Generation Putin - Benjamin Bidder - E-Book
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Generation Putin E-Book

Benjamin Bidder

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Beschreibung

Ein gespaltenes Land, eine zerrissene Generation

Als sie auf die Welt kamen, war die Sowjetunion bereits Geschichte. Lena aus Smolensk zum Beispiel, die Putin verehrt und von einer Karriere in der Politik träumt. Die Kreml-kritische Journalistin Wera, die sich nach mehr Demokratie sehnt. Alexander, der im Rollstuhl sitzt und darauf hofft, irgendwann ein selbständiges Leben führen zu können. Sie alle eint, dass sie zur »Generation Putin« gehören, dass sie Kinder des derzeitigen Systems sind.

Diese Generation der nach 1991 Geborenen wuchs in politisch wie ökonomisch turbulente Zeiten hinein. Viele junge Russen sind heute hin- und hergerissen zwischen Ost und West, der Sehnsucht nach einem starken Führer und dem Traum von einem anderen, freieren Leben. In ihren Geschichten spiegelt sich die dramatische Entwicklung Russlands in den letzten 25 Jahren, vom Ende der sowjetischen Weltmacht bis zum Wiedererstarken unter Wladimir Putin.

SPIEGEL-ONLINE-Korrespondent Benjamin Bidder zeichnet in seinen eindrucksvollen Porträts ein überraschend anderes Bild des heutigen Russlands und zeigt, wie eine junge Generation sich aufmacht, ihr Land zu verändern.

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Seitenzahl: 356

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Zum Buch

Marat plagt unstillbares Fernweh. Lena träumt von einer Karriere in der Politik und wünscht sich, dass Putin niemals stürzt. Die junge Dissidentin Wera sucht in Kiew einen Ausweg aus dem Dilemma der russischen Demokraten. Alexander sitzt im Rollstuhl und kämpft für ein selbständiges Leben. Sie alle gehören zur »Generation Putin«, zu den jungen Männern und Frauen, die Gorbatschow nur aus dem Geschichtsunterricht und die Sowjetunion nur aus den Erzählungen ihrer Eltern kennen. Wie viele junge Russen sind sie hin- und hergerissen, zwischen Ost und West, zwischen der Sehnsucht nach einem starken Führer und dem Traum von einem anderen, einem freien Leben.

Benjamin Bidder ist ein eindrucksvolles Porträt der »Generation Putin« gelungen, Er erzählt ihre Geschichten – und schildert so gleichzeitig die dramatische Entwicklung Russlands und der ehemaligen Sowjetrepubliken in den letzten 25 Jahren.

Zum Autor

Benjamin Bidder, geboren 1981, hat nach einem Jahr Zivildienst in Russland Volkswirtschaftslehre in Bonn, Mannheim und Sankt Petersburg studiert. Er ist Absolvent der studienbegleitenden Journalistenausbildung des Institutes zur Förderung publizistischen Nachwuchses (ifp). Benjamin Bidder ist seit 2009 beim SPIEGEL, zunächst als Redakteur im Politik-Ressort von SPIEGEL ONLINE. Von 2009 bis 2016 war er Moskau-Korrespondent. Im September 2016 kehrte er in die Redaktion von SPIEGEL ONLINE zurück. Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Hamburg.

Benjamin Bidder

Generation Putin

Das neue Russland verstehen

Deutsche Verlags-Anstalt

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Copyright © 2016 Deutsche Verlags-Anstalt, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 Münchenund SPIEGEL-Verlag, Hamburg, Ericusspitze 1, 20457 HamburgAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenUmschlagmotiv: Vesela/shutterstockTypografie und Satz: DVA/Andrea MogwitzGesetzt aus der Caecilia LT ProISBN 978-3-641-19748-3V002
www.dva.de

Inhalt

Vorwort

1. Sturzgeburt

2. Himmelsstürmer

3. Junge Garde

4. Hinter dem Palast steht noch ein Haus

5. Freiheit wählen

6. Kriegskind

7. Zarenkrönung

8. Aufstand

9. Konterrevolution

10. Stolz und Vorurteil

11. Gesellschaft und Jugend

12. Lena verdrängt

13. Alexander will ausziehen

14. Diana wartet ab

15. Taissa träumt neu

16. Wera flieht

17. Marat bleibt

Bildnachweis

Anregungen und Kommentare

»Er ging um 12 Uhr mittags hinaus in Richtung des Bahnhofs. Niemand wusste, wohin er ging, und er selbst wusste es auch nicht …«

sowjetischer Kultfilm Igla, 1988

Vorwort

Meine Erinnerung an die Wende ist tagesschaublau. Ich sitze mit meinen Eltern vor dem Fernseher und sehe die Nachrichten. Über den Bildschirm flimmern Aufnahmen von Menschen, die mit Hammer und Meißel Löcher in eine Mauer schlagen. Ich verstehe nicht die Bedeutung dieser Bilder, aber ich verstehe den Ausdruck in den Gesichtern meiner Eltern.

