Gekrönt oder gehörnt - Marcel Dietler - E-Book

Gekrönt oder gehörnt E-Book

Marcel Dietler

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Beschreibung

Mein Buch enthält Gedanken, die mir während der Coronakrise geschenkt worden sind. Ich habe sie niedergeschrieben und per Mail und per Post versandt. Sie haben große Verbreitung gefunden. Ich habe Meldung von einem alten blinden Priester erhalten, dem sie vorgelesen worden sind. Sie sind in Klöstern und Asylzentren bekannt geworden. Leute, die ich kenne oder auch nicht kenne, haben sie anderen in die Briefkästen gesteckt. Diese Gedanken sind in dem vorliegenden Buch zu finden. Das Buch enthält aber auch Kurzgeschichten, Gedichte und Gebete der letzten drei Jahre. Nicht alle sind brave Pfarrergeschichten. Es ist einiges dabei, was in der Schweiz als Schreckmümpfeli bezeichnet wird. Ich kann das Pfarrer-Sein nicht lassen. Aus den Schreckmümpfelis haben sich Glaubensgespräche entwickelt mit Menschen, die selten oder nie über den Glauben sprechen.

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Widmung

Ich widme dieses Buch allen Nachbarinnen und Nachbarn in der Seniorenresidenz Abendruh, die in Wirklichkeit anders heisst. Die Widmung gilt sowohl den offen netten als auch den heimlich netten Mitbewohnern. Ich widme es aber auch den in meinen Augen eher unheimlich netten Nachbarinnen und Nachbarn. Mit Namen möchte ich ausdrücklich diejenigen erwähnen, die in der Coronakrise meinem Aufruf gefolgt sind und mutig auf den Balkonen bzw. auf den Laubengängen gegen den Corona-Koller gesungen und gebetet haben:

meine Frau Vreni Dietler

Daniela Rubin und Roland Giger

Verena und Walter Bieri

Ruedi Rytz

Marlene und Jack Good

Marianne Blanc und Ernst Meyer

Silvia und Martin Arn

Ruth Läderach

Das sind die mutigen Dreizehn der ersten Stunde. Andere sind später dazugestossen oder haben ab und zu mitgemacht. Auch ihnen sei herzlich gedankt.

Corona heisst auf Deutsch Krone. Der Titel meines Buches Gekrönt oder gehörnt – mit Gott und Menschen durch die Coronakrise drückt aus, dass jede Krise in den Menschen die Krone oder die Hörner hervorbringen kann. Die eindrückliche Hilfsbereitschaft junger Menschen, welche für Seniorinnen und Senioren die Einkäufe besorgen, ist die Krone; die leeren Regale in den Einkaufszentren und die Schlachten um Klopapier sind die Hörner.

Inhalt

So hatten wir uns das nicht vorgestellt

Die Coronakrise erreicht auch uns

Eigentlich

Ein Gebet zum Schmunzeln

Monsieur Bonnenouvelle und seine Brüder

Der Corona-Seniorenkrimi aus Ramseyersberg

Von Raben und anderen seltsamen Vögeln

Karfreitag 2020

Angefangen hat es mit Köbeli

Türen

Ostern

Der Priester

Der Wurzelbaum

Gespräch mit einem Baum

Angst

Aus Essig Wein machen

Ballade von dem dummen Kind

Ein Corona-Briefwechsel

Entzugsschmerzen

Ds blaue Bähnli

Die Kuh

Stille Nacht, heilige Nacht und andere Marschlieder

Die Coronazeit ist eine apokalyptische Zeit

Das Aufgebot

Eveline und Adam

Nachwort

Brautkleid der Göttin Brautkleid der Erde

Es war einmal

Es war einmal eine Nase – ein Märchen des Apostels Paulus

Der Weihnachtskaktus

Die tägliche Corona-Apokalypse

Bund vom 16. April 2020

Weitere Schreckensmitteilungen

Der Mann zwischen dem Tiger und der Riesenschlange

Der Brunnen ist tief.

