Gemeinsam frei sein - Alexandra Schwarz-Schilling - E-Book

Gemeinsam frei sein E-Book

Alexandra Schwarz-Schilling

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Beschreibung

Neue Visionen für die Zweierbeziehung In Zeiten der Veränderung und Beschleunigung gibt Partnerschaft Halt und Zentrierung. Gleichzeitig erfordert Partnerschaft, dass wir uns mit unserer Partnerin/ unserem Partner aufrichtig auseinandersetzen und uns dabei selbst weiterentwickeln. Gelingt dies nicht, münden Beziehungen häufig in einem lustlosen Arrangement, oder führen früher oder später zur Trennung. Diese Erfahrungen sind oft schmerzhaft und lassen uns noch vorsichtiger werden. Für echte Begegnung ist es wichtig, sowohl sich selbst gut zu kennen, als auch die kollektive Dimension der Geschichte von Mann und Frau zu verstehen, die unweigerlich in jede Beziehung hineinwirkt. Um Lebendigkeit und Entfaltung in Beziehungen zu ermöglichen ist es hilfreich, konventionelle Beziehungsbilder zu erweitern und glücklich zu sein - dazu braucht es Pioniergeist. Zu diesem ermutigen Alexandra Schwarz-Schilling und Christin Colli in ihrem Ratgeber. Sie verdeutlichen, was die Wurzeln unseres gewohnten Denkens, Fühlens und Handelns sind, die unweigerlich zu Drama, Herzschmerz, Verlust und Frustration führen und zeigen Alternativen auf. Wenn wir gewohnte Beziehungsmuster in der Tiefe durchdrungen haben, sind wir frei, neue Gefühlszustände, ja ekstatische Erfahrungen im Leben zuzulassen.

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Seitenzahl: 398

Veröffentlichungsjahr: 2022

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INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG

DIE GROSSE HERAUSFORDERUNG

DIE SCHLECHTE NACHRICHT

DIE GUTE NACHRICHT

VON OPFERN UND TÄTERN UND DER GROSSEN SCHULDFRAGE

ARCHETYPEN UND IHRE SCHATTEN

KÖNIGE, BÖSE STIEFMÜTTER UND PRINZESSIN DIANA

KRIEGER, JOHN WAYNE UND MADONNA

MAGIER, EINSTEIN UND PETE DOHERTY

LIEBHABER, GEORGE CLOONEY UND COOLE SUPERFRAUEN

GROSSE GÖTTIN – WAR DA WAS?

DER ARCHETYPISCHE MENSCH

YIN UND YANG IM ARCHETYPISCHEN MENSCHEN

DER ARCHETYPISCHE MENSCH UND SEINE BEZIEHUNG ZU ANDEREN UND ZUM UNIVERSUM

DIE WIEDERENTDECKUNG DER SEXUALITÄT

YIN UND YANG UND DIE POLARITÄT DER GESCHLECHTER

RÜCKKEHR ZUM URSPRUNG

DAS GEHEIMNIS DER RÜCKVERBINDUNG UND DES ÜBERFLIESSENS

VON MÄNNERN, DIE IHR HERZ NICHT ÖFFNEN

VON FRAUEN, DIE IHREN SCHOSS NICHT ÖFFNEN

FRUST AUF ALLEN SEITEN

DIE BIOLOGIE VON LUST, ROMANTIK UND BINDUNG

WAS DANN GESCHAH

EVAS TÖCHTER

SEX AND CRIME

WAS SIND DIE FOLGEN FÜR MÄNNER?

WAS SIND DIE FOLGEN FÜR FRAUEN?

WAS NUN?

DIE GESCHICHTE VOR DER GESCHICHTE

DAS ZYKLISCHE WELTBILD

DAS LINEARE WELTBILD

MENSES – TOD, AUFLÖSUNG UND VISIONSKRAFT

GAIA ODER JAMMERTAL?

KÖRPER & GEIST – EIN LIEBESPAAR?

KÖRPERSPRACHE

YIN-PRÄSENZ STATT PORNOS

DER KÖRPER LÜGT NIE

AM ANFANG WAR DIE BRUST

DIE BEDEUTUNG DES TANZES

ANGST VOR EKSTASE?

DIE INTELLIGENZ DES LEBENDIGEN

QUANTENSPRUNG

DER SCHÖPFERISCHE GEIST

FÜLLE AUSHALTEN

VOM »ICH« ZUM »ICH UND DU« STATT ZUM »WIR«

SELBSTLIEBE STATT KOMPROMISS

DEN ANDEREN SEHEN

NEUE WEGE GEHEN

NEUE PAARE

PATCHWORK

DER INDIVIDUELLE TEUFELSKREIS IN BEZIEHUNGEN

KENNEN SIE DAS?

ÜBERLEBEN IST ALLES

NEUES IST BEDROHLICH

LIEBE … UND DANN DIE ERSTE UNTERBRECHUNG

WIE WIR WERDEN, WER WIR SIND – DIE IDENTITÄT

WAS HABEN MENSCHEN UND FLÖHE GEMEINSAM?

DER EISBERG ALS ERKENNTNISMODELL

DIE EBENEN DES EISBERGS

RECHT HABEN ODER GLÜCKLICH SEIN

ZWEI SEITEN EINER MEDAILLE

DER MACHTVOLLE UNTERE TEIL DES EISBERGS

ANERKENNEN, WAS IST

DER BLINDE FLECK

WIE WIR WERDEN, WER WIR SEIN WOLLEN

DER ROTE FADEN

RUMPELSTILZCHEN

WELCHE IDENTITÄT IST MEINE?

DIE SIEBEN IDENTITÄTSMUSTER

ICH BIN HILFLOS, MACHTLOS, OHNMÄCHTIG, WEHRLOS, AUSGELIEFERT

ICH BIN UNWICHTIG, NICHT WICHTIG, UNERWÜNSCHT

ICH BIN NICHT LIEBENSWERT, MINDERWERTIG, NICHTS WERT, WERTLOS

ICH BIN NICHT GUT GENUG, NICHTS BESONDERES, UNZULÄNGLICH, EIN:E VERSAGER:IN

ICH BIN ZU DUMM, ZU DOOF, ZU KLEIN, ZU SCHWACH

ICH BIN SCHLECHT, FALSCH, BÖSE, DAS LETZTE

ICH BIN ANDERS, ETWAS BESONDERES, ETWAS BESSERES, EIN SONDERLING

FLEXIBEL UND GANZ NAH

DAS DURCHBRECHEN DES TEUFELSKREISES

NEUE BILDER – NEUES SPIELFELD

REGISSEUR:IN SEIN

VERGEBEN BRINGT LEBEN

HALTUNG BEWAHREN

DIE AUSEINANDERSETZUNG MIT DEN ELTERN

ICH WERDE NIE WIE MEINE ELTERN

ANERKENNEN DER ELTERN UND GLÜCKLICH SEIN

ERDBEERE ODER SCHOKOLADE?

DIE BEZIEHUNGSTORTE

AUSBLICK

ANMERKUNGEN

IM BUCH VERWENDETE LITERATUR

ÜBER DIE AUTOR:INNEN

DANK

EINLEITUNG

Das Thema Beziehungen ist ein weites Feld – das uns jedoch alle betrifft. In Gemeinsam frei sein geht es darum, sich diesem Thema auf verschiedenen Ebenen zu nähern.

