Geheimsache Italien - Giuliano Turone - E-Book

Geheimsache Italien E-Book

Giuliano Turone

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Beschreibung

Am 11. Juli 1979 wurde Giorgio Ambrosoli, Liquidator der bankrotten Banca Privata Finanziaria von einem amerikanischen Killer ermordet. Auftraggeber war der später im Gefängnis ermordete mafiose Bankier Michele Sindona. Die den Fall bearbeitenden Richter folgten Spuren, die in den Vatikan, die Politik, die internationale Finanzwelt und zur Mafia führten. Fast zufällig entdeckten sie die Loge P2, das Zentrum dieses konspirativen Netzwerks. Ihm gehörten Spitzenvertreter der Politik, der Wirtschaft, der Medien, des Militärs, der Geheimdienste, der Polizei und der Mafia an. Ein Staat im Staat, ein Staat im Untergrund. Der Mailänder Richter Giuliano Turone beschreibt anhand der offiziellen Prozessakten und Untersuchungsberichte dieses weitverzweigte System illegaler Macht, an dessen Aufdeckung er maßgeblich beteiligt war. In Geheimsache Italien legt er Dokumente vor, die zum Teil nie ganz aufgeklärte Verbrechen in einem neuen Zusammenhang erscheinen lassen: der Mord an Aldo Moro (1978), der Bombenanschlag auf den Bahnhof in Bologna (1980), die Morde an den internationalen Finanzmanagern Calvi (1982) und Sindona (1986), aber auch fast vergessene Verbrechen wie der Mord am Bruder des italienischen Staatspräsidenten Mattarella (1980).

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GIULIANO TURONE

GEHEIM SACHE ITALIEN

POLITIK GELDVERBRECHEN

Aus dem Italienischenvon Klaudia Ruschkowski

Mit einer Gebrauchsanweisungvon Peter Kammerer undeinem Vorwort von Corrado Stajano

Dieses Buch ist Margret Rohrs Mäder, 39 Jahre,Kai Mäder, 8 Jahre, und Eckhardt Mäder, 14 Jahre,gewidmet – Opfer des entsetzlichen Anschlagsauf den Bahnhof von Bologna am 2. August 1980.

INHALT

Gebrauchsanweisung

Vorwort

Einleitung

I.Das Triennium 1978 – 1980Die bedrohliche Gegenwart der Freimaurerloge P2

1. Die drei singulären historischen Faktoren, die der »Geheimsache Italien« zugrunde liegen

2. Der Weg zur Entdeckung der Loge P2

3. Gedächtnisprotokoll von Oberstabsfeldwebel Francesco Carluccio zur Durchsuchung des Büros von Licio Gelli in Castiglion Fibocchi

4. Zeugenaussage von General Vincenzo Bianchi zur Durchsuchung des Büros von Gelli in Castiglion Fibocchi

5. Die Sicherung der beschlagnahmten Unterlagen und das Problem der Information der Regierung

6. Ein ereignisreicher Sommer

7. Der Plan der Loge P2 »zur demokratischen Erneuerung«

8. Erster Schritt zur Realisierung des Plans zur demokratischen Erneuerung: die Eroberung des Verlags Rizzoli und die Besetzung des Corriere della Sera. Der lange Schatten der argentinischen Militärdiktatur

9. Die Schlussfolgerungen des Berichts Anselmi zu den Funktionsmechanismen des Systems P2

II.Der Fall Moro – Die Auseinandersetzung zwischen republiktreuen und logentreuen Carabinieri

1. Von der Entführung Aldo Moros am 16. März 1978 bis zur Entdeckung des Verstecks der Roten Brigaden in der Via Monte Nevoso

2. Die piduistischen Carabinieri der Division Pastrengo und die Rolle von General Giovanbattista Palumbo

3. Carlo Alberto Dalla Chiesa und Giovanbattista Palumbo, zwei konträre Persönlichkeiten

4. Das Jahr 1976. Eine Falle für General Carlo Alberto Dalla Chiesa

5. Die vier fingierten Briefe von Licio Gelli an General Dalla Chiesa

III.Weitere Aspekte des Falls Moro

1. Die Pannen nach der Entdeckung der Mailänder Basis der Roten Brigaden in der Via Monte Nevoso

2. 5. Juli 1982: Wo blieb die vollständige Version des Memoriale, in dem Aldo Moro von Andreotti als dem Regisseur der »Strategie der Spannung« spricht?

3. Die Untätigkeit der Ermittler nach dem 5. Juli 1982

4. Haltlose Verdächtigungen gegen General Dalla Chiesa und seine Männer. Die Verantwortung des Systems P2 und der mit ihm verbundenen Teile der Carabinieri

5. Der Bericht Anselmi unterstreicht die massive Präsenz von Piduisten im Koordinationsausschuss

6. Eine postume Verleumdung von Dalla Chiesa verbindet den Fall Moro mit dem Fall Pecorelli. Die Affäre Incandela

IV.Die geheimen Interferenzen im Fall MoroBeitrag von Stefania Limiti

1. Der richtige Moment

2. Ausgerechnet Moro

3. Die P2 mischt mit und besetzt den Krisenstab

4. Ein Haufen Geld für Moro

5. Auch Anello mischt sich ein

V.Carmine Pecorelli. Der Journalist, der »politisch störte«

1. Der Mord an Pecorelli: Die erste Ermittlung

2. Die zweite Ermittlung und erste Hinweise auf die Auftraggeber

3. Die Hinweise auf die unmittelbaren Täter. Die Verbindung zwischen der Cosa Nostra und der Magliana-Bande

4. Das Organigramm eines Verbrechens

5. Die verschiedenen Instanzen und das Endergebnis. Das erstinstanzliche Urteil bleibt die wesentliche Quelle im Fall Pecorelli

6. Ein ungewöhnliches Waffenlager und ein ballistisches Gutachten

7. Ein geheimes Abendessen und gewisse »Schecks des Präsidenten«

8. Von der unerschöpflichen Quelle der Italcasse zu den mafiosen Empfängern der »Schecks des Präsidenten«

VI.Giulio Andreottis Komplizenschaft mit der Cosa Nostra

1. Das Urteil des Berufungsgerichts Palermo vom 2. Mai 2003

2. Das Treffen zwischen Andreotti und Bontate im Sommer 1979 in Catania. Der Ärger der Mafiosi über die Initiativen des sizilianischen Regionalpräsidenten Piersanti Mattarella

3. Das zweite Treffen zwischen Andreotti und Bontate im Frühjahr 1980 in Palermo

4. Andreotti und die Salvo-Cousins landen in Trapani mit einem Privatflugzeug der Mafiosi

5. Ein kleiner Gefallen von Bontate für Andreotti …

6. … und ein großer Gefallen von Andreotti für Badalamenti

7. Das letzte Wort des Obersten Gerichtshofs zu Andreottis mafiosità

VII.Die Dreiecksbeziehung zwischen Andreotti, der Cosa Nostra und Sindona

1. Die zwei Gruppierungen der Cosa Nostra, die Pole der Finanzspekulation, die Rolle der P2

2. Das Verhältnis zwischen Michele Sindona und den »moderaten« Mafiosi der Cosa Nostra

3. Die Beziehung zwischen Andreotti und Sindona

VIII.Der Bankrott von Sindonas Bank und der Mord an Ambrosoli in Sindonas Auftrag

1. Die Drohanrufe von Sindonas mafiosen Freunden bei Giorgio Ambrosoli und Enrico Cuccia

2. Eine dunkle Seite in der italienischen Geschichte: Der Angriff der römischen Justiz auf die Banca d’Italia

3. Der Mord an Giorgio Ambrosoli, Sindonas Verurteilung zu lebenslanger Haft und sein Selbstmord

4. Andreottis politische und moralische Verantwortung für den Mord an Ambrosoli

IX.Der Angriff auf die Banca d’Italia und die Rolle von Giulio Andreotti

1. Eine offensichtlich falsche Anklage

2. Wie man die Aufsicht einer Zentralbank unschädlich macht

3. Andreottis seltsame Erklärung zu seinen vertraulichen Treffen mit Richter Alibrandi

4. Gegen Infelisi und Alibrandi wird bei der Staatsanwaltschaft Perugia eine Beschwerde eingereicht und ohne Überprüfung ad acta gelegt.

X.Vom zweiten Mafiakrieg bis zur Ermordung von Giovanni Falcone und Paolo Borsellino

1. Der Sieg der Corleonesi und Buscettas Entscheidung zur Zusammenarbeit mit dem Staat

2. Der erste Maxi-Prozess in Palermo

3. Die Reaktion der Cosa Nostra und die Endphase des Maxi-Prozesses

XI.Der Mord am Carabinieri-Hauptmann Emanuele Basile: eine zwölf Jahre währende Justizaffäre

1. Der Mord an Emanuele Basile und die Ermittlungen von Paolo Borsellino

2. Ein ziemlich fragwürdiger Prozess erster Instanz

3. Ein Hin und Her von Verfahren und Berufungen, bis zum endgültigen Urteil von 1992

4. Der Umgang mit dem Fall Basile durch die erste Sektion des Kassationsgerichtshofs und die Anklage gegen dessen Präsident Carnevale wegen Komplizenschaft mit der Cosa Nostra

XII.Eine neue Reihe politischer Morde in Palermo zwischen 1979 und 1982, der Maxi-Prozess 1985 und die Auflösung des Antimafia-Pools

1. Der Stand der Dinge Ende 1985 und Falcones Thesen zur Nähe der Mafia zum Staatsapparat

2. Die zentrale Rolle von Pippo Calò

3. Der Bombenanschlag im Apennin-Basistunnel auf den Schnellzug 904 und Pippo Calò als Scharnier zwischen Mafia, Geheimdiensten und extremer Rechten

4. Giovanni Falcone wird kaltgestellt und der Antimafia-Pool aufgelöst

5. Im Mordfall Mattarella führt eine neue Spur zu der Verbindung zwischen Mafia und extremer Rechten, die nach Auflösung des Antimafia-Pools nicht weiterverfolgt wird