Exit

Perle in der Muschel

Katharinas Heimgang

Adieu Doris

17. April

Hände nicht schütteln

Von Schlangen und anderen Tieren

Bier und Gebet, Blumen und Missgunst

Ein lustiger Briefwechsel

Ein trauriger Brief– Ramseyers wey ga grase und andere Gebete

Andere Gebete

Morgengebete

Ein Abendgebet

Tischgebete

Unter den Schleier geblickt

Heureka

Jüdische Weisheit zur Beendigung des Lockdown und zur Rückkehr in eine neue Normalität

Die neue Normalität

Gespräch mit dem Schöpfer des Universums

So hatten wir uns das nicht vorgestellt

In China hatte es angefangen. Wir hatten die Schweizerinnen und Schweizer bedauert, welche in China arbeiteten oder studierten, und waren froh, als diese endlich ins «sichere» Europa geflogen werden konnten. Das sichere Europa – von wegen. Zuerst dachten wir, das Virus könne uns höchstens streifen, es sei so etwas wie eine normale Grippe, die in der wärmeren Jahreszeit ohnehin wieder verschwinden werde. «Wir sind gut vorbereitet», teilte uns der Gesundheitsminister mit, «waschen Sie die Hände und grüssen Sie einander nicht mit Händeschütteln.» Das war geradezu lustig. Wir stiessen einander beim Gruss mit den Ellbogen oder mit den Füssen an. Als die Blocher-Tochter Magdalena Martullo mit Gesichtsmaske im Nationalrat erschien, wurde sie im ganzen Land als Globinase verlacht. Wir lachten auch noch, als man sich beim Besuch eines Konzerts, eines Museums oder eines Gottesdienstes mit Namen eintragen musste. Aber das Lachen verging allen, als wir an keine öffentlichen Veranstaltungen mehr gehen konnten und die Geschäfte geschlossen wurden. Auch als Gottesdienstbesucher war man betroffen. Ostern mit geschlossenen Kirchen, ohne gottesdienstliche Gemeinde, das hatte es in den zweitausend Jahren der Geschichte der Christenheit noch nie gegeben.

Die Krise setzte Kräfte frei und machte viele Menschen kreativ. Junge halfen alten Menschen, die für die Einkäufe Haus und Wohnung nicht verlassen durften; auf den Balkonen wurde musiziert und gesungen, unter Anleitung geturnt, die Leute riefen einander Witze zu.

Ich bin pensionierter Pfarrer, der auch im hohen Alter die Leidenschaft für Gott und Menschen nicht verloren hat. In der Abendruh, die ganz anders heisst, rief ich zu einem allsonntäglichen Vaterunser und zu Gesang vor den Haustüren auf den Laubengängen auf. Dieser Aufruf war der Beginn des Seniorenkrimis.

Mein Buch enthält Gedanken, die mir während der Coronakrise geschenkt wurden. Ich habe sie niedergeschrieben und per Mail und per Post versandt. Sie haben grosse Verbreitung gefunden. Ich habe Meldung von einem alten blinden Priester erhalten, dem sie vorgelesen wurden. Sie sind in Klöstern und Asylzentren bekannt geworden. Leute, die ich kenne oder auch nicht kenne, haben sie anderen in die Briefkästen gesteckt. Diese Gedanken sind in dem vorliegenden Buch zu finden. Das Buch enthält aber auch Kurzgeschichten, Gedichte und Gebete der letzten drei Jahre. Nicht alles sind brave Pfarrergeschichten. Es ist einiges dabei, was in der Schweiz als Schreckmümpfeli bezeichnet wird. Ich kann das Pfarrer-Sein nicht lassen. Aus den Schreckmümpfelis haben sich Glaubensgespräche entwickelt mit Menschen, die selten oder nie über den Glauben sprechen.