Ich bin 1981 in Westdeutschland geboren, in der Nähe der damaligen Bundeshauptstadt Bonn. Niemand in unserer Familie hat sich vor dem Fall der Berliner Mauer vorstellen können, Russland könnte eines Tages ein ziemlich zentraler Punkt in unserem Leben werden. Damals hat unsere Welt fast über Nacht eine lange vergessene Himmelsrichtung wiederbekommen, neben Norden, Süden und Westen den Osten. Wenige Monate nach dem Fall der Mauer brachen meine Eltern gemeinsam mit meinen Schwestern, unserer amerikanischen Austauschschülerin Kristin und mir auf zu einem Besuch in den Teil Deutschlands, der damals noch DDR war. Kam uns ein Trupp sowjetischer Soldaten entgegen, duckte Kristin sich instinktiv weg.

Ein gutes Jahrzehnt später habe ich meinen Zivildienst in Sankt Petersburg begonnen. Damals fuhr ich das erste Mal in einem ratternden Nachtzug nach Moskau. Mein erstes Bild, das ich in der russischen Hauptstadt schoss, zeigt schwarze, rissige Füße. Auf dem Bahnhofsvorplatz schliefen Hunderte Obdachlose mit nackten Sohlen. Moskau war damals – jenseits der wenigen Einkaufsmeilen der Superreichen – in weiten Teilen eine arme Stadt.

Das war im Jahr 2002. Heute fühlt sich das an wie eine Erinnerung aus grauer Vorzeit. In Moskau sind gläserne Hochhaustürme in den Himmel gewachsen. In der U-Bahn gibt es kostenloses WLAN. Nach Sankt Petersburg verkehren Schnellzüge des gleichen Typs wie die deutschen ICE. Russland hat einen unübersehbaren Satz in die Moderne gemacht. Genauso unverkennbar ist aber auch, dass der Wandel in den Köpfen der Menschen das rasante Tempo nicht mitgemacht hat.

Während ich diese Zeilen schreibe, haben uns die Schatten des überwunden geglaubten Kalten Krieges eingeholt. Die Gräben zwischen Ost und West werden wieder tiefer. Auf russischer Seite ist die Entfremdung vom Westen auch bei jenen zu spüren, die den Kommunismus nicht mehr bewusst erlebt haben. Die Ursachen dafür sind vielfältig: Manche Marotte und fixe Idee der Russen, die gegen das Ausland zielende russische Propaganda, aber auch Fehler des Westens, der das Ende des Kalten Krieges als endgültigen Sieg verstanden und viele Russen so vor den Kopf gestoßen hat.

Was wir Wende nennen, hat vor 25 Jahren für mich das Tor aufgestoßen zu einem faszinierenden Kosmos. Der Osten ist ein Teil meines Lebens geworden. Mein Sohn hört auf den Namen Juri, meine Tochter heißt Alexandra, wir nennen sie Sascha. Beide sind in Moskau geboren, und wenn wir in Deutschland sind, haben sie Sehnsucht nach ihren Moskauer Kindergärtnerinnen Nastja und Julija.

Ich wünsche mir, dass meine Kinder in einer Welt aufwachsen, die nicht durch neue Mauern getrennt wird, nicht an Landesgrenzen und nicht in Köpfen.

In den vergangenen Jahren ist der Begriff »Russlandversteher« in Verruf geraten. Wer ihn benutzt, meint ihn als Beleidigung. Das ist eine verhängnisvolle Entwicklung. Wer nichts verstehen will, ist unfähig zu Verständigung und schätzt darüber hinaus auch Risiken und Gefahren falsch ein. Wer nicht versteht, was in Russland passiert, wird aus Furcht auf Abgrenzung setzen, wo kluge Annäherung richtig wäre.

Moskau, im Frühjahr 2016

1. Sturzgeburt

»Adieu, unsere rote Flagge. Du warst uns Feind und Bruder.«

Dieses Buch handelt von jungen Menschen, aber es beginnt mit einem älteren Herrn. Sein Scheitern hat dem Land die Konturen gegeben, in dem die Kinder des neuen Russland aufwachsen.

Am Abend des 25. Dezember 1991 schaltet das Staatsfernsehen der Sowjetunion zu einer Sondersendung in den Kreml. Arbeitszimmer Nummer 4 ist eine detailgetreue Nachbildung des echten Büros des Staatsoberhaupts der UdSSR, aber geräumiger und für Auftritte im TV besser geeignet. Die Wände sind bespannt mit grünem Damast, das Pult mit den Telefonen eine Attrappe. Michail Gorbatschow, 60 Jahre alt, nimmt hinter dem schmucklosen Schreibtisch Platz, der erste und letzte Präsident der Sowjetunion, ein Reformer, der selbst vom Wandel überrollt wurde.

