Gekaufte Forschung - Christian Kreiß - E-Book

Gekaufte Forschung E-Book

Christian Kreiß

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Beschreibung

WIE FREI IST UNSERE WISSENSCHAFT? Schockierende Realität: ein Hörsaal 'Aldi Süd', ein von Google finanziertes Institut für Internet und Gesellschaft an der Humboldt Universität Berlin, schokoladenfreundliche wissenschaftliche Untersuchungen von einem Mars-Professor für Ernährung. Die Liste von Beispielen, wie Konzerne Einfluss auf Hochschulen und Wissenschaft nehmen, wird fast täglich länger. Dient Forschung an den öffentlichen Hochschulen der Allgemeinheit oder nutzt sie zunehmend einseitigen Gewinninteressen? Der Strom von privaten Geldern in die Wissenschaft ist dramatisch angeschwollen. Doch Großkonzerne sind keine Wohltätigkeitsvereine. Sie verfolgen mit dem Einsatz von Kapital gezielte Interessen. Nicht der Nutzen für die breite Bevölkerung soll dadurch erhöht werden, sondern der Nutzen der Konzerneigentümer: die Gewinne.

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Christian Kreiß

GEKAUFTEFORSCHUNG

Wissenschaft im Diensteder Industrie –Irrweg Drittmittelforschung

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1. eBook-Ausgabe 2022

© 2015 Europa Verlag GmbH & Co. KG, Berlin · München · Wien Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich Bildnachweis: S. 97: © Daniel Karmann/picture-alliance/dpa-Report; S. 95: privat; S. 13: © Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft: Ländercheck 2012; S. 101: Wikimedia Commons

Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-519-1

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Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

Kapitel 1: Das Grundprinzip oder: Was ist schlecht an Industriegeldern für die Bildung?

Tabakindustrie – die Taktik der Verschleierung

Chemieindustrie – Fälschung von Studien

Pharmaindustrie – Gewinn geht vor Gesundheit

Gentechnikindustrie – Diskreditierung unabhängiger Forschung

Zuckerindustrie – die World Sugar Research Organisation

Zwischenfazit

Kapitel 2: Subtile Formen der Einflussnahme

Stiftungsprofessuren

Aktivitäten von Pharmakonzernen, Banken und Finanzdienstleistern

Internetkonzerne – das Beispiel Google

Energiekonzerne

Wasserwirtschaft

Arbeitgeberverbände

Automobilindustrie

Industrieeinfluss auf Kitas und Schulen

Industrieeinfluss auf Forschung mit Staatsgeldern in Deutschland

Industrieeinfluss auf die großen deutschen Wissenschaftsgemeinschaften

Industrieeinfluss auf EU-Förderprogramme

Kapitel 3: Marktverzerrung durch steuerfinanzierte Forschungsmittel

Verdeckte Subventionen

Intransparenz

Informationsasymmetrien

Kapitel 4: Schlüsselfragen

1. Einseitigkeit oder Vielfalt?

2. (Geld-)Macht oder offener Wettbewerb der Argumente?

3. Strukturell tendenziöse oder freie Forschung?

Kapitel 5: Gesellschaftliche Folgen

Lösungsvorschläge – allgemein

Lösungsvorschläge – Pharmaindustrie

Schlussbetrachtung – Industriefinanzierung und ihre Folgen

Literaturverzeichnis

Register

Anmerkungen

EINLEITUNG

Die Titelstory der Süddeutschen Zeitung vom 4. Dezember 2014 lautete: »Pfusch bei Zulassung von Medikamenten«.1 Es wurde berichtet, dass die indische GVK Biosciences, eines der größten asiatischen Forschungsinstitute, das im Auftrag Dutzender weltweit agierender Pharmaunternehmen wissenschaftliche Medikamententests durchführt, möglicherweise Tausende von Studien systematisch zugunsten der Pharmaindustrie verfälscht hat. Daraufhin wurden allein in Deutschland 80 Medikamente aus dem Verkehr gezogen.2

Bei genauerer Betrachtung besteht jedoch der Verdacht, dass es sich um alles andere als Pfusch gehandelt haben könnte. Mit dem Begriff Pfusch verbindet man zum Beispiel Schlamperei, Ungenauigkeit, menschliches Versagen und dergleichen. Dies war jedoch gar nicht das Problem. Vielmehr lässt sich vermuten, dass es sich um absichtliche, systematisch betriebene Fehldarstellungen handelte, um die Gewinne der Auftraggeber, nämlich der Pharmaunternehmen, zu erhöhen, und nicht um Pfusch.3 Es lag struktureller Missbrauch von Forschung im Dienste der Geldgeber vor. Solche gezielten Fehldarstellungen wissenschaftlicher Untersuchungen zugunsten der Pharmakonzerne sind nach Ansicht von Fachleuten in der Pharmaindustrie weltweit der Regelfall, nicht die Ausnahme (siehe Kapitel »Pharmaindustrie«, Seite 44).4

Diese und ähnliche Formen gekaufter Forschung sind Gegenstand des vorliegenden Buches. Die Pharmaindustrie ist bei Weitem kein Einzelfall, wenn auch dort der Missbrauch gekaufter Forschung besonders stark blüht. Der Strom von privaten Geldern in die Wissenschaft ist in den letzten Jahrzehnten dramatisch angeschwollen. Im Normalfall steht dabei nicht der Nutzen von Forschung für die Allgemeinheit, sprich für die Menschen, im Vordergrund, sondern der Nutzen der Geldgeber. Dies führt in starkem Ausmaß zu einer zunehmenden Irreführung durch sogenannte wissenschaftliche Ergebnisse.