Die Coronakrise erreicht auch uns

Eigentlich

Eigentlich hatten wir etwas anderes vor

als zu Hause zu sitzen

Eigentlich wollten wir morgen

zum Coiffeur

zum Coop

ins Seniorenturnen

die Grosskinder besuchen

ins Museum

ins Yoga

schwimmen gehen

das GA ausnützen

im Krafttraining die Muskeln stärken

am Bett eines sterbenden Freundes sitzen

Eigentlich hatten wir im nächsten Monat

eine Reise in die holländischen Tulpenfelder geplant

die Tochter in den Vereinigten Staaten besuchen wollen

uns auf die Hochzeit des Patenkindes gefreut

einen Termin für eine Operation gehabt

zugesagt für ein Klassentreffen

meinen runden Geburtstag feiern wollen

Eigentlich habe ich seit der Konfirmation nie mehr in der Bibel gelesen. Doch in der Corona-Quarantäne hat man Zeit. Ich habe im Bücherregal herumgestöbert und die Traubibel entdeckt. Ich habe sie entstaubt, darin geblättert und folgenden Vers gefunden:

Wohlan, die ihr sagt:

Heute oder morgen

wollen wir in die und die Stadt ziehen

und Handel treiben.

Anstatt dass ihr sagtet:

Wenn der Herr will und wir leben,

wollen wir dieses oder jenes tun. (Jak. 4,13)

Eigentlich gar nicht so schlecht, diese Bibel.

Wer ist der Pfarrer, der so etwas schreibt? Klar ist jedenfalls, dass sein Ich sich nicht mit dem Ich des Menschen in diesem Gedicht deckt. Er hat die Bibel nicht entstauben müssen, er arbeitet beständig mit ihr.

Um den Autor dieses Gedichts und des ganzen Buchs besser kennen zu lernen, dürfen die Leserinnen und Leser sich zu zwanzig Punkten Gedanken machen. Sechzehn Punkte sind wahr, vier sind falsch. Wer findet die vier falschen Aussagen?

An seinem zwanzigsten Geburtstag wurde Marcel Dietler von Papst Pius gesegnet.

Er gewann an einem Wettbewerb eine lebendige Kuh.

Er rast selbst im hohen Alter mit einem Rennvelo durch die Gegend.

Er predigte im Petersdom.

Er arbeitete mit Passfälschern zusammen.

Er wurde mit der englischen Königin verwechselt.

Er wurde zusammen mit seiner Frau in Nigeria als fremder Söldner verhaftet.

Er arbeitete eng mit dem Beichtvater des Papstes zusammen.

Vreni und Marcel verloren einen Pflegesohn, der bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam.

Er spielt gerne Klavier.

Er flog in der Sowjetunion als Bibelschmuggler auf.

Er wurde für seine soziale Arbeit unter Strassenkindern von der peruanischen Stadt Cusco mit einer Rede des Bürgermeisters, mit dem Aufzug der Fahne und mit Kanonendonner geehrt.

Er wurde vom Synodalrat bei allen seinen Tätigkeiten vollumfänglich unterstützt.

Die Feier zur silbernen Hochzeit von Vreni und Marcel Dietler wurde von einem anglikanischen Bischof gestaltet, der für die beiden anschliessend eigenhändig das Festessen kochte.

Er erhielt für seine

Aktion Mut gegen die Coronakrise

durch briefliche Abstimmung von der Mehrheit seiner Nachbarn ein Briefkastenverbot für seine diesbezüglichen Einladungen.

Sein liebstes Hobby ist Jassen.

Er verwehrte auf den Kanarischen Inseln einem Touristenschiff das Auslaufen.

Vreni und Marcel verhinderten in Singapur einen Überfall auf ein Geschäft.

Er schenkte Papst Franziskus eine Konfitüre.

Er stoppte den Mailandexpress auf voller Fahrt.

Die Auflösung: 3, 4, 10 und 16 stimmen nicht. Ich habe kein Rennvelo, jasse nicht, spiele kein Musikinstrument und habe nie im Petersdom gepredigt. Alles andere stimmt. Sogar 6, die Verwechslung mit der englischen Königin, ist wahr. Ich war zu einem Gottesdienst mit der Queen in der Westminster Abbey eingeladen worden. Der Gottesdienst dauerte sehr lange. Ich wurde zu einer wichtigen Tätigkeit erwartet. Als die Königin nicht mehr zu sehen war, nahm ich die Gelegenheit wahr und eilte zum Ausgangsportal. Zu meiner Verblüffung war dieses verschlossen. Der Wächter öffnete jedoch bereitwillig das Portal. Ich wurde von Tausenden von Menschen mit Jubel empfangen: «Es lebe die Königin!» Der Jubel verstummte jedoch so schnell wie er gekommen war. Und in der eingetretenen Stille hörte man eine Schweizer Stimme rufen: «Das isch ja nume üse Pfarrer.»

