unserer Abteilung genügend lobende Publicity verschaffen, um unseren Wagen ohne allzu heftige öffentliche Kritik ersetzt zu bekommen.«

Während der nächsten Stunde erschien eine Einsatztruppe örtlicher und staatlicher Polizeiorgane, um die Schmuggler zu verhaften und die Schmuggelware zu beschlagnahmen. Ana ruhte sich im Wagen des Grenzbeamten aus und hatte Mühe, nach der Anspannung der Verfolgungsjagd wach zu bleiben und nicht einzuschlafen. Bei Tagesanbruch traf ein Abschleppwagen ein, um den Fahrzeugschrott zu entfernen.

Ralin schob den Kopf durch das offene Wagenfenster. »Ana, ich habe eben einen Anruf aus der Zentrale in Sofia erhalten. Sieht so aus, als würde man uns heute Nachmittag in Istanbul erwarten.«

»Muss das sein? Ich könnte ein wenig Schlaf gebrauchen.«

»Offensichtlich ist es eine Angelegenheit von höchster Priorität, der Informationen aus der Ukraine zugrunde liegen.«

»Etwa wieder eine Waffenlieferung?«

»Ich glaube nicht. Anscheinend geht es um etwas Wichtigeres.«

Die Polizistin zwang sich zu einem Lächeln. »Dann müssen sie uns wohl einen neuen Wagen geben, denke ich.«

»Ich bin nicht sicher, ob uns in dieser Geschichte ein Auto weiterhilft.«

»Warum nicht? Ist es eine illegale Flugzeugfracht? Oder kommt die Lieferung per Eisenbahn?«

»Weder noch«, erwiderte er und schüttelte den Kopf. »Es geht um ein Schiffswrack.«

4

Ein kurzer Regenschauer kühlte den ansonsten moderaten Nachmittag im Hafen von İstinye nördlich von Istanbul ab. Während sie gemächlich durch den kleinen Bootshafen schlenderten, entdeckten Ana Belowa und Petar Ralin das Ziel ihres Abstechers, ein ozeanografisches Forschungsschiff mit türkisfarbenem Rumpf, das am größten Liegeplatz festgemacht hatte.

Ein untersetzter, stämmiger Mann, der soeben eine schwere Kiste an Bord hievte, hielt mit seiner Tätigkeit inne, als sie sich näherten.

»Ist dies die Macedonia?«, fragte Ana auf Englisch.

Al Giordino musterte die Fremde. Ihr langes, dunkles Haar war im Nacken zu einem Knoten zusammengerafft und gab den Blick auf ein interessant geschnittenes Gesicht frei. Sie hatte hohe slawische Wangenknochen, deren Herbheit durch eine kleine Nase und einen ebenmäßigen Mund gemildert wurde. Was ihm sofort auffiel und seine Neugier weckte, waren ihre strahlend blauen Augen. Giordino erkannte in ihnen eine reizvolle Mischung aus Entschlossenheit und Verletzlichkeit.

»Sie sind an der richtigen Adresse«, erwiderte Giordino.

»Ich bin Ana Belowa, Sonderermittlerin bei Europol, und dies ist Leutnant Petar Ralin vom bulgarischen Direktorat für organisiertes Verbrechen. Wir untersuchen den Untergang der Crimean Star.«

Giordino stellte sich vor. Dann fragte er: »Europol … ist das ein Ableger von Interpol?«

»Nein, das European Police Office ist eine Strafverfolgungsbehörde der Europäischen Union. Wir konzentrieren uns vorwiegend auf organisiertes Verbrechen und Terrorismusabwehr.«

»Kommen Sie an Bord. Ich mache Sie mit dem Boss bekannt.« Giordino geleitete sie in die Offiziersmesse der Macedonia, wo Pitt und Stenseth an einem Tisch saßen und eine Seekarte studierten. Giordino stellte die Besucher vor, und den polizeilichen Ermittlern wurde Kaffee serviert, ehe alle an einem größeren Tisch Platz nahmen.