XIII.Die Ermordung von Piersanti Mattarella

1. Die Dynamik des Verbrechens. Die Frage der Nummernschilder

2. Die mutmaßlichen Motive der Tat

3. Ein anomaler mafioser Weg: Der perverse Pakt zwischen der Cosa Nostra und der NAR von Valerio Fioravanti

4. Die Aussagen von Cristiano Fioravanti und die Figur von Francesco Mangiameli

5. Was Francesco Mangiameli seinem Freund Alberto Volo anvertraute

6. Mattarellas Witwe Irma Chiazzese identifiziert Valerio Fioravanti als Killer

7. Das modifizierte Kennzeichen des Tatwagens und die Teile des Nummernschilds in einem Versteck der TP

8. Die Position von Fabrizio Zani, Bankräuber und Lagerist der extremen Rechten

9. Die Beweiskraft der »beiden Teile des Nummernschilds« aus der Via Monte Asolone

XIV.Das Ziel der »Strategie der Spannung« bis zum Triennium 1978–1980

1. Wenn sich der Antistaat im Staat einnistet

2. Ordine Nuovo, Avanguardia Nazionale und der »unorthodoxe Krieg«

3. Die »Strategie der Spannung« vom Bombenanschlag an der Piazza Fontana bis 1977

4. Die Ermordung von Vittorio Occorsio durch Pierluigi Concutelli, der darauf zum Mythos wird

XV.Die Ermordung von Richter Mario Amato als Vorspiel zum Bombenanschlag auf den Bahnhof von Bologna

1. Die NAR und die TP von Ende 1977 bis Anfang 1980

2. Vom Staat im Stich gelassen, wird der Richter Mario Amato ermordet

XVI. 2. August 1980: Der Bombenanschlag auf den Bahnhof von Bologna

1. Die Nachricht vom Anschlag

2. Ein langes, quälendes Gerichtsverfahren

3. Die Hinweise von Luigi Vettore Presilio

4. Die Eröffnungen von Massimo Sparti

5. Das Telefonat von Ciavardini und der anschließende »Tauschhandel«

6. Das Karussell der Alibis

7. Die Beteiligung von Gilberto Cavallini beim Anschlag von Bologna

8. Der Mord an Francesco Mangiameli

XVII. Die Funktion von Gilberto Cavallini als Bindeglied zwischen den NAR, den Geheimdiensten und dem System P2

1. Die Autowerkstatt »Luki Simone« und der Tod eines Brigadiers

2. Die verschiedenen Funktionen der Autowerkstatt »Luki Simone«

3. Cavallinis Verbindung zu Carlo Digilio und sein Zugang zu den Waffenlagern von Gladio

4. Die enge Beziehung der NAR und besonders die von Cavallini mit den vom System P2 kontrollierten Abteilungen der Carabinieri und der Finanzpolizei

5. Die Transformation der NAR in den bewaffneten Arm des Systems P2 und die Position von Cavallini

6. Zur Verbindung zwischen Cavallini und der Geheimstruktur Anello

7. Der SISDE beherbergt Militante der NAR

XVIII. Die Irreführungen im Zusammenhang mit dem Anschlag von Bologna – Die Rolle der Loge P2 und der Geheimdienste

1. Die Irreführung nach dem Schema der P2: Die falsche »libanesische Fährte«, die Rolle von Gelli und Pazienza und die der Geheimdienste

2. Die Unklarheiten zum Motiv der Irreführungen nach dem Schema P2

3. »Die Fährte Kram«, oder auch die »palästinensische Fährte«: Eine weitere Irreführung oder eine Koinzidenz?

4. Der definitive Zusammenbruch der »Fährte Kram«

5. Phase I und Phase II der Irreführungen zum Bombenanschlag Abschließende Bemerkungen von Stefania Limiti

XIX. Das System P2 nach dem Anschlag von Bologna

1. Das Projekt der Eroberung der Medien durch die P2 am Beispiel des Corriere della Sera

2. Die Ereignisse nach der Durchsuchung von Castiglion Fibocchi und dem Sturz der Regierung Forlani

3. Epilog. Licio Gelli verabschiedet sich

Anhang

Anmerkungen

Glossar

Literatur

Personenregister

Dank

GEBRAUCHSANWEISUNG

Die deutschen Leser sollten das Vorwort von Corrado Stajano und die Einleitung von Giuliano Turone mit besonderer Aufmerksamkeit lesen. Sie werden ihnen helfen, den Blick auf die Zusammenhänge zu bewahren, ohne sich in der Fülle der Fakten, der Personen und Institutionen zu verlieren. Die beiden Autoren wissen, wovon sie reden. Stajano (* 1930) ist ein engagierter Journalist, der über Jahrzehnte für die bedeutendsten Blätter in Italien geschrieben, an Filmen mitgearbeitet und Bücher verfasst hat, bevor er Mitte der 1990er-Jahre ins Parlament gewählt und Mitglied der Antimafiakommission wurde. Giuliano Turone (* 1940) war über mehrere Jahrzehnte Untersuchungsrichter und Staatsanwalt in Mailand – und in dieser Funktion maßgeblich beteiligt an der Verhaftung und Verurteilung des Chefs der Cosa Nostra, Luciano Liggio. Bei seinen Ermittlungen zum 1979 begangenen Mord an Giorgio Ambrosoli, Konkursverwalter der Banca Privata Italiana, stieß er auf das geheime Netzwerk der Loge P2. Ambrosoli hatte im Dschungel eines Bankenzusammenbruchs seine untadelige Haltung mit dem Leben bezahlt. Stajano schrieb 1991 über ihn ein Buch mit dem Titel Un eroe borghese (Ein bürgerlicher Held). Turone verfasste am Ende seiner Karriere das vorliegende Buch, das in einer Zeit der kleinen und großen Epochenbrüche die Kontinuität des historischen Bewusstseins bewahren soll: die Erinnerung nicht nur an Verbrechen, sondern auch an Vertreter von Institutionen, die mit Entschiedenheit für Transparenz und die Einhaltung demokratischer Regeln eingetreten sind.

Was bedeutet die Tatsache, dass in Italien seit Kriegsende »ein verborgener Staat im Staat oder vielmehr hinter dem Staat« bestanden hat, »ein weitreichendes Netz von Verbindungen zu den Geheimdiensten, zum CIA und zu neofaschistischen Gruppen« (Friederike Hausmann, ITALIEN, München 2009, S. 174), das durch gezielte terroristische Anschläge einen erheblichen Einfluss auf die Politik und die öffentliche Meinung des Landes ausgeübt hat? Damit ist Italien sicher kein Sonderfall in den westlichen Demokratien. Bekanntlich realisierte der Staatsstreich in Griechenland 1967, was ähnliche Kräfte in Italien planten. Es ist anzunehmen, dass auch in der Bundesrepublik solche Kräfte, mit oder ohne Verbindung zu Italien, am Werk waren. Historische Parallelen zu den geschilderten Ereignissen finden wir in Deutschland in der Zeit der Weimarer Republik, als Teile des Staatsapparats rechtsextreme Mörder und Umstürzler deckten. Die politisch-kulturelle Lage der Bundesrepublik hat sich demgegenüber grundlegend verändert. Für Italien verweist Turone auf »drei singuläre historische Faktoren«, die wir uns vergegenwärtigen sollten, um die Ereignisse zu verstehen: die illegale Gegenmacht der historischen Mafias; die mit der modernen Staatsgründung konkurrierende Macht des päpstlichen Kirchenstaates; die Präsenz der stärksten kommunistischen Partei des Westens, die von den USA nicht als demokratische Herausforderung, sondern als militärische Bedrohung empfunden wurde. Trotz dieser spezifisch italienischen Voraussetzungen verspürt der deutsche Leser aber das Bedürfnis, darüber nachzudenken, was die aus ihnen erwachsene Mischung von Staat und Unterwelt mit ähnlichen Phänomenen in Deutschland verbindet. Die vom NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) verübten Morde und kuriose Verschwörungen wie die der Reichsbürger erinnern mit ihren kriminellen und operettenhaften Zügen durchaus an italienische Verhältnisse. Auf jeden Fall betrifft, was in Italien geschieht, immer auch die Bundesrepublik und umgekehrt. Unter den Opfern des Bombenanschlags auf den Bahnhof in Bologna befanden sich deutsche Reisende, und unter den Tatverdächtigen suchte die italienische Polizei auch nach einem »deutschen Terroristen«, der sich tatsächlich zur Tatzeit in der Stadt aufgehalten hatte, sich aber als unschuldig herausstellte. Es hat also seinen tiefen Sinn, wenn Turone die deutsche Übersetzung seines Buches der Familie Mäder widmet.

Mit diesem Buch wird ein Staatsanwalt zum Historiker. Er schreibt nicht nur einen Thriller, sondern liefert die Analyse eines Parallelsystems politischer Macht, in dem zusätzlich zu den von Teilen des Staatsapparats gedeckten neofaschistischen Organisationen auch die Mafia, rote Terrorgruppen, gewöhnliche Kriminelle, Hochstapler und Geldwäscher eine einzigartige Besetzung bilden. Was wir wissen, verdanken wir riesigen Strafprozessen, von denen einige nach Jahrzehnten noch nicht abgeschlossen sind, journalistischen Enthüllungen und der Arbeit Parlamentarischer Untersuchungsausschüsse. Erst durch die digitale Erfassung ist es möglich geworden, das ungeheure Material, das auf diese Weise zustande kam, zu durchforsten. Turone zitiert die wichtigsten Links. So erhält der Leser einen außergewöhnlichen Einblick in das institutionelle Leben der italienischen Justiz, Polizei und Politik; in ihre Sprache, Methoden und Vorgehensweisen; in ein Labyrinth prozeduraler Erfordernisse, absichtlicher und unabsichtlicher Irreführungen oder Vernichtung von Spuren, objektiv oder subjektiv orientierter Interpretationsschemata. Das macht die Lektüre nicht immer leicht, und die deutschen Leser werden sich über vieles wundern. Diese Art von Maxiprozessen, durch deren Mäander uns Turone führt, findet in der Bundesrepublik als vergleichbares Phänomen nur die »Stammheimprozesse«. Sie waren damals umfangreicher Kritik ausgesetzt, die sich auf Verstöße gegen die Rechte der Beschuldigten und den Rechtsstaat generell bezog. Auf jeden Fall entwickeln Maxiprozesse ihre eigene Logik, vor allem wenn sie untereinander verflochten sind, ungeheure Mengen von Material produzieren und sich weitgehend auf Indizienbeweise stützen. Der Widerspruch zwischen der Schwere der Vergehen und der Vorsicht, mit der rechtsstaatliche Garantien beachtet werden müssen, war in Italien vor allem in den großen Mafiaprozessen, aber auch in den Verhandlungen gegen die Mörder von Aldo Moro deutlich spürbar.