Ein Gebet zum Schmunzeln

Ich bin zu meinem himmlischen Vater gegangen und habe zu ihm gesagt:

Vater, ich habe Mordgedanken.

Gott hat verständnisvoll genickt,

aber gesagt:

Kind, für das bisschen,

das dir deine Brüder und Schwestern angetan haben,

werde ich sie nicht töten.

Du musst dich

mit zwei Wochen Durchfall zufriedengeben,

damit sie das Klopapier aufbrauchen,

das sie gehamstert haben.

Was bin ich für ein Mensch, dass ich ein solches Gedicht geschrieben habe? Oder ist es sogar ein Gebet? Was habe ich mit meinen Brüdern erlebt? Wer sind die Brüder und Schwestern, an die ich denke? Wer das wissen will, darf den Corona-Seniorenkrimi aus Ramseyersberg lesen.

Monsieur Bonnenouvelle und seine Brüder

Der Corona-Seniorenkrimi aus Ramseyersberg1

Wir – Gabi Leuenberger, Leon Bütikofer und Liam Kradolfer – sind drei Gymnasiasten, die eine Matura-Arbeit über das Verhalten von Seniorinnen und Senioren in der Coronakrise schreiben. Als erstes hatten wir uns vorgenommen, Monsieur Bonnenouvelle zu interviewen. Marc Bonnenouvelle ist reformierter Pfarrer im Ruhestand. Er hat erst im Alter von zweiundachtzig Jahren angefangen, Bücher zu schreiben. Seine Bücher sind im Verlag Books on Demand erschienen. Näheres über die Person und die Bücher von Marc Bonnenouvelle finden Sie auf der Website

www.marceldietler.ch.

Wir trafen Monsieur Bonnenouvelle am offenen Küchenfenster, in zwei Metern Distanz. Der Geschichtenerzähler hatte uns wegen der Coronakrise nicht in die Wohnung gebeten. Er stellte jedoch lachend eine Flasche Coronabier auf das Fensterbrett, sodass wir einander zuprosten konnten. Wir hatten bei Marc Bonnenouvelle vorgesprochen, weil wir gehört hatten, dass in der Alterssiedlung Abendruh in Ramseyersberg, die mit dem Spital Gihon verbunden ist, am Sonntag zur Gottesdienstzeit Nachbarn auf die Veranda treten, eine Liedstrophe singen, das Vaterunser sprechen, gemeinsam die Alterssiedlung und das Krankenhaus segnen und am Schluss mit Händeklatschen den Angestellten im Spital für ihren Einsatz danken würden.

«Eine Art Gottesdienst?», fragten wir.

«Ja, gewiss, wenn man ein Event von drei Minuten Gottesdienst nennen kann; zudem ein Gottesdienst, der es selbst Kirchenfernen ermöglichen sollte, an diesem Mutzuspruch gegen Corona teilzunehmen. Alle Menschen reiferen Alters kennen ja schliesslich das Vaterunser.»

«Und wie ist es mit der Liedstrophe? Können da auch alle mitsingen? Möchten Sie uns dieses Lied vorsingen?»

«Gern.»

Von guten Mächten wunderbar geborgen

erwarten wir getrost, was kommen mag.

Gott ist mit uns am Abend und am Morgen

und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

«Ah, das berühmte Gebet, das Bonhoeffer kurz vor seiner Hinrichtung durch die Nazischergen betete», stellte Liam fest. «Dieses Lied ist eine gute Wahl. Es verspricht nicht fälschlicherweise, dass man vom Coronavirus verschont bleibt, wenn man diese Worte singt. Schliesslich ist ja Pfarrer Bonhoeffer selber nicht verschont worden. Aber er ging eindrücklich getrost in den Tod und segnete sogar noch seine Henker. Wenn man das singt und betet, fühlt man sich getragen, und ja, irgendwie wird dadurch das Immunsystem gegen das Virus gestärkt. Es ist eine Art spirituelles Händewaschen. Zu solchem Singen und Beten müssten eigentlich die Kirchenglocken läuten. Monsieur Bonnenouvelle, Sie sollten mit allen Glocken läuten! Sie könnten zum Beispiel ein lautes Geklapper mit Pfannendeckeln veranstalten!»