Nur sehr selten geht es dabei um Lüge oder Betrug. In den allermeisten Fällen handelt es sich um eine Einseitigkeit der Darstellung, um Viertel-, Halb- oder Dreiviertelwahrheiten, die ja ebenfalls Wahrheiten sind. Daher sind diese Wahrheiten auch nicht oder nur schwer widerlegbar. So gibt es beispielsweise bei vielen politisch umstrittenen Fragen zahlreiche gute Argumente, Zahlen, Daten und Fakten dafür und dagegen. Beleuchtet man in wissenschaftlichen Untersuchungen nun einseitig die Zahlen, Daten und Fakten, die für eine bestimmte Sache sprechen, und vernachlässigt man die Zahlen, Daten und Fakten, die gegen sie sprechen, so werden politische oder gesellschaftliche Prozesse in eine ganz bestimmte Richtung gelenkt. Schließlich beanspruchen ja all die Zahlen, Daten und Fakten für sich, wahr und wissenschaftlich belegbar zu sein.

Diese Methode, Forschung einseitig in eine gewünschte Richtung zu lenken, hat gravierende langfristige Folgen. Denn worüber geforscht wird und – vielleicht noch wichtiger – worüber nicht geforscht wird, beeinflusst maßgeblich langfristige gesellschaftliche Weichenstellungen, legt fest, in welche Richtung eine Gesellschaft sich bewegt beziehungsweise nicht bewegt. Unsere Gedanken von heute sind häufig die Wirklichkeit von morgen!

Man kann die Methode, Forschung einseitig in eine gewünschte Richtung zu lenken, gezielt nutzen, um bestimmte Interessen im gesellschaftlichen Konsensfindungsprozess zu bevorzugen oder durchzusetzen. Und genau dies geschieht in großem Umfang. Wissenschaft gerät in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer stärker unter den Einfluss von Geld- und Machtinteressen. In früheren Zeiten stand die Wissenschaft stark unter kirchlicher Einflussnahme, dann war sie dem Druck von Fürsten und Landesherren und später von staatlichen Interessen ausgesetzt. Jetzt wird die staatliche Einflussnahme zunehmend abgelöst durch ökonomische Steuerungsimpulse, durch Geldmacht.5 Wollen wir das wirklich?

Dieses Buch beginnt mit der Frage: Was ist eigentlich schlecht an industrienaher Forschung?6 Anhand mehrerer detaillierter Beispiele skrupellosen Missbrauchs von Wissenschaft durch verschiedene Unternehmen werden die nachteiligen Folgen solcher Forschung aufgezeigt. Hat man sich einmal das Grundprinzip klargemacht, kann man es problemlos auf subtilere Formen einseitiger Einflussnahme übertragen, insbesondere in Form von Drittmitteln für Hochschulen – beispielsweise Stiftungsprofessuren oder Industriesponsoring. Im Vordergrund steht dabei durchweg der Einfluss von Industriegeldern auf die Forschung. Am Rande wird auch auf staatliche Drittmittel eingegangen. Hier steht die Frage im Vordergrund, ob beziehungsweise inwieweit Industrievertreter ihre einseitigen Interessen in den Entscheidungsgremien herbeiführen. Anders ausgedrückt: Wie groß ist der Einfluss von Geldinteressen auf öffentlich finanzierte Forschungsprojekte? Wie wir sehen werden, ist er erheblich. Am Ende werden wir uns Vorschläge für mögliche Maßnahmen gegen den weitverbreiteten Missbrauch von Forschung durch Industriegelder ansehen.

Im Kern geht es in diesem Buch um die Frage: Wie frei sind unsere Forschung und Wissenschaft heute? So frei, wie es im Grundgesetz verankert ist?7 Dient unsere Forschung an den öffentlichen Hochschulen dem öffentlichen beziehungsweise dem Allgemeininteresse, also möglichst allen Menschen, oder dient sie zunehmend Partikularinteressen, Einzel- oder Gruppeninteressen, insbesondere einseitigen Gewinninteressen? Oder ganz direkt gefragt: In welchem Umfang wird unsere Wissenschaft an den Hochschulen von der Wirtschaft gekauft?

Man könnte es auch von der anderen Seite formulieren: Sind die akademischen Kernprinzipien und die öffentliche Mission der Hochschulen noch gewährleistet? Sind akademische Freiheit, institutionelle Autonomie und Forschungsintegrität auch heute noch gewährleistet?8

Da es in diesem Buch um Drittmittel geht, möchte ich darauf hinweisen, dass auch für dieses Buch Drittmittel in Höhe von 20 000 Euro eingeworben wurden. Mit dem Geld konnte eine Stelle für den jungen Politologen Felix Möller finanziert werden, der vorzügliche Recherchearbeit leistete und geistreiche Ideen für Schaubilder hatte. Dafür möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Und natürlich gilt mein besonderer Dank auch der Stiftung, die diese Mittel zur Verfügung gestellt hat und die nicht namentlich genannt werden möchte.

Das Buch entstand im Wesentlichen 2014 bis April 2015 und dokumentiert bis zum Redaktionsschluss den Stand der Debatte der hier angeführten Beispiele.

Entwicklungen der letzten Jahrzehnte

In den OECD-Ländern sank von 1981 bis 2003 der Anteil der selbst finanzierten Forschung an den Universitäten durchschnittlich um 10 Prozentpunkte. Der Anteil der gewerblich finanzierten akademischen Forschung verdoppelte sich im selben Zeitraum. Auch wenn industriefinanzierte Forschung derzeit mit einem Anteil von 6 Prozent der gesamten Finanzierung vergleichsweise gering ausfällt, zeigt ihr auffallendes Wachstum in den letzten Jahrzehnten jedoch die stark zunehmende Bedeutung von Industriegeldern.9

Zahlreiche Publikationen im deutschsprachigen Raum greifen diesen Trend stark wachsender Drittmittel in jüngerer Zeit auf und erörtern mögliche Auswirkungen auf Hochschulen, Forscher und die Allgemeinheit. Sätze wie »Wer heutzutage in der Wissenschaft erfolgreich sein will, ist auf Drittmittel angewiesen«10 sind beinahe so häufig wie die Abhandlungen zum Thema selbst. Die Höhe eingeworbener Drittmittel wird dabei in der jüngeren Zeit immer häufiger als Erfolgsindikator angesehen.11 Sie haben daher unter anderem starken Einfluss auf die Forschungsausrichtung vieler Hochschulen und vieler Forscher, was auch politisch so gewollt ist.12

Was sind eigentlich Drittmittel? Laut Paragraf 25 Absatz 1 Hochschulrahmengesetz (HRG) sind Drittmittel solche Gelder, »die nicht aus den der Hochschule zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln, sondern aus Mitteln Dritter finanziert werden«. Im Folgenden soll diese Umschreibung beibehalten werden. Unter Drittmitteln werden demnach alle Geldmittel verstanden, die von Dritten kommen und nicht aus Haushaltsmitteln der Hochschule stammen. Im HRG heißt es in Paragraf 25 Absatz 4 ausdrücklich: »Die Mittel sind für den vom Geldgeber bestimmten Zweck zu verwenden und nach dessen Bedingungen zu bewirtschaften.«13 Dadurch wird eine Einflussnahme seitens privater Geldgeber gesetzlich nicht nur erlaubt, sondern geradezu vorgeschrieben.

