Geheimdienst in der Krise - Jost Dülffer - E-Book

Geheimdienst in der Krise E-Book

Jost Dülffer

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Beschreibung

Der BND verlor in den letzten Amtsjahren Konrad Adenauers das Vertrauen der Bonner Regierung. Ausschlaggebend waren für den Kanzler Illoyalität und Verrat im Dienst, NS-Belastung und Leistungsschwäche. Dennoch gelang es dem BND-Präsidenten Reinhard Gehlen, sich bis 1968 der politischen Kontrolle durch Regierung und Parlament weitgehend zu entziehen und nach außen ein positives Image zu bewahren. Dabei entglitt ihm die Führung des Nachrichtendienstes nach innen. Medienpolitik und Lobbyismus ersetzten weitgehend die nachrichtendienstliche Aufklärung. Erst durch die Reformen nach Gehlens Abgang gelang es, den BND zu einer wirksamen Behörde der Auslandsaufklärung zu machen.
Jost Dülffer konnte u.a. die Akten des BND-Archivs und des Kanzleramts uneingeschränkt einsehen und legt hier eine umfassende Geschichte der Spätphase der Ära Gehlen vor.
(Band 8 der Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945-1968)

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Veröffentlichungen der UnabhängigenHistorikerkommission zurErforschung der Geschichte desBundesnachrichtendienstes1945–1968

Herausgegeben von Jost Dülffer,Klaus-Dietmar Henke, WolfgangKrieger und Rolf-Dieter Müller

BAND 8

Jost Dülffer

Geheimdienst in der Krise

Der BND in den 1960er-Jahren

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, April 2018

entspricht der 1. Druckauflage vom April 2018

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Cover: Stephanie Raubach, Berlin

Lektorat: Margret Kowalke-Paz, Berlin

eISBN 978-3-86284-416-6

Inhalt

Vorbemerkung

Einleitung

Zur Frühgeschichte der Bundesrepublik

Methodischer Rahmen

Leitfragen

Gliederung

Quellen

Forschungsstand

I. Die gescheiterte Einordnung: Der Kampf um den Status des BND im Regierungsapparat der 1960er-Jahre

1.Die doppelte Vertrauenskrise des BND

Verhör und Beinaheverhaftung des BND-Präsidenten durch den Bundeskanzler

Adenauer ergreift die Initiative zu BND-Untersuchungen

2.»Unterstellung« statt »Angliederung«: Der Kabinettsbeschluss vom 2. Oktober 1963

Die Abwehrreaktionen aus dem BND

3.Bonner Kontakte und Beratungen durch den BND in der Regierungszeit Erhards

Krone und die Zusammenarbeit mit dem BND

Die zweite Regierung Erhard 1965/66 – Ein gescheitertes »Super-Abwehr-Ministerium« für Krone

4.Die Große Koalition

Die Blockade durch den BND geht weiter

Die neuen Kräfte Karl Carstens und Gerhard Wessel

Der Beginn der Reformen und die Dienstanweisung für den BND

Ausblick

II. Beschwerden und Kritik aus dem BND

1.Von den Eingaben Hans Maetschkes zum Bericht der Mercker-Kommission 1966–1969

Die Maetschke-Eingaben zwischen Kanzleramt, Bundesanwaltschaft und BND

Erich Helmdach

Die zweite Denkschrift Maetschkes vom November 1967

Zwischenbilanz zu den Eingaben Maetschke und Helmdach

2.Einsetzung und Ermittlungen der Mercker-Kommission

Der Weg zum Kommisssionsauftrag

Die Ermittlungen der Mercker-Kommission

Die Auswirkungen des Mercker-Berichts

III. Von Gehlen zu Wessel: Die Strukturkrise des BND in den 1960er-Jahren

1.Führungsspitze und Nachfolge

Reinhard Gehlen

Die Führungsgruppe

Informelle und formale Organisation des Dienstes

Militär und Generationalität

2.Primat der Sicherheit

Der Niedergang der Gegenspionage

Das »Schottensystem«

3.Führungsprobleme

Meldungen und Berichte

4.Mängel in Personal und Organisation: Das »Doktorhaus«

Drahtzieher Karl Eberhard Henke?

Der informelle Führungskreis um Gehlen

Der Führungskreis im Doktorhaus

Gehlens Führungsstil und die »jungen Leute«

Medien- und Regierungsarbeit: Klaus Dohrn und Johannes Schauff

5.Personalprobleme und Personalführung

6.Anfänge der Reformpolitik nach Gehlen

IV a. Bundestag und BND. Grundlagen, Funktionswandel und Kontrollmöglichkeiten des Vertrauensmännergremiums

1.Ein informelles Informationsgremium der Regierung und ein Forum zum Umgang mit NS-Personal, 1955–1963

2.Das PVMG als ständige Einrichtung für alle Geheimdienste 1964/65

3.Das PVMG als Clearinghouse: Das Gesetz zur Fernmeldeüberwachung

4.Die kleinteilige Arbeit der Vertrauensmänner 1966 bis 1968

5.Der Versuch zu einem Neustart 1968/69: Die Hirsch-Kommission

6.Die SPD in der Regierung – CDU/CSU-Opposition durch das PVMG?

7.Die Vertrauensmänner als Gremium der Opposition gegen die Regierung

8.Die Spiegel-Serie »Pullach intern« und der Kampf der Union gegen Ehmke

9.Das Vertrauensmännergremium im Zeichen der Medienskandale in den 1970er-Jahren

10.Der Weg zur Reform des Vertrauensmännergremiums

11.Bilanz

IV b. Haushaltskontrolle im BND zwischen Regierung, Bundestag und Bundesrechnungshof

1.Aufbau ohne Hindernisse 1955–1962

2.Der Einspruch des Bundesrechnungshofes

3.Die Unterstützung durch den Haushaltsausschuss

4.Rechnungshof und Haushaltsausschuss als Interessenvertreter des BND

5.Unter der sozialliberalen Koalition 1969–1978

V. Exkurs: BND und Verfassungsschutz in der Sicherheitsarchitektur der Bundesregierung

1.Die Organisationen des Geheimen Nachrichtenwesens

2.Konkurrenz um Kompetenzen mit dem Verfassungsschutz

VI. Das Gesetz über die Post- und Fernmeldeüberwachung von 1968

1.Voraussetzungen für deutsche Kontrolle

Deutsche Informationen über alliierte Kontrollen

Probleme zur Erarbeitung eines deutschen Gesetzes 1958–1963

2.Post- und Fernmeldekontrolle ohne den BND?

Höcherl und der Primat der Individualkontrolle 1962–1964

Interne Debatten der Bundesregierung und der Bundestag: Die Sorge um ein Grundrecht

Praktiken und Erwartungen des BND

Die Sitzung der Vertrauensmänner in Pullach am 6. Juli 1964: Grundsätzliche Zustimmung

Die Reaktion der Westmächte 1964

Höcherl laviert weiter

»Vorwarnung« – Ein Ausweg

Die Alliierten und das Ende des Höcherl-Entwurfs

3.Die versteckte strategische Kontrolle und das Gesetz

Ein neuer Entwurf – einschließlich strategischer Kontrolle

Konkrete BND-Pläne zur Fernmeldekontrolle

Die Verabschiedung durch den Bundestag 1967/68

Die »Richtlinien« zur strategischen Kontrolle

4.Die Umsetzung der strategischen Kontrolle

Die Übernahme der Kontrolle von den Alliierten

Die Ablösung der US-Kontrolle in der Praxis

VII. Antikommunistische Aufklärung und Werbung des BND

1.Psychologische Kampfführung in Org und frühem BND

Ein Grand Design der Org für Psychologische Kampfführung 1952–1954

»Psychopolitik« des BND im Regierungsapparat und in der Wissenschaft

Bescheidene Anfänge: Die Arbeitsgruppe für geistigpolitische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus

Koordinierung im »Donnerstagskränzchen«

Ein kleiner Aufbruch: Der »Aktionsplan« des BND

2.Ein begrenzter Neuanfang der Koordination 1962–1968

Rolf Geyer – Ein neuer Mann für die Psychologische Kampfführung gegen den Kommunismus

»Strategischer Friedenskampf« durch den BND ab 1963

Geschichtspolitik im Zeichen des Antikommunismus

Der Abschwung: Die Arbeitsgruppe zum Links- und Rechtsradikalismus

3.Interdok: Das Internationale Dokumentations- und Informationszentrum in Den Haag

4.Die Deutsche Arbeitsgruppe für Ost-West-Fragen

Aktionen und Differenzen bei Interdok 1963–1968

Die Deutsche Arbeitsgruppe und Interdok

Getarnte zivilgesellschaftliche Aktivitäten von Deutscher Arbeitsgruppe und Interdok in der Bundesrepublik

Finanzieller Rahmen der Zentralstelle für psychopolitische Forschung

Die Abwicklung von Zentralstelle und von Interdok durch den Bundesnachrichtendienst

Bilanz

VIII. Der Bundesnachrichtendienst und die Medien

1.Sonderverbindungen: Ein unscharfer politischer Begriff

2.Dimensionen der Medienarbeit

Umfassende Aufklärung aus dem Hintergrund

Antikommunistische Meinungssteuerung aller Medien?

Der Rote Brief

August Hoppe und seine Berichte aus dem WDR

Adolf Wicht und die Erziehung von Journalisten – Grundsätze und Durchführung

Die Medienverbindungen von Adolf Wicht und seine Kooperation im BND

Wichts Bemühungen um Rehabilitierung

Eine erste Fernsehsendung über den BND 1964

Lobpreisungen durch Marion Gräfin Dönhoff

»Wildenterich« – Der rechte Kämpfer Günther Heysing

3.Der Spiegel – Das Blatt mit der »größten Breitenwirkung«

»Bedingt abwehrbereit« und der BND

Die öffentliche Rezeption

»Nur« ein Verrat von Ermittlungen oder auch ein Verrat militärischer Geheimnisse?

Strauß, Adenauer und die Vorstellung einer allgemeinen Verschwörung

Beratung des Spiegel durch den BND – Die Serie »Pullach intern« 1971

Zusammenfassender Ausblick

Schlussbetrachtung

Der geheime Nachrichtendienst

Parlamentarische Begleitung

Parteien und BND

Nachrichtendienstliche Imagepflege und Leistungsstand

Geheimhaltung als Führungsprinzip

Gesamtpolitischer Ansatz und weltpolitische Mitsprache

Anhang

Abkürzungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Personenregister

Über den Autor

In der Forschungsreihe zur Geschichte des BND sind bisher erschienen

Vorbemerkung

Die Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968

Die Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968 (UHK) wurde im Frühjahr 2011 berufen und sechs Jahre mit insgesamt 2,2 Millionen Euro aus Bundesmitteln finanziert. Die Kommission sowie ihre zeitweilig zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, denen zuallererst gedankt sei, hatten im Bundeskanzleramt und im Bundesnachrichtendienst freien Zugang zu allen derzeit noch klassifizierten und bisher bekannt gewordenen Akten des Untersuchungszeitraums. Nach vorbereitenden »Studien« (www.uhk-bnd.de) legt sie ihre Forschungsergebnisse nun in mehreren Monografien vor. Die UHK hatte sich verpflichtet, die Manuskripte durch eine Überprüfung seitens des BND auf heute noch relevante Sicherheitsbelange freigeben zu lassen. Dabei ist sie bei keiner historisch bedeutsamen Information einen unvertretbaren Kompromiss eingegangen.