Da ist einmal die kollektive Ebene, die uns alle gleichermaßen betrifft. Es ist nämlich kein Zufall, dass wir mit dem Thema Beziehungen da stehen, wo wir heute stehen. Wir sind alle zusammen das Ergebnis einer gemeinsamen Geschichte, einer Geschichte, die das Geschlechterverhältnis geformt und bestimmt hat. Mit dieser gilt es sich auseinanderzusetzen, um unsere Beziehungsnöte nicht fälschlicherweise auf persönliches Versagen zu reduzieren. Männer und Frauen sind dabei gleichermaßen verunsichert und nehmen sich selbst jeweils häufig als Opfer wahr. Wir nehmen in diesem Buch das traditionelle Opfer-Täter-Denken sehr genau unter die Lupe, untersuchen seine Ursachen und Wirkungen und zeigen Alternativen auf. Im Kapitel über Archetypen untersuchen wir die inneren Bilder, die wir von Mann- und Frausein kultivieren. Dabei zeigt sich, dass wir häufig nicht den eigentlichen Archetyp, sondern eher seine Schatten leben. Bei der Auseinandersetzung mit den Archetypen wird außerdem deutlich, dass das Beziehungsthema tatsächlich viele andere Bereiche berührt, die ebenfalls untersucht werden wollen. Die generelle innere Haltung gegenüber dem Leben und der Umgang damit spielen dabei eine wichtige Rolle, ebenso unser Körperbewusstsein, unsere Einstellung zur Sexualität, aber auch zur Erde sowie unsere Herangehensweise, wenn es darum geht, unser Selbst in einem größeren Ganzen zu verorten.

Der Sexualität ist ein ganzes Kapitel gewidmet. Viele Probleme in Beziehungen haben hier ihre Wurzel. Druck und kollektive Verletzungen zwischen Mann und Frau verhindern Nähe und nachhaltige Erfüllung. Durch Entspannung und gegenseitiges Heilen auf individueller Ebene werden nährendes Fließen und Ekstase jedoch wieder möglich. Zur Inspiration untersuchen wir den Umgang mit dem Körper, dem Tanz und ekstatischen Zuständen in frühen Kulturen und entwickeln Alternativen für unsere heutige Zeit.

Ein weiteres Kapitel ist der Überwindung konventioneller Beziehungsbilder gewidmet und lädt die Leserin und den Leser ein, nach individuellen Lösungen zu suchen.

Im zweiten Teil des Buches geht es um den Anteil, den jede und jeder von uns ins Beziehungsgeschehen einbringt. Auf individueller Ebene können wir ganz konkret beginnen, unsere Partnerschaften neu mitzugestalten. Hier ist es leichter für uns, Einfluss zu nehmen. Dazu ist es wichtig, unsere persönlichen Muster und deren Auswirkungen auf Partnerschaften zu erkennen, um dann bewusst neu wählen zu können. Erst auf dieser Basis ist es möglich, in Beziehungen Lebendigkeit zu entfalten. Hier zeigen wir Möglichkeiten des Wandels auf. Wir sprechen von Erweiterung, da es um eine umfassendere Art zu denken, zu fühlen und zu handeln geht. Das Alte geht dabei nicht verloren. Es wird in eine größere Haltung eingebettet und verliert dadurch an Wichtigkeit. Stellen Sie sich vor, Sie machen ein Update Ihrer Erfahrungen, ein Erfahrungsupdate. Diese Art und Weise der Erweiterung ermöglicht es, sich grundsätzlich von der Begrenzung des alten Identitätsmusters zu lösen. Durch »förderliche Überzeugungen und Vorstellungen« über uns selbst leiten wir den Wandel ein und schaffen damit die Voraussetzungen für erfüllte Beziehungen.

Hinweis: Gleichwürdigkeit zwischen Frau und Mann liegt uns am Herzen, deshalb gendern wir in diesem Buch für den guten Lesefluss mit dem Doppelpunkt, die (un)bestimmten Artikel sind bei uns feminin. An Stellen, wo selbst mit Doppelpunkt der Lesefluss zu stark unterbrochen wäre, haben wir uns für das generische Maskulinum entschieden.

TEIL 1

KAPITEL 1 DIE GROSSE HERAUSFORDERUNG

Paarbeziehungen sind eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Dabei sind unsere Köpfe voller konventioneller Träume, die nicht unbedingt zu den Erfahrungen passen, die wir in der Realität machen. Das Elend in Beziehungen und das Elend durch Beziehungslosigkeit nehmen sich nicht viel. Wer keine Beziehung hat, sehnt sich nach einem Partner oder einer Partnerin, nach Nähe und Liebe. Wer in einer unglücklichen Beziehung steckt, kann die Liebe und Nähe zur Partner:in oft nicht mehr richtig spüren. Es steht zu viel »zwischen den beiden« oder eine:r sehnt sich insgeheim nach Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstentfaltung, erlaubt sich womöglich aber nicht, diese Bedürfnisse konkret zu fühlen und versteckt sie hinter einer diffusen Unzufriedenheit sogar vor sich selbst.

Dauerhaft glückliche und erfüllte Beziehungen gibt es – sie sind jedoch eher die Ausnahme als die Regel. Wir haben wenige Vorbilder, an denen wir uns ausrichten können. Die meisten von uns haben ein Bild von dem, wie es nicht sein soll und verfolgen eine »weg von« - Strategie. Wir möchten es anders machen als unsere Eltern, Freunde usw. Die positiven Bilder, die wir im Kopf haben, sind romantische Liebesgeschichten, die schon zu Ende sind, wenn die Beziehungspartner:innen sich gefunden haben. Wie sie dann ihre Beziehung dauerhaft mit Leben erfüllen, scheint irrelevant.

Das Wissenschaftszentrum Berlin hat eine Studie mit jungen Menschen durchgeführt. Auf die Frage, was sie sich von Beziehungen wünschen, antworteten sie in etwa Folgendes:

gegenseitiges Verständnis;

Ehrlichkeit;

Vertrauen;

die Beziehung soll spannend bleiben, keine Routine und Langeweile aufkommend;

ich brauche auch meinen Freiraum und die Möglichkeit, mich zu entfalten

Diese Wünsche und Bedürfnisse werden ganz selbstverständlich von jungen Männern und Frauen formuliert, wie sie hingegen verwirklicht und umgesetzt werden sollen, bleibt ein Geheimnis. Nach dem Motto: »Was schert mich die Wirklichkeit nach dem Happy End?«

Bei ihren Eltern haben sie eher das erfahren, was sie für sich nicht wollen. Viele der jungen Erwachsenen heute sind selbst bereits in getrennten Beziehungen aufgewachsen. Sie haben also gelernt, ihre Eltern nicht als unveränderliche Einheit wahrzunehmen, sondern als eigenständige Personen, mit individuellem Veränderungspotential. Das ist schon ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zur gemeinsamen Freiheit. Dass es mit der eigenen Partnerschaft schwierig werden könnte, ahnen die meisten jungen Menschen, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen. Sie formulieren ihre Träume und bestehen auf ihrem Recht auf Glück.

Bei Menschen, die in einer über einige Jahre dauernden Partnerschaft leben, haben sich die meisten dieser Träume inzwischen in Luft aufgelöst und sind der Alltagsrealität gewichen. Viele Paare verbergen ihre Probleme vor der Außenwelt und wahren den glücklichen Schein. Sie haben sich in ihrem Alltag arrangiert und hoffen, so alles unter Kontrolle halten zu können. Das funktioniert heute immer schlechter. Viele solcher Beziehungen sind eine tickende Zeitbombe. Deshalb gehen Beziehungen, die nach außen hin gut zu funktionieren schienen, nach 17 bis 20 Jahren doch noch kaputt – oft zum Entsetzen von Freunden und Familie. »Was, ihr? Das hätten wir ja nicht gedacht! Bei euch schien doch alles bestens zu laufen.«

Wir müssen anerkennen, dass Beziehungen in der heutigen Zeit alles andere als unproblematisch sind. Hier offenbaren sich die ganze Unbeholfenheit, die Verwundbarkeit und das große Defizit unserer Kultur.

Ludger und Barbara sind seit zwölf Jahren zusammen und haben gemeinsam einen zehnjährigen Sohn. Ludger ist eine Führungskraft in einem medizintechnischen Unternehmen. Barbara arbeitet 30 Stunden pro Woche bei der Stadtverwaltung. Der Sohn Benjamin besucht die fünfte Klasse der örtlichen Schule. Alles geht seinen Gang. Barbara kümmert sich um alles, was den Jungen betrifft. Sie meldete ihn zum Musikunterricht an und sorgte auch dafür, dass er Nachhilfe in Mathe bekam, als er zu Beginn der fünften Klasse schlechte Noten ablieferte. Sie organisiert die Kindergeburtstage und backt Kuchen für das Schulfest. Auch Kochen und Waschen übernimmt sie selbstverständlich. Den Wochenendeinkauf erledigen Ludger und Barbara meistens zusammen.