Die deutsche Forschungslandschaft

Im Jahr 2011 beliefen sich die gesamten Forschungsausgaben in Deutschland auf rund 75,6 Milliarden Euro, davon entfielen 51,1 Milliarden Euro oder 67,7 Prozent auf Forschungsausgaben im Unternehmensbereich, 13,5 Milliarden Euro oder 17,8 Prozent auf die deutschen Hochschulen und rund elf Milliarden Euro oder 14,5 Prozent auf den öffentlichen Bereich und private Institutionen ohne Erwerbszweck.14 Die 51 Milliarden Euro des Unternehmensbereichs werden zu 77 Prozent in den Sektoren Fahrzeugbau (37 Prozent der gesamten Industrie-F&E-Aufwendungen), Elektroindustrie, Chemie, Pharmaindustrie und Maschinenbau erbracht. Der wichtigste Teil der privatwirtschaftlichen Forschungsanstrengungen entfällt also auf »unmittelbare technologische Forschung in den deutschen Schlüsselindustriesektoren«.15 Die elf Milliarden Euro des öffentlichen Bereichs werden zum größten Teil von vier großen Forschungsgemeinschaften ausgegeben, den Helmholtz-Zentren (rund 3,5 Milliarden Euro), den Fraunhofer Instituten (1,8 Milliarden Euro), den Max-Planck-Instituten (1,6 Milliarden Euro) und der Leibniz-Gemeinschaft (1,2 Milliarden Euro) – zusammen also 8,2 Milliarden Euro.16

Im Jahr 2011 forschten in Deutschland offiziell 574 701 Menschen, davon waren 357 129 (62,1 Prozent) im Unternehmensbereich beschäftigt, 123 910 (21,6 Prozent) an Hochschulen und 93 663 (16,3 Prozent) im öffentlichen Bereich und in privaten Institutionen ohne Erwerbszweck.17 Gut ein Viertel des wissenschaftlichen Hochschulpersonals war 2011 durch Drittmittel finanziert. Bei den Professoren waren es etwa 3,8 Prozent, bei den wissenschaftlichen Mitarbeitern dagegen 38 Prozent.18

Die deutsche Forschungslandschaft ist demnach stark dominiert von Industrieforschung, auf die etwa zwei Drittel aller Forschungsaktivitäten in Deutschland entfallen. An den Hochschulen findet knapp ein Fünftel der Forschung statt, in den vier großen Forschungseinrichtungen etwa ein Zehntel (gemessen an den Forschungsausgaben).

Die Aufteilung der Gesamtfinanzierung (Forschung und Lehre) deutscher Hochschulen nach Grund- und Drittmitteln stellt sich folgendermaßen dar:

Abbildung 1: Grund- und Drittmittelfinanzierung deutscher Hochschulen nach Gebern in den Jahren 2000 und 2010. Ersichtlich werden der Anteil der Grund- und Drittmittel an allen Hochschulmitteln in Prozent und Volumen in Millionen Euro (ohne Verwaltungseinnahmen) sowie der Anteil der Drittmittelgeber an allen Drittmitteln in Prozent.19

Wie dem Schaubild zu entnehmen ist, hat sich die Drittmittelfinanzierung deutscher Hochschulen von 2000 bis 2010 etwas mehr als verdoppelt (von rund 2,8 Milliarden Euro auf etwa 5,9 Milliarden Euro). Im gleichen Zeitraum stiegen die Grundmittel um 27,5 Prozent von rund 16,1 Milliarden Euro auf circa 20,5 Milliarden Euro und damit weniger stark als die Drittmittel, sodass sich der Anteil der Drittmittelfinanzierung von 14,9 Prozent im Jahr 2000 auf 22,3 Prozent im Jahr 2010 deutlich erhöht hat.

Zum Vergleich: 1990 beliefen sich die Drittmittelausgaben deutscher Hochschulen noch auf etwa 1,5 Milliarden Euro oder 8 Prozent der Gesamtausgaben.20 Nimmt man 1995 als Vergleichsjahr, so zeigt sich, dass 1995 das Verhältnis von Dritt- zu Grundmitteln etwa 1 zu 7 betrug, 2011 dagegen fast 1 zu 3.21 Allerdings muss man sich darüber klar sein, dass Drittmittel überwiegend in Forschungsvorhaben fließen, nicht in die Lehrtätigkeit, sodass der Anteil der drittmittelfinanzierten Hochschulforschung deutlich höher als 22,3 Prozent sein dürfte, möglicherweise fast doppelt so hoch.22

Die Bedeutung von Industriegeldern

In diesem Buch umfasst der Begriff »Industrie« die ganze gewerbliche Wirtschaft. Da es uns hier fast ausschließlich um die Rolle von Geldern aus der Industrie für die Wissenschaft beziehungsweise um die Einflussnahme der privaten Wirtschaft auf die Hochschulforschung geht, wollen wir einen genaueren Blick darauf werfen.

Die Drittmittel aus der gewerblichen Wirtschaft stiegen von 2000 bis 2010 um circa 60 Prozent auf etwa 1,3 Milliarden Euro, wie man aus obigem Schaubild ersehen kann, und damit weniger stark als die anderen Formen der Drittmittelfinanzierung, sodass sich ihr Anteil an den gesamten Drittmitteln in diesen zehn Jahren von 27,5 auf 21,1 Prozent reduzierte.23 Drittmittel aus der freien Wirtschaft rangieren daher hinter denen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die überwiegend staatlich finanziert ist, und hinter den Drittmitteln des Bundes an dritter Stelle aller Drittmittelgeber.