Das Forschungsprojekt zur Geschichte des BND unterscheidet sich von ähnlichen Vorhaben insofern, als es sich nicht auf die Analyse der personellen Kontinuitäten und Diskontinuitäten zur NS-Zeit beschränkt, sondern eine breit gefächerte Geschichte des geheimen Nachrichtendienstes aus unterschiedlichen Perspektiven bietet. Eine Bedingung der Vereinbarung mit dem BND war es gewesen, dass die UHK den Rahmen und die Schwerpunkte ihrer Forschung selbst festlegt. Gleichwohl waren auf einigen Feldern Einschränkungen hinzunehmen, namentlich bei den Partnerbeziehungen und den Auslandsoperationen des Dienstes.

Die Zusammenarbeit mit dem Bundeskanzleramt, vertreten durch Herrn Ministerialdirigent Hans Vorbeck, war ausgezeichnet. Bei den BND-Präsidenten Ernst Uhrlau, der das Projekt durchsetzte, Gerhard Schindler, der es förderte, und Bruno Kahl, der die Erträge erntet, stieß die Arbeit der Kommission auf wachsendes Verständnis und Entgegenkommen. Der Kommission ist es eine besondere Genugtuung, dass sie den entscheidenden Anstoß dazu geben konnte, dass die Einsichtnahme in historisch wertvolle Unterlagen des deutschen Auslandsnachrichtendienstes für alle Interessierten inzwischen zu einer selbstverständlichen Gewohnheit geworden ist.

Jost Dülffer, Klaus-Dietmar Henke (Sprecher),

Wolfgang Krieger, Rolf-Dieter Müller

BND-Busse zum Transport der Mitarbeiter in Pullach (ohne Datum, ca. 1968/69)

Einleitung

In den 1960er-Jahren geriet der Bundesnachrichtendienst in eine doppelte Krise: Er verlor das Vertrauen der Regierung, zumal von Bundeskanzler Konrad Adenauer, und seine eigene innere Ordnung erodierte. Präsident Reinhard Gehlen entglitten die Zügel. Dabei befand sich der BND in diesen Jahren in einer Phase des rapiden weiteren Ausbaus, den er Ende des Jahrzehnts abschließen wollte. Das Budget wuchs von 1961 bis 1967 um 75 Prozent, das Personal etwa im gleichen Umfang.1 Da der Dienst nach dem Zweiten Weltkrieg praktisch bei null angefangen hatte, stellte dies bereits eine Verlangsamung des Tempos dar.2

Man könnte zunächst denken, dass es sich um eine Wachstumskrise handelte, doch trifft dies nur einen Teilaspekt. Es war eher umgekehrt: Mitten im Aufbau entwickelte sich eine Strukturkrise, die sich aus ganz anderen Quellen speiste. Reinhard Gehlen und mit ihm große Teile seiner Führung hatten – wie sonst nur noch Wernher von Braun – unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg den Sprung von der Ostaufklärung der Wehrmacht in amerikanische Dienste vollzogen und schon in den 1940er-Jahren eine Organisation unter seinem Namen, Organisation Gehlen oder Org genannt, aufbauen können, die ab 1956 als Bundesnachrichtendienst einen wichtigen Teil der Sicherheitsarchitektur der Bonner Republik ausmachte. Gehlen, vordem Generalmajor der Wehrmacht, war seit 1945 die prägende Person und blieb dies als Präsident bis zu seinem Abgang 1968. Die Frühzeit der Org und des BND, also die 1950er-Jahre werden im Rahmen des Projektes in anderen Studien dargestellt. Diese Arbeitsteilung bringt es auch mit sich, dass zwei wichtige Bereiche in diesem Band nicht im Vordergrund stehen: einerseits das Kerngeschäft eines Nachrichtendienstes, die Informationsbeschaffung und -bewertung aus dem Ausland, andererseits die öffentlich viel diskutierte personelle und mentale Kontinuität des BND zur NS-Zeit. Einen öffentlichen Höhepunkt des Vertrauensverlusts in den BND bildete die Spiegel-Affäre von 1962, als Bundeskanzler Konrad Adenauer im Bundestag von Landesverrat sprach und intern die Verhaftung des BND-Präsidenten anstrebte. Das signalisierte die Krise im Regierungsapparat, die öffentlich wurde. Wichtiger war es intern, dass der Leiter der Gegenspionage, Heinz Felfe, der ein Eindringen gegnerischer Dienste in den BND verhindern sollte, bereits Ende 1961 als Sowjetspion verhaftet wurde – ein Mann, der darüber hinaus zum NS-Verfolgungsapparat gehört hatte. Öffentlich wurde das durch seinen Prozess und die Verurteilung wegen Landesverrats im Sommer 1963. Das stellte nur einen, jedoch wesentlichen Aspekt für die innere Krise dar, von der sich der Dienst bis 1968 nicht nur nicht erholte, sondern in die er immer tiefer hineingeriet.

Zur Frühgeschichte der Bundesrepublik

Während der BND auf vielen Feldern stagnierte, zurückfiel, in manchem auch regredierte, entwickelten sich Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik rasant weiter. Es tat sich eine Schere auf zwischen dem in vielen Sektoren traditionellen Beharren des BND und einer insgesamt dynamischen Entwicklung. Lange Zeit herrschte in der Wissenschaft die Vorstellung vom restaurativen Charakter der Nachkriegsjahrzehnte im Schatten der NS-Zeit. Jedoch hat sich bereits über Jahrzehnte die Ansicht durchgesetzt, dass schon in den 1950er-Jahren eine beachtliche Modernisierung einsetzte, die in den 1960er-Jahren weiter an Dynamik gewann und erst im Jahrzehnt danach an das Ende eines boomartigen Wiederaufbaus gelangte.3 Diese beiden unterschiedlichen Ansätze, Restauration und Modernisierung, schließen sich nicht aus, sie bilden vielmehr Blickwinkel, aus denen sich die gesamtstaatliche und gesellschaftliche Entwicklung mit Gewinn erfassen lässt. Mehr aber noch: Die Validität und Fruchtbarkeit eines solchen Ansatzes lässt sich nur sektoral genauer bestimmen. Lassen sich ökonomischer Aufstieg, charakterisiert im Begriff des Wirtschaftswunders, und Westernisierung als Teil einer auch kulturellen transatlantischen Austauschbeziehung auf der einen Seite lokalisieren, so ist der Elitenwandel, der Umgang mit der nationalsozialistischen Zeit eher auf der anderen Seite eines Spektrums zu verorten. Solche lebensweltlichen Sektoren lassen sich nicht eindeutig der Rückwendung oder dem Fortschritt zuordnen; sie finden sich jeweils in charakteristischer Mischung wieder und sind zumeist ambivalent. In einer Zeit, in der es nicht nur einen wirtschaftlichen Aufbruch gab, sondern auch wichtige Ansätze zu einer Verwissenschaftlichung, zur Planung von Politik, zur Ausdifferenzierung und zum Bedeutungsgewinn von Medien, blieb davon auch der BND nicht gänzlich unberührt. Jedoch entwickelte er selbst dort, wo er sich derartigen Tendenzen öffnete, zumeist einen retardierenden oder gar reaktionären Einfluss.

Was für weite Teile der Gesellschaft möglich ist, trifft auch die Orientierung der Bundesrepublik in der Staatengesellschaft. In der internationalen Politik finden sich die eindeutigsten Zäsuren für die BRD. Der Bau der Berliner Mauer im August 1961 signalisierte das Scheitern der bisherigen Wiedervereinigungspolitik. Ein langsames Umdenken, inwieweit der Primat der deutschen Vereinigung alle anderen Bereiche, zumal die Ostpolitik, bestimmen sollte, führte zu vorsichtiger Öffnung, die mit dem Beginn der Großen Koalition 1966, vor allem aber unter der sozialliberalen Koalition ab 1969 einen entscheidenden Schub erhielt. Gerade auf diesem Sektor war im BND angesichts einer ungebrochenen Kontinuität der Überzeugungen von kommunistischen Absichten, Zielen und Umsetzungen der Einklang mit konservativen Ansätzen in der Regierungspolitik noch groß, nur recht peripher zeichneten sich beim BND Ansätze zu einer mentalen Öffnung ab.

Das zentrale Interesse einer breiteren Öffentlichkeit am frühen Bundesnachrichtendienst richtete sich seit jeher auf die personellen und damit auch mentalen Kontinuitäten zur NS-Zeit und so auf die Mitwirkung von deren Angehörigen an den in dieser Zeit begangenen Verbrechen. Es stellt damit einen Teil der mittlerweile umfassenden geschichtspolitischen »Aufarbeitung« von Ämtern und Ministerien sowie Institutionen aller Art dar, die häufig von den entsprechenden heutigen Ministerien ausgegangen ist und noch ausgeht, vielfach durch Forderungen und Erwartungen aus der Öffentlichkeit in Gang gesetzt.4 Auch das Projekt der Unabhängigen Historikerkommission zur Untersuchung der Frühgeschichte des BND (im Folgenden UHK(-Projekt)) dürfte aus einem solchen Impuls heraus entstanden sein.5 Diese Leitfrage der Aufarbeitung, des Nachweises vom Ausmaß der personellen Kontinuitäten, wird in anderen Teilen des UHK-Projekts beantwortet, bildet aber auch für die vorliegende Studie einen wichtigen Fluchtpunkt. So wichtig es geschichtspolitisch bis in die Gegenwart hinein ist, die »braunen Wurzeln« der deutschen Nachkriegsgeschichte auch hier zu erfassen, so wenig befriedigend scheint es jedoch auf mittlere Sicht zu sein, allein den Nachweis zu erbringen, dass große Teile der bundesrepublikanischen Führungsschichten je nach Alter eine Berufsbiografie aufzuweisen haben, die in der NS-Zeit und hier auch in Unterdrückung und Verbrechen ihren Anfang nahm, wenn es sich nicht gerade um Emigrierte, Verfolgte und »unpolitisch« Wirkende handelte. Es gilt darüber hinaus zu fragen, auf welche Weise und unter welchen Belastungen mit diesen Personen ein demokratischer Neuanfang gelang; neben der NS-Belastung auch die Möglichkeiten pluralistischer Konkurrenz und politischen Lernens auszumachen. Im Rahmen dieser Arbeit wird versucht, auch hierauf eine Antwort zu geben.