Die Historiker der italienischen Nachkriegsgeschichte sind sich einig über die Existenz eines von staatlichen Stellen gedeckten, mit Politik, Geld und Verbrechen verschmolzenen Untergrunds, dessen Geschichte mit Gladio (s. Glossar) begann, aber 1989 keineswegs endete. Vielleicht ist es müßig, darüber nachzudenken, ob die Geschichte der letzten sechzig Jahre anders verlaufen bzw. anders darzustellen wäre, würde man diese Tatsache gebührend berücksichtigen. Aber was heißt gebührend? Wie brisant diese Frage ist, zeigt das Beispiel von Giulio Andreotti (1919–2013), der von 1945 bis 1999 an insgesamt 33 italienischen Regierungen beteiligt war und damit zu den am längsten amtierenden Inhabern legaler politischer Macht gehörte. Er gilt als ein Pater Patriae, aber auch als machiavellistische Sphinx. Er hat, oft gleichzeitig, alle Rollen gespielt: Mann des Vatikans, der konservativen Ordnung, der Amerikaner, der Geheimdienste; Gesprächspartner der Israelis, der Palästinenser, der Neofaschisten, der Mafia. Er begegnet uns häufig im vorliegenden Buch (s. Register). Nicht als Opfer illegaler Gegenmacht (wie Aldo Moro oder Piersanti Mattarella und die zahlreichen ermordeten Hüter des Gesetzes), sondern als souveräner politischer Spieler, Mitwisser, vielleicht sogar Drahtzieher eines doppelten Machtsystems.

Was ist aus dem Wurzelwerk dieses Untergrunds nach dem gemeinsamen Untergang von Kommunisten (1921–1991) und Christdemokraten (1945–1993) und aller alten Parteien geworden? Wir wissen es nicht. Wir verstehen aber Turones Werk als Aufforderung, daran mitzuwirken, dass die Existenz einer der demokratischen Entwicklung abgewandten Seite der Institutionen keine Geheimsache bleibt. Inzwischen haben unter der Mitwirkung der Regierungen Craxi und Berlusconi jene Kräfte gesiegt, die verhindern wollten, dass linke Parteien, insbesondere die Kommunisten, in ihrem langen, demokratischen Prozess an die Regierung kommen könnten. Italien hat heute eine Regierung, die politisch und kulturell Ausdruck der Rechten ist und das Erbe auch der neofaschistisch orientierten Parteien und Organisationen vertritt. Es spricht für die neue Regierung Meloni, dass sie einen Gesetzentwurf zur Bildung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses vorgelegt hat, um ein Gesamtbild der »politischen Gewalttaten in den Jahren 1970–1989« zu gewinnen. Aber bereits die Wahl des Zeitraums nährt den Verdacht, Ziel des Ausschusses sei es, nur ein neues Narrativ mit alten, von der Rechten gepflegten Mustern herzustellen. Ausgerechnet das Jahr 1969 mit seinen rechtsextremen Anschlägen und dem Bombenanschlag an der Piazza Fontana in Mailand, der eine wirkliche Wende in der politischen Geschichte Italiens bedeutet, wird ausgeklammert. Was 1969 geschah, war keine unbedeutende Episode. Es war das Ergebnis einer langen und sorgfältigen Vorbereitung, ein erster Höhepunkt der zu einer völlig neuen terroristischen Qualität politischer Gewaltanwendung führte. Jetzt entstand, aus dem Zusammenwirken antagonistischer rechter und linker bewaffneter Gruppen, der Geheimdienste und der Mafia, die erstickende Decke einer »bleiernen Zeit«. Die Vernachlässigung ihrer Entstehungsgeschichte öffnet die Tür für die längst abgestandene, vereinfachende Narration von sich bekämpfenden politischen Extremisten, denen die Demokratie zum Opfer zu fallen droht. Das wirkliche Bild ist wesentlich komplexer und führt, ausgehend vom Fall Italien, zu der Frage, inwieweit die westlichen, von der NATO geschützten Demokratien aufgrund ihres genetischen Antikommunismus die Merkmale eines doppelten Machtsystems aufweisen, in dem die Demokratie vor den sie schützenden Zauberlehrlingen geschützt werden muss.

Peter Kammerer

Bologna, Tag der Erinnerung, 25. Januar 2023

VORWORT

Corrado Stajano

Eine schwarze Geschichte. Eine leider wahre Geschichte, minutiös dokumentiert. Giuliano Turone belegt in Geheimsache Italien jeden Vorgang durch Justizunterlagen, Urteile, Verfügungen, Geständnisse, Verhöre, Zeugenaussagen, ballistische Gutachten, Protokolle, die zu ihrer Zeit unterschätzt oder nicht verstanden wurden. Hier jedoch werden sie mit der akribischen Haltung eines Autors analysiert, der als Staatsanwalt im Zentrum dessen stand, von dem er berichtet.

Der Protagonist der Ereignisse ist ein krankes Land, häufig dem Tode nah, ein nicht trockengelegter Sumpf, wo in den 1970er- und 1980er-Jahren, vom Bombenattentat in der Mailänder Landwirtschaftsbank an der Piazza Fontana über die Ermordung von Aldo Moro bis zum Bombenanschlag auf den Bahnhof von Bologna, die Hölle losbrach: Massaker, Attentate, Verschwörungen, Putschversuche. In einem abenteuerlichen Bund von Politik und Verbrechen tauchen auf diesen Seiten die verschiedensten Persönlichkeiten auf: Minister, Banditen, Ordensbrüder, Ministerpräsidenten, Staatspräsidenten, Abenteurer, Terroristen, Provokateure, Mafiabosse, korrupte Richter, Geheimagenten, Killer, Leute, die ein doppeltes Spiel trieben, untreue Generäle, die ihrer Uniform keine Ehre gemacht haben. Ein Triumph des Todes, auf den Pieter Bruegel der Ältere neidisch gewesen wäre.

Dann gibt es das andere Italien, das sich, wenn auch mit Mühe, gehalten hat, und dem das Buch gewidmet ist. Es wird hier repräsentiert durch Tina Anselmi, Vorsitzende des Untersuchungsausschusses zur Loge P2, durch Vincenzo Bianchi, Oberst der Finanzpolizei, durch den Polizeikommissar Pasquale Juliano, den Carabinieri-General Giorgio Manes, den Richter Giancarlo Stiz, alle nichts anderes als »Diener der Republik«.

Die Fakten in Turones Buch folgen dem Anschein nach zeitlich ungeordnet aufeinander. Geheimsache Italien besteht aus Fragmenten: die Loge P2; Michele Sindona, der mörderische Bankrotteur, den Giulio Andreotti einst als »Retter der Lire« bezeichnet hatte; Giorgio Ambrosoli, der Anwalt, der wegen seiner Ehrlichkeit umgebracht wurde; Piersanti Mattarella und seine Ermordung in Palermo; die Anschläge auf die Züge; der Prozess Pecorelli.

Diese und zahlreiche andere Fragmente setzen sich zu einem umfassenden Bild der Strategie zusammen, die von den Feinden der Republik erdacht und umgesetzt wurde: die Verfassung aushebeln, die Demokratie zerstören, die so viel Blut und Schmerz gekostet hat.

»Was für ein Getue. Die P2 war nichts anderes als ein Club von Gentlemen«, sagte der ehemalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi (Mitgliedsnummer 1816 der P2) verschiedentlich. Und Licio Gelli revanchierte sich Jahre später, 2008, zur Zeit der letzten Regierung Berlusconi, und beanspruchte stolz die Urheberschaft des Plans zur demokratischen Erneuerung für die P2: »Schade, dass wir kein Patent bei der SIAE angemeldet haben, alle haben sich davon inspirieren lassen: Der einzige, der ihn ausführen kann, ist der jetzige Ministerpräsident Silvio Berlusconi.«

Die damaligen Untersuchungsrichter Giuliano Turone und Gherardo Colombo, verantwortlich für die Ermittlungen zur P2, waren nach dem Mord der Mafia an Rechtsanwalt Giorgio Ambrosoli im Zentrum von Mailand auf Licio Gelli gestoßen. In einem 1979 in den USA bei Sindona beschlagnahmten und dann nach Italien gesandten Terminkalender standen sämtliche Adressen von Gelli verzeichnet, einem Geschäftsmann aus Arezzo, den die Polizei bereits im Visier hatte. Unter ihnen befand sich auch die bislang unbekannte Anschrift eines Unternehmens für Herrenbekleidung, die Firma Giole der Gruppe Lebole in Castiglion Fibocchi, Provinz Arezzo. Dort kam es am 17. März 1981 zu der berühmten Durchsuchung durch eine regionale Einheit der Finanzpolizei. Verdacht hatte einige Monate zuvor bereits das spektakuläre Interview von Maurizio Costanzo (Mitgliedsnummer 1819 der P2) mit Licio Gelli erregt. Es war am 5. Oktober 1980 unter dem Titel Zum ersten Mal spricht der ›Signor P2‹ im Corriere della Sera erschienen. Eine Werbekundgebung. Eine Inbesitznahme, gespickt mit verschlüsselten Botschaften. Eine drohende Warnung.

Turone beachtet in seinem Buch auch die kleinsten Feinheiten, um das Klima der Zeit verständlich zu machen. Was unter anderem im Gedächtnisprotokoll von Oberstabsfeldwebel Francesco Carluccio zur Durchsuchung der Firma Giole zum Ausdruck kommt: Gellis Sekretärin Carla Venturi, die versuchte, den Schlüssel zum Safe verschwinden zu lassen, das Erstaunen des Unteroffiziers, als er den Safe öffnete und dort Listen, Dokumente, Papiere und in einem Koffer schließlich die Mappen mit den beispiellosen Namen fand – Minister, Generäle und Admiräle, Geheimdienstchefs, Präfekte, Parlamentarier, Verleger, Direktoren großer Zeitungen und Nachrichtensendungen, der Geheimloge alle durch Eid verbunden. Den viele von ihnen bereits vorher abgelegt hatten, jedoch auf die Republik. Unter ihnen auch der Kommandant der Finanzpolizei, Orazio Giannini, und Stabschef Donato Lo Prete.