Der Anteil der Drittmittel aus der Privatwirtschaft an der Gesamtfinanzierung der deutschen Hochschulen erscheint mit 4,7 Prozent vergleichsweise gering. Daher könnte man der Ansicht sein, dass sowohl die Bedeutung wie auch der Einfluss von Industriegeldern auf die deutsche Hochschulforschung ebenso recht gering wären. Das täuscht jedoch. Wie später im Kapitel »Forschung und Staatsgelder« noch gezeigt werden wird, ist der Einfluss der Industrie auf die Verwendung von nationalen und internationalen öffentlichen Mitteln erheblich. Der dadurch bewirkte indirekte Einfluss von Industrieinteressen auf die Hochschulforschung ist sehr stark. Dazu kommt, dass auch ein großer Teil der Drittmittel aus Stiftungen recht industrienah ist. Deshalb ist der tatsächliche Einfluss der Industrie auf die Hochschulforschung bei Weitem höher, als die Angabe von 4,7 Prozent vorspiegelt – wie wir noch sehen werden.

Das Statistische Bundesamt, von dem die Zahlen aus dem obigen Schaubild stammen, kommentiert Drittmittel wie folgt: »Die Höhe der Drittmittel ist ein Maß für den Erfolg der Hochschullehrer und -lehrerinnen, Forschungsmittel zu akquirieren, und kann gleichzeitig als Indikator für die Qualität der Forschung angesehen werden.«24 Ähnlich freundlich urteilt der industrienahe Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft auf seiner Homepage:

»Neben der finanziellen Bedeutung sind Drittmittel vor allem eine Geldquelle, die mit einer hohen Reputation verbunden ist und als Aushängeschild der Leistungsfähigkeit einer Hochschule gilt. Denn Drittmittel werden im wissenschaftlichen Wettbewerb eingeworben: bei der Exzellenzinitiative, bei der Forschungsförderung von Bund, Ländern und Europäischer Union wie auch bei Stiftungen und Unternehmen.«25

Am Rande sei angemerkt, dass die Situation bezüglich Drittmitteln in Österreich – auf die wir hier nicht weiter eingehen wollen – ähnlich der in Deutschland ist. Drittmittel spielen auch in Österreich eine große und wachsende Rolle und sind in der Forschungslandschaft nicht mehr wegzudenken.26 Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass lange Zeit eine verbreitete gesellschaftliche Skepsis in der österreichischen Öffentlichkeit gegenüber dem zunehmenden Einfluss von Industrieinteressen auf die Wissenschaft herrschte und ein »Abgleiten in die Geschäftsund Marketingsphären«27 befürchtet wurde. Durch die Einflussnahme der Europäischen Union wurde 2002 jedoch durchgesetzt, dass die »Universitäten die Notwendigkeit anerkennen, sich mehr Privatmittel zu verschaffen und sich diversifiziertere Finanzierungsquellen [als den Staat] zu sichern«.28 2002 wurde, ausgehend von der Europäischen Kommission, die österreichische Rechtslage dahingehend verändert, dass nunmehr von österreichischen Hochschulen »ausdrücklich erwartet [wurde], zusätzlich zur gesicherten staatlichen Finanzierung Drittmittel [zu] lukrieren und flexibel [zu] verwenden«.29

Die Privatfinanzierung der Schweizer Universitäten und der beiden ETH (Eidgenössische Technische Hochschulen Zürich und Lausanne) stieg zwischen 1995 und 2010 um 122 Prozent von 470 Millionen Franken auf rund 1,1 Milliarden Franken. Der Anteil der Privatmittel an den Gesamtbudgets stieg im selben Zeitraum von 12,6 auf 15,5 Prozent.30

Drittmittel sind nicht gleich Drittmittel

In zahllosen Veröffentlichungen werden Drittmittel als Leistungsindikator für erfolgreiche Wissenschaft hervorgehoben. Dieser Aussage wollen wir nun auf verschiedenen Ebenen nachgehen.

Wirft man einen genaueren Blick auf die Herkunft von Drittmitteln, so zeigt sich, dass in Bezug auf das wissenschaftliche Ansehen ein großer Unterschied zwischen den einzelnen Geldgebern besteht. Im Handbuch Von der Idee zur Publikation31 findet sich ein interessantes Schaubild zum Ranking der Drittmittelgeber nach Reputation für den Antragsteller und die Hochschule:

Das Ranking wird festgelegt durch Ausmaß und Qualität des Begutachtungsverfahrens. Die höchste Reputation genießt demnach die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die ganz überwiegend öffentliche Mittel vergibt, den schlechtesten Ruf haben Drittmittel aus der Industrie. Das Handbuch weist auch auf den Hauptgrund hierfür hin: nicht ausreichende Objektivität. »Die Suche nach dem richtigen Partner ist oft schwierig, da das eigene Projekt nicht notwendigerweise mit den Zielen des Unternehmens übereinstimmt.«32 »Cave [Vorsicht] – den Industriepartner nicht nur als Geldquelle betrachten. Die Ziele des Industriepartners müssen (mit)erfüllt werden.«33 Der Leitfaden rät: »Lassen Sie sich auf keinen Vertrag ein, der Ihnen verbietet, Ergebnisse zu publizieren, die nicht im Sinne des erwünschten Ergebnisses der Firma sind.« Die Zusammenarbeit mit der Industrie sei häufig unbefriedigend, unter anderem weil »der Industriepartner aussteigt, wenn ein erwartetes Ergebnis nach Abgabe des Zwischenberichts nicht erzielt wird«.34

Diese Hinweise zeigen, dass bei industriegesponserter Forschung nicht Objektivität, sondern ein gewünschtes oder erwartetes Ergebnis im Vordergrund steht. Daher das niedrige wissenschaftliche Ranking von industriegesponserter Forschung. Im Forschungshandbuch, Ausgabe 2007, wird ein kurzes Fallbeispiel beschrieben: »Ein Institut benötigt ein neues Gerät. Falsch wäre es, an den Hersteller heranzutreten und um eine Schenkung zu bitten. Kein Unternehmen verschenkt teure Geräte, die es verkaufen kann.«35 Man kann davon ausgehen, dass fast alle Geldzuwendungen von Wirtschaftsunternehmen in diesem Sinne interessengeleitet sind.