Die über die »Aufarbeitung« hinaus zu stellende Frage an den BND hat jedoch eine weitere Dimension. Die Ermittlung gerade der personalen Kontinuitäten und Neuansätze ist sicher ein bedeutsames Thema, bildet aber wie immer in der Wissenschaft nur eine Basis für weitere Forschung. Eines der wichtigsten darauf aufbauenden Themen ist die langsame Durchsetzung von Demokratie und Rechtsstaat gerade aufgrund der relativen Kontinuität von Personal aus der NS-Zeit in der Bundesrepublik. Es geht dabei um Möglichkeiten und Grenzen des Hineinwachsens auch des Bundesnachrichtendienstes in dessen Staat und Gesellschaft. Oder anders gewendet: Gerade diese zeitgenössisch weitgehend unbekannte Organisation bildete einen bislang unterschätzten Teil dieses Vorgangs.

Methodischer Rahmen

Nachrichtendienste oder Geheimdienste6 zeichnen sich ihrem Wesen nach auch im Vergleich zu anderen staatlichen Institutionen durch einen hohen Grad an Geheimhaltung aus, der ihrem Handeln und Denken zugrunde liegt. Demokratische Öffentlichkeit bildet eine Seite einer demokratischen Kultur, Geheimnis und Geheimhaltung einen anderen. Bereits Georg Simmel stellte fest, dass im Geheimnis ein allgemeines Element sozialer Wechselbeziehungen stecke, dass dies ein konstitutives Element der Binnenkommunikation wie der sozialen Abgrenzung nach außen darstelle.7 Was dieser Autor für Individuen, Aristokratien, Geheimgesellschaften, dann aber auch für Parlamentskommissionen konstatierte, trifft im Kern auch für große soziale Gebilde, Organisationen wie Ministerien oder ganze Regierungen zu. Er sprach in diesem Zusammenhang auch von der konstitutiven Bedeutung eines Spannungsfeldes von Offenbaren und Verheimlichen.8 Geheimhaltung kann funktional für den internen Betrieb sein, sie kann aber auch dysfunktional durch zu starke Abgrenzung von Organisation(steilen) untereinander werden.9 Im Geheimdienstmilieu heißt das für die interne Kommunikation »Schottensystem«; doch gilt dies gleichermaßen für die Einbettung von Nachrichtendiensten in Staat und Gesellschaft. Für die Kommunikation des Nachrichtendienstes nach außen gab es je eine begrenzte Öffnung innerhalb des Regierungsapparates, eine sehr starke Abgrenzung jedoch gegenüber einer allgemeinen Öffentlichkeit. Auch Niklas Luhmann betonte, dass es gerade im Geheimen eine Kommunikation hierüber gegeben und üblich sei. »Die Semantik des ›Geheimen‹ gibt dieser Paradoxie eine besondere Aufbereitung«,10 was sich auch für den modernen Staat beobachten lässt.

Mit wachsender Parlamentarisierung und Demokratisierung in Westdeutschland hat sich auf der anderen Seite die Tendenz zur Öffentlichkeit und damit auch zur Kontrolle des zuvor in internen Apparaten Verhandelten ausgebildet. Das Verhältnis von Öffentlichkeit und Geheimhaltung wandelt sich unter den Bedingungen von Moderne und Demokratie.11 Was allgemein für staatliches Handeln gilt, trifft am stärksten für Geheimdienste zu, die sich schon dem Namen nach der Öffentlichkeit zu entziehen scheinen. Auch in liberaldemokratischen Staaten bleibt Politik wenn schon nicht in Vorbereitung und Planung wie in nachträglicher Einschätzung und Kontrolle, so doch in Ausführung Arkanpolitik, so zumal in Bereichen wie Außen- und Sicherheitspolitik.12 Unter den Rahmenbedingungen von demokratischer Staatlichkeit stellt Geheimnis nicht nur eine »Pathologie des Politischen« dar, sondern es bedarf jeweils eines politisch-gesellschaftlichen Aushandelns, was unter welchen Bedingungen für wen und wann als geheim gelten kann und darf.13 Im Extremfall kann man sich dennoch einerseits einen völlig im Geheimen agierenden Geheimdienst ebenso vorstellen wie andererseits einen ganz transparenten. Der US-Geheimdiensthistoriker Loch K. Johnson etwa charakterisiert in dieser Hinsicht für die USA die Jahre von 1947 bis 1974 als eine »Era of Trust«, in welcher man etwa im Senat des guten Zweckes wegen, nämlich der Bekämpfung des Kommunismus, dem Director of Central Intelligence weitgehend freie Hand gelassen habe, ohne selbst zu viel wissen zu wollen.14 Es wird zu prüfen sein, in welchem Maße diese Grundhaltung auch auf den BND zutraf. Auf der anderen Seite steht das 2007 bekundete Postulat des ehemaligen BND-Präsidenten (1996–1998) Hansjörg Geiger: »Es muss eine Möglichkeit bestehen, das Handeln der Nachrichtendienste komplett und vollständig zu überprüfen.«15 Zumindest in der bundesrepublikanischen Vorstellungswelt der 1960er-Jahre findet sich eine solche – auch bei Geiger qualifizierte – Einstellung nicht. Es ist nicht die Aufgabe dieser historischen Studie, das novellierte BND-Gesetz von 201616 hierin einzuordnen, jedoch stellt die historische Bearbeitung des Themas Vergleichsmöglichkeiten zur Verfügung.

Zwar stand wohl am Anfang des UHK-Projekts bei dem Zuwendungsgeber, dem BND, die späte Einsicht, dass zu einer Demokratie zumindest in länger zurückliegender historischer Perspektive auch die Offenlegung des Geheimen gehören sollte – freilich durch entsprechende US-amerikanische Aktivitäten nachdrücklich befördert17 –, doch blieb auch dies an den Vorbehalt des Staatswohls zur öffentlichen Freigabe aller Informationen gebunden. Die UHK akzeptierte die Übernahme des Geschichtsprojekts dagegen nur unter der Voraussetzung, dass alle einschlägigen Materialien, und zwar ausnahmslos, zugänglich waren und die historische Arbeit allein der freien Bearbeitung und Veröffentlichung der als historisch relevant erkannten Sachverhalte und Einschätzungen galt. Völlige Offenheit des Zugangs für die historische Arbeit und absolute Freiheit, das als wissenschaftlich bedeutsam Erkannte niederzuschreiben, bedeuteten jedoch zugleich die Überprüfung und Freigabe etwa auch in der Gegenwart noch geheim zu haltender Vorgänge und Sachverhalte durch den BND. Angesichts dessen sind in dieser Studie alle für historisch relevant angesehenen Erkenntnisse enthalten.

Die Forschungen zur Frühgeschichte des BND wurden im Vergleich zu anderen Institutionen der Bundesrepublik, deren Akten nach Maßgabe des Bundesarchivgesetzes zumeist schon viel früher frei zugänglich waren, insgesamt recht spät möglich. Maßgeblich dürfte hier gewesen sein, dass der Geschichtszeitraum dieses Projekts so weit zurückliegt, dass eine Geheimhaltungsbedürftigkeit des Nachrichtendienstes für diese Zeit weitgehend obsolet wurde.

Für das Thema dieses Bandes, die politischen Prozess der 1960er-Jahre, sind allein relevant die Diskussionen und Praktiken um das Geheime dieser Zeit. Pointiert: Das damals Geheime lag für die UHK offen und wurde so zum Gegenstand historischer Forschung. Hier geht es also um damalige Aushandlungsprozesse, die in der noch jungen Bonner Demokratie neu zu bestimmen waren. In dieser Zeit ist keineswegs eine einseitige Verlagerung von Geheimhaltung zu Transparenz zu verzeichnen. Wie aktuelle Debatten über NSA, Wikileaks und Snowden zeigen, gab es bereits damals eine Tendenz zur umfassenden geheimen staatlichen Informationsbeschaffung durch Nachrichtendienste, welche die Grundlagen des Öffentlichkeitsgebots von Demokratien infrage stellten und zum Teil völlig missachteten, zumindest eine Grundsatzdiskussion darüber erforderten, die häufig jedoch nur implizit erfasst werden kann. Geheimes Wissen verleiht Macht, und für geheim erklärtes Wissen hat überall und damit nicht nur in Nachrichtendiensten seither eine ungeheure Ausweitung erfahren. Solche Tendenzen haben ihre Vorläufer bereits in früheren Jahren. Das bildet ein zentrales Thema dieser Studie.

Bei einem Nachrichtendienst sind allgemein verschiedene Komponenten zu unterscheiden. Da ist zunächst die Frage, wie er mit Recht und Gesetz umgeht, sodann wie er Aufträge erhält und ausführt, schließlich auch, ob und wie weit seine Leistungen den an ihn gestellten Aufträgen und Erwartungen entsprechen.18 Das Geheime des Bundesnachrichtendienstes galt in zweiter und dritter Linie zunächst sogar innerhalb des Regierungsapparates, ja sogar gegenüber dem Bundeskanzler(amt), dem dieser Dienst relativ unspezifisch einfach »angegliedert«, dann jedoch ab 1963 förmlich präziser »unterstellt« wurde. Es traf sodann besonders gegenüber dem Bundestag zu, der in dieser Zeit eine denkbare eigene Kenntnis von ND-internen Vorgängen an besondere Gremien delegierte, die ihrerseits geheim tagten und weder ihre Fraktionen noch den ganzen Bundestag informierten oder auch nur informieren durften, geschweige denn die Öffentlichkeit. Wenn also Informationen über den BND in der Öffentlichkeit publiziert und rezipiert wurden, so geschah dies über belanglose Fragen hinaus vielfach im Modus des Gerüchtes, der Vermutungen, Enthüllungen und nicht zuletzt Skandalisierung. Solche Skandale wiederum veranlassten Parlament und/oder Regierung zu Reaktionen, die oft Ausgangspunkt für eine neue Bestimmung des Geheimen waren. Demokratie beruhte also zu einem Teil auf Aushandlungsprozessen über das Geheime, die in der jungen Demokratie der Bundesrepublik in vollem Fluss waren – gerade was den geheimen Nachrichtendienst BND betraf.19