Wenn Barbara gegen 16 Uhr nach Hause kommt, ist Sohn Benjamin schon da. Manchmal ist er auch noch bei seinem Freund Max. Wenn Ludger nach Hause kommt, ist er nicht gerade gesprächig. Meistens zieht er sich erst einmal in sein Arbeitszimmer zurück und will eigentlich in Ruhe gelassen werden. Barbara führt in dieser Zeit oft Diskussionen mit Benjamin, in denen es darum geht, wann er seine Hausaufgaben erledigt, ob vor oder nach dem Nintendospielen. Ludger mischt sich nur ungern ein, weil er das Gefühl hat, dass Barbara ihm in den Rücken fällt, wenn er denn mal gegenüber Benjamin ein Machtwort spricht. Also hält er sich raus.

Barbara organisiert im Sommer Grillabende mit Thomas und Dagmar, einem befreundeten Paar aus der Nachbarschaft. Ludger mag Thomas. Thomas ist engagiert und lebendig und erzählt immer so unterhaltsam. Dagmar und Barbara verstehen sich auch gut. Sie sprechen über die Kinder und darüber, wohin es beim nächsten Urlaub gehen soll. Manchmal macht Barbara Dagmar Andeutungen, dass sie über ihre Beziehung mit Ludger traurig ist.

Aus Barbaras Sicht leben sie zwar zusammen, aber das Gemeinsame, die Nähe und die Spannung, sind aus der Beziehung gewichen. Sie fühlt sich von Ludger weder gesehen noch wertgeschätzt. Sie hat oft das Gefühl, dass sie zum Inventar gehört, genau wie der Computer und das Auto. Dabei gibt sie sich doch so viel Mühe, alles richtig zu machen. Sie hat das Gefühl, dass die gesamte Beziehungsarbeit bei ihr liegt. Wenn sie nicht für gemeinsame Unternehmungen sorgen würde, hätten sie bald gar nichts mehr miteinander zu tun. So kommt es ihr vor. Wie anders war es doch am Anfang! Da trug Ludger sie auf Händen, so empfindet sie es im Rückblick. Er interessierte sich für sie, führte sie aus, und sie konnten über so viele Dinge miteinander sprechen. Sie fühlte sich von ihm verstanden, begehrt und geliebt. Heute sprechen sie im Grunde gar nicht mehr über Wesentliches. Die Kommunikation hat immer etwas mit der Bewältigung des Alltags zu tun: Was machen wir am Wochenende? Wer kümmert sich um die Reparatur am Dach? Was ist mit Benjamins Klassenfahrt nächsten Monat? Wie es Barbara wirklich geht, was in ihrem Inneren abläuft, das scheint Ludger nicht zu interessieren. Die Sexualität ist sehr selten geworden. Sie hat wenig Lust und Ludger ergreift auch nicht gerade oft die Initiative. Oft will Barbara dann einfach nicht, weil sie vor lauter Stress auch schon zu müde ist.

Für Ludger ist die Beziehung im Großen und Ganzen in Ordnung. Schließlich läuft ja alles. Barbara zickt manchmal ein bisschen rum, aber so sind Frauen wahrscheinlich nun mal. Ludger stört am meisten, dass das mit dem Sex zu so einer vertrackten Sache geworden ist. Deshalb ertappt er sich öfters dabei, dass er sich im Internet nackte Frauen anschaut. Na ja, wenn sie immer nicht will, dann muss er sich ja irgendwie anders helfen. Früher oder später wird er woanders grasen gehen. Eigentlich ist ihm das zu kompliziert. Ludger ist nicht der Typ, der ins Bordell geht oder sich eine Affäre sucht, aber die neue Assistentin des Kollegen, die findet er eigentlich recht attraktiv… Wenn Ludger manchmal morgens in den Spiegel schaut, überkommt ihn ein unbehagliches Gefühl. Darüber will er aber nicht weiter nachdenken. Also putzt er sich lieber schnell die Zähne und macht einfach weiter.

Kennzeichnend für den heutigen Umgang mit dem Thema Beziehungen ist, dass man möglichst nicht drüber spricht – und da macht es keinen Unterschied, ob man auf dem Land oder in der Stadt lebt. Über den wirklichen Zustand ihrer Beziehungen sprechen die wenigsten Menschen. Die Beziehungspartner sprechen nicht miteinander darüber, weil dann die ganzen gut kaschierten Bruchstellen der Partnerschaft zu Tage treten würden und damit das bestehende System bedroht wäre. Auch mit guten Freunden oder Verwandten sprechen die wenigsten darüber, was in ihren Beziehungen wirklich los ist. Vielleicht gibt es einen oder zwei Menschen, denen man sich anvertraut, meistens allerdings erst dann, wenn es wirklich ganz und gar unerträglich geworden ist.

Die Angst, anderen seine Beziehungsnot mitzuteilen, ist so groß, dass die Mehrheit der Menschen das alltägliche Leid mit sich selbst ausmacht und auch glaubt, dies tun zu müssen. Besonders Männer sind ungeübt darin, über ihre Probleme in Beziehungen zu sprechen. Der Beziehungsnotstand erscheint als Privatangelegenheit, als Intimsphäre, die niemanden etwas angeht. Kein Wunder also, dass Beziehungsratgeber so hoch im Kurs stehen. Wer ein Buch zum Thema liest, kann für kurze Zeit die eigene Not lindern, ohne sich jemandem mitteilen oder offenbaren zu müssen. Denn der Beziehungsnotstand geht immer mit Versagensgefühlen einher. Spätestens daran wird deutlich, dass der Zustand unserer Beziehungen nicht nur eine Privatangelegenheit ist. Die einzelne Beziehung ist natürlich etwas Privates, doch die Muster, in denen sich die Beziehungsdramen unendlich wiederholen, sind ein kollektives Problem.

Man könnte sagen, wir sind in einer kollektiven Beziehungskrise. Im Chinesischen gleicht das Zeichen für »Krise« dem für »Chance«. In jeder Krise liegt also auch eine Chance, eine Chance auf Weiterentwicklung und auf die Entfaltung eines Potentials. Die alten Strukturen tragen nicht mehr, neue sind noch nicht etabliert. Wir können sie neugestalten. Dieses Potential zu erschließen, ist die große Herausforderung, die vor uns liegt. Herausforderungen sind unbequem und schmerzhaft oder spannend und aufregend, je nachdem, wie man sie betrachtet.

DIE SCHLECHTE NACHRICHT

In der Beziehungsproblematik offenbaren sich also nicht nur individuelle Themen. Beziehungen sind der Ort, an dem sich kultureller und gesellschaftlicher Wandel am deutlichsten offenbart. Sie sind der Ort, an dem die alten Rollenbilder von Männern und Frauen am unmittelbarsten aufeinanderprallen und neue Rollenbilder verhandelt werden. Hier kommen alle Hoffnungen und Sehnsüchte sowie unsere Ängste und Enttäuschungen zum Vorschein, die mit dem eigenen Lebensentwurf sowie mit dem eigenen Selbstbild verbunden sind. Die Angst vor der Erkenntnis, mit den eigenen Träumen und Ansprüchen an der Realität der Beziehung gescheitert zu sein, ist so bedrohlich, dass wir den Widerspruch lange vor uns selbst verborgen halten.

Wir sind in unseren Beziehungen hin- und hergerissen zwischen Kompromissen, Alltagsbewältigung und schwindenden Gemeinsamkeiten und Gefühlen der Liebe, der Nähe und des Genusses, so dass sich zunehmend eine innere Unruhe ausbreitet, die wir für unser persönliches Versagen halten. Unsere wachsende Unzufriedenheit, die sich zum privaten Unglück steigert, können wir irgendwann nicht mehr vor der Welt verbergen.