Kein Jubel liegt über Moskaus Rotem Platz, als die Sowjetunion an jenem Abend ihren letzten Atemzug tut, kein Protest, nur nasskalte Winterluft und wenig Schnee. In Moskau regiert der Mangel. Fleisch ist in mehr als 350 Geschäften ausgegangen, melden die Zeitungen, Zucker wird rationiert. Die Frachtflugzeuge, die sonst Nachschub in die Hauptstadt bringen, bleiben am Boden, es fehlt Kerosin. An Moskaus Flughafen Scheremetjewo landen Maschinen aus den USA, sie haben Nahrungsrationen der US-Armee geladen, die übrig geblieben sind vom Golfkrieg.

Die alte Planwirtschaft ist zusammengebrochen, noch bevor die neue Marktwirtschaft auch nur annähernd zu funktionieren begonnen hat. Der Ölpreis ist seit dem Beginn der achtziger Jahre um zwei Drittel eingebrochen, die Sowjetunion hat so eine ihrer wichtigsten Einnahmequellen verloren. »Fleisch erreicht Odessa« ist in jenen Tagen eine Nachricht im Massenblatt Komsomolskaja Prawda. »Kein Brot in Krasnojarsk« schreibt die Moskauer Zeitung Prawda. Ein bitterer Witz macht unter Moskauern die Runde: Steht ein vergesslicher Herr mit leerer Einkaufstasche vor dem Geschäft und fragt sich, ob er gerade im Begriff war, den Laden zu betreten, oder ob er bereits auf dem Rückweg von seinem Einkauf ist.

In Kreml-Büro Nummer 4 setzt Gorbatschow an zu seiner letzten Rede an die »lieben Landsleute«. »Das Schicksal hat es so gewollt, dass ich das Steuer des Landes übernahm, als es um den Staat bereits schlecht bestellt war«, sagt er. Als »leader without a country« hat ihn das Time-Magazin zwei Tage zuvor bezeichnet, als Herrscher ohne Land. Gorbatschows Macht reicht kaum noch über die roten Mauern des Kreml hinaus. Die Präsidenten der Teilrepubliken haben ihn kaltgestellt, angeführt von seinem Rivalen Boris Jelzin, der seit Juni 1991 den Titel »Präsident der Russischen Sowjetrepublik« trägt. Jelzin wartet an diesem Abend ungeduldig darauf, Gorbatschows Platz zu übernehmen – ebenso wie den Tschemodantschik genannten Koffer, dessen Besitzer einen Nuklearschlag autorisieren kann.

Gorbatschow verliest eine Erklärung, die Rücktritt, Rechtfertigung und Mahnung zugleich ist:

Von allem haben wir reichlich: Land, Öl und Gas, und auch mit Verstand und Talent hat uns Gott bedacht, doch leben wir viel schlechter als die entwickelten Länder, bleiben hinter ihnen immer weiter zurück. Der Grund dafür ist klar, die Gesellschaft erstickte im bürokratischen Kommandosystem. Sie war verdammt, einer Ideologie zu dienen und die schreckliche Last des Wettrüstens zu tragen. Ich habe verstanden, dass es in diesem Land schwierig, ja sogar riskant sein würde, Reformen zu wagen. Die Gesellschaft hat die Freiheit bekommen. Das ist die wichtigste Errungenschaft, auch wenn wir dies bisher noch nicht realisieren konnten. Wir haben nicht gelernt, mit der Freiheit umzugehen.

Gorbatschow vergleicht sein Schicksal mit den Helden eines sowjetischen Kinodramas: Die Crew erzählt die Geschichte einer Flugzeugbesatzung, die am Boden mitten in ein verheerendes Erdbeben gerät. Im Film sagt der Pilot: »Starten können wir nicht, am Boden bleiben auch nicht. Also starten wir.« Als Gorbatschow den grünen Ordner mit dem Text seiner Rede zuklappt, tritt mit ihm auch die Sowjetunion ab von der Bühne der Weltgeschichte. Innerhalb weniger Stunden erkennen die USA die Unabhängigkeit der Ukraine an. Bei einem Referendum wenige Wochen zuvor hatten sich mehr als 90 Prozent der Ukrainer für die Unabhängigkeit ausgesprochen, auf der Halbinsel Krim waren 54 Prozent dafür.