Dabei sind vor allem fünf Problemkreise zu unterscheiden, die den meisten Nachrichtendiensten gemeinsam sind. Begründet wurden sie im Kern mit dem Argument der Sicherheit, die Geheimhaltung von Sachverhalten erfordere. Im ersten dieser Kreise ging es darum, wie dort Informationen überhaupt erworben wurden; durch Personen, Quellen, Informanten, Agenten, »Spitzel« – im Fachjargon Human Intelligence (Humint) – genannt. Hier lag ein wichtiges Augenmerk darauf, deren Enttarnung zu verhindern, die zu persönlicher Gefährdung von Personen (Informanten) führen konnte. Es ging aber ebenso um die Gefahr innergesellschaftlicher Enttarnung, die Informanten in ihrem beruflichen oder privaten Umfeld Nachteile bringen konnte. Aus gleichen Gründen galt die Geheimhaltung von Praktiken der technischen Nutzung von Geräten, Signal Intelligence (Sigint) wegen ihrer technischen Angreifbarkeit, aber auch in ihrer rechtlichen Fundierung als diskussionswürdig.20 Der zweite Kreis betraf den Inhalt von nachrichtendienstlichen Informationen, die finished intelligence, die wiederum einem Gegner Hinweise auf den ersten Kreis geben konnte. Das bot in einem komplexen wechselseitigen Vermutungs- und Verschleierungssystem den auf diese Weise beratenen Politikern und damit auch bezogen auf deren Inhalte der Politik Ansätze für eigene Kommunikationsstrategien. Beim dritten Problemkreis ging es um Organisation, Anbindung und politische Aktivitäten des Nachrichtendienstes als einer Institution, ja einer besonderen Behörde. Die Frage nach der rechtsstaatlichen Zulässigkeit für die ersten beiden Sektoren konnte man relativ gut normieren; das ließ aber in der damaligen Zeit noch ein breites Spektrum offen. Gerade deswegen konnte man dies am meisten skandalisieren, und so führte es auch zu wiederholten öffentlichen Debatten. Schwieriger war es jedoch, die spezifische nachrichtendienstliche Leistungsfähigkeit von außen zu beurteilen. Noch wichtiger für öffentliche und nichtöffentliche Debatten wurde aber der vierte Kreis, die innere Ordnung dieser Behörde, und diese wurde auch am breitesten regierungsintern wie medial thematisiert. Am wichtigsten erscheint dem analysierenden Historiker fünftens darüber hinaus die Leistungsfähigkeit des Dienstes, die Erfüllung der politisch gestellten oder selbst gesetzten Aufgaben zu sein.

»Skandale ermöglichen grundsätzlich Rückschlüsse auf die Normen und Werte einer Gesellschaft.«21 Sie beruhten auf der Erkenntnis oder Vermutung, dass Informationen, die unbekannt waren, aber aus unterschiedlichen Gründen von öffentlichem Interesse waren, zurückgehalten oder verfälscht werden sollten oder auch wurden. Damit ist das Gebiet der Kontrolle angesprochen, die beim Kanzleramt anfing, mehrere Gremien des Bundestages umfasste und schließlich auch die Öffentlichkeit beschäftigte. Kontrolle setzt die klare Vorgabe voraus, was denn eigentlich kontrolliert werden sollte, um sich so um deren Umsetzung zu kümmern.22 Derartige klare Vorgaben über den Gewinn von Erkenntnissen über das (gegnerische) Ausland sind jedoch wenig auszumachen, sodass es in der Praxis vor allem um den dritten Problemkreis gehen musste. Auch hier gab es im Aufbau der westdeutschen Staatlichkeit zunächst nur wenige präzise Normen.

Auf unser Thema angewandt: Enthüllungen über gesetzwidrige oder anderswie Kompetenzen überschreitende Aktivitäten des BND führten zu den nachhaltigsten ND-Debatten und erreichten auf diese Weise das politische System und die Öffentlichkeit. Ob und wie etwas skandalisiert werden kann, liegt an Grundstrukturen der Gesellschaft. Eine Erklärung von Skandalen allein aus Strukturen von Medien, die Aufmerksamkeit erzeugen wollen, um damit mediale Marktanteile zu gewinnen, greift zu kurz.23 Ebenso dürfte es zutreffen, dass Skandale auch losgetreten werden, um dadurch ganz andere politische Ziele durchzusetzen. Aber: »Within the polarized echo-chambers of the current news cycle, allegations only fan pre-existing assumptions«,24 bildet eine für gegenwärtiges Whistleblowing zutreffende Erkenntnis, die auch für den vergangenen Umgang mit Geheiminformationen fruchtbar zu machen ist. Es geht nicht allein um die Behauptung eines anstößigen Sachverhalts als solchem, der aufgedeckt werden solle oder müsse. Vielmehr handelt es sich darum, dass diese mit einer gewissen Nachhaltigkeit wahrgenommen und öffentlich ausgetragen werden; dann markieren sie einen für diese Untersuchung wichtigen Tatbestand. Es geht also insgesamt um den durch Skandale signalisierten Umgang mit symbolischer Macht, die auf diese Weise verhandelt wird. »Scandals are social struggles which are fought out in the public domain and which are constituted by the acts and speech-acts of individuals and organizations which expose, allege and condemn, as well as by the acts and speech-acts of those who are at the centre of the allegations and find themselves caught up in the unfolding drama.«25 Ausgetragen werden diese Konflikte zumeist in der Auseinandersetzung um juristische Normen für das Geheime, die oft nur vage und aushandlungsfähig blieben und damit auch den Trend staatlicher Organe, möglichst viel unter Verschluss zu halten, nicht widerspruchslos hinnahmen, sondern die durch Skandale, Aufdeckung und Publizität zu Veränderungen beitrugen. Es trifft zu: »Im Falle von Skandalen kann es ein weiterer Skandal werden, wie man sich zum Skandal äußert«, wie Niklas Luhmann formulierte.26 So wurden gerade in der hier behandelten Zeit Skandale zunehmend zum Teil der Medienpolitik und zum Zeichen für eine kritischer werdende Öffentlichkeit.27

Dem wird in dieser Studie in der Nahbetrachtung Rechnung zu tragen gesucht, wenn es nicht nur darum geht, die Geschichte von (auszuhandelnden) Normen zu untersuchen, sondern diese in den Wertewandel der 1960er-Jahre und dabei auch den BND als Teil dieses Vorgangs einzubeziehen.28 Die genannte Spiegel-Affäre und der Spionagefall Felfe bildeten die Grundlage für öffentliches Misstrauen gegenüber dem BND, das jederzeit durch kleinere Enthüllungen für große Teile der Öffentlichkeit zu aktivieren war.

Leitfragen

Die allgemeine Frage nach der Aushandlung des Geheimen zwischen Staat, Politik und Medien in der frühen Bundesrepublik einerseits und die Rolle, die der BND als Akteur und Objekt darin spielte, andererseits bilden also den überwölbenden Gesichtspunkt für diese Studie. Unterhalb dieser Ebene geht es um drei konkrete Leitfragen, die im Querschnitt immer wieder auftauchen und sich durch jeweils mehrere Kapitel ziehen. In der Wahl zwischen chronologischer und systematischer Gliederung wurde Letzterem der Vorrang gegeben, bedurfte es doch zur Erschließung der Kapitel zumeist unterschiedlicher Methoden; immer ging es um andere sachliche Zusammenhänge, in welchen diese Fragen angesprochen wurden.

Eine erste Leitfrage stellt die Ein- und Unterordnung des BND in den Regierungsapparat dar. Es geht um die formale, 1963 durch Kabinettsbeschluss verfügte Unterstellung des Dienstes unter das Kanzleramt. Das ist Thema des ersten Kapitels, und es wird im Rahmen dieser Arbeit wiederholt aufgegriffen, wenn gezeigt wird, in welchem Maße der BND in der späten Zeit Gehlens seine eigenen Anspruch auf relative Autonomie im Regierungsapparat, aber darüber hinaus im politischen System der Republik anzumelden, zu verteidigen und partiell durchzusetzen suchte. Damit hing eine zweite Leitfrage zusammen: der Anspruch des BND auf gesamtgesellschaftliche Mitsprache. Was sich im internen Schriftwechsel als Beratung von Kanzleramt und Ministerien darstellte, beruhte auf dem Anspruch eines informierten Wissens über Grundlagen der Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik und letztlich der Vorstellung, das eigene Staatsverständnis mit Autorität in eine sich wandelnde politische und kulturelle Landschaft einbringen zu können. Dazu gehörte schließlich als dritte Leitfrage auch, zu ermitteln, welche Energien nicht nur in die nachrichtendienstliche Informationsbeschaffung gesteckt wurden, sondern vor allem in die Öffentlichkeit, und darüber hinaus, wie diese informellvertrauliche Informationsgebung auch im medialen und politischen Raum zur Festigung der eigenen Stellung eingesetzt wurde. Hier ging es neben der Imagepflege um eine allgemeine Beeinflussung von Politik und Öffentlichkeit durch eine – zugespitzt – antikommunistische Immunisierung, die mit nachrichtendienstlicher Tätigkeit oft kaum zu tun hatte. Sie war aber ein – vielfach verdeckt betriebenes – Element der entsprechenden Sicherheitsstruktur der Bundesregierungen. Hierin lag ein wichtiger Teil des Selbstverständnisses in der damals perzipierten existenziellen Auseinandersetzung in Ost-West-Konflikt und Kaltem Krieg.

Gliederung

Die Gliederung der Studie selbst folgt der Sachlogik einzelner Sektoren der BND-Tätigkeit im Zeitablauf. Im ersten Kapitel geht es um die formale und informelle Einbettung in den Regierungsapparat. Der BND sollte, das war bei seiner Gründung 1956 klar, keinem einzelnen Ministerium unterstellt werden und wurde daher dem Bundeskanzleramt »angegliedert«. Was dieser Begriff tatsächlich bedeutete, blieb unklar. Die Vorstellungen des BND richteten sich auf die Entwicklung zu einer Obersten Bundesbehörde, die gemäß Grundgesetz eine größere, einem Ministerium ähnliche Unabhängigkeit gehabt hatte als eine Oberbehörde. Das wurde zunächst informell durch persönliche Beziehungen von Kanzleramtsstaatssekretär Hans Globke und Präsident Gehlen gelöst, jedoch wird gezeigt, wie dann Skandale um den BND im Oktober 1963 zu einem Kabinettsbeschluss zur Unterstellung des Dienstes unter das Kanzleramt nur als Oberbehörde führten – eine der letzten Maßnahmen der Regierung Adenauer. Für die nachfolgenden fünf Jahre wird dargelegt, wie es Gehlen gelang, genau den konkreten Vollzug abzuwenden. Die Lösung mit einer Dienstanweisung wurde vom Kanzleramt unter Leitung von Karl Carstens gegen weiteren Widerstand auch des neuen BND-Chefs Wessel 1968 durchgesetzt.