Der betagte Schriftsteller wehrte ab. «Pfannendeckel wollten wir zwar ursprünglich schon einsetzen, doch das würde als Provokation verstanden. Wir wollten mit der Intensität unseres Betens und Singens bewusst herunterfahren.»

«Das verstehe ich nicht. Gibt es denn unter euch Alten Leute, die Ihr Kurzgebet nicht begrüssen? Zum Beispiel Atheisten?»

«Nein, ihr jungen Leute, beleidigen Sie bitte die Atheisten nicht. Unter den Atheisten gibt es menschenfreundliche Menschen, die jede Aktion, welche der Liebe und der inneren Stärkung dient, bejahen, selbst wenn sie von einem Pfarrer kommt. Nein, in unserem Fall kommt der Widerstand von Senioren, welche mir schriftlich bezeugen, dass sie an Gott glauben, aber einen Pfarrer nicht nötig haben.»

«Wir sind schockiert! Ist nicht Gihon ein Ausdruck aus der Bibel? Befinden wir uns hier nicht an einem christlichen Ort? Und an diesem Ort mit christlichen Wurzeln wird Ihnen gesagt, dass ein Mann, der aus Leidenschaft Pfarrer geworden ist, unerwünscht sei? Entschuldigen Sie, wir glauben Ihnen kein Wort. So etwas gibt es doch gar nicht!»

«Oh, ich zeige euch Jungen gern den Brief, den mir die Kommission, welche eigentlich die Stimme aller Bewohnerinnen und Bewohner sein müsste, zugestellt hat.»

Wir lasen den Brief und schüttelten ungläubig den Kopf.

«Wir sind sprachlos. Können Sie uns noch etwas Corona nachgiessen? Das ist so unfassbar, dass wir es erst einmal hinunterschwenken müssen. Sind die Kommissionsmitglieder denn frustrierte Alte mit versteinerten Herzen?»

Wir Jungen schauten einander an. «Wie in aller Welt fing das denn an? Dazu muss es doch eine Vorgeschichte geben? Hat es mit jenen beiden Alten dort oben zu tun?»

Liam zeigte auf zwei Nachbarn auf der Veranda eines anderen Stockwerks, die sich trotz coronabedingtem Social Distancing fast in die Haare gerieten.

«Die beiden sind in der Tat mit dem Drama verbunden, das wir ausgerechnet in der Coronazeit erleben. Der rechts ist der Herr Oberst. Er war Oberst im Schweizer Militär und ist mein Freund. Er setzt sich sehr für Flüchtlinge ein. Wir haben zusammen einen Berndeutschkurs für Flüchtlinge aufgebaut, und die Kursteilnehmer sind froh, dass sie an ihrem Arbeitsplatz nun einigermassen Berndeutsch reden können. Der andere ist Herr Lulela.»

«Lulela haben Sie aber erfunden, nicht wahr, Monsieur Bonnenouvelle?»

«Richtig, Lulela ist die Abkürzung von leben und leben lassen, das sei nämlich seine Devise, hat er mir in einem Brief geschrieben. Ich habe ihm kürzlich eine selbstgebackene Züpfe geschenkt.»

«Machen Sie das ab zu, für jemanden etwas backen?»

«Ja, sogar sehr oft. Ich schenke den Nachbarn u.a. Konfitüren. Man nennt mich den Konfitürenpfarrer. Aber ich verschenke auch Brot, Brötchen oder Züpfen. Und das habe ich auch bei Herrn Ausschuss gemacht.»

«Wer soll nun das wieder sein, dieser Herr Ausschuss?»

«Oh, entschuldigt, Herr Ausschuss ist der eigentliche Name von Herrn Lulela.»

«Und warum nennen Sie Herrn Lulela auf einmal Herr Ausschuss?»