Am selben Abend nimmt Jelzin das Kontrollsystem der strategischen Raketenstreitkräfte Moskaus in Empfang. Zwei schweigsame Offiziere haben Gorbatschow jahrelang auf Schritt und Tritt mit dem Koffer begleitet. Sie wachten darüber, dass der Tschemodantschik stets in seiner Reichweite war. Von diesem Tag an dienen sie einem neuen Herrn: Das Oberkommando über ein Arsenal von 27000 Nuklearsprengköpfen geht an Jelzin über. Auf der anderen Seite des Globus dreht die Redaktion des Fachblatts Bulletin of the Atomic Scientists seine Doomsday Clock auf 11:43 Uhr zurück. Die Uhr ist eine Mahnung. Sie soll der Weltöffentlichkeit die Gefahr eines Nuklearkriegs vor Augen führen. Als Gorbatschow 1985 in Moskau an die Macht kam, standen die Zeiger auf drei Minuten vor zwölf.

In Moskau steigen Punkt 19:32 Uhr zwei Arbeiter auf das Dach des Kreml. Sie holen die rote Flagge vom Fahnenmast, nach mehr als sieben Jahrzehnten. Ein neues Banner wird über der goldenen Kuppel des Präsidentenpalasts gehisst, eine Trikolore in Weiß, Blau und Rot. Fast beiläufig wird die Welt so Zeuge der Wiedergeburt der neuen, alten Großmacht Russland. Das Jahr 1991 markiert damit auch den Schlusspunkt des kommunistischen Experiments. Das Gleichgewicht des nuklearen Schreckens ist Vergangenheit, mit ihm der Ost-West-Konflikt, und zwar für immer, davon ist damals nicht nur Gorbatschow ganz fest überzeugt.

Gorbatschow war angetreten mit dem Versprechen, die Sowjetunion als Weltmacht ins 21. Jahrhundert zu führen. In das kollektive Gedächtnis der russischen Gesellschaft aber geht er ein als der Mann, der die UdSSR zu Grabe getragen hat. In Russland schlägt ihm deshalb zum Teil offener Hass entgegen, im Westen dagegen wird er auch dafür verehrt. Beides sind im Grunde Missverständnisse – die Ressentiments daheim genauso wie der »Gorbi«-Kult im Ausland. Gorbatschow wollte den Kalten Krieg beenden, auch das Wettrüsten und die Gefahr eines Atomkriegs beseitigen. Aber nicht die Sowjetunion.

Der im Westen für seine Perestroika-Politik geachtete Gorbatschow hatte bis zuletzt an einem Vertrag für eine neue Union gearbeitet. Er wartete auf Unterhändler aus der Ukraine, die aber nie kamen. Gorbatschows Wut darüber kann man noch ein Vierteljahrhundert später spüren, wenn er Putins Krim-Annexion verteidigt und die angebliche chronische Unzuverlässigkeit der Ukrainer geißelt.

Die Umrisse des neuen Russland wurden auch geprägt durch Gorbatschows Rivalität zu Jelzin. Gorbatschow hoffte bis zu seinem Rücktritt auf eine Erneuerung der Sowjetunion als Bundesstaat, der Schritt für Schritt demokratischer werden sollte. Vielleicht hätte er mehr Erfolg gehabt, hätte ihm Jelzin nicht so unversöhnlich gegenübergestanden. Gorbatschow hatte seinen Widersacher erst als Moskaus Parteichef eingesetzt, ihn 1987 aber wieder demontieren lassen. Jelzin wurde aus einem Moskauer Krankenhausbett geholt, mit Medikamenten vollgestopft und vor dem versammelten Zentralkomitee der Kommunistischen Partei vier Stunden lang gedemütigt. Er vergaß das nie. In der Folge strebte er einen lockeren Staatenbund an, ohne mächtige Zentralregierung, ohne Gorbatschow. Nach Gorbatschows Abschied aus dem Kreml trafen die beiden Rivalen nie wieder persönlich aufeinander.

Der Vertrag, mit dem Jelzin das Schicksal seines Widersachers und der Sowjetunion gleichermaßen besiegelte, war kurios zustande gekommen. Jelzin hatte das Papier Anfang Dezember 1991 ohne Wissen Gorbatschows mit den Präsidenten Weißrusslands und der Ukraine ausgehandelt. Da ihre Länder 1922 die Sowjetunion gegründet hatten, waren die drei der Auffassung, sie hätten auch das Recht, sie wieder aufzulösen.

Sie trafen sich dafür im äußersten Zipfel des sowjetischen Machtbereichs. Der staatliche Jagdhof Wiskuli liegt an der Westgrenze Weißrusslands. Er ist umgeben von der Belowescher Heide, durch diesen dichten Urwald streifen noch heute europäische Bisons, acht Kilometer weiter im Westen liegt schon Polen. Das Treffen der Republikpräsidenten war improvisiert und wurde geheim gehalten. Jelzin fürchtete, ein Angriff durch kommunistische Hardliner könnte ihr Vorhaben vereiteln oder Gorbatschow Spezialeinheiten des sowjetischen Geheimdienstes KGB in Marsch setzen.