Der Tross, der das beschlagnahmte Material inklusive der Namensliste der 963 Männer, etliche von ihnen in Führungspositionen der Republik, nach Mailand brachte, machte den Eindruck eines Kriegskonvois. Der Fiat Ritmo mit den Dokumenten fuhr zwischen zwei vom Kommando der Finanzpolizei entsandten Alfa Romeo Alfettas, darin je vier mit Maschinengewehren bewaffnete Soldaten.

Nur wenige wussten davon, auch wenn die Nachrichten langsam durchsickerten. Gelli, der große Hüter – Turone, der Dante liebt, vergleicht ihn mit Zerberus, dem dreiköpfigen Höllenhund, mit Geryon, dem Wächter mit dem Schlangenschwanz, mit Pluto, dem heiseren Gott der Unterwelt –, ging sogleich beunruhigt zum Gegenangriff über. Nur wenig später sorgte er dafür, dass am Flughafen Fiumicino, schlecht versteckt im Boden eines Koffers seiner Tochter, der Plan zur demokratischen Erneuerung entdeckt wurde. Ein subversiver Plan. Eine Drohung und Weisung. Eine Anleitung zum schleichenden Staatsstreich.

Warum so viel Raum für die P2 im Vorwort zu Turones an Fakten und Persönlichkeiten reichem Buch? Weil die P2 »die Metastase der Institutionen« war, das Herz, die böse Stiefmutter, die Überträgerin fast aller Übel jener Jahre. Wie ein Stehaufmännchen sprang sie unentwegt hervor, mit ihren Mächtigen und ihren gehorsamen, auf Befehl sogar kriminellen Subalternen. Der Zerfall von Würde und zivilem Respekt war die Regel. Bestimmte Dinge, die unbedeutend erscheinen mögen, sorgten für Erstaunen. Gelli, der zu sich in die Villa Wanda einen hohen Justizbeamten wie Carmelo Spagnuolo bestellte, Generalstaatsanwalt am Berufungsgericht Rom, ebenso General Giovanbattista Palumbo, Kommandant der Mailänder Division Pastrengo, General Franco Picchiotti, Kommandant der Carabinieri-Division von Rom, General Luigi Bittoni, Kommandant einer Carabinieri-Brigade von Florenz, dazu zwei Oberste. Der Ehrwürdige hatte es eilig, und die Männer der Republik eilten herbei, um dem Orakel zu lauschen. Wir befinden uns im Jahr 1976, heißt es im Bericht Anselmi, die Gefahr liegt im Vormarsch des PCI nach den Wahlen von 1973, den Referenden, der Scheidung, der Abtreibung.

In der Villa Wanda erörterte man die Möglichkeit einer Regierung unter Carmelo Spagnuolo. Gelli schien ein Generalmajor zu sein, der seinen Getreuen Befehle erteilte und sie bat, diese ihrerseits an ihre Untergebenen weiterzuleiten.

Die Namen waren alle auf der Liste der P2 und kehrten bei vielen Gelegenheiten wieder. Den von General Giovanbattista Palumbo versieht Giuliano Turone, stets gemäßigt und achtsam in der Ausdrucksweise, mit den Adjektiven »furchterregend und brutal«. (Von der Division Pastrengo kam 1973 der Befehl zur »berüchtigten Vergewaltigung der Schauspielerin Franca Rame, geplant und angeordnet von General Palumbos perversem Hirn«.)

Palumbos Biografie ist ein schmutziger italienischer Archetyp. Als überzeugter Faschist, Bewunderer des Nationalsozialismus, Ritter des Ordens vom Deutschen Adler ohne Schwerter legte er nach dem Waffenstillstand vom 8. September 1943 den Eid auf die Republik von Salò ab und forderte seine Männer auf, Gleiches zu tun. Als der Wind drehte, konstruierte er sich eine nicht vorhandene Partisanenvergangenheit und wurde dadurch Militärgouverneur der Alliierten in der Provinz Cremona. Er machte eine brillante Karriere. 1964 – um seine wahre Vergangenheit nicht zu sehr aus den Augen zu verlieren – stand er an der Seite von General Giovanni de Lorenzo bei der Organisation des »Piano Solo«.

Das Kommando der Division Pastrengo in der Via Marcora in Mailand, in der Nähe der Piazza della Repubblica, war damals ein düsterer Ort. Sämtliche Männer des Generalstabs waren Mitglieder der P2. Eine Gruppe kranker Macht, wie der aufrechte und republiktreue Oberst Nicolò Bozzo konstatierte.

General Palumbo war ein leidenschaftlicher Jäger von Neuzugängen zur Loge, ihm gefiel es, der Initiation der neuen Brüder im Hotel Excelsior in Rom beizuwohnen. Dem Bericht Anselmi zufolge stand er in engem Kontakt mit General Musumeci, dem Generalsekretär des militärischen Geheimdienstes SISMI. Und war ein erbitterter Feind von General Carlo Alberto Dalla Chiesa. Wahrscheinlich von Neid getrieben, fürchtete er ihn und schadete ihm, wie er nur konnte.

Dalla Chiesa, ein sehr fähiger Offizier, hatte an der Resistenza teilgenommen und 1948, als Hauptmann in Sizilien, die Mörder von Placido Rizzotto, dem Sekretär der Arbeitskammer von Corleone, verhaftet, die im Auftrag von Luciano Liggio gehandelt hatten. In den 1970er-Jahren erneut in Sizilien und Oberst des Carabinieri-Regionalkommandos Palermo, ließ er Mafiosi vom Rang eines Frank Coppola und Gerlando Alberti verhaften und unter Arrest stellen. Als Kommandant der Carabinieri-Brigade Turin kehrte er in den Norden zurück. Es waren die Jahre des Terrorismus. Dalla Chiesa wurde von Innenminister Taviani mit der Einrichtung einer speziellen Antiterroreinheit der Kriminalpolizei betraut. 1974 gelang ein Durchbruch: Er verhaftete Renato Curcio und Alberto Franceschini, die Anführer der Roten Brigaden.

Trotz der erzielten Erfolge, oder vielleicht gerade deswegen, drängte man ihn beiseite. Palumbo wurde zum stellvertretenden Generalkommandanten der Carabinieri ernannt, und – der Zusammenhang ist eindeutig – Dalla Chiesas Spezialeinheit zur Terrorbekämpfung aufgelöst. Die Piduisten der Division Pastrengo hatten die Partie gewonnen. Armes Italien. Dalla Chiesa stand »auf Abruf«, zur Untätigkeit verdammt. Während das Blut des Terrorismus durch die Straßen floss, setzte man ihn als Verantwortlichen für die Koordinierung der Überwachungsdienste der Hochsicherheits-, Präventions- und Strafanstalten ein.

Geheimsache Italien erzählt im Einzelnen von dem Versuch der Spitzen der P2, Carlo Alberto Dalla Chiesa, der eine Krise durchlebte, zum Beitritt zur Loge zu bewegen: nichts anderes als eine Falle, um den General, der den Piduisten lästig war, erpressbar zu machen. Das Vorhaben scheiterte.

Turone, der bei seinen Recherchen mitunter wieder zum Untersuchungsrichter von damals wird, präsentiert ein Buch voller wissenschaftlich belegter Nachrichten, Beobachtungen und Urteile über diese konfliktreichen Jahre. Er bietet keine Offenbarungen, die Neuigkeit steckt in der umfassenden und vergleichenden Analyse einer Ansammlung schrecklicher Tatsachen, die in einer geheimen Welt gereift und in den meisten Fällen ungestraft geblieben sind. Geheim eben.

Es ist interessant, das, was damals passierte, unter dem Blickwinkel der Gegenwart zu analysieren, in einer Gesellschaft wie der unseren, zerstreut, passiv. An Beispielen fehlt es nicht. Die Spezialeinheit zur Verbrechensbekämpfung der Division Pastrengo wurde von den Männern der P2 gesteuert. Auf Initiative von Minister Virginio Rognoni, der 1978 eine neue Spezialeinheit zur Terrorbekämpfung geschaffen hatte, tauchte General Dalla Chiesa schließlich wieder auf. Das saubere Italien siegte diesmal über das Italien, das »dem diskreten Charme der geheimen Macht« treu verbunden war.

Am 1. Oktober desselben Jahres – das Jahr der Entführung und Ermordung von Aldo Moro – brach der General in das Versteck der Rotbrigadisten in der Mailänder Via Monte Nevoso ein, wo sich das Archiv der Roten Brigaden befand. In einer blauen Mappe wurden 49 maschinengeschriebene Seiten des Memoriale Moro gefunden. (1990 wurde dann in einem Versteck unter einem Fenster derselben Wohnung die Fotokopie von 245 Seiten des Memoriale entdeckt.) Ein großes Durcheinander. Turone führt uns hindurch.

Ständig stößt man auf die P2. Zur Zeit der Entführung von Moro waren alle oder fast alle Berater von Minister Cossiga Mitglieder der Loge. Und die Rätsel, auch die kleinen, häuften sich. Wie war es möglich, dass ein Drucker des militärischen Geheimdienstes SISMI in einer römischen Druckerei von Mario Moretti, dem zwielichtigen Kopf der Roten Brigaden, genutzt werden konnte, um die Flugblätter der Rotbrigadisten herzustellen? Wie konnte es sein, dass ein Waffenarsenal der römischen Magliana-Bande – Waffen, die für Morde dienten – in einem Keller des Gesundheitsministeriums untergebracht war? Waren dafür nur korrupte Mitarbeiter verantwortlich?

Aber das Buch erinnert auch an weit schwerwiegendere Fälle. Andreotti und die Mafia. Es ist gemeinhin bekannt, dass der siebenmalige Ministerpräsident im Prozess von Palermo 1995 freigesprochen wurde. Des Zusammenschlusses mit der Mafia beschuldigt, wurde er für die Ereignisse vor und nach 1980 aber nicht verurteilt – was ihn gewiss nicht freispricht, im Gegenteil, wie der Lauf der Zeit erwies. Warum hielt seine Kooperation mit der Mafia, vermittelt durch Salvo Lima, den Statthalter, und die Cousins Salvo, so lange an, und warum endete sie dann? Weil Andreotti wahrscheinlich mit der Mafiafamilie Bontate-Inzerillo verbunden war, die in den 1980er-Jahren an Macht verlor und von den Corleonesi um Luciano Liggio, den Siegern in den Mafia-Kriegen, umgebracht wurde. Andreotti hatte also mit den Verlierern koaliert. Eigenheiten der Cosa Nostra.