Andere Wissenschaftler stellen Drittmittel als Indikator für solide und erfolgreiche Forschung grundsätzlich infrage. So hätten laut Nicolas Winterhager verschiedene Studien festgestellt, dass »Ratings von Gutachtern/Gutachterinnen über die Qualität des Manuskripts nur mit 0,24 mit den späteren Zitationen korrelieren. Starbuck […] schätzt anhand verschiedener Indikatoren die Korrelation von Reviewer-Urteilen mit der tatsächlichen Qualität eines Manuskripts auf 0,25 bis 0,3 […]. Es ist vielfach dokumentiert, dass in hochrangigen Journalen Artikel zurückgewiesen wurden, die später hohe Preise gewonnen haben, einschließlich des Nobelpreises.« Er kommt so zu dem Schluss: »Die Summe der eingeworbenen Drittmittel eines Wissenschaftlers sagt also per se nichts über die Produktivität seiner Forschung aus.«36 In diesem Sinne sei »die Drittmitteleinwerbung nicht mehr Mittel zum Zweck für die Forschung, sondern ein Selbstzweck«.37

Die bloße Höhe der Drittmitteleinwerbung allein sagt noch nicht zwingend etwas über die Qualität der Forschung aus: »Manchmal wird so getan, als sei das ›beste Restaurant dasjenige, das über die größten Pfannen und die meisten Herde‹ verfügt«.38 Oft kann unter schlechten äußeren finanziellen Rahmenbedingungen trotzdem ausgezeichnete Forschung stattfinden.

Solche Aussagen, die von zahlreichen Wissenschaftlern bestätigt werden,39 zeigen, dass man die vielen unkritischen Lobeshymnen auf Drittmittel als Erfolgsindikatoren einer guten Forschungsleistung durchaus auch kritisch hinterfragen kann.

Zum Stand der Forschung

Zum Thema »Drittmittelforschung« existiert in Deutschland eine Fülle von Literatur, insbesondere zu juristischen Gesichtspunkten und zur Frage, wie man am besten Drittmittel generieren kann. Jedoch fehlt, anders als in den USA, eine neuere detaillierte, kritische wissenschaftliche Auseinandersetzung in Buchform zum Thema Einflussnahme seitens der Industrie auf Forschungsgegenstand und Forschungsergebnisse.40 1994 erschien das von Antje Bultmann und Friedemann Schmidhals herausgegebene Buch Käufliche Wissenschaft. Experten im Dienst von Industrie und Politik. Dort wird jedoch nur am Rande auf Drittmittel eingegangen. Aufgrund der dynamischen Entwicklung auf diesem Gebiet sind die Aussagen von 1994 für heute nicht mehr ausreichend aktuell.

Über das Thema Drittmittel weit hinausgehend, zeigt der Soziologe Richard Münch in seinem 2011 erschienenen grundlegenden Buch Akademischer Kapitalismus. Über die politische Ökonomie der Hochschulreform eindringlich die negativen Auswirkungen und Gefahren für die wissenschaftliche Freiheit durch die Reformprozesse im Hochschulwesen seit den 1980er-Jahren im Zuge des New Public Management und im Rahmen des Bologna-Prozesses auf. Dadurch sei ein neuer akademischer Kapitalismus entstanden, der, statt Freiheit von Wissenschaft, Lehre und Forschung in den Vordergrund zu stellen, zunehmend Wert auf Renditedenken und eine Führung von Universitäten wie gewinnorientierte Unternehmen lege. Eines der Kriterien für den Erfolg von Hochschulen sei dabei der Umfang der eingeworbenen Drittmittel. Von daher bestehe ein deutlicher Anreiz für Hochschulen, zunehmend Drittmittel zu akquirieren. Münch kritisiert diesen Trend scharf, weil dadurch »die Wahrheitssuche ein enges Bündnis mit der wirtschaftlichen Profitmaximierung [eingehe], die akademische Freiheit bedroht [sowie] die Wissenschaft externen Interessen« unterworfen werde.41

Dem kann man nur vollumfänglich zustimmen. Der negative Trend hin zu immer mehr Drittmitteln ist daher im Kontext dieser Reformprozesse zu sehen, auf die wir hier nicht weiter eingehen wollen.

Der Schweizer Journalist Marcel Hänggi veröffentlichte 2013 zu diesem Thema ein neues, sehr gut recherchiertes Buch mit dem treffenden Titel Cui bono? Wer bestimmt, was geforscht wird? Eine Studie über die Beziehung zwischen öffentlicher Wissenschaft und Industrie in der Schweiz.

In den USA spielt die Drittmittelfinanzierung von Hochschulen seit Langem eine sehr viel größere Rolle und ist dort erheblich verbreiteter als in Deutschland.42 So wird das System der höheren Bildung der Vereinigten Staaten derzeit zu etwa 55 Prozent durch private Geldmittel finanziert,43 in Deutschland dagegen lediglich zu gut 6 Prozent.44 Daher hat auch die Auseinandersetzung mit diesem Thema in den USA früher begonnen und ist weiter verbreitet als in Deutschland. Kein Geringerer als der langjährige Präsident von Harvard, Derek Bok, veröffentlichte 2003 ein wegweisendes Buch zu dem Thema, in dem er die zunehmende Kommerzialisierung der US-amerikanischen Universitäten scharf kritisierte, wie schon der Titel zeigt: Universities in the Marketplace. The Commercialization of Higher Education.45 2013 griff er das Thema am Rande noch einmal auf und erneuerte seine Kritik grundsätzlich, milderte sie aber auch teilweise ab.46

Auch die Journalistin und Publizistin Jennifer Washburn prangert in ihrem hochinteressanten Buch von 2005 University Inc. The Corporate Corruption of Higher Education anhand vieler Einzelbeispiele die zunehmende Korruption von US-Hochschulen und Hochschullehrern durch Industriegelder an. Dies sind jedoch bei Weitem nicht die einzigen Auseinandersetzungen zum Thema »Gekaufte Forschung« in den USA. Andere Autoren, die die Einflussnahme der Industrie auf die Wissenschaft anprangern, sind Sheldon Krimsky, James Turk oder Philip Mirowski, um nur einige wenige zu nennen.