Der erste Entwurf der »Belowescher Vereinbarung« wurde nachts handschriftlich notiert. Am Morgen landete er im Mülleimer, eine Putzfrau hatte ihn für Abfall gehalten. An eine Schreibmaschine hatte niemand gedacht, die eilig herbeigerufene Sekretärin eines nahe gelegenen Nationalparks tippte das Abkommen auf einer DDR-Maschine der Marke Optima, die sie aus ihrem Büro mitgebracht hatte. Jewgenija Pateitschuk wurde später in ihrem weißrussischen Heimatdorf Kamenjuki bekannt als »die Frau, die unsere Sowjetunion beerdigt hat«. Zwei Faxgeräte hielten als Kopierer her. Als die drei Präsidenten das Abkommen über die Gründung der »Gemeinschaft unabhängiger Staaten« feierlich unterzeichnen wollten, fiel ihnen auf, dass sie keinen Stift dabei hatten. Sie liehen sich den Kugelschreiber eines Journalisten.

In Russland bleibt das Verhältnis zu diesen Ereignissen widersprüchlich. 1991 blickte das Land mit Hoffnung auf Marktwirtschaft, Demokratie und den Westen. Doch die neue Zeit brachte neben Freiheit auch Jahre der Not. »Wenn Sie an einer Schlange vorbeikommen, stellen Sie sich an und schätzen Sie sich glücklich, irgendetwas Lohnendes wird es schon geben«, war einer der sarkastischen Ratschläge, die das Nachrichtenprogramm Westi Ende 1991 seinen Zuschauern gab. Und während in Berlin eine Mauer fiel, entstanden weiter im Osten andere neu: Millionen Russen fanden sich über Nacht jenseits der Grenzen des neuen Russland wieder, im Baltikum, in Zentralasien und anderen Nachbarländern.

Die rund 1,8 Millionen Kinder, die 1991 in Russland das Licht einer sich verändernden Welt erblickten, bekamen von all dem noch nichts mit. Sie wurden geboren, als mit der UdSSR das Land ihrer Eltern starb. Ihre Heimat Russland ist ein eigentümliches Gebilde, Produkt eines Zerfalls. Dieses Buch erzählt ihre Geschichten.

Lena aus der westrussischen Provinzstadt Smolensk verehrt Putin und träumt von einer Politikerkarriere. Die junge Dissidentin Wera steht auf der anderen Seite der Barrikaden, sie will ihr Land von unten verändern – und verzweifelt bei dem Versuch. Marat ist ein Moskauer Großstadtabenteurer mit unstillbarem Fernweh, Taissa eine modevernarrte Tschetschenin, Diana eine weltgewandte Patriotin aus der Schwarzmeerstadt Sotschi. Alexander sitzt im Rollstuhl und träumt vom Auszug aus seinem staatlichen Heim.

In ihren Lebensläufen spiegelt sich die Geschichte des größten Flächenstaates der Erde im vergangenen Vierteljahrhundert: Not und Wirren in den neunziger Jahren, die erbittert geführten Kriege in der abtrünnigen Kaukasusrepublik Tschetschenien, Wladimir Putins Aufstieg und der Wirtschaftsboom, das Aufkommen der Protestbewegung gegen Putins Rückkehr auf den Präsidentensessel und ihr Scheitern, der Krieg in der Ukraine und die zunehmende Konfrontation mit dem Westen. Für die 1991 Geborenen ist Michail Gorbatschow eine Gestalt aus den Nebeln der Vergangenheit, ihre Erinnerung an die Präsidentschaft Jelzins nur schemenhaft. Sie sind aufgewachsen in dem Russland, das Jelzins Nachfolger Wladimir Putin seit seinem Amtsantritt in der Neujahrsnacht 2000 geformt hat. Sie sind die »Generation Putin«.

Als die rote Fahne am Dezemberabend 1991 über dem Kreml eingeholt wurde, löste das ambivalente Gefühle aus. Diesen Zwiespalt hat der Schriftsteller Jewgenij Jewtuschenko, Enkel eines unter Stalin verhafteten »Volksfeinds« und selbst vom KGB »antisowjetischer Tätigkeit« bezichtigt, in Gedichtform gefasst:

Adieu, unsere rote Flagge. Du warst uns Feind und Bruder. Du warst Kamerad im Schützengraben, Hoffnung ganz Europas, aber auch der Rote Vorhang, der den Gulag hinter sich verbarg.

Die Kinder des neuen Russland sind mit anderen Symbolen groß geworden. Sie haben South Park und die Simpsons geschaut, anarchische Zeichentrickserien aus den USA. Junge Russen nutzen iPads, lieben Smartphones, sind täglich im Internet unterwegs. Die Hoffnung war lange, die Grenzen zwischen Ost und West würden mit der Zeit verschwimmen. Darauf folgte Ernüchterung, weil Russland und der Westen nun wieder auseinanderdriften.