Die finsteren Affären, von denen in Turones Buch berichtet wird, reißen nicht ab. Der Mord an Piersanti Mattarella, dem Präsidenten der Region Sizilien, der versucht hatte, die Korruption auf der Insel zu unterbinden, und am 6. Januar 1980 von der Mafia ermordet wurde, die sich für das Verbrechen junger Rechtsextremisten bediente; die Aufhebung des Urteils gegen die drei Killer des Carabinieri-Hauptmanns Emanuele Basile durch den Kassationsgerichtshof, wegen eines Formfehlers: »Die Anwälte der drei Angeklagten waren nicht zu gegebener Zeit über das Datum der öffentlichen Sitzung zur Auslosung der Geschworenen unterrichtet worden.« Oh weh, Magd Italien im Vaterland des Rechts.

Geheimsache Italien ist ein wichtiges Buch. Es dokumentiert in aller Klarheit eine trübe, noch immer nicht vollständig bekannte Vergangenheit. Die P2 ist darin eine Obsession. Sie taucht immer wieder auf. Ein als Teufel verkleidetes Gespenst, ein Marionettenspiel aus Tatsachen, die weit voneinander entfernt zu sein scheinen und stattdessen zusammenhängen, derselben Wurzel entspringen.

Wer waren die wirklichen Köpfe der P2? Wer hat das Karussell gelenkt? Andreotti und Cossiga, heißt es, die Verdächtigsten, die Verstricktesten, Nahestehende und Freunde jener Verräter der Republik. Man hatte angenommen, dass die Mauern des Schweigens mit ihrem Tod zerbrochen wären. Das ist nicht geschehen. Es fehlten die Beweise, die politischen Indizien reichten nicht aus. Die berühmten Leichen blieben mit ihren Geheimnissen im Keller, die Wunden sind nicht verheilt.

Im Senat, während der 12. Legislaturperiode, vor fast einem Vierteljahrhundert, saß Andreotti an seinem immer gleichen Platz neben dem Gang, links von der Saaltür. Cossiga saß mal hier, mal dort, je nach seinen sonderbaren Launen. Einmal nahm er auf einem Sitz der Linken Platz und bat feierlich um das Wort. Er wandte sich offen an Andreotti auf der anderen Seite des Saals, fixierte ihn die ganze Zeit über, zeigte mit gestikulierenden Händen auf ihn: Es war eine sehr merkwürdige Rede, politisches Sanskrit, was nur die beiden verstehen konnten. Aus Ton und Mienenspiel ließ sich erraten, dass Cossiga Andreotti ernste Dinge vorhielt. Er beleidigte ihn, mit gelassenem Zorn, wie ein guter Christdemokrat. Ein theatralisches Kapitel einer Abrechnung – warum in jenem Saal? Andreotti, reglos, machte den Eindruck einer bleiernen Maske.

Um an irgendeine Auskunft über die Männer an der Spitze der Loge zu gelangen, bleibt nur der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zur P2 unter Vorsitz von Tina Anselmi, einer sehr mutigen Frau mit großer moralischer Kraft, die jeder Art von Drohungen, Einschüchterungen, Beleidigungen und Verleumdungen ausgesetzt war und noch dazu von ihrer Partei, der DC, ausgegrenzt wurde.

Der Bericht verwendet eine berühmte Metapher, die der »doppelten Pyramide«: zwei Pyramiden, die mit ihren Spitzen aufeinander stehen, wodurch sie zusammen die Form einer Sanduhr bilden. Der ehrwürdige Gelli, der Notar, der Administrator, der praktische Organisator, der dem Hauptquartier der Loge vorstand, saß auf der Spitze der unteren Pyramide, »Verbindungspunkt zwischen den Mächten, den Persönlichkeiten und den Gruppierungen, die in der oberen Pyramide die ultimativen Ziele festlegten.« Aber wer thronte in der oberen Pyramide? Hier kapituliert der Bericht und schließt bitter: »Welche Kräfte in der uns unbekannten Struktur am Werk sind, konnte […] über die Identifizierung der Beziehung hinaus, die Licio Gelli mit den Geheimdiensten verbindet, nicht in Erfahrung gebracht werden.«

EINLEITUNG

Dieses Buch über einen Teil zeitgenössischer Geschichte basiert auf juristischen Quellen. Es behandelt den Zeitraum zwischen dem Ende der 1970er- und dem Anfang der 1980er-Jahre, eine kurze, aber erschütternde Periode in der Geschichte Italiens, gespickt mit Geheimnissen und furchtbaren Verbrechen. Eine Periode, in der kriminelle und antiinstitutionelle Phänomene so verheerend waren, dass sie das verfassungsmäßige Gleichgewicht des Landes zu gefährden drohten. Italien ist die Nation, in der die Verflechtung zwischen Politik und Kriminalität, zwischen Institutionen und Illegalität, zwischen der offiziellen und der geheimen Macht derartig komplex ist, dass es nicht zu Unrecht heißt, »in Europa und der sogenannten ›Ersten Welt‹ existiere wahrscheinlich kein anderes Land mit einer solch konstanten und tiefgreifenden Verstrickung«.1

Hinzu kam, dass dieser Teil der Geschichte absichtsvoll möglichst weit im Dunklen gehalten wurde: ein unüberschaubares Geflecht aus Geheimnissen und Lügen, das Werk von Kreisen und Personen, die vorsätzlich und zynisch einen kolossalen Diebstahl am Bewusstsein der Bevölkerung begangen haben. Leidtragende dieser Hinterziehung des historischen Bewusstseins sind vor allem die jungen Generationen. Das gilt speziell für Italien. Wer mit den Zwanzigjährigen von heute zu tun hat, kennt ihre Verwirrung angesichts der Rätsel der jüngeren Geschichte ihres Landes und weiß, wie sehr sie danach suchen, bestimmte erschütternde Ereignisse zu verstehen, die ein paar Jahrzehnte vor ihrer Geburt geschehen sind. Ihnen vor allem ist dieses Buch gewidmet. Daher ist es in dem ausdrücklichen Bemühen um Klarheit geschrieben, ohne die Kenntnis besonderer Umstände vorauszusetzen.

Nur wenn die neuen Generationen von diesen unheilvollen Ereignissen erfahren und deren historische Bedeutung erfassen, können sie ihrerseits das Bewusstsein und das Verständnis davon an die zukünftigen Generationen weitergeben. Wie Staatspräsident Sergio Mattarella in einer seiner Reden zum Giorno della Memoria, dem »Internationalen Tag des Gedenkens« für die Opfer des Holocaust (27.01.) betonte, ist »das bewahrte und überlieferte Gedächtnis ein unerlässliches Gegenmittel gegen die Gespenster der Vergangenheit«.

Die Verwendung gerichtlicher Quellen ist sehr wichtig für die Rekonstruktion der Vergangenheit eines Landes, und besonders gilt das für Italien. Vor allem die Gerichtsurteile, das heißt die Schlussakten der Prozesse, erweisen sich als wertvoll, aber auch die Gerichtsdokumente mit den Beweismitteln, beispielsweise das Verhör eines Angeklagten, die Aussage eines Zeugen oder ein ballistischer Bericht, haben großen Nutzen. Die Gerichtsurteile sind privilegierte Quellen, da sie eine durchdachte Synthese des Beweismaterials liefern und die offizielle Wahrheit zu bestimmten Ereignissen darstellen. Würden wir jedoch nur die Gerichtsurteile berücksichtigen, müssten wir bei den vor Gericht verhängten Entscheiden Halt machen, und dies liefe der kritischen Forschung des Historikers zuwider.

Der Sinn der gerichtlichen Entscheidung unterscheidet sich von der Absicht des Historikers. Die Entscheidung des Richters zielt auf die Vergewisserung, ob die Beschuldigung, die sich gegen einen Angeklagten richtet, zweifelsfrei begründet oder unbegründet ist, ob ein Angeklagter also für die Straftat zur Rechenschaft gezogen oder freigesprochen werden muss. Im juristischen Bereich gibt es zudem strenge Regeln zur Zulässigkeit von Beweismitteln, zur Beweisverwertung, zur Beweiswürdigung, zur Nichtigkeit von Tathandlungen, zu den Grenzen der Anfechtbarkeit und so fort, denn um eine Strafe gegen den Angeklagten zu verhängen, muss die Anschuldigung über jeden vernünftigen Zweifel hinaus und unter Einhaltung aller gesetzlich vorgesehenen Absicherungen bewiesen werden.

Umgekehrt darf der Historiker, der eine Verfahrenssache von historischem Interesse zurückverfolgt, weder Schuld zuweisen noch bewerten, ob die Entscheidung des Richters über den Status dieses oder jenes Angeklagten annehmbar ist oder nicht, geschweige denn über die Schuld oder Unschuld bestimmter Personen urteilen. Der Historiker kann und darf ausschließlich Tatsachen rekonstruieren, die in einem bestimmten Verfahren nicht ausreichend geklärt sind, die aber aufgrund weiterer verfügbarer Fakten entweder im selben oder in einem weiteren mit ihm zusammenhängenden Verfahren geklärt werden können.

Derartige Situationen kommen mehrmals auf den nachfolgenden Seiten zur Sprache. Im Zusammenhang mit dem schweren juristischen Angriff auf die Banca d’Italia im März 1979 finden die Leser beispielsweise eine unveröffentlichte historische Rekonstruktion, die auf der Verknüpfung einiger Daten in den Terminkalendern von Giulio Andreotti, die dem Prozess von Perugia zum Mord am Journalisten Carmine »Mino« Pecorelli entnommen wurden, und Erkenntnissen aus dem Prozess gegen den Rechtsanwalt und Bankier Michele Sindona basiert.2

I. DAS TRIENNIUM 1978 – 1980 DIE BEDROHLICHE GEGENWART DER FREIMAURERLOGE P2

1. Die drei singulären historischen Faktoren, die der »Geheimsache Italien« zugrunde liegen

Einige besondere historische Faktoren unterscheiden Italien merklich von allen anderen westeuropäischen Demokratien. Vor allem die historischen Mafias. Nach Ansicht mancher Wissenschaftler, darunter der Historiker Nicola Tranfaglia, besitzen sie eine gemeinsame Matrix. Diese entwickelte sich vor mehreren Jahrhunderten, als der Mezzogiorno (Süditalien) formell von fremden Mächten dominiert wurde, deren Hauptstädte fern und deren territoriale Herrschaftsgebiete weiträumig waren: Byzantiner, Araber, Spanier. Auch jene absolutistischen Staaten der Vergangenheit besaßen ihre Legalität und waren mehr oder weniger in der Lage, die Gesetze durchzusetzen. Allerdings mit beträchtlichen Einschränkungen: Aufgrund der Weiträumigkeit ihrer Herrschaftsgebiete griffen ihre Autorität und Gesetzgebung nur in den leichter erreichbaren, nicht zu weit von der Hauptstadt entfernten Gebieten.1

Vor allem Sizilien und Kalabrien befanden sich über weite Zeiträume in solch einer Situation. Mit der Folge, dass es in diesen beiden Regionen jahrhundertelang keine staatliche Autorität gab, die das Gebiet unter Kontrolle halten konnte. (In anderen Gegenden wie beispielsweise der Lombardei unter spanischer und Andalusien unter arabischer Herrschaft währte die grundsätzliche Abwesenheit staatlicher Autorität nicht so lange, was erklären mag, warum es in keiner der beiden Regionen zum Entstehen einer lokalen Mafia gekommen ist.)