Häufig bleibt die Trennung als letzter Ausweg, wobei die wenigsten Menschen eine solche Trennung gut »wegstecken«. Abgesehen von den zurückgewonnenen Freiheiten und der Erleichterung, dem ständigen Druck und Konflikt entkommen zu sein, ist eine Trennung meist mit Groll, Enttäuschung und Ärger verbunden und schafft Wunden, die lange schmerzen und uns noch vorsichtiger machen. Die Trennungsphase dauert in der Regel viel länger als wir erwartet hätten, ihre Verarbeitung noch länger. So hatten wir uns das alles nicht vorgestellt.

In der nächsten Beziehung wird es oft auch nicht besser, obwohl wir doch extra darauf geachtet haben, dass die Beziehungspartner:in ganz andere Eigenschaften hat als ihre Vorgänger:in. Jedenfalls schien es am Anfang so… Tja, dumm gelaufen.

Was uns in diesem Beziehungsreigen nicht bewusst ist: Wir haben es mit einer enormen Umwälzung zu tun, deren Konsequenzen zur Überforderung geworden sind. Und wir werden weiterhin überfordert sein, solange wir diese Konsequenzen nur als ein privates Problem betrachten, für das wir allein verantwortlich sind. Die globalen und sozialen Wandlungsprozesse verlangen nach völlig neuen Bildern und Konzepten von Mann und Frau und ihren Rollen. Sie betreffen alle Lebensbereiche: die Partnerschaften, die Arbeitswelt, die Formen des Zusammenlebens, familiäre Strukturen, das Konsumentenverhalten.

Die enorm gewachsenen Möglichkeiten zur Selbstentfaltung gehen mit einem großen Komplexitätszuwachs einher. Wir haben in so vielen Bereichen Wahlmöglichkeiten wie nie zuvor in der Geschichte. Es gibt neue Studiengänge, Ausbildungen, Berufsbilder, Produkte, Dienstleistungen. Wir haben die Möglichkeit, andere Länder und Kulturen kennen zu lernen, Praktika zu machen, unseren Interessen nachzugehen und unsere Beziehungspartner:innen zu wechseln. Einerseits. Diese Freiheiten stellen uns gleichzeitig vor große Schwierigkeiten, denn mit jeder Wahl, die wir treffen, schließen wir eine andere Möglichkeit aus – und woher sollen wir wissen, ob die getroffene Wahl nicht genau die falsche war?

Die eigentliche Herausforderung heute besteht darin, herauszufinden, was wir wollen, was uns guttut und was uns wie wichtig ist. Das gilt auch für das Feld Beziehungen. Das Prinzip »Das wird sich schon alles irgendwie entwickeln« funktioniert auch in Beziehungen nur sehr begrenzt. Auch hier gilt, was in allen anderen Bereichen gilt: Wenn ich nicht aktiv meine Wahl treffe, dann werden die Umstände für mich entscheiden. Diese aktive Wahl schließt den Prozess der Auseinandersetzung mit den eigenen Wünschen, Sehnsüchten und Ängsten mit ein. Es geht darum, herauszufinden, was wir wirklich wollen. Wir müssen uns fragen, wie viel Eigenes in diesen Wünschen ist und wie viel Fremdes, wie viel wurde uns von Eltern, Freunden und der Umgebung vorgegeben, was haben wir unbewusst übernommen. Oft verstehen wir das erst im Nachhinein und haben dann das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben.

Wie wichtig es ist, herauszufinden, was wir wirklich wollen und was wirklich das Eigene ist, zeigt sich oft erst, wenn wir schon etwas älter sind. An uns selbst kommen wir langfristig nicht vorbei, das wird in unserer heutigen Zeit besonders deutlich. Probleme entstehen vor allem dann, wenn wir die getroffenen Entscheidungen im Nachhinein bereuen und uns dafür entwerten. Hier sind wir Opfer unseres eigenen Anspruchs, und zwar weil uns das Bewusstsein unserer kollektiven geschichtlichen Dimension fehlt. Wir blenden die gesellschaftlichen Umwälzungen und damit verbundene Konflikte einfach aus, als ob sie uns persönlich nicht beträfen. Aufgrund von Unwissenheit unterliegen wir einer enormen Selbstüberschätzung. Sie führt dazu, dass wir die Probleme nicht konstruktiv angehen können. Beziehungsprobleme sind immer noch unschicklich. Jeder hat zwar welche, aber die Thematisierung der eigenen ist bedrohlich.

Eine offene Diskussion darüber, was wir in einer Partnerschaft eigentlich voneinander wollen, würde das Desaster offensichtlich machen. Wir müssten uns mit unseren ganzen Widersprüchen offenbaren, unseren altmodischen Träumen und Fantasien, die so gar nicht zu dem passen, was wir eben auch wollen: eine moderne gleichberechtigte Partnerschaft, in der wir langfristig erfüllt und glücklich sein können. Wir würden herausfinden, dass wir nicht wissen, wie wir das alles unter einen Hut bringen sollen und wir würden herausfinden, dass wir es auch nicht können, dass wir außer mit dem guten Willen im Grunde mit nichts ausgestattet sind, um mit diesen Herausforderungen fertig zu werden. Und guter Wille ist zwar eine unabdingbare Grundvoraussetzung, reicht aber leider nicht aus, um mit den Konsequenzen der genannten Umwälzungen umgehen zu können.

Es wäre schon ein erster Schritt, das einfach anzuerkennen. Ja, wir sind nicht darauf vorbereitet. Wie auch? Wir haben nirgends gelernt, wie man erfüllte Beziehungen lebt. Von wem denn und wann bitte? In der Schule erfahren wir darüber gar nichts. Bei den Eltern haben es die wenigsten von uns gelernt, weil die meisten Elternpaare klassische Muster lebten, in denen Glück und Erfüllung begrenzt blieben.

Unsere »Inkompetenz« ist jedoch keine Schande! Es ist eher erstaunlich und bemerkenswert, dass Menschen den Traum von Liebe und erfüllter Partnerschaft so ungeniert weiterträumen.

Die schlechte Nachricht ist, dass unsere Beziehungsproblematik ein kollektives Problem ist, das für die Einzelne:n im Grunde zu groß ist. Die Wahrscheinlichkeit, als Individuum daran zu scheitern, ist wesentlich höher, als die, es zu meistern.

DIE GUTE NACHRICHT

In der schlechten Nachricht ist aber natürlich auch eine gute Nachricht enthalten. Wenn wir die kollektive Dimension unserer Probleme in Beziehungen anerkennen würden, dann bräuchten wir mindestens 80 Prozent davon nicht persönlich zu nehmen und könnten uns daran machen, für die übrigen 20 Prozent tatsächlich die Verantwortung zu übernehmen. Wir könnten anerkennen, dass wir Männer und Frauen der heutigen Zeit allesamt das Ergebnis einer sehr langen Geschichte sind, einer Geschichte, mit der wir uns auseinandersetzen müssen. In dieser Auseinandersetzung und in dem Ringen um Perspektiven auf diese Geschichte brauchen wir jedoch keinen Schuldigen zu suchen. Es geht nicht um Schuld. Wir alle sind das Ergebnis dieser Geschichte und unsere heutigen Beziehungsthemen ebenfalls. Wenn wir uns das klarmachen, wird es leichter. Es wird leichter, zu unseren Beziehungsschwierigkeiten zu stehen, es wird leichter, sie zu untersuchen, es wird leichter, sie zu wandeln und es wird leichter, neue Erfahrungen zuzulassen. Vor allem müssen wir uns dann nicht mehr mit so viel Misstrauen begegnen.

Wir könnten anerkennen, dass wir nicht wissen, wie wir das, wovon wir träumen, miteinander erfahren und umsetzen können. Wir könnten uns gegenseitig eingestehen, dass wir so enttäuscht voneinander und auch von uns selbst sind, darin aber auch nachsichtig sein. Dass wir Angst voreinander haben und dass wir bestimmte Bilder voneinander im Kopf haben, die möglicherweise einseitig sind und nicht stimmen, ist tatsächlich ein allgemeines Phänomen. Wir könnten lernen, miteinander darüber zu reden und dadurch aufhören, uns gegenseitig so viel zu unterstellen.