Die inneren Strukturen des BND erschließen sich nur bedingt aus den laufenden Akten. Daher werden im zweiten Kapitel zunächst Abläufe dargelegt. Sie umreißen die in den letzten Jahren unter Gehlen zunehmenden Beschwerden aus dem Dienst und die darauf folgende Einsetzung einer regierungsinternen Prüfungskommission unter dem ehemaligen Staatssekretär Reinhard Mercker, die 1969 einen streng geheimen Bericht vorlegte. Erst aus diesen Vorgängen, die ihrerseits ein Symptom für die Krise des BND waren, erschließt sich das Ausmaß der kumulativ angefallenen Probleme im Nachrichtendienst.

Auf dieser Basis werden im dritten Kapitel die unterschiedlichen Aspekte der inneren Struktur des BND entfaltet, die sich, ein Symptom der Krise, aus den zeitgleichen Akten nur bedingt erschließen. Hier geht es zunächst um Gehlen und um seine für den Führungskreis charakteristische militärische Prägung aus dem Zweiten Weltkrieg. Es wird gezeigt, dass sich hier zunehmend informelle Formen der Kooperation einer alternden Elite ausbreiteten, während Gehlen selbst, gestützt auf einen engeren Kreis persönlich vertrauter Personen im »Doktorhaus«, die Führung vernachlässigte. Die aus dem Fall Felfe folgenden gesteigerten Sicherheitsvorkehrungen, Mehrfachbearbeitung und Überalterung führten zu einer Selbstblockade, die erst durch Reformen des neuen Präsidenten Wessel sowie durch die Führung des Bundeskanzleramtes unter Karl Carstens (CDU) und Horst Ehmke (ab Herbst 1969, SPD) aufgehoben wurde.

Die beiden Teile des folgenden vierten Kapitels behandeln die Verankerung des BND im parlamentarischen System der Bundesrepublik. Die dafür zuständigen geheim tagenden Ausschüsse setzten unterschiedlich und in verschiedenen Konstellationen an. Das Parlamentarische Vertrauensmännergremium (PVMG) war informell für die Unterrichtung über den gesamten BND zuständig, während sich ein Unterausschuss des Haushaltsausschusses gesetzlich geregelt mit Bewilligung und Kontrolle des Etats beschäftigte und zum Teil zeitgleich mit dem Bundesrechnungshof handelte und kooperierte. Beide Institutionen sahen sich zunächst nicht als politische Kontrollorgane, sondern nahmen beschränkte sektorale Aufgaben wahr, die sich zum Teil überschnitten. Sie hatten ein unterschiedliches Bewusstsein von ihren Aufgaben und Kompetenzen, das sich in einem ständigen Aushandlungsprozess mit dem BND und der Regierung niederschlug. Die nach Gehlens Zeit unternommenen Reformschritte werden hier im Ausblick umrissen. Die Überlappung beider Gremien führte ab 1969 zu einer zeitweiligen Verschränkung; dann aber wird gezeigt, wie sich das PVMG zeitweilig zu einem Kampforgan der Opposition und zu einem Gremium der kleinteiligen Skandalisierung wandelte, bis es 1978 durch ein gesetzlich verankertes Kontrollgremium abgelöst wurde.

Die Einbindung des BND in die Sicherheitsstruktur der Bundesregierung und des parlamentarischen Systems wird an zwei zentralen Themen gezeigt: kursorisch in den Auseinandersetzungen um die Abgrenzung und Kooperation mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz im fünften Kapitel, während das folgende sechste Kapitel die Entstehung des Gesetzes zur Fernmeldekontrolle nachzeichnet. Dieses im Schatten der Notstandsgesetze zur Ablösung der alliierten Kontroll- und Abhörpraktiken ab 1968 allgemein, also für den Frieden gültige Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz betraf zentrale Interessen der Informationsgewinnung des BND und wurde im Regierungsapparat und in einigen zentralen Aspekten mit Bundestag und Westalliierten über Jahre kontrovers diskutiert. Hier wird analysiert, wie gerade die vom BND für erforderlich gehaltene strategische Kontrolle über Jahre hinweg zu Aporien eines künftigen rechtsstaatlichen Vorgehens in der Regierung führte und welche Wege und Mechanismen für den insgesamt in dieser Frage zurückhaltenden BND in Gesetzesform gefunden wurden, welche die Möglichkeiten der einschlägigen Informationsbeschaffung auf eine neue Basis stellten.

Einen bisher für die Tätigkeit des BND unbeachteten, aber diesem sehr wichtigen Strang seiner Tätigkeit stellte die verdeckte Beteiligung an deutscher wie internationaler antikommunistischer medialer Aufklärung dar. Im siebten Kapitel geht es darum, wie schon die Org Gehlen hierfür seit den frühen 1950er-Jahren eine zentrale Mitsprache auf Regierungsebene beanspruchte, in der Folgezeit aber nur begrenzt durchsetzen konnte. Der Einfluss dieser BND-Bemühungen im Regierungsapparat wird ebenso erörtert wie die weitgehend eigenständig und mit einigem finanziellen Aufwand in die Öffentlichkeit hinein betriebenen BND-Aufklärungs- und Propagandamaßnahmen. Ohne dass diese nachrichtendienstliche Bedeutung hatten, finanzierte der BND ein antikommunistisches, vereinsrechtlich organisiertes europäisches Netzwerk Inter-dok in Den Haag und schuf dazu als Unterbau auf der Basis von Tarnfirmen auch ein bundesdeutsches Netzwerk zur antikommunistischen Beeinflussung der Öffentlichkeit bis hin zu Wissenschaft und politischer Bildung.

Neben der Unterstützung dieser antikommunistischen strukturellen Meinungsbeeinflussung betrieb der BND eine breite Medienarbeit, wie das achte Kapitel umreißt. Hierbei geht es zunächst um die Strukturen, bei denen mittels Journalisten nachrichtendienstliche Informationsgewinnung zu äußeren wie auch inneren Aspekten der Politik betrieben wurde. Es wird dargelegt, wie sich aus »Quellen«, aber auch aus vagen »Sonderverbindungen« ein flächendeckendes Netz der Beeinflussung von Medien spann, weit über Pressearbeit hinaus-und einherging mit Informationsbeschaffung, die in Regierungskreise eingespeist werden sollte. Hier werden neben dem umfassenden Anspruch an einigen zentralen Beispielen wie u. a. dem Magazin Der Spiegel, des (ehemaligen) Hamburger BND-Residenten Adolf Wicht, der Zeit-Redakteurin Marion Gräfin Dönhoff Anspruch, Möglichkeiten und Grenzen dieser Medienpolitik dargelegt.

Quellen

Für die Studien des UHK-Projekts standen die Akten des BND-Archivs und des Bundeskanzleramtes zur Verfügung. Große Teile der BND-Akten wurden erst während der Projektzeit aufgefunden, benutzbar, verzeichnet. Es kann bis heute nicht abschließend gesagt werden, ob es weiteres relevantes Material im Dienst gibt bzw. in welchem Maße sich solches in privater Hand befindet. Gerade für die Vorgänge um den BND-Präsidenten sind die Quellen lückenhaft, wobei unklar ist, ob dem frühe Vernichtungen vorangegangen sind, in welchem Umfang schon zeitgenössisch aus Geheimhaltungsgründen nicht schriftlich festgehalten wurde oder was gar noch in privater Hand verblieben sein kann. Über den Charakter und Verbleib von Gehlens um die Jahre 1973/74 verfilmten und ins Ausland gebrachten Materialien – CIA-Dokumente berichten davon29 – war bis vor kurzem nichts bekannt. Anzunehmen ist, dass die der Süddeutschen Zeitung zugespielten und von dieser am 2./3. Dezember 2017 erstmals ausgiebig zitierten Gehlen-Papiere damit identisch sind.30 Es ist vor Druck dieser Studie nicht gelungen, einen Zugang zu diesen Quellen zu erhalten. Die quantitative Überlieferung für viele der hier behandelten Sachthemen ist schon für die Jahre dieser Studie gut, bisweilen sehr umfangreich, kleinteilig und detailliert. Unter Präsident Wessel setzten sogleich Strukturreformen ein, deren Diagnosen und anschließende Umsetzungen erst vollen Einblick in die vorangegangenen Strukturen und Vorkommnisse der letzten Jahre Gehlens boten. Ergänzt wurde dieses Material der Sachakten durch Personalakten, darunter Sicherheitsakten, und Nachlässe, von denen vor allem der Gerhard Wessels offene Einblicke in Interna auch der vorangegangenen Zeit ermöglicht.

Als Gegenüberlieferung erwiesen sich die Akten des Bundeskanzleramtes (Akten BK) an vielen Stellen als ergiebiger als die des BND und somit als Korrektiv. So wurde etwa von den Protokollen des PVMG nur ein Exemplar gefertigt, das in den Akten BK verblieb; erst ab 1969 erhielten Ausschussmitglieder Zugang. Aus den Beständen BK ließen sich darüber hinaus Vorgänge erschließen, die den BND als Objekt in den Regierungsstrukturen verorteten, ohne dass dieser selbst immer aktiv beteiligt war. Für einzelne Themenstränge war es darüber hinaus erforderlich, die Akten anderer Ministerien und Dienststellen einzusehen, so etwa des Innen-, Justiz- und Gesamtdeutschen Ministeriums sowie des Auswärtigen Amtes. Für die Hintergründe der Spiegel-Affäre waren die Akten des Generalbundesanwaltes sehr nützlich.

Im Archiv der sozialen Demokratie, im Archiv der christlich-demokratischen Politik und im Archiv der christlich-sozialen Politik konnten Sachakten der Fraktionen herangezogen werden, die über den Umfang der einschlägigen Veröffentlichungen im Rahmen der Parlamentarismuskommission hinausreichten. Darüber hinaus wurden zahlreiche Nachlässe ausgewertet. Erwartungsgemäß erwiesen sich die der Regierungsparteien CDU und CSU als am ergiebigsten, so vor allem der Nachlass des Kanzleramtsbeamten Günter Bachmann. Aber auch vom SPD-Politiker Fritz Erler wie aus seiner Fraktion stammen aufschlussreiche Dokumente. Aufgrund der Geheimhaltungsvorschriften für nachrichtendienstliche Fragen wurden jedoch in den Parteistiftungen sonst wenig einschlägige Quellen zum Kern der nachrichtendienstlichen Tätigkeit und Politik gefunden.

Aus den US-Archiven, zumal der CIA, sind hier nicht relevante Quellen für die Org-Zeit bis 1955 gut publiziert, darüber hinaus Personaldossiers für die NS-Belastungen zugänglich. Es bleibt jedoch unbekannt, wie der BND insgesamt weiter beobachtet oder gar penetriert wurde. Die gerade genannten und stark geschwärzten Gehlen-Dossiers lassen darauf schließen, dass in den USA beträchtliche Erkenntnisse vorlagen, die sich in deutschen Akten nicht direkt spiegeln.