In diesem langen Vakuum legaler Macht bildeten sich spontane, mit einer De-facto-Macht versehene Gruppen, die den Platz der fehlenden staatlichen Autorität einnahmen und ihr eigenes, auf Einschüchterung, Gewalt und Unterwerfung basierendes Gesetz aufzwangen. Aus diesem Samen erwuchs und entwickelte sich schrittweise die illegale Macht der historischen Mafias.

Diesen Zustand erbten dann die Bourbonen des Königreichs beider Sizilien, die damit nicht zurechtkamen. Sie verschlimmerten die Situation unter anderem dadurch, dass sie Funktionen der öffentlichen Ordnung an die Camorra übertrugen. Dadurch verfestigte und entfaltete sich die Camorra, die ursprünglich nur ein Phänomen der städtischen Kriminalität in den armen Vierteln Neapels gewesen war, und stieg im Laufe der Zeit zur dritten Mafia des Landes auf.

Die tiefe Verwurzelung der historischen Mafias und die viel zu lang anhaltende Vermischung von Staatsgewalt und krimineller Macht hatten für das Land verheerende Konsequenzen. Hier liegt der erste substanzielle Unterschied zwischen Italien und den anderen europäischen Ländern.

Die zweite italienische Eigenart besteht darin, dass es tausend Jahre lang einen Papst gab, der quasi wie ein Kaiser regierte. Der Kirchenstaat besaß unbestritten das Verdienst, Rom zu einer der schönsten Städte der Welt gemacht zu haben. Er verzögerte aber den Moment, an dem die Untertanen das Bewusstsein entwickeln, das aus ihnen Bürger macht, aufgeschlossen gegenüber den Interessen der Gemeinschaft und mit einem eigenen Gespür für Institutionen. Eine Folge dieser historischen Besonderheit zeigt sich vielleicht in der Tatsache, dass die Staatsbürgerkunde in den italienischen Schulen immer stiefmütterlich behandelt wurde.

Zudem hinterließ das päpstliche Jahrtausend weitere sperrige Vermächtnisse, die über die Präsenz des Vatikanstaats im Herzen von Rom entscheidenden Einfluss auf den historisch-politischen Weg Italiens von 1870 bis heute nahmen. Hier wären zahlreiche Beispiele zu nennen. Es sollte aber genügen, an dieser Stelle auf die schädliche Rolle des Istituto per le Opere di Religione (IOR),2 der sogenannten Vatikanbank, in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hinzuweisen. Deren Direktor war von 1971 bis 1989 Erzbischof Paul Marcinkus.

Nachgewiesenermaßen unterhielt das IOR enge Beziehungen mit dem geheimen Machtsystem der Freimaurerloge Propaganda Due oder P2 von Licio Gelli und seinem »Finanzhirn« Umberto Ortolani, mit den halsbrecherischen Finanzgeschäften von Michele Sindona und Roberto Calvi, Mitglieder der P2, und ebenso mit der sizilianischen und der sizilianischamerikanischen Cosa Nostra – durch die massive Wäsche von Mafiageldern durch Sindona und Calvi. Darauf wird in diesem Buch näher eingegangen.

Die dritte Besonderheit besteht darin, dass Italien direkt an der in Jalta festgelegten Grenze die größte Kommunistische Partei der westlichen Welt besaß. Auch diese Besonderheit hatte unzählige Konsequenzen. Nach Jalta – also nach dem Untergang des Faschismus – sorgte die Präsenz einer so starken kommunistischen Partei in Italien (die dem Sowjetblock in den ersten Jahren mit Sympathie begegnete) in NATO-Kreisen für ernste Bedenken. In diesem Zusammenhang wurde den historischen Mafias und anderen antistaatlichen Phänomenen, Feinden der neuen Verfassung, paradoxerweise die Rolle eines antikommunistischen Bollwerks zugeschrieben – oder sie schrieben sich diese Rolle selbst zu.

Die Amerikaner, deren Verdienst es gewesen war, Italien bei der Befreiung von der Diktatur geholfen zu haben, begannen jedoch gleich nach ihrer Landung in Sizilien, verschiedene sizilianische und kalabrische Gemeinden in die Hände von Bürgermeistern zu legen, die lokale Mafiabosse waren. Dadurch sollte die Gefahr umschifft werden, den Weg für kommunistische Bürgermeister zu ebnen. »Die Alliierten, insbesondere die Amerikaner, waren maßgeblich bei der Wiedereinsetzung der Mafia, sie haben sie politisch bestätigt, haben sich ihrer mit Zynismus bedient. Aber es fehlt an Zeugnissen, es mangelt nicht zufällig an Quellen und Einzelheiten«, schrieb der Journalist Corrado Stajano 2016.3 Jedenfalls hat dies den historischen Mafias eine ungeheure Schubkraft verliehen, in das Nervensystem des neuen Staates einzudringen, der sich in einem durch das zwanzigjährige faschistische Regime und die harten Kriegsfolgen schwer geprüften Land konstituierte. Wie man sehen wird, kamen später noch andere Mechanismen zum Zuge, um den gefürchteten Partito Comunista Italiano (PCI) so lange wie möglich zu isolieren und von der Macht fernzuhalten. Vielgestaltige Mechanismen, die darauf hinwirkten, den sogenannten »Faktor K«4 am Leben zu halten, auch als der PCI im Umfeld des Prager Frühlings auf Distanz zum Sowjetblock ging.

Von besonderer Bedeutung im Zusammenhang mit dieser Distanzierung sind die Bemerkungen des Generalsekretärs des PCI, Enrico Berlinguer, in einem berühmten Interview mit dem Journalisten Giampaolo Pansa, das am 15. Juni 1976 im Corriere della Sera erschien:

»Fürchten Sie nicht, dass Moskau Berlinguer und seinem Eurokommunismus dasselbe Ende bereiten könnte wie Dubček und seinem ›Sozialismus mit menschlichem Antlitz‹?

Nein. Wir befinden uns in einer anderen Gegend der Welt. Und – vorausgesetzt, es bestünde der Wunsch dazu –, so gibt es doch nicht die geringste Möglichkeit, dass unser Weg zum Sozialismus von der UdSSR behindert oder bestimmt werden könnte. Man kann darüber diskutieren, ob seitens der UdSSR der Wille zu einer Vormachtstellung über die verbündeten Länder besteht. Aber es existiert keinerlei Anzeichen, das auf eine Absicht der UdSSR hindeuten würde, sich über die von Jalta gesteckten Grenzen hinwegzusetzen.

Es beruhigt Sie also, dass Sie sich im Westen befinden?

Da Italien kein Mitglied des Warschauer Pakts ist, halte ich es für absolut gewiss, den italienischen Weg zum Sozialismus ohne jede Beeinflussung weiter beschreiten zu können. Was aber nicht heißt, dass es im westlichen Block keine Probleme gäbe: Wir sehen uns gezwungen, innerhalb des Nordatlantikpakts, den wir nicht infrage stellen, das Recht Italiens zu fordern, autonom über sein eigenes Schicksal zu entscheiden.

Der Nordatlantikpakt kann also auch ein nützlicher Schild sein, um den Sozialismus in Freiheit aufzubauen …

Auch deshalb will ich nicht, dass Italien aus dem Nordatlantikpakt aussteigt, nicht nur, da unser Ausstieg das internationale Gleichgewicht erschüttern könnte. Ich fühle mich hier sicherer, sehe aber, dass es auch hier ernsthafte Versuche gibt, unsere Autonomie einzuschränken.«5

Darüber hinaus wurde Druck erzeugt, der, abgesehen von der sowjetischen Gefahr, aus Kreisen kam, die Interesse hatten, das politische Gleichgewicht unverändert zu erhalten, um die Vorteile nicht zu verlieren, die sie aus einer ständigen »Strategie der Spannung« zogen: historische Mafias, verschiedene kriminelle und subversive Milieus, die zu extremen Mitteln wie politischem Terrorismus griffen, aber auch politische Kreise, die weiterhin die Flagge der kommunistischen Gefahr schwenkten, um sich an der Macht zu halten.

Dies rief Geheimorganisationen ins Leben, die heimliche Ableger der offiziellen Geheimdienste waren. Sie hatten so extravagante Namen wie Gladio (Schwert), Rosa dei Venti (Windrose), Anello (Ring), Loge P2.

In der Folge kam es zu Versuchen oder Androhungen von Putschen, aber auch zu brutalen Massakern wie dem Bombenanschlag an der Piazza Fontana (Mailand 1969) und dem Bombenanschlag auf der Piazza della Loggia (Brescia 1974). In diesem Kontext entwickelte die P2 ihren berüchtigten Plan zur demokratischen Erneuerung (1976). Es handelte sich um eine Art »Verfassung« des vom System P2 geplanten schleichenden Staatsstreichs. Dann folgte die Entführung und Ermordung von Aldo Moro (1978), ein Trauma, ebenso wie weitere schwere Attentate, unter anderem der Bombenanschlag auf den Bahnhof von Bologna (1980). Hinzu kamen die von Licio Gelli und Francesco Pazienza, dem mit den amerikanischen Diensten verbundenen Geschäftemacher par excellence, organisierten Ablenkungsmanöver, in Komplizenschaft mit den von der P2 kontrollierten italienischen Geheimdiensten. Mit all dem befasst sich dieses Buch.