Dieses Vorgehen führt langsam zu einer neuen Haltung uns selbst und auch dem anderen Geschlecht gegenüber. Einerseits brauchen wir eine neue Haltung, um uns überhaupt mit unserer Geschichte auseinandersetzen zu können, andererseits ist das Verständnis der Geschichte die Voraussetzung, um zu dieser Haltung zu gelangen. Dies ist ein Paradox und wie so oft beschreibt auch hier ein Widerspruch die Situation am besten.

Es geht um den Teil der Geschichte, der uns persönlich betrifft. Der mit unseren Selbstbildern und unseren Bildern vom anderen Geschlecht zu tun hat. Der Teil der Geschichte, der in unseren Köpfen ein bestimmtes Bild von Ehe, Partnerschaft und Familie kreiert hat, mit dem wir heute nicht mehr klarkommen, an das aber eine große emotionale Sehnsucht geknüpft ist. So modern wir heute sind, die meisten Frauen träumen ab und zu eben doch von einer Hochzeit und einer Familie mit Kindern. Männer träumen manchmal davon, sie träumen jedoch fast immer von einer großen Karriere, auf jeden Fall von Ruhm und Erfolg. Eine schöne Frau an ihrer Seite wäre auch nicht schlecht. Von der Karriere träumen heute auch immer mehr Frauen, zumindest von Selbstbestimmung und Unabhängigkeit.

Wo Sehnsucht ist, da sollte man immer anknüpfen, das zeigt die Erfahrung. Untersucht man diese Sehnsucht, dann stellt man fest, dass sie sich aus zwei Komponenten zusammensetzt: der Sehnsucht nach Selbstentfaltung und der Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Für Männer war die Sehnsucht nach Selbstentfaltung im klassischen Familienmodell insoweit gedeckt, als der Mann seinen Fokus auf die Karriere richten konnte und damit seiner Selbstentfaltung zumindest nichts Grundsätzliches im Wege stand. Inwieweit diese Art der Selbstentfaltung ebenfalls einseitig und unvollständig ist, werden wir noch untersuchen. Frauen haben diese Sehnsucht in den letzten 50 Jahren überhaupt erst wiederentdeckt. Inzwischen ist sie unübersehbar geworden und lässt sich auch nicht mehr wegdrücken. Da Frauen im klassischen Familienmodell wenige Möglichkeiten zur Selbstentfaltung und Unabhängigkeit hatten, haben sie es, zusammen mit vielen Männern, inzwischen ins Wanken gebracht.

Andererseits ist da die Sehnsucht nach Zugehörigkeit1. Der Begriff klingt nüchtern, meint aber Nähe, Verständnis, Zärtlichkeit und Austausch. Wir sehnen uns danach, einen Haufen oder ein Rudel zu haben, zu dem wir dazugehören. Hier sind wir sicher, werden auf jeden Fall geliebt, weil jemand uns so gut kennt, fühlen uns verbunden, jemand ist für uns da, sollte es uns mal schlecht gehen und jemand freut sich mit uns über unsere Erfolge und gönnt sie uns. Wir möchten Nähe und Liebe füreinander zum Ausdruck bringen, wir möchten die Nähe der anderen genießen, wir möchten uns lieben und spüren, wie diese Liebe fließt. Dieses Gefühl kennen wir auf verschiedene Weise. Manche von uns haben das vielleicht mit ihren Eltern erlebt, manche zumindest für eine gewisse Zeit mit ihrer Beziehungspartner:in, vielleicht mit anderen Verwandten oder eine Zeit lang mit Freund:innen. Die meisten von uns haben diese Zugehörigkeit auf die eine oder andere Art erfahren. Diese Sehnsucht ist genauso real wie die Sehnsucht nach Selbstentfaltung. Beides sind Grundbedürfnisse des Menschen, die wir respektieren sollten.

Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit wurde traditionell innerhalb des Systems »Familie« bedient. Sie bot zumindest den gesellschaftlichen Rahmen dafür. Inwiefern diese Bedürfnisse innerhalb dieses Rahmens zur Entfaltung gebracht und gedeckt wurden, ist eine ganz andere Frage. Männer hatten in der Vergangenheit, rein formal betrachtet, beides. Sie konnten sich entfalten und wussten dennoch, wo sie hingehören. Frauen hatten die Domäne der Zugehörigkeit, also der »Familie«, inne. Selbstentfaltung war nur innerhalb dieser Domäne vorgesehen. Das funktioniert jetzt schon länger nicht mehr.

Heute jonglieren und ringen wir um neue Modelle und Möglichkeiten – und das ist gut so. Nur so kann es gehen. Wir müssen bereit sein, Neues zu probieren und nicht das fertige Rezept zu suchen. Das gibt es nicht. Das alte war ein Rezept: Mann – Karriere, Frau – Familie. Rezepte sollen für alle funktionieren und für immer gelten. Wir wissen inzwischen, dass dieses Rezept nur noch begrenzt funktioniert. Für viele funktioniert es eben nicht mehr. Wir brauchen eine Vielfalt an Wegen, eine Fülle an Alternativen, um das zu finden, was für uns ganz persönlich stimmt. Geblieben ist die Sehnsucht.

Wenn wir uns nach etwas sehnen, dann haben wir in der Regel auch das Potential, die entsprechende Erfahrung zu machen. Das ist die Spur, die wir aufnehmen können, wenn wir weiterkommen möchten. Wenn wir uns trauen, ihr zu folgen, führt uns die Sehnsucht tief in uns selbst hinein. Und tief in uns selbst, in unserem eigenen Inneren, da - und nur da - ist der Ort, an dem Wandlung möglich ist. Auch der kollektive Wandel kommt nur durch viele individuelle Wandlungen in Gang.

So betrachtet, sind die Sehnsüchte und Träume der jungen Menschen von heute ernst zu nehmen. Sie drücken einerseits Utopia aus, oder das, was wir, wenn wir »vernünftig« herangehen, als unvereinbare Widersprüche betrachten. Und trotzdem sind Selbstentfaltung und dauerhafte Nähe und Verbundenheit mit einer Partner:in möglich – vielleicht anders, als wir gedacht haben. Oder konkreter ausgedrückt: Um diese Erfahrung mit unserer Partner:in zu erschaffen, müssen wir bereits sehr bei uns selbst, in unserem jeweiligen Mann- oder Frausein »angekommen« sein. Eine solche Beziehung setzt sehr viel Selbstständigkeit voraus, sowie die Bereitschaft, wirklich die Verantwortung für die eigenen Erfahrungen und Gefühle zu übernehmen. Sie setzt voraus, dass beide um ihre jeweiligen Bedürfnisse wissen, sie kennen und ernst nehmen und für sich sorgen. Sie setzt voraus, dass wir uns trauen uns wirklich zu zeigen, mit all unserer Verletzlichkeit, aber auch mit all unserer Stärke und Kraft.

Das Funktionieren einer Beziehung setzt die Integration der eigenen Schatten voraus, darauf werden wir im Kapitel »Archetypen und ihre Schatten« noch ausführlich eingehen. Es setzt voraus, dass wir von unseren Partner:innen nicht erwarten, dass sie uns glücklich machen, weil wir wissen, wie wir uns selbst glücklich machen und es diese Lebensfreude ist, die wir unserer jeweiligen Partner:in schenken, mit ihr oder ihm teilen. Eine gute Beziehung setzt die Erfahrung von Fülle voraus, die sich verschenken will. Wenn wir stattdessen aus einem Gefühl von Mangel ein vermeintliches Defizit ausgleichen wollen, stimmen die Voraussetzungen schon nicht. Und damit sind wir bereits am eigentlichen Knackpunkt angekommen.

Wir werden auf Beziehungen nicht vorbereitet, sozusagen nicht dazu ausgebildet. Stattdessen sind wir meist ausgestattet mit ungünstigen Erwartungen an uns selbst, an unsere Partner:in und vor allem mit sehr viel Unwissenheit und Unkenntnis darüber, wer wir als Menschen sind, wer wir waren und wie sich unsere Geschichte beziehungsweise die Menschheitsgeschichte auf unser heutiges Leben auswirkt.