«Ich nenne ihn Herr Ausschuss, weil er Tag und Nacht unterwegs ist bei den Nachbarn. Er hilft, wo er kann, er ist eine richtiger Chummerz'hilf. Sehr eindrücklich. Wer neu in der Abendruh ist und sich nicht auskennt, erhält von ihm die nötigen Informationen. Er ist allerdings auch eine Art Jammertal. Er klagt gern, wenn man Menschen den kleinen Finger gebe, nähmen sie dann die ganze Hand – aber jemand im Ausschuss müsse diese Arbeiten halt schliesslich tun. Wenn Lulela spricht, hat man den Eindruck, es rede der Ausschuss. Darum nenne ich ihn Herr Ausschuss.»

«Und diesen hilfsbereiten Mann wollten Sie mit einer Züpfe trösten und ihm danken?»

«Ja, das wollte ich; den Dank hatte er voll und ganz verdient.»

«Hören wir da eine gewisse Ironie heraus? Sind Sie eitel? Hatten Sie von Lulela ein Dankesschreiben erwartet, einen Bread and Butter Letter, wie die Engländer das nennen?»

«Nein, nein, nichts dergleichen, Herr Ausschuss hatte mir ja an der Türe herzlich gedankt. Aber ich hatte auch nicht gerade erwartet, dass er wenige Tage später Unterschriften gegen mich sammeln würde.»

«Unterschriften sammeln gegen Sie, nachdem Sie Lulela eine Züpfe geschenkt hatten? Moment mal, Monsieur Bonnenouvelle, jetzt wird uns etwas klar: Sie sind offensichtlich im Grunde genommen eine völlig unmögliche Person, welche in der Nachbarschaft Unruhe stiftet und Menschen gegeneinander aufhetzt. Dass Sie das tun, geht ja eindeutig aus dem Brief hervor, den Sie uns zum Lesen gegeben haben. Wir lesen, dass Sie missioniert haben mit Ihrer sogenannt guten Nachricht, wie man Ihren Namen übersetzen könnte, Herr Bonnenouvelle. Sie haben die Nachbarn belästigt, sie zur Bekehrung gedrängt, ihnen mit der Hölle gedroht. Und als Sie ahnten, dass die Nachbarn Ihre fanatische Tätigkeit nicht länger dulden und Ihnen klar sagen würden, dass Sie mit Ihren Missionierungen gefälligst aufhören sollten, haben Sie einen Helfershelfer gesucht, und da kam Ihnen der gutmütige Chummerz'hilf eben gerade recht. Sie haben ihn bestochen. Einer mit einer solchen Taktik will Pfarrer sein! Sie sollten sich schämen. Das Buch, das Sie uns haben schenken wollen, können Sie behalten. Wir haben genug gehört. Trinken Sie Ihr Coronazeugs selber; wir gehen.»

Enttäuscht von Marc Bonnenouvelle wandten wir uns ab.

«Halt», sagte ich. «Sollten wir einem Mann, der in der Coronazeit derart gute Initiativen ergreift, nicht Gelegenheit geben, seinen Standpunkt darzulegen und uns zu zeigen, wie nach seinem Dafürhalten alles angefangen hat? Wie es geschehen konnte, dass ihm und seiner Frau so viel Unmut entgegenschlägt?»

«Gut», erwiderten die andern. Sie nahmen ihre Gläser mit dem Coronabier wieder in die Hand, nahmen einen Schluck und hörten zu.