1DAS GRUNDPRINZIP ODER:WAS IST SCHLECHT AN INDUSTRIEGELDERN FÜR DIE BILDUNG?

Wie oben erwähnt, werden Industriegelder für Hochschulen und Bildung von sehr vielen Menschen und Institutionen rundweg positiv eingeschätzt. Es wird argumentiert, dass Forscher dadurch mehr Möglichkeiten bekämen, über Themen zu forschen, die sie interessierten, dass der Finanzierungsengpass der Hochschulen überwunden werde, dass die Forschung praxisnäher werde, dass dadurch manche Forschungsfelder überhaupt erst bearbeitet werden könnten und vieles mehr. Kurz: Die Meinung, dass Industriegelder für Hochschulen und Bildung gut seien für uns alle, dass sie vorteilhafte Auswirkungen auf unser Land und unsere Gesellschaft haben und daher äußerst begrüßenswert seien, ist weit verbreitet.

Diese positive Einschätzung ist meiner Meinung nach aber falsch. Industriegelder haben in vielen Fällen äußerst schlechte Auswirkungen auf unsere Gesellschaft und uns alle. Im Folgenden wollen wir daher anhand mehrerer Fallbeispiele aus verschiedenen Branchen aufzeigen, wohin einseitig interessengeleitete Forschung auf der Basis von Industriegeldern führen kann.

TABAKINDUSTRIE – DIE TAKTIK DER VERSCHLEIERUNG

Ein sehr gut dokumentiertes Beispiel für systematische Einflussnahme von Geldinteressen auf die Wissenschaft ist die Tabakindustrie. Über 50 Jahre lang platzierten Tabakunternehmen einseitige wissenschaftliche Artikel in Medizinzeitschriften, ohne deren Finanzierung offenzulegen. Es wurde eine große Anzahl von Studien finanziert, die Zweifel säen sollten am Zusammenhang zwischen Krankheit und Rauchen.

Eigens zu diesem Zweck wurden Gruppen von Wissenschaftlern zusammengestellt. Die Tabakindustrie finanzierte internationale Seminare, um wissenschaftlich »richtige« Standards zur Beweisführung von Zusammenhängen zu erarbeiten. Diese sollten möglichst hoch angesetzt werden, um den Nachweis der Kausalität von Rauchen und Krankheit zu erschweren. Oder es wurden durch die Tabakkonzerne wenig bekannte Non-Profit-Gesellschaften gegründet, die wissenschaftliche Studien finanzierten.47

Die Ergebnisse der industriegesponserten wissenschaftlichen Studien entsprachen den Vorgaben: So fanden 94 Prozent der Passivraucher-Studien, die von der Tabakindustrie finanziert waren, keine gesundheitsschädigenden Auswirkungen, dagegen kamen nur 13 Prozent der unabhängigen Studien zu demselben Ergebnis.48

Die renommierte Zeitschrift Science resümierte hierzu: »Die Tabakunternehmen vernichteten häufig ihre eigenen Forschungen, wenn ungünstige Ergebnisse herauskamen, finanzierten einseitig verfälschte Studien, um Rauch-kritische Studien zu unterminieren, und benutzten die Namen angesehener Wissenschaftler und Institute, um ihr öffentliches Image zu verbessern.«49

Mehrere angelsächsische Universitäten und Forschungseinrichtungen sowie die Universität Genf verbieten heute Geldzuwendungen von der Tabakindustrie oder verweigern Forschern, die Gelder aus der Tabakindustrie angenommen haben, die Unterstützung.50

Der Fall Rylander

»Ragnar Rylander steht im Zentrum eines Geschehens, das man ohne Weiteres als mafiös bezeichnen kann.«51

Anwalt Christian Pirker

Der 1935 geborene schwedische Forscher Ragnar Rylander galt über Jahrzehnte hinweg als ausgewiesener Experte im Bereich Umweltmedizin. Er veröffentlichte eine große Zahl wissenschaftlicher Studien in angesehenen Fachzeitschriften und war viele Jahre Professor für Umweltmedizin an der Universität Göteborg sowie assoziierter Professor an der Universität Genf. Seit den 1970er-Jahren publizierte er wissenschaftliche Untersuchungen, die belegten, dass Passivrauchen nicht schädlich sei. So kam ein von Ragnar Rylander 1983 in Genf organisierter Kongress unter dem wissenschaftlichen Aushängeschild der Universität Genf zu dem Ergebnis, »dass man keinen Zusammenhang feststellen kann zwischen Passivrauch und Gesundheitsschädigung«.52 Dieses Ergebnis wurde in der angesehenen wissenschaftlichen Fachzeitschrift European Journal of Respiratory Diseases veröffentlicht. Das Ergebnis überraschte angesichts einer kurz zuvor (1982) erschienenen, sehr umfangreichen japanischen Studie mit Untersuchungen an über 265 000 Erwachsenen, die dokumentierte, dass japanische Nichtraucherinnen, die mit Rauchern zusammenlebten, bedeutend häufiger an Lungenkrebs litten als Nichtraucherinnen, die mit Nichtrauchern verheiratet waren.53