Die falschen Vorstellungen und Erwartungen kommen größtenteils aus unserer Geschichte und kollidieren mit unserer Realität. Wir müssen uns mit dieser Geschichte und ihrem Wandel beschäftigen, wenn wir uns die erfüllten Beziehungen, die wir ersehnen, erschaffen wollen.

Das Potential dazu haben wir. Unser kreatives Potential wird immer wieder unterschätzt. Auch das, was wir als Misserfolg erleben und womöglich als persönliches Versagen deuten, ist eine Folge unseres kreativen Potentials.

Wir haben in unserer Geschichte geistige Konzepte, Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit kreiert, die unseren menschlichen Bedürfnissen zutiefst zuwiderlaufen. Dabei haben wir einige Grundaspekte, die uns und unser Leben ausmachen, unterdrückt und entstellt. Diese Konzepte haben sich verselbstständigt und wir leiden heute an ihnen. Unser kollektives Unbewusstes projiziert diese verdrängten Energien auf die Außenwelt und gestaltet diese dann so, dass sie zur inneren Welt passen.

Eines dieser ungünstigen Konzepte ist das »Schuldkonzept«, das die Welt in Opfer und Täter einteilt und immer einen Schuldigen braucht.

Wenige Konzepte haben so viel Unheil in die Welt gebracht, wie dieses. Es ist höchste Zeit, es zu wandeln.

VON OPFERN UND TÄTERN UND DER GROSSEN SCHULDFRAGE

Die Beschäftigung mit der Geschichte der Geschlechter birgt viel Zündstoff – möglicherweise vergleichbar mit dem Versuch, im Deutschland der 50er Jahre über die Zeit des Nationalsozialismus sprechen zu wollen. Vielleicht haben Frauen, aber vor allem Männer einfach noch nicht genug Abstand zu dieser Geschichte, um konstruktiv damit umgehen zu können und sie jenseits der Schuldfrage zu betrachten.

Schon die Aufzählung der Fakten macht in unserem gewohnten Opfer-Täter-Denken die Frauen zu Opfern und die Männer zu Tätern. Darüber braucht man sich gar nicht streiten, es ist offensichtlich. Männer wollen aber nicht zu Tätern gemacht werden und wehren entsprechend ab. Wer ist schon gerne schuld? Dabei ist es ein Merkmal unserer Kultur, immer nur nach der oder dem Schuldigen zu suchen, als wäre das Problem damit gelöst.

Ein anderer Vergleich wären die Industrienationen und die Länder des Südens. Auch hier gibt es erheblichen Aufarbeitungsbedarf. Auch hier ist im Opfer–Täter-Konstrukt schnell klar, wer »die oder der« Schuldige ist. Die »westliche Welt« will keine Täterin sein, also schaut sie nicht wirklich hin. Sie will nicht genauer Bescheid wissen, gibt Almosen und hofft, sich dadurch freizukaufen.

Solange wir im Opfer–Täter-Konstrukt verharren, kann diese Aufarbeitung nicht gelingen. Die erste Herausforderung ist hier, einen anderen Standpunkt einzunehmen. Einen Standpunkt, der sowohl das Opfersein als auch das Tätersein integriert. Es beginnt damit, anzuerkennen, dass Opfer und Täter in Wirklichkeit immer beides sind. Sie sind Opfer, dann Täter, dann wieder Opfer, dann wieder Täter. Anders ausgedrückt, sind Opfer und Täter jeweils Schatten des unterdrückten Schöpfers oder Urhebers. Das Konzept des Archetyps und seiner Schatten ist ausgesprochen hilfreich, um solche Prozesse zu verstehen. Im nächsten Kapitel werden wir es ausführlicher kennen lernen. Betrachten wir aber zunächst die Opfer-Täter-Dynamik mit Hilfe dieses Modells:

Opfer und Täter kann man auch als die Schatten der verantwortlichen inneren Instanz der Schöpfer:in verstehen. Die Schöpfer:in oder Urheber:in weiß um ihr eigenes kreatives Potential und nimmt die Verantwortung dafür an. In der Verdrängung und Unterdrückung der eigenen kreativen Schöpferkraft hat das Opfer-Täter-Denken seine Wurzel. Diese eigentlich im Inneren angesiedelte Schöpferkraft ist meistens nach außen projiziert, auf Gott, auf das Universum, auf den Zufall, auf den Staat, auf bestimmte Personen, je nachdem, welches Weltbild wir jeweils favorisieren und worum es sich gerade handelt. Solange wir die eigene Schöpferinstanz außerhalb von uns selbst ansiedeln, besteht die Welt aus Opfern und Tätern. Uns selbst erleben wir dabei häufig als Opfer und meistens wissen wir auch schon, wer der Täter ist.

Die Beziehung zwischen Opfer und Täter ist eine Beziehung der Angst und der Schuld. Im eigenen Inneren sieht das dann so aus, dass wir, wenn wir mit dem Opfersein identifiziert sind, Angst davor haben, zum Täter zu werden. Die eigene Täterschaft wird deshalb abgespalten und nach außen projiziert. Die Täter sind so immer die anderen. Wir verleugnen und ignorieren die eigenen Täteranteile, um Opfer bleiben zu können und haben so eine Rechtfertigung für unser Handeln oder Nichthandeln.

Schauen wir uns diesen Zusammenhang an einem Beispiel an:

Daniel und Sina sind seit fünf Jahren verheiratet. Sie haben zwei kleine Kinder. Daniel ist 36 Jahre alt. Er hat einen guten Job in einem IT-Unternehmen. Er arbeitet viel, verdient aber recht ordentlich. Immer wieder muss er beruflich verreisen, oft auch sehr kurzfristig. Sina ist 34 Jahre alt. Bevor sie die Kinder bekam, arbeitete Sina als Teamleiterin in einem biomedizinischen Labor. Da die Kinder noch sehr klein sind und nur die ältere schon in die Kita geht, besteht ihr Leben jetzt hauptsächlich daraus, den Alltag zu managen, das Chaos in Grenzen zu halten, die Tochter von der Kita abzuholen, Essen zuzubereiten, Wäsche zu waschen, einzukaufen usw.

Die Beziehung zwischen Daniel und Sina hat sich besonders seit der Geburt des zweiten Kindes extrem verschlechtert. Sina macht Daniel zunehmend Vorwürfe, dass er sich zu Hause nicht genug einbringt, sich nicht an getroffene Absprachen hält und sie nicht wertschätzt. Daniel fühlt sich wegen Nichtigkeiten heftig angegriffen. Wenn er abends aus dem Büro kommt, besteht Sina darauf, dass er Dinge macht, die er für nicht so wichtig hält, wie zum Beispiel das Kinderspielzeug im Garten einzusammeln. Er hält Sina manchmal für kleinkariert und ihre so dringenden Wünsche für banal. Seiner Meinung nach hätten diese Dinge längst erledigt sein können. Da er das Gefühl hat, gar keine Zeit mehr für sich zu haben, reagiert er widerspenstig. Entweder er räumt das Kinderspielzeug gar nicht auf oder er schiebt es so lange hinaus, bis Regenwolken aufgezogen sind und Sina, da sie nicht will, dass die Sachen der Kinder nass werden, es schließlich selbst macht. Auf ihre verbalen Attacken reagiert er erst perplex und dann aggressiv. Ändern tut sich nichts. Für Sina ist klar, wer der Täter ist. Sie macht den lieben langen Tag nichts anderes, als die gemeinsamen Kinder zu versorgen, den Haushalt zu wuppen und Daniel dadurch den Rücken freizuhalten. So hatte sie sich den Traum von Familie nicht vorgestellt. Aus ihrer Perspektive scheint Daniel auch nicht annähernd zu sehen, welchen Einsatz sie dafür bringt. Seit der Geburt des Sohnes hat sie nicht eine Nacht durchschlafen können. Seit Jahren verzichtet sie auf jegliche Selbstentfaltung und damit auf Anerkennung. So etwas wie »Zeit für sich haben«, wie Daniel es formuliert, empfindet sie als Schlag ins Gesicht. Schließlich ist sie 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche fremdbestimmt. Daniels Nichtanerkennung drückt sich für sie zum Beispiel darin aus, dass er nicht anruft, wenn er nicht pünktlich Schluss machen kann und einfach zu spät kommt, so dass sie wieder nicht zu dem Treffen mit ihrer Freundin gehen kann. Sie denkt: »Das ist doch ein eindeutiges Zeichen, dass er mich und meine Belange nicht ernst nimmt, der Schuft.«