»Wie können wir Ihnen behilflich sein?«, fragte Dirk Pitt. »Wir haben der türkischen Küstenwache bereits einen ausführlichen Bericht geliefert.«

Ana Belowa hatte das Gefühl, als blickten die dunklen grünen Augen bis auf den Grund ihrer Seele. Zu ihrer Überraschung spürte sie, wie sich ihr Puls beschleunigte, während sie dem hochgewachsenen Mann mit den markanten Gesichtszügen lauschte. »Unsere zuständigen Behörden haben einige Fragen zum Verlust der Crimean Star. Was können Sie uns über ihren Untergang erzählen?«

Pitt schilderte die Ereignisse der vorangegangenen Nacht und beendete seine Zusammenfassung mit der Rettung des stellvertretenden Chefingenieurs.

»Meinen Sie, dass die Explosion am Heck des Schiffs absichtlich ausgelöst wurde?«, wollte Ralin wissen.

»Ich vermute es zwar, aber ich habe keinerlei Beweise dafür.« Pitt sah die Ermittler fragend an. »Macht es Ihnen etwas aus, uns zu verraten, welches besondere Interesse Sie an diesem Vorfall haben?«

»Es sind vor allem drei Punkte«, sagte Ana. »Zuerst einmal haben wir erfahren, dass die Crimean Star von einer russischen Firma namens Nemco Holdings gechartert worden war. Nemco werden enge Verbindungen zur russischen Mafia nachgesagt. Die Firma soll in umfangreiche Waffenschmuggeleien nach Afrika und in den Mittleren Osten verwickelt sein. Hatten Sie Gelegenheit, die Laderäume des Schiffes zu untersuchen?«

»Nein, wir konnten uns nur für kurze Zeit an Bord aufhalten. Haben Sie sich die Frachtpapiere des Schiffs verschafft?«

»Aus elektronischen Aufzeichnungen geht hervor, dass die Crimean Star landwirtschaftliche Geräte geladen hatte, die für Alexandrien in Ägypten bestimmt waren.«

»Gehörten auch Chemikalien oder Kunstdünger dazu?«, fragte Pitt.

»Nichts dergleichen war in der Frachtdatei aufgeführt. Aber ich kann nicht behaupten, dass wir den Aufzeichnungen hundertprozentig vertrauen, da das Schiff aus Sewastopol kam. Weshalb fragen Sie?«

»Wir haben den Verdacht, dass die Mannschaft durch ein chemisches Leck zu Tode kam.«

»Wir waren gerade im Memorial ŞiŞli Hospital, wo der Ingenieur aufgenommen wurde«, sagte Ralin. »Der Pathologe berichtete, Untersuchungen bei den verstorbenen Mannschaftsmitgliedern hätten ergeben, dass deren Tod durch konzentriertes Schwefelwasserstoffgas ausgelöst wurde. Er tippt auf ein Erdgasleck.«

»Wir haben den Geruch wahrgenommen, als wir das Schiff enterten«, sagte Giordino, »aber wir konnten seinen Ursprung nicht feststellen. Erdgas könnte eine Möglichkeit sein, aber die Crimean Star ist ein Massengutfrachter und kein Flüssiggastanker.«

»Ja, das ist richtig«, sagte Ana. »Unser vordringliches Interesse gilt auch einem anderen Punkt – dem stellvertretenden Chefingenieur, der das Ereignis überlebt hat.«

»Wie geht es dem Mann?«, fragte Pitt.

»Ganz gut. Er war dem Gas nur für einen begrenzten Zeitraum ausgesetzt, vermutlich weil er sich im Maschinenraum aufgehalten hatte. Man geht davon aus, dass er sich wieder vollständig erholen wird. Aber die Ärzte haben etwas anderes gefunden, das Anlass zu noch größerer Sorge gibt. Es scheint, als hätten Messungen ergeben, dass der Ingenieur Kontakt mit einer Quelle radioaktiver Strahlung gehabt haben muss.«

»Mit Radioaktivität?«, fragte Giordino erstaunt. »Vielleicht hat er an Bord eines atomgetriebenen Schiffs gearbeitet, ehe er an Bord der Crimean Star kam.«

»Wir sind dieser Möglichkeit und einigen anderen nachgegangen, aber er ist bisher niemals mit radioaktiven Substanzen in Berührung gekommen oder hat in der Nähe atomgetriebener Anlagen gearbeitet.«