In einem im Jahr 2000 veröffentlichten wissenschaftlichen Aufsatz schreibt Ragnar Rylander: »Der Tabakrauch in der Umgebung hat keinen Einfluss auf das Erkrankungsrisiko. Dagegen wurde eine Kausalbeziehung zwischen bestimmten Symptomen und der Feuchtigkeit oder der Schimmelbildung in der Umgebung gefunden.«54 Wie sich später herausstellte, hatte Ragnar Rylander die dem Aufsatz zugrunde liegenden Daten manipuliert, um zu diesem für die Tabakindustrie freundlichen Ergebnis zu kommen. Er wusste spätestens seit Anfang der 1980er-Jahre, dass »Passivrauchen zu starken Schädigungen führt, die in mancher Hinsicht sogar gravierender sind als die Schäden durch das Rauchen selbst«.55 Rylander schrieb nämlich am 20. Mai 1988 intern: »Die Verbindung zwischen dem Passivrauchen und einem erhöhten Lungenkrebsrisiko sowie Auswirkungen auf die Atemwege sind mittlerweile eindeutig bewiesen.«56 Dennoch vertrat er in der Öffentlichkeit die genau gegenteilige Meinung. Aufgrund seiner hohen Fachkompetenz wurde Ragnar Rylander unter anderem von der US-amerikanischen Umweltbehörde EPA 1990 um eine Stellungnahme zur Schädlichkeit von Passivrauchen gebeten. Auch dort äußerte er seine tabakindustriefreundliche, der Wahrheit entgegengesetzte Meinung.

Anfang der 2000er-Jahre wurde von den Rauchgegnern Pascal Diethelm und Jean-Charles Rielle gegen Ragnar Rylander der Vorwurf eines »nie da gewesenen Wissenschaftsbetruges« erhoben, da er, ohne dies öffentlich bekannt zu machen, seit den 1970er-Jahren im Dienst des Zigarettenkonzerns Philip Morris stehe. Es kam zu einem mehrjährigen Prozess in der Schweiz, in dem die Vorwürfe gegen Rylander bestätigt wurden. So stellte sich heraus, dass Rylander tatsächlich seit den 1970er-Jahren ein hoch bezahlter Berater des US-Tabakkonzerns Philip Morris gewesen war – er erhielt jährliche Zahlungen von bis zu 150 000 US-Dollar –, was er jedoch jahrzehntelang verheimlicht hatte.57 Bei Philip Morris intern war die Finanzierung von Rylanders Forschung »top secret« gewesen.58

Am Ende des Rechtsstreits heißt es dazu in der Schweizer Urteilsbegründung von 2003:

»Genf war tatsächlich Ort eines nie da gewesenen Wissenschaftsbetruges [sic!], insofern Ragnar Rylander in seiner Eigenschaft als außerordentlicher Professor der Universität Genf gehandelt und sich deren Ruf zunutze gemacht hat. Er zögerte nicht, die Wissenschaft in den Dienst des Geldes zu stellen, obwohl die Aufgabe der Universität als öffentlicher Einrichtung darin besteht, Wissen zu erlangen und zu verbreiten, und obwohl die Lehrbeauftragten der Gesellschaft gegenüber in der Verantwortung stehen. […] Als er 2001 gegenüber dem European Journal of Public Health behauptete, dass zwischen ihm und Philip Morris niemals ein Vertrag zustande gekommen sei, hat Ragnar Rylander gelogen [sic!].«59

Der Betrugsfall Rylander zeigt auf beeindruckende Weise beinahe die gesamte Bandbreite der gesellschaftsschädigenden Methoden, die Interessenvertreter der Industrie anwenden können, um Öffentlichkeit, Politik und Wissenschaft irrezuführen. Diese Methoden lassen sich an derart klar zutage tretenden Beispielen sehr gut erkennen. Daher wollen wir ihnen nun genauer nachgehen.

1. Auswahl von geeigneten Wissenschaftlern

Von zentraler Bedeutung ist das Finden geeigneter industrienaher Wissenschaftler, die bereit sind, die Meinung der Industrie zu vertreten. Rylander fiel Philip Morris frühzeitig, spätestens im Alter von 33 Jahren, als ein solch vielversprechender junger Wissenschaftler mit industrienahen Anschauungen und Empfänglichkeit für finanzielle und andere Zuwendungen auf.60 In einem Interview 2004 sagte Rylander rückblickend selbst dazu: »Ich hatte gerade meine Stelle in Stockholm aufgegeben, wo ich so viel verdient hatte wie ein Professor, und war als Forschungsbeauftragter an die Universität Genf gegangen. Dort war der Verdienst deutlich niedriger. Ich brauchte also Geld. Ich kannte Philip Morris und fragte dort nach, ob man mir einen Vorschlag machen würde.«61

Bemerkenswert ist auch die Antwort von Rylander auf die folgende Frage aus demselben Interview:

»Glauben Sie wirklich, dass diese Industrie [die Tabakindustrie] sich um die öffentliche Gesundheit schert?«

»Aber natürlich. Bestimmte Unterlagen von Philip Morris belegen das. Doch diese werden nie zitiert. […] die [Tabak-]Industrie möchte wissen, welche gesundheitlichen Gefahren ihr Produkt birgt. Und ich als Arzt hatte Gelegenheit, die schädlichen Auswirkungen dieses Produkts in zahlreichen Studien hervorzuheben. Ich habe also überhaupt kein Problem, das Geld von diesen ›Umweltsündern‹ anzunehmen.«62

Rylander fühlte sich bis zuletzt als integrer Wissenschaftler, der das Richtige tat, und sprach nach dem verlorenen Prozess von seiner verlorenen Ehre.63 Bis zuletzt stritt Rylander die gegen ihn erhobenen Vorwürfe ab. Seine Beziehungen zur Tabakindustrie seien nicht von Bedeutung gewesen, der Einfluss dieser Industrie auf seine Forschungsergebnisse null, die Beträge, die Philip Morris ihm gezahlt habe, lächerlich gewesen, und einen Wissenschaftsbetrug habe es nie gegeben. Vielleicht habe er einiges verdunkelt, aber Widersprüche habe es nie gegeben.64 In dem Interview mit Rylander 2004 heißt es noch: »Sie glauben weiterhin, Sie hätten keine Fehler gemacht und auch die wissenschaftliche Ethik nicht verletzt?« – »Ja, absolut!«65