«Angefangen hat es mit dem sogenannten Stamm und der Gesprächsrunde im Fitnessraum», nahm Marc Bonnenouvelle das beinahe abgebrochene Gespräch wieder auf. «Der Stamm ist eine Gründung von Nachbar Ruedi Hanselmann, der mir von allem Anfang an herzlich zugetan war. Der Stamm ist ein Kaffee- oder Bierkränzchen, wo man über allerlei plaudern kann. Auf diese Weise bleiben die Nachbarn einander nicht unbekannt. Ruedi klagte, dass fast niemand mehr komme. Er fragte, ob ich als Neuer den Stamm übernehmen würde; vielleicht würde ich dann schaffen, was ihm mit schwindenden Kräften nicht mehr möglich sei. Wie konnte ich diesem herzensguten Mann diese Bitte abschlagen? Ich versuchte, auf humorvolle Weise neue Wege zu beschreiten. Da das Kaffee- und Bierkränzchen Stamm heisst, wählte ich das Foto eines riesigen Baumes mit so dickem Stamm, dass mehrere Menschen nötig sind, um eine Menschenkette um den Stamm zu bilden. Mit der Menschenkette wollte ich ausdrücken, dass wir eine Gemeinschaft sind. Bei unserem Einzug in die Abendruh hatten wir angenommen, dass alle hier bewusst Gemeinschaft pflegen wollten. Es ist mein Fehler, das gemeint zu haben. Ich bin Pfarrer, und hier befinden wir uns an einem Ort mit christlichen Wurzeln. Alteingesessene bestätigten mir, dass vor fünfzehn Jahren, bei der Gründung der Abendruhsiedlung, Gemeinsamkeit gepflegt worden sei. Man habe vieles miteinander unternommen, sogar eine eigene Zeitung gehabt. Der Stamm, der Jasstisch und die Wandergruppe seien der kümmerliche Überrest. Ich machte mich daher an die Arbeit, den Stamm und die Fitnessraum-Gespräche zu fördern. Ein Jasser bin ich leider nicht. Das Bild mit den Daten für die Zusammenkünfte klebte ich mit Klebstreifen im Bereich der Briefkästen an die Wand – mit meiner Unterschrift. Zurück kam ein angeklebter Brief ohne Unterschrift: 'Wer ist das, der ohne Namen solches Zeug anklebt? Das wird der Verwaltung gemeldet.' Ich klebte zurück: 'Lieber unbekannter Nachbar, im Gegensatz zu Ihnen habe ich die Unterschrift zu der Einladung gesetzt. Sie dürfen mir problemlos sagen, wer Sie sind; dann trinken wir ein Glas Wein miteinander und finden uns sympathisch.' Einige Monate später verschickte ich erneut Einladungen mit den Daten, diesmal in die Briefkästen, wieder mit dem Bild vom Baum. Die wütende anonyme Antwort erfolgte prompt: 'Ich verbiete Ihnen, Ihr religiöses Zeug in meinen Briefkasten zu werfen; ich werde Ihr Tun der Verwaltung melden.' Von Religion hatte in meiner Einladung kein einziges Wort gestanden, nur von Förderung der Gemeinschaft. Ich klebte zurück: 'Lassen Sie die Verwaltung aus dem Spiel und sagen Sie mir einfach Ihren Namen, damit ich Ihren Briefkasten in Zukunft nicht mehr bediene.'

Mit den Einladungen für die Gespräche im Fitnessraum ging es ähnlich. Hier erhielt ich weniger häufig anonyme Post, weil ich zwar die Sache aktiv unterstütze, aber nur stellvertretend einlade, wenn der Zuständige selber gerade nicht kann.»

«Darf ich fragen, was das für Fitnessraum-Gespräche sind?», fragte Leon. «Haben Sie da möglicherweise Predigten gehalten?»

«Predigten nicht gerade, aber mein Freund Werner Rüfenacht hat oft Pfarrerinnen und Pfarrer aus der Kirchgemeinde Ramseyersberg eingeladen. Ich selber habe lediglich eine Einladung geschrieben, als ich den neugewählten jungen sympathischen Pfarrer, Julian Sebaster, gewinnen konnte, sich uns Alten vorzustellen. Das Thema damals lautete: Wie kommt ein junger Mensch in einer Zeit, wo nicht mehr viele zur Kirche stehen, dazu, Pfarrer zu werden? Es war ein sehr bewegendes Gespräch. Der junge Mann ist nicht besonders religiös aufgewachsen. Er war zuerst Sozialarbeiter, merkte dann aber, dass er für diese Arbeit mehr als nur menschliche Kräfte einsetzen musste. So wurde er Pfarrer. Es ist nicht abzustreiten, dass wir bei der Begegnung mit dem jungen Pfarrer intensiv über den Glauben sprachen.