Die P2 erreichte den Höhepunkt ihrer Macht in dem schrecklichen Triennium von 1978 bis 1980. In diesem Zeitraum stellte ein »geheimes Italien« die Weichen für die kommenden Jahrzehnte. Die zentrale Rolle der P2 und ihre Präsenz bei sämtlichen Ereignissen, von denen die Rede sein wird, machen es nötig, die Darstellung damit zu beginnen.

2. Der Weg zur Entdeckung der Loge P2

Das geheime Machtsystem der Loge P2 wurde im Zuge der Durchsuchung entdeckt, die am 17. März 1981 gleichzeitig in allen bekannten Domizilen von Licio Gelli vorgenommen wurde. Angeordnet wurde sie während des Mailänder Strafverfahrens gegen den Bankrotteur Michele Sindona im Zusammenhang mit dem Mord an Giorgio Ambrosoli (11. Juli 1979). Die beiden für dieses Strafverfahren zuständigen Untersuchungsrichter waren der Autor dieses Buches und sein Kollege Gherardo Colombo.

Der Durchsuchungsbefehl wurde am 12. März 1981 ausgestellt, die Mailänder Finanzpolizei zu seiner Durchführung ermächtigt. Dieser Schritt war notwendig geworden, da in dem Zeitraum von August bis Oktober 1979, den Sindona unter Vortäuschung seiner Entführung durch ein angebliches »Proletarisches Umsturzkomitee für mehr Gerechtigkeit« versteckt in Palermo verbracht hatte, maßgebliche Beziehungen zwischen ihm und Gelli entstanden waren.

Gelli war einer von denjenigen, die sich am meisten für die betrügerischen »Rettungspläne« stark gemacht hatten, die, wären sie aufgegangen, den finanziellen Abgrund von Sindonas Bank zu Lasten der Gesellschaft überbrückt hätten. Er war auch einer der Unterzeichner der Affidavits, eidesstattliche Erklärungen, die Ende 1976 an die US-amerikanische Justizbehörde übermittelt wurden, um Sindonas Auslieferung nach Italien zu verhindern. In seinem Affidavit hatte Gelli unter anderem erklärt, Sindona wäre ein verfolgter antikommunistischer Politiker, den bei seiner Rückkehr nach Italien ein parteiischer Prozess erwarte; sein Leben wäre bedroht.

Nachdem das Unterfangen der von Sindona vorgetäuschten eigenen Entführung gescheitert war und zu seiner Verhaftung in New York geführt hatte, wurde den italienischen Behörden im November 1976 von den Amerikanern ein kurz zuvor bei ihm beschlagnahmter Taschenkalender überstellt, in dem Sindona sämtliche Adressen von Licio Gelli notiert hatte.

Nach der Entscheidung, ein gerichtliches Ermittlungsverfahren gegen Licio Gelli einzuleiten – eine Entscheidung, die nicht zufällig im Mailänder Justizpalast gereift war, wo die Affären um Sindona den Ausgangspunkt bildeten –, war bereits hinreichend klargeworden, dass es sich bei Gelli um den wohlgeschützten Manager eines geheimen Machtzentrums handeln musste, kaschiert durch die mysteriöse Freimaurerloge. Dieser Eindruck erhärtete sich, als im Corriere della Sera vom 5. Oktober 1980 ein langes, besorgniserregendes Interview erschien, das Licio Gelli dem Journalisten Maurizio Costanzo gegeben hatte (zu dem Zeitpunkt wusste man noch nicht, dass Maurizio Costanzo ebenso Mitglied der Loge P2 war wie Franco Di Bella, der Direktor der Zeitung). Schon der Titel des Interviews war extrem aufschlussreich: Der diskrete Charme der verborgenen Macht – Zum ersten Mal spricht der »Signor P2«. Ganz zu schweigen von der langen Einführung, von der hier nur die ersten Zeilen zitiert werden sollen: »Licio Gelli, unbestrittener Kopf der geheimsten und mächtigsten Freimaurerloge, hat einem Interview zugestimmt und legt auch seinen Standpunkt dar – Die Organisation: ›Ein Zentrum, das mit Intelligenz, Kultur, Weisheit und Großzügigkeit begabte Elemente aufnimmt und vereinigt, um die Menschheit zu verbessern.‹«

Da das Gerücht die Runde gemacht hatte, der »ehrwürdige Meister« Licio Gelli könne überall in den öffentlichen Institutionen auf eine ansehnliche Zahl loyaler Logenbrüder zählen, wurden die mit der Durchsuchung vom 17. März betrauten Beamten der Finanzpolizei (alle außerhalb ihres eigentlichen Einsatzbereichs) von den Untersuchungsrichtern formell zu einer ganz besonderen Vorsichtsmaßnahme verpflichtet: Sie sollten auf die übliche Praxis verzichten, die lokalen Kommandostellen aus Gründen der institutionellen Höflichkeit von den geplanten Operationen zu unterrichten.

Unter Licio Gellis Adressen in Sindonas Taschenkalender war eine – zumindest für die Mailänder Ermittler – ganz neu und unbekannt: die Firma Giole der Gruppe Lebole. ein Unternehmen für Herrenbekleidung in Castiglion Fibocchi, Provinz Arezzo.6 Es schien, als handele es sich hier um eine besonders interessante Deckadresse. Tatsächlich war es diese Adresse, ein streng vertrauliches Büro des »Ehrwürdigen«, wo die Durchsuchung vom 17. März 1981 brisante Auswirkungen hatte. Alle anderen Durchsuchungen – die in der Villa Wanda, Gellis Domizil in Arezzo, und zwei weitere in Rom und Frosinone – blieben ergebnislos.

Zum Leiter des Durchsuchungskommandos von Castiglion Fibocchi wurde der 43-jährige Francesco Carluccio bestimmt, ein energischer Mann aus dem Salento, einer der fähigsten Fahnder der Mailänder Finanzpolizei. Er war Oberstabsfeldwebel, kein Offizier, genoss jedoch wegen seiner beruflichen Fähigkeiten und seiner absoluten Verlässlichkeit das volle Vertrauen beider Vorgesetzter, die für die Koordinierung der Operationen verantwortlich waren: Oberst Vincenzo Bianchi und Major Vincenzo Lombardo.

Auf Bitte des Autors verfasste Francesco Carluccio am 4. Oktober 2017 ein Gedächtnisprotokoll über die wirklich denkwürdige Durchsuchung in Castiglion Fibocchi.7

3. Gedächtnisprotokoll von Oberstabsfeldwebel Francesco Carluccio zur Durchsuchung des Büros von Licio Gelli in Castiglion Fibocchi

[…] Am 14. März 1981 (ein Samstag) wurde ich in das Büro des Kommandanten des Ermittlungsteams beordert, anwesend war auch Major Lombardo. Im Vorzimmer saßen einige Offiziere. Wir wurden einer nach dem anderen empfangen. Oberst Bianchi teilte mir mit, dass ich am folgenden Montag einen kriminalpolizeilichen Einsatz in Arezzo durchzuführen hatte, ohne den Ort zu spezifizieren oder die Subjekte zu benennen, gegen die vorgegangen werden sollte: Die Anordnungen befanden sich in einem verschlossenen Umschlag, der mir übergeben wurde (ich erinnere mich nicht mehr, ob in jenem Moment oder direkt vor dem Aufbruch nach Arezzo), mit der Order, ihn am Morgen des 17. März zu öffnen.

»Keine Telefonate, außer in ernsten Dienstangelegenheiten«, wurde mir gesagt.

Aus einer Liste, die mir Major Lombardo vorlegte, wählte ich die beiden Unteroffiziere, die mich begleiten sollten, Stabsfeldwebel Concezio De Santis und Oberfeldwebel Salvatore Polo, mit denen ich bereits zusammengearbeitet hatte und denen ich blind vertraute. Man stellte mir einen Fiat Ritmo zur Verfügung, am Steuer der Stabsgefreite Luigi Voto.

Wir machten uns am frühen Nachmittag des 16. März auf den Weg nach Arezzo und stiegen im Hotel Intercontinental ab.

Um auf die Vorkehrungen zur Geheimhaltung zurückzukommen, zu denen meine Vorgesetzten die Einsatzleiter verpflichteten: Kaum, dass man mir sagte, ich würde nach Arezzo fahren, begriff ich, dass die Operation Licio Gelli galt. Das lag daran, weil ich seit 1974 mit den Insolvenzermittlungen gegen die Banca Privata Italiana betraut war, der Fall, von dem alle Rechtsverfahren ausgegangen waren, die Michele Sindona betrafen. Im Laufe der Ermittlungen gegen die Bank, durch die Kontakte der Mitglieder der Ermittlungseinheit zu den Staatsanwälten – zu den Verantwortlichen für das Insolvenzverfahren ebenso wie zu denen, die mit dem Verfahren im Mordfall Ambrosoli betraut waren –, fiel mehrmals der Name Licio Gelli, auch die Namen anderer mutmaßlicher Freunde von Sindona wurden erwähnt, um die Einsatzkräfte, die die Bankunterlagen kontrollierten, auf sie aufmerksam zu machen.

Keiner der Kollegen wusste, warum wir nach Arezzo fuhren, und auch nicht, wer Licio Gelli war.

Ich informierte sie abends im Hotel (wahrscheinlich würde ich am nächsten Tag nicht mehr die Zeit haben, sie entsprechend zu unterrichten) und bat sie darum, sehr vorsichtig und gewissenhaft zu sein – Licio Gelli, Großmeister der Freimaurer, war ein mächtiger Mann –, ob der gerichtspolizeiliche Einsatz nun negativ oder positiv verliefe. Es ging darum, Beweise für Kontakte zwischen Sindona und Gelli zu finden, vor allem zwischen 1978 und 1980, als Sindona »verschwunden« war.

Am Abend des 17. März 1981 trug ich in mein Notizbuch ein:

»Ich habe nicht gut geschlafen. Um 6:30 Uhr bin ich aufgewacht. Etwa gegen 8:30 Uhr trafen wir in Castiglion Fibocchi ein, wir ermittelten dort auch den Sitz der Socam [ein anderes Unternehmen im selben Gebäude, das ebenfalls durchsucht werden sollte]. Um 9 Uhr erschienen ich und De Santis bei der Giole, Polo und Voto bei der Socam. Gelli war nicht da. Wir haben die Durchsuchung in Anwesenheit der Sekretärin Carla Venturi durchgeführt. Ich hatte sofort das Gefühl, dass die Unterlagen wichtig waren, vor allem die in den versiegelten Umschlägen.«

Besonders deshalb, da letztere einen so gut geschützten Eindruck machten. Die Umschläge wurden natürlich nicht geöffnet, aber die Vermerke darauf waren für mich von höchstem Interesse.