Die Geschichte der frühen Bundesrepublik und zumal der 1960er-Jahre ist relativ gut erforscht. Das macht es möglich, sich auf die Ergebnisse jeweils sektoral abzustützen. Im Rahmen der angesprochenen Ressortforschung entwickelten vor allem vier bereits abgeschlossene Projekte neue methodische und inhaltliche Perspektiven, die auch für diese Studie wichtige Anregungen boten. Das waren in zeitlicher Reihenfolge das Auswärtige Amt, das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz sowie das Justizministerium, die jeweils starke Schwerpunkte auf personelle und damit auch mentale Kontinuitäten legten, die hier nur einen unter mehreren sektoralen Zugängen bildeten.31

Forschungsstand

Der allgemeine Forschungsstand zur frühen Geschichte der Bundesrepublik kann über die eingangs gemachten Bemerkungen hinaus hier nicht vertieft werden. Die Beschäftigung mit der Geschichte des BND der 1960er-Jahre beginnt mit der laufenden zeitgleichen Berichterstattung von Medien, dann gelegentlich in Buchpublikationen verdichtet. Diese pflegte selektiv, häufig enthüllend und spekulativ zu sein, beruhte darüber hinaus aber auch auf authentischem Material, zum Teil im Rahmen der Medienarbeit aus dem Dienst stammend, zum Teil aber auch auf Whistleblower-Interessen lanciert und zugespitzt. Die Spiegel-Serie »Pullach intern« und das aus dieser folgende Buch von 1971 markierten einen ersten Höhepunkt. Sie beruhten zum Teil auf ergiebigem Material und bildeten trotz Skandalisierung und Erfindung und aller Kooperation mit dem BND die für lange Zeit ausführlichste, in manchem auch beste, wenn auch problematische Darstellung.32 Auf der anderen Seite standen die Memoiren Reinhard Gehlens, gleichfalls von 197133, die gerade in ihrem apologetischen, oft den heute möglichen Erkenntnissen diametral widersprechenden Charakter jahrzehntelang für das Bild in einer breiteren Öffentlichkeit prägend waren. Der Zugang zu entsprechenden US-Akten über das Freedom of Information Act (FOIA), zumal über die NS-Belastung von deutschem Personal, und Gerichtsklagen auf Einsicht in BND-Unterlagen ermöglichten seit den späten 1990er-Jahren gründlichere, auf Quellen gestützte Arbeiten, die jedoch für die 1960er-Jahre und das Thema dieser Studie noch rar blieben. Für die Berichterstattung der US-Dienststellen über den BND fehlen für die 1960er-Jahre bis auf wenige Ausnahmen noch alle Quellen. Hervorzuheben ist die Gesamtdarstellung des BND durch Peter F. Müller und Michael Mueller, ebenso zu erwähnen sind mehrere Arbeiten von Erich Schmidt-Eenboom und Mitarbeitern, welche auch die Grundlage bundesdeutscher Quellen wesentlich erweitern, oft jedoch diese Materialien, die nicht überprüfbar sind, aufgrund ihres mangelnden Zugangs zu oberflächlich oder gar einseitig kontextualisierten.34

Der BND legte, seit Ende des ersten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert verstärkt und durch Gerichtsurteile veranlasst, Akten offen, die sich in journalistischen Recherchen niederschlugen, so zumal im Spiegel.35 Noch vor dem Zugang zum BND-Archiv publizierte Wolfgang Krieger mehrere Überblicksstudien und Themenaufrisse, und Stefanie Waske legte eine Arbeit zur parlamentarischen Kontrolle vor.36 Im Rahmen des UHK-Projektes sind fünf exemplarische kleinere Studien erschienen. Seit 2016 liegen die ersten Monografien vor, die jeweils im Rahmen des Projektes zu fruchtbarem Austausch führen, jedoch arbeitsteilig die Frühgeschichte des BND sektoral abgegrenzt erarbeiteten und noch erarbeiten. Sie werden hier nicht im Einzelnen aufgezählt, stellen aber insgesamt Beiträge zu einem vernetzten, sich minimal überlappenden Projekt dar.

Die vorliegende Studie entstand im Rahmen der Publikationen der Unabhängigen Historikerkommission zur Frühgeschichte des Bundesnachrichtendienstes. Dazu hat es im Laufe der Zeit unterschiedlich intensive Kooperation, Austausch und Diskussion mit allen Mitarbeitern und Kollegen gegeben, die hilfreich und anregend waren. Mit Klaus-Dietmar Henke wurde eine Arbeitsteilung der innenpolitischen Vorgänge in etwa mit dem Stichjahr 1961 vorgenommen, die jedoch für die jeweiligen Sachgebiete flexibel überschritten wurde. Peter Ridder führte anfangs wertvolle Recherchen durch. Zahlreichen, im Anhang genannten Archiven und deren vielen Mitarbeitern ist für die freundliche und kompetente Beratung und Bereitstellung von Archivalien zu danken, angesichts des Erfordernisses des Zugangs zu Verschlusssachen oft keine ganz einfache Angelegenheit. Das gilt auch für das Archiv des BND und die entsprechende sehr gute Betreuung im Bundeskanzleramt. Nikolaos Gazeas las das Kapitel zur Fernmeldekontrolle kritisch. Als Zeitzeugen standen bereitwillig, freundlich und umsichtig die ehemaligen BND-Mitarbeiter Hans-Henning Crome und Volker Foertsch zu Auskünften zur Verfügung. Wichtig waren ferner die kompetente Betreuung im Christoph Links Verlag durch Christoph Links und Margret Kowalke-Paz als Lektorin. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank.

Die im Nachrichtendienst übliche Schreibung von Namen mit Großbuchstaben wurde nicht übernommen, in den Zitaten weitgehend die dort verwendete Rechtschreibung beibehalten. Offensichtliche Schreibfehler wurden stillschweigend korrigiert. Kursivierungen in den Zitaten stellen Hervorhebungen im Original dar.

1Die Ausgaben stiegen von 1961 114,3 Mill. DM bis 1967 auf 199,3 Mill. DM, die Personalausgaben für planmäßiges Personal im gleichen Zeitraum von 38 Mill. DM auf 96,8 Mill. DM; BNDA, 4454. Die Personalzahl wuchs von 3500 (1961) auf 6140 (1968) Personen; BK, Notiz für Herrn StS, 12. 3. 1968, Akten BK, 15100 (64), Bd. 5, Bl. 13a.

2Christoph Rass: Das Sozialprofil des Bundesnachrichtendienstes. Von den Anfängen bis 1968, Berlin 2016, S. 35–88.

3Wegweisend die Sammelbände von Axel Schildt und Arnold Sywottek (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993; Axel Schildt, Detlef Siegfried und Karl Christian (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Staaten, Hamburg 2000; prägnant zusammengefasst: Axel Schildt: Vor der Revolte. Die sechziger Jahre. Aus Politik und Zeitgeschichte, B 22, 2002, S. 7–13; Gabriele Metzler: Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005.

4Christian Mentel und Niels Weise: Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus. Stand und Perspektiven der Forschung, München–Potsdam 2016.

5Vgl. Bodo Hechelhammer: Das Geschichtsprojekt des BND. Möglichkeiten und Grenzen der wissenschaftlichen Erforschung eines geheimen Nachrichtendienstes, Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 7 (2014), S. 289–300.

6Man kann zwischen Nachrichtendiensten unterscheiden, denen es »nur« um Informationssammlung geht, und Geheimdiensten, die darüber hinaus auch an anderen aktiven Handlungen zur Störungen gegnerischer Politik und Gesellschaft bis hin zur Tötung mitwirken. Diese scharfe Unterscheidung wird für den BND im Folgenden für unzweckmäßig gehalten.

7Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, hg. Von Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1992, darin: Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft, S. 383–455, hier besonders S. 433–455.

8Ebd., S. 413–414.

9Burkard Sievers: Geheimnis und Geheimhaltung in sozialen Systemen, Opladen 1974, S. 77; vgl. Joachim Westerbarkey, Das Geheimnis. Zur funktionalen Ambivalenz von Kommunikationsstrukturen, Opladen 1991, S. 95–99.

10Niklas Luhmann, Geheimnis, Zeit und Ewigkeit; in: Peter Fuchs und Niklas Luhmann: Reden und Schweigen, Frankfurt am Main 1989, S. 104.

11Wolbert A. Smidt et al. (Hg.): Geheimhaltung und Transparenz. Demokratische Kontrolle der Geheimdienste im internationalen Vergleich, Berlin 2007, darin Wolfgang Krieger: Die historische Entwicklung der Kontrolle von Geheimdiensten, S. 13–30; komparativ: Stefanie Waske: Die Kontrolle der Auslandsnachrichtendienste in einigen Staaten, S. 278–335.

12Rüdiger Voigt (Hg.): Staatsgeheimnisse. Arkanpolitik im Wandel der Zeiten, Wiesbaden 2017.

13Vgl. Eva Horn: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt a. M. 2007, S. 118.

14Loch K. Johnson: Lawmakers and Spies. Congressional Oversight of Intelligence in the United States; in: Smidt et al., S. 173–196 (173–175). Dies war eine zugespitzte Tendenzaussage; J. unterscheidet dann u. a. auch eine Era of Distrust (1987–1991).

15Hansjörg Geiger: Wie viel Kontrolle ist möglich und nötig? Rechtliche Grundlagen und politische Praxis; in: Smidt et al., S. 33–49 (36). Auch Geiger qualifiziert die vollständige Offenheit in seinen Erläuterungen in vieler Hinsicht.

16BND-Gesetz vom 20. 12. 1990, novelliert 2016, www.gesetze-im-internet.de/bndg/index.html.

17Zahlreiche Quellenveröffentlichungen online im CIA-Reading Room: www.foia.cia.gov und Kevin C. Ruffner: Forging an Intelligence Partnership. CIA and the Origins of the BND, 1945–1956, 2 Bände, 4 Teile, Washington 2006.

18Hermann Borgs-Maciejewski: Vertrauensbildung durch Kontrolle der Polizei und Geheimdienste; in: Smidt et al. (Hg.), S. 80–89 (84: Rechts- und Leistungskontrolle).

19Zu ergänzen ist, dass gerade das Prinzip der Desinformation für Auslandsnachrichtendienste von großer Bedeutung war, sprich: die Lancierung falscher oder verfälschter Informationen etwa aus dem Ostblock hinein in Regierungen und Öffentlichkeit der BRD, um so dort Skandale im eigenen Sinne zu produzieren. Das gab es beim Ministerium für Staatssicherheit der DDR und bei den sowjetischen Geheimdiensten in großem Umfang. Doch dieses Vorgehen erscheint im hier gemeinten Rahmen von geringer Bedeutung gewesen zu sein.