Oreskes und Comway schildern in ihrem 2014 auf Deutsch erschienenen Buch detailliert, wie sich die Suche der Tabakindustrie nach geeigneten Personen vollzog. Hierbei war Geld manchmal nur von nachrangiger Bedeutung. Oft waren eher psychologische Faktoren entscheidend, auf die man seitens der Industrie setzen konnte, beispielsweise Ehrgeiz, Eitelkeiten, der Wunsch nach Ruhm, persönliche Enttäuschungen gegenüber der Wissenschaftsgemeinschaft, ideologiegefärbte Weltanschauungen oder dergleichen.66

2. Maximierung der Wirksamkeit der ausgewählten Wissenschaftler

Sind geeignete industrienahe Persönlichkeiten gefunden, gilt es, diesen in der Öffentlichkeit, Politik und Wissenschaft Gehör zu verschaffen. Durch großzügige finanzielle Ausstattung, Einrichtung von Laboren, Lehrstühlen, Forschungsinstituten und anderem mehr sollen die gewählten Persönlichkeiten größtmögliche wissenschaftliche Wirksamkeit entfalten. Neben Geld setzt man auch auf Eitelkeiten oder Ruhmsucht der jeweiligen Person, was sich häufig als sehr viel wirkungsvoller erweist als der finanzielle Anreiz.

Ragnar Rylander wurde von Philip Morris auf sämtlichen Gebieten so stark wie möglich unterstützt: Neben persönlichen Geldzahlungen in erheblichem Umfang wurde er Leiter eines eigenen Instituts, von Philip Morris finanziert, konnte großzügig Kongresse ausrichten, erhielt Mittel aller Art bei Forschungsvorhaben und Publikationen, man vermittelte ihm diskret den Zugang zu wichtigen Persönlichkeiten und vieles mehr.67

3. Gremienbesetzung mit industrienahen Personen

Steht ein Pool geeigneter industrienaher Persönlichkeiten zur Verfügung, ist sodann darauf zu achten, dass Entscheidungsgremien ausschließlich oder überwiegend mit diesen besetzt werden. Auch bei der Veranstaltung von Kongressen sollte genauestens darauf geachtet werden, wer eingeladen wird und besonders wer nicht. So war beispielsweise ein wissenschaftliches Symposion 1983 zum Thema Passivrauchen, das Rylander ausrichtete, »eine Scheinveranstaltung: Keiner der unabhängigen Wissenschaftler, die das Passivrauchen erforschten und seine Schädlichkeit erkannten, wurde eingeladen. Sie konnten sich nicht gegen die Vorwürfe verteidigen, die auf dem Symposion gegen sie erhoben wurden. Rylander hatte wissentlich an der Verzerrung der ›wissenschaftlichen Wahrheit‹ durch einseitige Auswahl der Teilnehmer mitgewirkt.«68 Dennoch hieß es später in einer Stellungnahme des scheinbar industrieunabhängigen Tobacco Institute dazu: »Das Symposion spiegelte das ganze Spektrum der wissenschaftlichen Positionen auf diesem Gebiet wider.«69

4. Oberstes Gebot – Geheimhaltung

Hat die Industrie geeignete Persönlichkeiten gefunden, die sich von ihr bezahlen lassen, lautet das oberste Gebot: Geheimhaltung! Die Bezahlung von Ragnar Rylander war seitens Philip Morris absolut »top secret«.70 Es musste strikt darauf geachtet werden, dass keine Verbindung zwischen den beteiligten Wissenschaftlern und den Geldgebern feststellbar war, um den Anschein von unabhängiger Wissenschaft zu erhalten.

Das ist im Fall Rylander jahrzehntelang gelungen. Zahlungen von Philip Morris an ihn liefen über Dreiecksgeschäfte, in die Mittelsmänner, beispielsweise Anwaltskanzleien, involviert waren. In einem Brief vom 23. Juni 1997 schreibt Ragnar Rylander an Richard Carchman (Philip Morris): »[…] durch alle die Jahre war ich immer sehr bedacht darauf, nur mit Richmond zu korrespondieren und insbesondere nichts mit den Aktivitäten der Gruppe von Neuchâtel zu tun zu haben, […] um so weit wie möglich den Anschein eines unabhängigen Wissenschaftlers zu bewahren. So weit ist dies gelungen.«71

Im Falle Philip Morris ging die Geheimhaltung in Sachen Ragnar Rylander noch darüber hinaus. Konzerninterne raucherschädliche Studienergebnisse sollten ebenfalls nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Zu diesem Zweck betrieb Philip Morris ein Forschungszentrum, das Institut für biologische Forschung (INBIFO) außerhalb der USA in Köln, dessen Koordinator seit 1972 Ragnar Rylander war: »Im Untergeschoss des INBIFO wurden vertrauliche Dokumente von Philip Morris archiviert. Unter der Leitung des Konzerns wurden hier Studien durchgeführt, die keine Spuren in den USA hinterlassen sollten.«72

Interne Unterlagen der Firma zeigen, dass Philip Morris USA »absichtlich alle Verbindungen gekappt hat, durch die man P[hilip] M[orris] mit INBIFO in Verbindung bringen könnte. Letzteres fungierte somit als geheime Forschungseinheit. Rylander stand im Zentrum der Einrichtung.«73 Nach Aussage eines ehemaligen Mitarbeiters von Philip Morris wusste man im Konzern seit Mitte der 1970er-Jahre über den Zusammenhang zwischen Krebs und Passivrauchen Bescheid, doch tat man alles, um diesen Zusammenhang zu verschleiern.74

Auch bei anderen Schlüsselforschern, die für die Tabakunternehmen tätig waren, wurden die Beziehungen zur Tabakindustrie so stark wie möglich verheimlicht: »Weder Cline noch Prusiner arbeiteten jemals ›direkt‹ für die Tabakindustrie. Viele der Gelder wurden über Rechtsanwaltsbüros zu den Wissenschaftlern geleitet.«75 Der Grund hierfür ist einfach: »Gerichte glaubten eher wissenschaftlichen Experten, die scheinbar unabhängig forschten, als industriellen Vertretern.«76

5. Daten fälschen