Das Ganze lief folgendermaßen ab:

Ich war überzeugt, dass Licio Gelli der Manager der Giole war. Als wir in den Flur des Gebäudes kamen, der zu den Büros führte, forderte ich den Portier daher sofort auf, mich in das Büro des Managers Licio Gelli zu begleiten. Er antwortete mir, dass dieser Mann kein Amt in der Firma innehabe, nichts weiter.

Es kam zu einem Moment der Verwirrung (wenn die Verfügung sich auf die Räumlichkeiten der Giole bezog, verstand es sich aber von selbst, dass Gelli dort zumindest eine Adresse haben musste). Ich forderte ihn nochmals auf, mich zum Büro von Gelli zu bringen. Der Portier wies mich auf eine Frau hin, die die Treppe vom Obergeschoss herunterkam, und sagte mir, sie sei die Chefsekretärin. Er rief sie, um sie uns vorzustellen.

Die Dame sagte, sie heiße Carla Venturi und sei die Sekretärin von Licio Gelli. Sie gab an, der Vorsitzende des Verwaltungsrats der Giole sei Attilio Lebole8. Sie selbst sei Angestellte des Unternehmens.

Diskret wies ich sie darauf hin, dass ich einen Durchsuchungsbeschluss gegen Licio Gelli habe und bat sie, mich in sein Büro und ebenso in ihr eigenes zu begleiten und mir weitere Räumlichkeiten zu nennen, die sie in diesem Gebäude oder an anderen Orten nutzten.

Wir stiegen die Treppe hinauf, und die Venturi führte uns in einen Raum, der sich in seiner Größe nicht von anderen unterschied, wobei sie sagte, dies sei der einzige von Gelli genutzte, sie wisse von keinem anderen, weder bei der Giole noch anderswo. Sie erläuterte, dass sie ihre Tätigkeit als Mitarbeiterin in eben diesem Büro ausübe.

Nachdem wir der Venturi den Durchsuchungsbeschluss übergeben und gerade mit der Durchsuchung begonnen hatten, kam der Geschäftsführer der Giole, Attilio Lebole, herein. Die Venturi beriet sich mit ihm über die Zweckmäßigkeit, einen Anwalt oder eine Vertrauensperson hinzuzuziehen. Sie beschlossen, darauf zu verzichten.

Dann forderte die Venturi Attilio Lebole recht bestimmt zum Gehen auf, da die Durchsuchung nicht die Giole betreffe, sondern Gelli. Etwas verlegen verließ Lebole den Raum. Ich war erstaunt. Wie seltsam, dachte ich, sie will keinen Anwalt ihres Vertrauens und verzichtet auch auf den Beistand ihres Geschäftsführers, den sie in einem Ton fortschickt, der keinen Widerspruch duldet … dafür wird es einen Grund geben ….

Gleich zu Anfang wurde die Venturi um Auskunft gebeten, ob der Raum über einen Safe verfüge. Sie antwortete mit ja und zeigte ihn uns, gab aber an, nicht im Besitz des Schlüssels zu sein.

Ich muss noch hinzufügen, dass die Venturi ihre Handtasche auf einem Stuhl abgestellt hatte, als wir das Büro betraten. Ich behielt mir vor, die Tasche während des kriminalpolizeilichen Einsatzes zu durchsuchen. Ich wies jedoch Stabsfeldwebel De Santis an, sie im Auge zu behalten. Falls die Venturi sich mitsamt ihrer Handtasche entfernte und Orte aufsuchte, die sich der Beobachtung entzogen (beispielsweise die Toilette), sollte er sie sofort festhalten und den Inhalt der Handtasche überprüfen.

Im Laufe des Einsatzes wurde ein großer Koffer geöffnet, der neben Gellis Schreibtisch stand. Er enthielt verschiedene Dokumente und verschiedene, mit Klebeband verschlossene und mit Aufschriften versehene Umschläge. Die Aufschriften verwiesen auf den jeweiligen Inhalt (zum Beispiel: »Vertrag zwischen … und …«, »Vereinbarung …«, »Gruppe …«).

Es durchlief mich kalt, als ich auf einigen Umschlägen Hinweise auf die Rizzoli-Gruppe (RCS Rizzoli-Corriere della Sera MediaGroup) las, auf Bruno Tassan Din (den Direktor der RCS), auf Rizzoli/Calvi, auf Rizzoli/ Caracciolo/Scalfari, kurzum, auf die Medienelite in Italien.

Ich überraschte mich dabei, wie ich vor mich hin flüsterte: Ah! … Cantore … Cantore … er hatte Recht ….

Warum Cantore?

Romano Cantore war ein prominenter Journalist. Unter anderem verkehrte er regelmäßig im Gericht, war sehr aktiv bei der Aufdeckung von Finanzskandalen und daher auch auf dem Laufenden im Fall Sindona. In diesem Zusammenhang hatte er alle Beamten der Finanzpolizei kennengelernt, die mit den Insolvenzermittlungen zur Banca Privata Italiana betraut waren, mich inbegriffen.9

Hin und wieder sah er in der Bank vorbei (nicht allzu häufig), wo wir unsere Büros hatten, um Hallo zu sagen, Ansichten und Informationen auszutauschen oder einfach nur einen Kaffee zu trinken.

Einige Zeit vor der Durchsuchung bei Gelli war er in die Bank gekommen. Er machte einen aufgeregten Eindruck und fing, soweit ich mich erinnere, gleich mehr oder weniger so an: »Tassan Din … die Freimaurerei … Gelli … Calvi … die Zentrale … Sie stürmen den Corriere … Es ist etwas im Gange, um die gesamte Presse- und Medienlandschaft in einem einzigen Element zu konzentrieren … es ist so schwerwiegend, dass niemand etwas tun kann! Il Piccolo [die wichtigste Tageszeitung] in Triest hat schon den Besitzer gewechselt … (er nannte die Namen anderer Zeitungen, an die ich mich nicht erinnere), und ausländisches Kapital ist auch im Anmarsch …« und so ging es im selben Ton zum selben Thema weiter.

Je mehr er redete, desto mehr ereiferte er sich. Mir sagten diese Hinweise gar nichts, ich hielt es sogar für normal, dass es auch in diesem Sektor zu Handelsgeschäften kam. Schüchtern gab ich das Cantore zu verstehen, und er erwiderte wütend und kurzangebunden: »Du verstehst gar nichts … kannst du dir nicht denken, dass derjenige, der die Zeitungen und die Medienlandschaft kontrolliert, imstande ist, das Land zu kontrollieren und damit zu machen, was er will?«

Schlagartig begriff ich und war betroffen. Cantores Worte sind mir im Kopf geblieben … ein quälender Gedanke.

Ich entschied mich augenblicklich, alles zu beschlagnahmen.

Erst die weiteren Entwicklungen des Einsatzes sollten mich von einer für mich schwerwiegenden Verantwortung befreien. Ich wies Stabsfeldwebel De Santis an, ein Protokoll zu verfassen, und bat ihn, die Unterlagen aus dem Koffer und aus Gellis Schreibtisch aufzulisten. Ich hielt sie für interessant, wenn auch – scheinbar – für die Durchsuchungsverfügung nicht wirklich relevant.

Zwischenzeitlich waren die beiden Beamten von der Socam zurückgekommen.

Dann bat die Venturi darum, in die Empfangshalle gehen zu dürfen, um sich dort aus beruflichen Gründen mit jemandem zu treffen. Sie griff nach ihrer Handtasche und ging hinaus. Wir unterbrachen die Durchsuchung und verließen das Büro zusammen mit ihr, um bei ihrer Rückkehr weiterzumachen.

Die Sekretärin hatte bereits ein oder zwei Mal zuvor darum gebeten, den Raum zu verlassen, um zu telefonieren oder zur Toilette zu gehen, ohne dabei ihre Handtasche mitzunehmen. Auf mein Angebot, das Telefon im Büro zu benutzen, antwortete sie, es sei das des Commendatore, es müsse immer frei bleiben, sie würde es daher lieber nicht benutzen.

Dieses Mal hatte sie also die Handtasche dabei, und De Santis wurde tätig. Er folgte ihr in die Halle, wo er sie mit einem Herrn sprechen sah. Dabei zog sie etwas aus der Tasche hervor, das sie ihm übergeben wollte. Der Stabsfeldwebel, dessen Gegenwart sie nicht bemerkt hatte, schritt sofort ein, und das Objekt wanderte direkt in seine Hände. Es handelte sich um den Schlüssel zum Safe. Besorgt führte De Santis die beiden zu Gellis Büro, das wir dann zusammen wieder betraten.

Der Herr wurde als der Direktor einer benachbarten Bank identifiziert und von mir zur Rede gestellt. Ich ließ ihn dann gehen, da er zu seiner Entlastung vorbrachte, er habe nicht gewusst, warum die Venturi ihn treffen und was sie ihm übergeben wollte.

Ich rief Major Lombardo an, um ihn vom Fund des Safeschlüssels in Kenntnis zu setzen und wies darauf hin, dass höchstwahrscheinlich Unterlagen beschlagnahmt werden müssten. Er beruhigte mich mit etwa den Worten: »Entscheide du, du weißt, was du zu tun hast, bleib ruhig.«

Wir öffneten den Safe. Weitere versiegelte Umschläge, einige wieder mit Hinweisen auf die Rizzoli-Gruppe. Der Safe enthielt unter anderem eine Art Register, in dem die Namen der Mitglieder der Loge P2 verzeichnet waren, und eine Anzahl von Mappen mit Kopfzeilen (Finanzpolizei, Carabinieri, Polizei, Banker usw.) und den entsprechenden Namen.

Es versteht sich von selbst, dass meine Aufmerksamkeit sofort der Mappe »Finanzpolizei« galt, die viele Namen hoher Beamter enthielt. Erleichtert stellte ich fest, dass weder Oberst Bianchi noch Major Lombardo darunter waren. Auf der Liste standen jedoch die Namen des Generalkommandanten der Finanzpolizei, Generalleutnant Orazio Giannini, und des Stabschefs, General Donato Lo Prete.

Ich war erschüttert. Auch in den anderen Mappen stachen die Führungsspitzen der entsprechenden Verwaltungsbehörden oder Sektoren hervor,