In der Zeit von Michail Gorbatschows Perestroika war ein Film besonders populär, sein Titel ist Igla – Die Nadel. Der Sänger Wiktor Zoi spielt darin die Hauptrolle. Zoi war der größte Rockstar der Sowjetunion, eine Art russischer Jim Morrison. Zu Beginn des Films läuft er durch eine verlassene Gasse. Aus dem Off erklingt die Stimme eines Erzählers: »Er ging um 12 Uhr mittags hinaus in Richtung des Bahnhofs. Niemand wusste, wohin er ging, und er selbst wusste es auch nicht«. Die Szene ist eine treffende Metapher für 1991, den Aufbruch ins Ungewisse. Niemand vermochte genau zu sagen, wohin sich Russland nun denn genau aufgemacht hatte, und bis zum heutigen Tag wissen es noch nicht einmal die Russen selbst.

2. Himmelsstürmer

Dachkletterer Marat, Moskau: »Ich will eine Familie, ein Auto. Das Fernsehen regt mich auf. Je weniger Zeit ich für Nachrichten habe, desto ruhiger werde ich. Ist das Selbstbetrug? Natürlich.«

»In solchen Momenten spüre ich ein Gefühl der Freiheit: Niemand kann mich berühren. Niemand sagt mir, was gut ist und was schlecht.«

Bevor der Morgen über dem Kreml graut, macht sich Marat Dupri daran, Peter den Großen zu bezwingen. Marat, geboren am 20. Oktober 1991, braune Locken, trägt eine grünkarierte Jacke und blaue Handschuhe gegen den eisigen Wind. Er steht am Ufer der Moskwa, vor ihm ragt das Denkmal in den Nachthimmel, mit dem Moskau den Zaren ehrt, ein 98 Meter hoher Koloss aus dunklem Stahl. Marat und drei Gefährten schleichen sich an Videokameras und Wachleuten vorbei, es ist der frühe Morgen des 10. September 2011. Die jungen Männer nennen sich Roofer, sie suchen den besten Ausblick und den größten Nervenkitzel, deswegen erklimmen sie Moskaus schwerbewachte Dächer und Türme. Gemeinsam klettern sie die rostigen Sprossen am Rücken des Denkmals empor.

Die Russen nennen Peter I. »den Großen«, weil dieser sein Land veränderte wie wenige andere. Er wollte Russland ein europäisches Antlitz geben, tat dies aber mit rücksichtsloser Brutalität und ließ Aufstände hungernder Bauern erbarmungslos niederschlagen. Beim Bau seiner neuen Hauptstadt Sankt Petersburg starben Zehntausende Zwangsarbeiter.

Marat Dupri ist ein Kind des Umbruchs. Seine Eltern haben ihm von damals erzählt, von Lebensmittelkarten und davon, dass sie manchmal nicht wussten, was sie am nächsten Tag essen sollten. Vom Wasser, das durch die Decke des Moskauer Krankenhauses tropfte, in dem seine Mutter entband. Gerade einmal zwei Monate war es da her, dass Panzer durch Moskau gerollt waren, dass Hardliner der Kommunistischen Partei und aus den Reihen des KGB im August 1991 gegen den Reformer Michail Gorbatschow geputscht hatten. »Ich kann nicht sagen, dass meine Kindheit überschattet gewesen wäre von dem, was war«, erzählt Marat. »Ich habe keine Erinnerungen an politische Probleme, und die wirtschaftlichen haben meine Eltern so gut sie konnten von mir ferngehalten. Ich habe für Kaugummi gespart und bin Fahrrad gefahren.«

Marat setzt sich auf die bronzenen Schultern des stählernen Zaren. In der Ferne leuchten die roten Sterne der Kreml-Türme, Erinnerungen an das vergangene kommunistische Weltreich. Rechter Hand liegt das graue »Haus am Ufer«, Ende der zwanziger Jahre gebaut für Stalins Elite, die in den dreißiger Jahren selbst Opfer seines Terrors wurde. Von 2745 Bewohnern wurden 887 verhaftet, die Hälfte davon erschossen.

Marat wartet auf den Sonnenaufgang. Die Stadt schläft noch. Das Leben ist wie eingefroren. Es ist einer dieser Momente, in denen er sich fühlt »wie der freieste Mensch auf der Welt«, wird er hinterher sagen.

Seit den Zaren gilt eine ungeschriebene Regel, sie lautet: Russland wird von oben reformiert. Stalin verkaufte die Ernte der Bauern, um Geld für Fabriken und die Industrialisierung zu haben. Er ließ allein in der Ukraine 3,5 Millionen Menschen verhungern. Gorbatschows Perestroika gab dem Land eine Freiheit, mit der es nichts anzufangen vermochte. Damals zumindest noch nicht. Wladimir Putin entmachtete die Oligarchen und verordnete den Russen den Staatskapitalismus, wofür sie ihm dankbar waren, denn er brachte bescheidenen Wohlstand, wenn auch keinen Einfluss auf die Politik.