20Daneben unterscheidet man nachrichtendienstliche Erkenntnisse aus offenen Quellen (Osint), bei denen die Kombination mit anderen Quellen zu »neuen« Erkenntnissen führen kann, deren Art der Benutzung zeitgenössisch nicht öffentlich wurde.

21Kristin Bulkow und Christer Petersen: Skandalforschung. Eine methodologische Einführung; in: dies. (Hg.): Skandale. Strukturen und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung, Wiesbaden 2011, S. 17.

22Niklas Luhmann: Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen, Tübingen 1968, Kapitel: Kontrolle, S. 221–231.

23Dieser Faktor steht im Vordergrund bei Hans-Martin Kepplinger: Publizistische Konflikte und Skandale, Wiesbaden 2009; ders.: Die Kunst der Skandalisierung und die Illusion der Wahrheit, München 2001. K. vermag dem Beitrag von Medienskandalen zur öffentlichen Aushandlung in der Demokratie nichts abzugewinnen.

24Sam Lebovic: »Leaking about Donald Trump in the Age of False News«; in: https://issforum.org/roundtables/policy/1-5V-leaks (21. 3. 2017).

25John B. Thompson: Political Scandal. Power and Visibility in the Media Age, Cambridge 2000, S. 96–106, 246 (Zit.). Der Vf. unterscheidet daneben andere, hier nicht relevante Typen von Skandalen.

26Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Opladen 1996, S. 61, zit. nach Bulkow/Pedersen, Skandale, S. 16.

27Christina von Hodenberg: Konsens und Krise. Eine Gesellschaftsgeschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Göttingen 2006, S. 361–440, bes. S. 366 Skandal; Aufzählung der Skandale 1962–1966, S. 326–360.

28Zum Rahmen: Frank Bösch: Skandale in historischer Perspektive; in: Bulkow/Pedersen, Skandale, S. 30–48, konkret für unseren Zeitraum: Frank Bösch: Öffentliche Geheimnisse. Die verzögerte Renaissance des Medienskandals zwischen Staatsgründung und Ära Brandt; in: Die Politik der Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit der Politik. Politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik, hg. von Bernd Weisbrod, Göttingen 2003, S. 125–150.

29Vgl. Rolf-Dieter Müller: Reinhard Gehlen. Geheimdienstchef im Hintergrund der Bonner Republik, 1902–1979, 2 Bde., Berlin 2017, S. 1269–1273, mit Bezug auf NA Washington, RG 319, Entry 134A, Reinhard_Gehlen_vol7_10F2, Bl. 35 bis 52.

30Uwe Ritzer und Willi Winkler: Jäger, Sammler und Vogelfreund. Blick ins Schattenreich des berüchtigten BND-Chefs Reinhard Gehlen; Süddeutsche Zeitung, 2./3. Dezember 2017, S. 13–15.

31Eckart Conze et al.: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010; Imanuel Baumann et al.: Schatten der Vergangenheit. Das BKA und seine Gründungsgeneration in der frühen Bundesrepublik, Köln 2011; Constantin Goschler und Michael Wala, »Keine neue Gestapo«. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und die NS-Vergangenheit, Reinbek 2015; Manfred Görtemaker und Christoph Safferling: Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016.

32Hermann Zolling und Heinz Höhne: Pullach intern. General Gehlen und die Geschichte des Bundesnachrichtendienstes, Hamburg 1971; vgl. dazu Jost Dülffer: Pullach intern. Innenpolitischer Umbruch, Geschichtspolitik und Der Spiegel, 1969–1972, Marburg 2014.

33Reinhard Gehlen: Der Dienst. Erinnerungen 1942–1971, Mainz 1971.

34Peter F. Müller und Michael Mueller mit Erich Schmidt-Eenbom: Gegen Freund und Feind. Der BND: Schmutzige Politik und schmutzige Geschäfte, Reinbek 2002; Erich Schmidt-Eenbom: Geheimdienst. Politik und Medien. Meinungsmache undercover, Berlin 2004; ders. und Ulrich Stoll: Die Partisanen der NATO. Stay Behind Organisationen in Deutschland, Berlin 2015 (Schmidt-Eenbom stellte freundlicherweise über das Institut für Friedensforschung e. V. auch einige Quellen zur Verfügung).

35Exemplarisch das Themenheft zum 50. Jahrestag der Spiegel-Affäre und die Materialien in der nachfolgenden Buchveröffentlichung: Der Spiegel, 17. 9. 2012, S. 80–85; Martin Doerry und Hauke Janssen (Hg.): Die Spiegel-Affäre. Ein Skandal und seine Folgen, hier vor allem das Dokumentationsmaterial zur Spiegel-Affäre, S. 365–441 (ohne Quellenangaben).

36Wolfgang Krieger: German-American Intelligence Relations, 1945–1956: New Evidence on the Origins of the BND; in: Diplomacy & Statecraft 22 (2011) 1, S. 28–43; Stefanie Waske: Mehr Liaison als Kontrolle. Die Kontrolle des BND durch Parlament und Regierung 1955–1978, Wiesbaden 2009; dies.: Nach Lektüre vernichten! Der geheime Nachrichtendienst von CDU und CSU im Kalten Krieg, München 2013.

I. Die gescheiterte Einordnung: Der Kampf um den Status des BND im Regierungsapparat der 1960er-Jahre

1. Die doppelte Vertrauenskrise des BND

Am 7. November 1962 artete eine Fragestunde des Bundestages zu einer dreitägigen Grundsatzdebatte über Landesverrat aus. Dabei ließ sich Bundeskanzler Adenauer zu der Aussage hinreißen, es sei ein »Abgrund von Landesverrat«, »wenn ein Oberst der Bundeswehr, nachdem er gehört hat, daß ein Verfahren […] eingeleitet sei, hingeht und denen Bescheid gibt, damit Beweismaterial beiseite geschafft wird«.1 Das war der öffentlich sichtbare Höhepunkt der Spiegel-Affäre, und beim Obersten handelte es sich um den Hamburger BNDResidenten Adolf Wicht. Wenig später verhörte der Kanzler dann höchstpersönlich den BND-Präsidenten Reinhard Gehlen, den er für einen Lügner hielt und dessen Aussagen er nicht glaubte.2

Ein gutes halbes Jahr später platzte dem Bundeskanzler erneut der Kragen gegenüber dem BND. »Sofort St[aats]s[ekretär] Globke, ich nehme Bezug auf unser Telefongespräch am 11. 7. und bitte sofort schriftlich um eine Nachprüfung aller Beamten und Angestellten des BND & auf ihre Zugehörigkeit zum RSHA, 12/7. [1963].«3 Diesmal ging es um das Personal des BND, von dem öffentlich bekannt geworden war, dass sich in ihm viele NS-belastete Mitarbeiter aus dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) befanden und der nun auch von den Bundestagsparteien skandalisiert wurde.

Das waren zwei außergewöhnliche Vorgänge, die – teils öffentlich ausgetragen, teils geheim verhandelt – die Tätigkeit und vor allem Organisation des 1956 in die Hoheit der BRD übergegangenen, bis dahin amerikanisch geführten Auslandsnachrichtendienstes infrage stellten. Wie kam es dazu? Der Bundesnachrichtendienst hatte sich im Regierungslager und zumal bei Kanzler Adenauer und Staatssekretär Globke in den 1950er-Jahren einiges fachliches Ansehen für seine Arbeit verschafft.4 Mehrere, miteinander verkettete Ereignisse führten dazu, dass dieses Vertrauen in den frühen 1960er-Jahren nachhaltig erschüttert wurde. Das waren keine – wie man im ND-Geschäft zu sagen pflegte – »Pannen«, die bei aller Vorsicht immer wieder einmal vorkommen konnten, sondern Symptome einer tiefer liegenden Krise, die mit der Führung des BND unter Reinhard Gehlen zusammenhing. Der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 war überall in der westlichen Öffentlichkeit ein Schock gewesen. Aber nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern bis in die Regierung hinein unterstellte man dem BND, in seinem ureigensten Aufgabengebiet, der Auslandsaufklärung, versagt zu haben. Das traf partiell zu, kratzte aber am Image des Dienstes.5

Weitaus gravierender für die Arbeitsfähigkeit des Dienstes selbst war der Verratsfall des Heinz Felfe, der am 6. November 1961 als sowjetischer Spion verhaftet wurde. Felfe war nicht irgendein beliebiger Oberregierungsrat, sondern für die Gegenspionage, also die Abwehr des Eindringens von Ostblockagenten in den BND, zuständig. Nun hatte er der sowjetischen Seite einen bedeutenden Teil seiner Dienstgeheimnisse verraten. Dies stellte den größten annehmbaren Unfall für den BND dar, zumal Felfe und zwei seiner ebenfalls festgenommenen Komplizen ihrerseits im NS-Verfolgungsapparat aktiv beteiligt waren. Doch das wurde erst Mitte 1963 beim Prozess vor dem Bundesgerichtshof zum öffentlichen Skandal und veranlasste nicht nur den Kanzler zum Handeln.

Verhör und Beinaheverhaftung des BND-Präsidenten durch den Bundeskanzler6

Die beiden Ereignisse hatten je eigene Ursachen, aus deren Entfaltung sich die Tiefe der Vertrauenskrise erst erschließt, der eine innere Krise des BND zugrunde lag. Vor allem die öffentliche Attacke Adenauers hat von den Zeitgenossen bis in die Gegenwart große publizistische Aufmerksamkeit und breite Auslegung erfahren und erscheint häufig als emblematisch für das Verhältnis Regierung–Öffentlichkeit in jenen Jahren. Dem Ausspruch Adenauers über Landesverrat ging ein Spiegel-Titel vom 10. Oktober 1962 »Bedingt abwehrbereit« voraus, welcher quellengesättigt Details über die mangelnde Vorbereitung der Bundeswehr auf einen nuklearen Krieg berichtete.7 Aufgrund dieses Artikels wurden u. a. der Hamburger BND-Resident Oberst Adolf Wicht und der Spiegel-Verlagsdirektor Hans-Detlev Becker verhaftet. Der Kanzler griff nach der Bundestagsdebatte zum ungewöhnlichen Mittel einer Ladung des BNDPräsidenten ins Kanzleramt und vernahm diesen dort am 12. November selbst. Ein solcher Vorgang ist einmalig für die Geschichte der Bundesrepublik Adenauers. Er diktierte selbst das Vernehmungsprotokoll, unterzeichnete es und veranlasste Gehlen zur Mitzeichnung.8 Seine Ausgangsfrage: Verteidigungsminister Franz Josef Strauß habe ihn am 17. Oktober (in Bonn) »von der Einleitung eines Verfahrens des Oberbundesanwaltes [gemeint war der Generalbundesanwalt] gegen Augstein und Genossen« benachrichtigt. Wie komme es, dass Wicht am folgenden Tag in Hamburg beim Spiegel Augstein oder »einen anderen Verdächtigen davon benachrichtigt habe, dass ein Verfahren von der Bundesanwaltschaft gegen den Spiegel wegen Landesverrats eingeleitet sei«? Gehlen täuschte sich – vielleicht absichtlich – in seiner Antwort im Datum, was weitere Irritationen bei Adenauer auslöste.9