Daniel fühlt sich von Sinas verbalen Attacken zunehmend genervt und

auch getroffen. Er freut sich immer weniger auf zu Hause und zögert das Nachhause Gehen oft unbewusst hinaus. Häufig kommt auch wirklich etwas dazwischen. Die Teambesprechung dauerte länger als erwartet. Telefonisch Bescheid sagen kann er während der Besprechung nicht. Sina hat keine Ahnung, mit welchen Problemen er sich den ganzen Tag herumschlagen muss, es scheint sie auch nicht besonders zu interessieren. Manchmal kann er ihr Genörgel auch ein bisschen verstehen, denn es ist gerade eine harte Zeit. Aber schließlich wollte sie unbedingt die Kinder. Es war klar, dass er seinen Job behalten muss, denn schließlich verdient er das Doppelte von dem, was sie in ihrem Labor verdiente. Bald sind die Kinder größer und dann kann sie ja vielleicht auch wieder arbeiten. Aber warum muss sie ihm immer die Schuld für alles in die Schuhe schieben?

In diesem Beispiel wird deutlich, dass Sina mit der Opferrolle identifiziert ist und Daniel in ihren Augen eindeutig der Täter ist. Aber auch Daniel erlebt sich als Opfer, zum Beispiel von Sinas verbalen Attacken. Beide leugnen ihre Täterschaft. In Wirklichkeit sind beide sowohl Opfer als auch Täter.

Um aus dem Dilemma herauszukommen, müsste Sina bereit sein, ihre eigene Täterschaft zu entlarven. Indem sie Daniel für ihre Gefühle verantwortlich macht, weigert sie sich, Urheberin ihrer Erfahrung zu sein. Die Entscheidung für die Kinder und die Entscheidung, ihre Arbeitsstelle aufzugeben, hat sie gemeinsam mit Daniel getroffen. Für die Konsequenzen dieser Entscheidung macht sie jedoch allein Daniel verantwortlich. Ihre verbalen Attacken verletzen Daniel. Diese Verletzung lässt er meistens jedoch gar nicht an sich herankommen, sondern schlägt verbal zurück, denn es ist für ihn noch schlimmer, Opfer als Täter zu sein. Dies geschieht unbewusst und automatisch, nicht beabsichtigt oder überlegt. Daniel wiederum müsste anerkennen, dass Sina 90 Prozent der Konsequenzen ihrer gemeinsamen Entscheidung allein trägt und dass sie damit unglücklich ist. Er könnte sie einerseits dafür wertschätzen und außerdem die Erkenntnis an sich heranlassen, dass sie damit unzufrieden ist. Er müsste sich damit konfrontieren, dass eine weitere Konsequenz dieser Entwicklung ist, dass er zunehmend auf Sina herabschaut und ihre Anliegen für Kleinkram hält. Er müsste sich fragen, wie er dazu kommt, auf sie herabzuschauen. Beide müssten sich also mit ihrer Täterseite auseinandersetzen. Daniel müsste zusätzlich bereit sein, seine Verletzungen zuzulassen und lernen, sie ebenfalls zu artikulieren. Dies wären alles erste Schritte, um sich als Urheber:in der eigenen Erfahrung zu erleben und nicht länger Opfer der Umstände oder Täter zu sein.

Viele Männer fühlen sich als Opfer, obwohl sie auch Täter sind. Viele Frauen fühlen sich als Opfer und haben keine Ahnung von ihrer Täterschaft. Die Täterschaft anzuerkennen, ist für beide der schwierigere Teil. Deswegen leugnen wir unsere Verantwortung, wir leugnen und verdrehen Tatsachen, tun alles, um bloß nicht schuld zu sein. Schuld sein ist immer noch ein inneres Todesurteil. Doch damit müssen wir aufräumen, sonst kommen wir keinen Schritt weiter.

Da Frauen traditionell eher mit der zunächst harmloser scheinenden Opferrolle identifiziert sind, treiben sie den Wandel voran. Die stärker mit dem Opferstandpunkt Identifizierten melden sich lange vor den Tätern zu Wort, zum Beispiel, indem sie ihnen Vorwürfe machen. Täter äußern sich erst mal nicht. Wenn sie sich äußern, dann leugnen sie oft, meistens ignorieren sie jedoch das, was sie getan haben und schweigen dazu. Was dahinter steckt, ist nicht leicht zu erkennen. Vor allem für die Täter selbst nicht. Der Schmerz der Täter ist dabei noch tiefer abgespalten. Er ist so weit weggesperrt, dass er für die Täter selbst zunächst nicht wahrnehmbar ist und deshalb von ihrer Umgebung auch nicht als Schmerz wahrgenommen werden kann.

Dieser Zusammenhang wird deutlich, wenn junge Männer zum Beispiel in den Krieg geschickt werden. Solange sie noch offen und verletzlich sind, ist für sie das Töten eines anderen Menschen noch als eigener Schmerz erfahrbar. So antwortete ein junger amerikanischer Soldat im Irak auf die Frage eines Journalisten, wie es denn für ihn sei, Menschen zu töten: »Jedes Mal, wenn ich töte, stirbt ein Teil von mir selbst.« Wenn es sein Beruf zunehmend erfordert, Menschen zu töten, wird dieses Empfinden vergehen. Der Schmerz wird abgespalten, sonst könnte er seinen Job nicht weiter machen und müsste aus der Armee austreten. Die meisten Soldaten arrangieren sich mit dem Töten, sperren den Schmerz weit weg und verschließen ihr Herz.

Da das Opfer-Täter-Denken auf Angst und Schuld basiert, wobei die Schuld möglichst noch eindeutig zugeordnet werden soll, ist es für das Unterfangen »Beziehung« nicht hilfreich. Dieses Denken ist tief in unserer Kultur verwurzelt, deshalb wollen wir vorab ausführlich darauf eingehen. Das Schuld-Denken und vor allem Schuld-Fühlen schleicht sich unmerklich in jede Betrachtung ein – darauf möchten wir unsere Leser:innen aufmerksam machen und sie ermutigen, sich das bewusst zu machen und sich dann immer wieder davon zu verabschieden. Tatsächlich ist diese Art des Denkens schon ein großer Teil des Problems. Es kommt aus einem relativ einfachen Weltbild, in dem lineares kausales Denken ausreichte: Hier die Ursache, da die Wirkung. Hier eine Handlung, hier das Opfer, hier der Täter. Inzwischen wissen wir, dass die Welt so einfach nicht ist. Kausales Denken reicht nicht aus, um die äußerst komplexe Wirklichkeit zu beschreiben und vor allem nicht, sie zu verstehen. Die Wissenschaftstheoretikerin Sandra Mitchell hat in ihrem Buch Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen wunderbar beschrieben, dass Allgemeingültigkeit, Determinismus, Einfachheit und Einheitlichkeit auf den Schrotthaufen der Wissenschaftsgeschichte und damit zu einer überholten Art des Denkens gehören. In Wirklichkeit sind Ausnahmen die Regel und viele Kausalzusammenhänge haben nur einen sehr begrenzten Gültigkeitsbereich. Unser Universum ist »ein in dynamischem Wandel begriffenes, kompliziertes, komplexes, chaotisches und dennoch verständliches Universum.«2

Das macht Mut und eröffnet Perspektiven, auch gefühlsmäßig. Denn die Gefühle sind langsamer als unser Denken. Für sie ist es schwieriger, der Schuldfalle zu entkommen. Unsere Gefühle haben sozusagen mehr Schwerkraft als unsere Gedanken. Sie folgen den bekannten Gewohnheitsmustern. Und sich schuldig zu fühlen, ist genauso eine Gewohnheit wie Schuldgefühle durch Ignorieren, Leugnen und Schweigen abzuwehren. Selbst wenn wir es im Denken bereits begriffen haben, folgen unsere Gefühle immer noch den alten Mustern. Gefühle ändern sich langsamer und jeglicher Wandel beginnt in unserer Vorstellung. Solange unsere Gefühle noch nicht so weit sind, müssen wir in unserer Vorstellung bereit sein, die Vision aufrechtzuerhalten und entsprechend zu handeln. Dann können die Gefühle folgen. Im zweiten Teil des Buches wird dieser Zusammenhang anhand konkreter Übungen deutlich.