Marat und seine Altersgenossen waren keine zehn Jahre alt, als Putin in der Neujahrsnacht 2000 Präsident wurde. Nie zuvor ist eine Generation Russen so frei aufgewachsen wie diese. Den Sozialismus kennt sie nur aus Schulbüchern. Massenkult und Obrigkeitshörigkeit der Kommunisten sind ihr fremd. Als Boris Jelzin 1993 Panzer auf das Parlament feuern und eine neue Verfassung verabschieden ließ, die dem Präsidenten nahezu uneingeschränkte Macht gewährte, trugen sie noch Windeln. Als ihre Eltern in der Krise 1998 ihr Erspartes verloren, waren sie gerade eingeschult worden.

Viele der jungen Russen sind wie Marat inzwischen der Armut entwachsen und gehören zur neuen Mittelschicht. Ihre Erinnerungen an die Entbehrungen früherer Jahre sind verblasst wie andere Eindrücke aus Kindertagen.

Das Staatsfernsehen müht sich, den Russen weiter Dankbarkeit für die Stabilität unter Putin einzubläuen. Die Jugend aber sieht kaum noch fern. Sie bewegt sich in den freieren Welten des Internets, sie informiert sich über Blogs, Facebook und Twitter. Zum ersten Mal seit Generationen kann die Jugend in Russland der Propaganda entkommen und dem eigenen inneren Kompass folgen. Wohin führt er sie?

Putins Kindern kann niemand Ideale vorschreiben, sie können selbst wählen, so unterschiedlich sie auch sein mögen. Manche träumen von Demokratie und freier Presse. Von einer Karriere als Politikerin oder Modejournalistin. Von einem selbstbestimmten Leben. Von Respekt durch das Ausland. Andere hoffen auch auf die Auferstehung ihrer Heimat als mächtiges Imperium, von einem nationalistischen Russland. Diese Generation hat viele Facetten, und darin hat sie mit Gleichaltrigen im Westen mehr gemein als mit den eigenen Eltern. Offen ist, ob sie auch die Kraft hat, mit dem seit den Zaren geltenden Paradigma zu brechen und das Land von unten zu verändern. Und, wichtiger noch: Will sie das überhaupt?

Skywalker

Es gibt Entwicklungen, die werden unverhofft aus ihrem Gegenteil geboren. Manchmal bringt Trägheit Bewegung hervor, Stillstand Aufbruch, Sicherheit eine Sehnsucht nach Risiko. Bei Marat war es die Langeweile. Er wuchs auf in dem Bewusstsein, ein kränkliches Kind zu sein. So sagten es Ärzte, die bei ihm eine Herzschwäche diagnostizierten, Vitaminmangel und eine verzögerte Entwicklung. Bloß keinen Sport treiben, war ihr Rat, ihm schien das eine Strafe für das ganze Leben. Marat ging ins Kino, bis ihn die Filme anödeten. Er ließ sich durch das Internet treiben, auf der Suche nach Ablenkung.

Marat durchstöberte auf den Seiten des sozialen Netzwerks VK.com – Russlands Facebook – Gruppen, in denen sich Anhänger unterschiedlicher Subkulturen austauschten. Roofen schien ihm auch deshalb interessant, weil die Szene in Moskau noch überschaubar war, kein Massenphänomen.

»Wir kennen uns alle untereinander«, sagt Marat. »Unsere Tusowka, unsere Clique ist klein.« Marat fand über das Internet einen Roofer, der zu einer Art Mentor wurde. Der nahm ihn mit auf sein erstes Dach, einen der neuen Wolkenkratzer in Moskau aus Glas und Stahl. Marat erklomm 48 Stockwerke zu Fuß. »Danach war ich müde, aber glücklich. Roofing ist eine Art Therapie für mich und hilft mir, gesund zu bleiben. Es lässt mein Herz höher und stärker schlagen.« Er habe damals eine Lektion fürs Leben gelernt: »Such, was dich besser macht.«

Es gibt eine Art Kodex der Moskauer Roofer. Sei nüchtern! So lautet das erste Gebot. Alkohol auf dem Dach ist gefährlich und verwässert das wahre Glücksgefühl. Sei ein guter Bürger! Marat grüßt freundlich, wenn er zufällig Bewohnern der Häuser begegnet, auf deren Dächer er steigt. Sei verschwiegen! Kein Roofer, der wirklich etwas auf sich hält, postet im Internet Wegbeschreibungen zu begehrten Aussichtspunkten, die Tusowka soll klein bleiben. Die es doch tun, nennt Marat verächtlich »Ratten«.