Weiter in der Anhörung ließ Adenauer die Unterscheidung Gehlens zwischen der informellen Mitteilung durch Strauß und den Pullacher Vorgängen nicht gelten: nach solchen für das Verfahren angeforderten Gutachten sei »immer ein Verfahren eingeleitet worden«. Das klingt politisch schlüssig, war aber rechtlich nicht zwingend. »Nach wiederholten Rückfragen bei Bundesminister Strauß wurde festgestellt, dass Präsident Gehlen am 17. Oktober von 15 bis 16 Uhr und von 17 bis 18 Uhr nachmittags bei Bundesverteidigungsminister Strauss gewesen sei.« Adenauer wollte sodann wissen, wen Gehlen in Pullach am folgenden Tag von der Mitteilung des Verteidigungsministers in Kenntnis gesetzt habe, sodass an ebendiesem Tage auch Wicht in Hamburg dem Spiegel davon berichten konnte. Gehlen nannte den BND-Vizepräsidenten Hans-Heinrich Worgitzky und Unterabteilungsleiter Kurt Weiß. Wie sich herausstellte, war Ersterer zu diesem Zeitpunkt noch im Urlaub gewesen. Trotz mehrfachen Insistierens hatte Gehlen jedenfalls keine den Kanzler befriedigende Erklärung abgegeben. Adenauer bohrte weiter, und dies auch mehrfach: Irgendjemand, der in enger Verbindung mit Wicht gestanden habe, müsse das gewesen sein.

So weit das offizielle Vernehmungsprotokoll, das Zeugnis von dem tiefen Misstrauen zwischen Kanzler und BND-Chef ablegte, aus dem nunmehr eine Zerrüttung resultierte. Es kam noch schlimmer: Der Kanzler trug sich mit dem Gedanken, Gehlen müsse verhaftet werden, weil er überzeugt war, dass dieser über die Beziehungen zum Spiegel und dessen Informierung lüge. Er habe womöglich selbst Landesverrat begangen. Gehlen hat eine Kenntnis dieser Absicht Adenauers später immer wieder abgestritten.

Der Sachverhalt klärte sich erst 1965 plausibel, als das Verfahren gegen Wicht vom Generalbundesanwalt mit der Begründung eingestellt wurde, dass »es zweifelhaft (ist), ob gerade die Bestätigung des Beschuldigten gegenüber Becker die zuverlässige Kenntnis von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens […] verschaffte«.10 Nun griff Conrad Ahlers im Spiegel diese Verhaftung auf und berichtete, dass Adenauer Justizminister Wolfgang Stammberger und Bundesanwalt Albin Kuhn aus Karlsruhe nach Bonn beordert und mit den Worten empfangen hätte: »Herr Stammberger, Sie müssen den Herrn Gehlen verhaften.« Der Minister habe nach Gründen und harten Fakten für eine solche Maßnahme gefragt, und Kuhn habe ihm in dieser Frage beigepflichtet. Daraufhin habe Adenauer resigniert geantwortet: »Ich bin auch einmal Staatsanwalt gewesen. Früher wäre das aber anders gewesen.«11 So weit die seither immer wieder zitierte und in ihren anekdotischen Ausschmückungen im Spiegel-Stil nicht zu widerlegende Version. Damit konfrontiert ließ Adenauer 1965 über die CDU/CSU-Fraktion mitteilen, dies sei »von A bis Z erlogen«. Der FDP-Abgeordnete Oswald A. Kohut fragte sodann im Bundestag, wohl über Hintergründe informiert, ob sein ehemaliger Parteifreund (er trat 1964 zur SPD über) und damaliger Justizminister Stammberger von Adenauer zu einem solchen Akt der Verhaftung aufgefordert worden sei.12 Der Exminister bestätigte dies: Die Meldung sei richtig; verweigerte jedoch ähnlich wie die anderen damals Eingeweihten weitere Auskünfte.13

Auch im geheim tagenden PVMG kam die Frage am 20. Mai 1965 zur Sprache. Hier wollte der SPD-Abgeordnete Fritz Erler von Gehlen selbst Genaueres wissen. Dieser erklärte, er habe »sich zu einem Vortrag über allgemeine politische Angelegenheiten beim Bundeskanzler angemeldet«. Nach Adenauers Beschuldigungen über Vorwarnung des Spiegel habe er, Gehlen, selbst darum »gebeten, eine Untersuchung durch die Bundesanwaltschaft durchführen zu lassen, damit nicht Zweifel an dem Dienst oder an seiner Person gehegt würden, da eine ersprießliche Zusammenarbeit nur auf der Grundlage des Vertrauens möglich sei«.14 Eine solche aktive Rolle Gehlens zum Vortrag in Bonn, aber auch mit einem Antrag zur Untersuchung scheint wenig wahrscheinlich; der gut informierte Spiegel-Verlagschef Becker kolportierte 1971 in einem auch in anderen Passagen überzeugenden internen Vermerk, Gehlen »wurde mit Bedeckung zweier Offiziere nach Bonn geschafft«,15 was in den vorliegenden staatlichen Akten keinen Niederschlag findet. Aber die zitierte Aussage von Gehlens Nichtwissen über eine Verhaftung gewinnt dennoch Plausibilität.

Es gibt keinen Beleg dafür, dass bei der hochnotpeinlichen Vernehmung Gehlens von 11.05 Uhr bis 12.05 Uhr am 12. November 1962 noch andere Personen als der Kanzler und BND-Chef anwesend waren. Es war Bundesanwalt Albin Kuhn, der am 23. Mai 1965 handschriftlich – also unter besonderer Geheimhaltung – gegenüber dem Justizministerium den Vorgang im Kanzleramt darlegte.16 Demgemäß habe an jenem 12. November 1962 eine Besprechung im Kanzleramt zwischen Adenauer, Stammberger, Kuhn und vielleicht Abteilungsleiter Mercker17 stattgefunden, und zwar nach der Vernehmung von Gehlen – der Terminkalender Adenauers wies ein Gespräch ab 19.40 Uhr aus. Adenauer habe vor diesem Kreis seine Vorwürfe gegen Gehlen wiederholt und Kuhn »seinen schriftlichen Vermerk« übergeben. Der Bundesanwalt habe sogleich festgestellt, der Vermerk decke sich fast wörtlich mit Adenauers gerade gemachten mündlichen Ausführungen.

»Der Bundeskanzler war über die Indiskretion seines Nachrichtendienstes sehr besorgt und forderte mich auf, meines Amtes zu walten. Präsident Gehlen befinde sich im Bundeskanzleramt und ich solle das Notwendige umgehend veranlassen. Es wurde nicht nur von einer Vernehmung, sondern von einer Verhaftung des Präsidenten Gehlen gesprochen.« Er könne sich an den Wortlaut nicht erinnern, »ich weiß nur noch, daß ich darauf hingewiesen habe, es müsse zunächst geklärt werden, durch wen und in welcher Form Oberst Wicht informiert worden sei. Sinngemäß hat der Bundeskanzler zum Ausdruck gebracht, es sei Aufgabe der Bundesanwaltschaft, Präsident Gehlen zu vernehmen und – erforderlichenfalls – auch zu verhaften.«18 Adenauer habe daraufhin das weitere Verfahren der Bundesanwaltschaft anheimgegeben. Tatsächlich wartete Gehlen am 12. November noch um 21.30 Uhr im Vorzimmer Adenauers, wurde aber wohl nicht mehr gehört.19 Dass sich der Präsident des BND gar keine Gedanken über seine späte Anwesenheit im Vorzimmer des Kanzlers gemacht habe, scheint kaum denkbar.

Auch dieses Anhörungsprotokoll der Bundesanwaltschaft liegt vor, von Kuhn fälschlich auf den »13. 10. 62« (also: Oktober statt November) datiert und von diesem und Gehlen unterzeichnet.20 Diese beiden maschinenschriftlichen Blätter ohne Kopf deuten auf ein Diktat durch Gehlen nach der Vernehmung hin; es begann: »Der Inhalt des Vermerks des Herrn Bundeskanzlers vom 12. November ist mir genau bekannt. Ich habe anschließend mit Bundesminister Strauß in der Wohnung gesprochen.« Um welche Wohnung es sich handelt, ist unklar; wenn Gehlen Strauß aufgesucht hätte, hätte er wohl das Attribut »seiner« gebraucht; jedenfalls ging die genaue Datierung auf den 17. Oktober, die sich schon in der Adenauer-Niederschrift fand, jetzt als gesichertes Datum in die Kuhn-Vernehmung ein, die nur insofern neu war, als nach Gehlen der BND bei den Ermittlungen gegen den Spiegel »irgendwie behilflich sein« wollte und er die »Sorge um Weiterungen« gehabt habe.

Eine Vernehmung des BND-Chefs durch den Bundeskanzler bildete an sich einen außergewöhnlichen Akt des Misstrauens und der Empörung; ob dieser in die Vernehmung bereits mit der Absicht auf strafrechtliche Verfolgung hineinging oder durch Gehlens einsilbiges und ausweichendes Verhalten provoziert war, ist nicht zu klären. Tatsächlich gab es die hier unterstellte Kollusion von Nachrichtenmagazin und Bundesnachrichtendienst in der vom Kanzler unterstellten Form nicht, wie in einem späteren Kapitel zur Kooperation Spiegel–BND dargelegt wird.21

Auch der BND strickte an seiner eigenen Legende. Oberst Georg Buntrock, (DN Bohlen), der sich nach Gehlens Ausscheiden für diesen an die historische Aufarbeitung machte, schrieb dazu 1969: »Als der Präsident des BND im November [1962] in einer anderen Angelegenheit den Bundeskanzler aufsuchte, wurde er zu seiner Überraschung vom Bundeskanzler darauf angesprochen, dass der Verdacht bestände, dass der BND den ›Spiegel‹ vorgewarnt habe. General Gehlen bestand auf einer sofortigen Untersuchung durch den Generalbundesanwalt, die noch am gleichen Tage eingeleitet wurde und einwandfrei ergab, dass dieser Verdacht haltlos war.«22 Das war freie Erfindung, schon damals nicht einmal mehr eine Schutzbehauptung, die aber als Basis langfristiger Legendenbildung dienen konnte.

Wichtiger in historischer Sicht ist aber ein anderes, größeres Missverständnis, denn dies beruhte auf einem mentalen Konstrukt, das jetzt – scheinbar – einen empirischen Beweis gefunden hatte, ein