Bei der Betrachtung der Geschichte der Geschlechter gilt es also, uns über unser Denken und unser Fühlen bewusst zu werden – wach zu werden. Es geht nicht um Schuldzuweisung. Es geht darum, Verletzungen anzuerkennen. Das sind völlig verschiedene Dinge.

Wenn wir die Verletzung der anderen anerkennen können, ohne uns deshalb schuldig zu fühlen und entsprechend abzuwehren, ist ein erster wichtiger Schritt getan. Das muss auch auf kollektiver Ebene geschehen. Wir erleben Schuldzuweisungen als Angriff, vor dem wir uns schützen wollen. Deshalb glauben wir, die Verletzung der anderen nicht anerkennen zu können. Denn dann würden wir Schuld eingestehen und dann – ja, was dann eigentlich? Dann müssten wir etwas ändern und das wollen wir auf gar keinen Fall. Außerdem haben wir Angst vor Strafe und ewiger Verdammnis. Wer bestraft uns? Wer verdammt uns? Da ist sie wieder, unsere kollektive Geschichte.

Also geht es darum, das zu erkennen und bewusst eine neue Wahl zu treffen. Statt uns zu verdammen, könnten wir die Verletzung der anderen sowie den damit verbunden Schmerz erst einmal an uns heranlassen. Wir könnten erst einmal anerkennen, dass die Andere wie er oder sie fühlt und aufhören, seine oder ihre Gefühle für »falsch« zu halten.

Gefühle sind nicht richtig oder falsch. Gefühle sind einfach. Die Gefühle der anderen ernst zu nehmen, ist bereits der wichtigste erste Schritt. Tun wir das, werden wir jedoch schnell auch mit den eigenen verletzten Gefühlen konfrontiert. Solange wir die Gefühle der Partner:in abgewehrt haben, konnten wir auch unsere eigenen Gefühle unter dem Deckel halten. Lassen wir die Verletzungen der anderen an uns heran, tauchen unweigerlich auch unsere eigenen auf. Das wollten wir aber unbedingt vermeiden.

Manchen ist es lieber, Täter zu sein und Schuld abzuwehren, als sich mit den eigenen Verletzungen zu konfrontieren.

Sie finden selten den Weg nach draußen. Würden wir unsere Taten anerkennen, die Verletzung der anderen anerkennen, ohne Schuld zuzuweisen, würden sich auch unsere eigenen Verletzungen zeigen können. Dann beginnt Heilung und Ganzwerdung.

Die Integration des Opfer-Täter-Denkens in Anerkennung unserer eigenen Schöpferkraft würde also bedeuten, in der jeweiligen Situation sowohl die eigenen Opferanteile als auch die eigenen Täteranteile wahrzunehmen und bereit zu sein, dafür wirklich die Verantwortung zu übernehmen. Die Integration bedeutet außerdem, den anderen dasselbe auch zuzugestehen.

Ein Ich, das nicht gelernt hat, wie man richtig mit einem Schatten umgeht und wie man sich ihm nähert, wird von diesem Schatten besessen. Wer in einem Schatten verharrt, zieht automatisch Menschen an, die den entgegengesetzten Schatten verkörpern. Ein Täter ist meist von Opfern umgeben und umgekehrt. Daran wird das altbekannte Dilemma deutlich, dass wir das, was wir in uns selbst nicht akzeptieren (also einen der Schatten), auf andere und unsere Umgebung projizieren. Unsere Schattenseite kommt uns dann anscheinend im Außen entgegen und wir verstehen nicht, was wir selbst damit zu tun haben, wieso uns das passiert.

Um unsere Schatten zu integrieren und ihnen nicht länger ausgeliefert zu sein, müssen wir aufhören, uns vor ihnen zu fürchten und sie in unserem Inneren annehmen. Der Schatten ist nicht unser Feind. Der Feind ist eher die Angst, die uns davon abhält, uns dem Schatten zu stellen und ihn anzunehmen.

Die obige Abbildung verdeutlicht, was es heißt, unsere Schatten anzunehmen. Wir befreien uns von der Dominanz des einen Schattens, indem wir auch den anderen Schatten in uns erkennen und annehmen. Damit entwickeln wir uns in Richtung Integration – bis wir uns letztendlich mit dem Archetyp decken. Natürlich ist es, von der ersten Ahnung, dass wir ebenfalls Täter sein könnten, bis zur Integration, ein Prozess. Dieser Prozess läuft sowohl individuell als auch kollektiv ab.

Um uns als Schöpfer:innen unserer eigenen Erfahrung erleben zu können, und damit auch die Erfahrungen erschaffen zu können, die wir ersehnen, müssten wir bereit sein, die eigene innere Täterschaft und das eigene innere Opfersein jeweils zu erkennen und zu akzeptieren. Das beginnt damit, keine Angst mehr davor zu haben, sowohl das eine als auch das andere zu sein.

Wenn ich mich in meiner Beziehung überwiegend als Opfer erlebe und die anderen zu Tätern mache, müsste ich mich mit meiner eigenen Täterschaft konfrontieren und diese anerkennen. Bin ich eher in der Täterrolle und wehre den eigenen Schmerz ab, müsste ich lernen, zunächst die Verletzungen der anderen an mich heranzulassen, um mich dann meinen eigenen Verletzungen zu stellen, also auch zu verstehen, an welcher Stelle ich Opfer bin.

In Beziehungskrisen erleben sich meistens beide als Opfer und machen die jeweils anderen zu Tätern. Wie oben schon erwähnt, ist auch hier der schwierige Teil, die eigene Täterschaft anzuerkennen.

Maike und Paul sind seit zwei Jahren zusammen. Beide arbeiten viel und da sie nicht zusammenleben, sehen sie sich nur drei- bis viermal in der Woche. Paul ist 37 Jahre alt und beruflich viel unterwegs, manchmal ist er für zwei Wochen an einem anderen Ort. Maike ist 35. Sie ist ebenfalls sehr eingespannt und bereitet gerade den nächsten Karriereschritt vor. Wenn die beiden sich nicht sehen, telefonieren sie mindestens einmal täglich.

Maikes und Pauls Beziehung läuft gut, der Sex ist intensiv und für beide erfüllend. Dennoch wünscht Maike sich langsam etwas mehr Verbindlichkeit für die Beziehung. Wenn sie beginnt, gemeinsame Zukunftspläne zu machen, weicht Paul irgendwie aus. Das sorgt zunehmend für Unfrieden in der Beziehung. Maike weiß nicht wirklich, woran sie mit Paul ist. Paul möchte am liebsten, dass alles genauso bleibt, wie es ist. Er versteht nicht so genau, was Maike will. Schließlich arbeiten sie beide viel und beiden ist ihre Unabhängigkeit wichtig. Er will nicht mit Maike zusammenziehen. Wer weiß, was dann passiert? So ist es viel besser. Er kann mit seinem Kumpel einen Fußballabend verbringen, ohne Maike damit zu nerven, denn Maike findet Fußball uninteressant. Paul ist sein selbstbestimmtes Leben sehr wichtig. Er macht viel Sport, dagegen interessiert ihn weniger, wie es in seiner Wohnung aussieht. Deshalb treffen sie sich meistens bei Maike.

Maike fühlt sich mit ihrem Wunsch nach Verbindlichkeit und einer gemeinsamen Perspektive von Paul allein gelassen. Es verletzt sie und macht sie traurig, dass er sich eine »Hintertür offenhält«.