Roofer fordern die in Moskau allgegenwärtigen Wachmannschaften heraus. Manchmal, wenn Marat besonders geschützte Gebäude betritt, setzen ihn die Polizisten oder Männer der Geheimdienste FSB und FSO fest. In Sankt Petersburg ist er auf das Dach des alten Generalstabsgebäudes gestiegen. Ein Soldat zielte mit dem Gewehr auf ihn. Marat wurde gefasst und abgeführt, die Arme auf den Rücken gedreht. Er kam mit einer Geldstrafe davon. Marat studiert Jura an der Universität und weiß, »welche Paragraphen sie mir tatsächlich anhängen können und mit welchen sie mir bloß Angst machen«.

Netzrebellen

Das demonstrative Einzelgängertum, das die Dachkletterer zelebrieren, wird allmählich zu einem Massenphänomen. In Moskau wächst die Zahl jener, die – auf die eine oder andere Weise – der Staatsmacht aufs Dach steigen und ein Hobby daraus machen, Grenzen zu überschreiten. Sie dringen in verlassene Bunker vor, die unter Ministerien gegraben wurden, für den Fall eines Atomkriegs. Sie brechen in alte Flugzeugfabriken ein oder hissen eine Totenkopf-Flagge über einem Büro der Putin-Partei »Einiges Russland«. Die Kunde von ihren Aktionen verbreiten sie oft im Internet, eines der in der Szene beliebten Blogs heißt »Nein zu Verboten«. Ein Nutzer veröffentlicht dort Fotos aus einer Lagerhalle der russischen Streitkräfte. Unbemerkt spazierte er zwischen Lastwagen mit Radarsystemen und sogar S-300-Luftabwehrraketen. »Russland ist eine bemerkenswerte Mischung aus militärischer Macht und Schlamperei. Bis zum nächsten Treffen, Freunde!«, schreibt er.

Viele der Blog-Berichte greift wiederum das Nachrichtenportal Ridus auf. Die 2011 gegründete Seite bezeichnet sich selbst als Plattform für »Bürgerjournalismus«. Jeder kann mitschreiben. Ridus lädt regelmäßig zu Workshops ein. Dann stellt sich der Chefredakteur des Magazins Russischer Reporter Fragen der angehenden Bürgerjournalisten, ebenso wie die Russland-Chefin von Facebook.

Die Redakteure von Ridus sitzen in einem Großraumbüro, auf den Naturholztischen Laptops, an den Wänden Kritzeleien. Eine davon zeigt das Logo des vom Kreml kontrollierten Fernsehsenders NTW, darüber schwebt die Zeichnung eines Haufens Exkremente. Im Jahr 2001 hatte Putin den regierungskritischen Kanal durch den Gazprom-Konzern übernehmen lassen. Seitdem sendet NTW häufig Propagandafilme auf Order des Kreml. Die Redaktion von Ridus organisiert das Gegenprogramm: Auf ihrer Webseite kann jeder Nachrichten, Meinungen, Fotos veröffentlichen, und Ridus berichtet von den Demonstrationen der Opposition. Per Smartphone senden sie live über das Internet und lassen Drohnen mit Kameras aufsteigen. Das Ziel ist, den Lesern einen möglichst genauen Eindruck von der tatsächlichen Teilnehmerzahl zu geben, die von den Organisatoren immer viel zu hoch angegeben wird – und von der Polizei viel zu gering.

Eine Plattform wie Ridus wäre undenkbar ohne die in Russland sprunghaft gestiegene Verbreitung des Internets. Im Jahr 2000 waren gerade einmal drei Millionen Russen online, ein Jahrzehnt später sind es bereits knapp hundert Millionen. Oft ermöglicht das Netz, die Machtverhältnisse auf den Kopf zu stellen. Ein einfacher Blogger kann dort mehr Menschen erreichen als ein großer Verlag oder sogar ein Fernsehsender – vorausgesetzt, er trifft einen Ton, der dem Publikum gefällt.

Gründer von Ridus ist ein junger Moskauer Geschäftsmann. Ilja Warlamow, Jahrgang 1984, gehört zu den Top Fünf der bekanntesten Blogger des Landes und hat bei Twitter260000 Abonnenten. Mit Anfang zwanzig hat er seine ersten Dollar-Millionen umgesetzt. In seinem Büro steht ein Apple-Computer, an den weißverputzten Wänden hängt moderne russische Kunst. Auf dem Computermonitor zeigt Warlamow, Chef eines Start-ups für Informationstechnologien in Moskau, seinen Kunden aufwendige dreidimensionale Architekturmodelle.

Warlamow hat beispielsweise dem Olympiastadion in Sotschi Konturen verliehen. Es war einer von vielen Staatsaufträgen. Warlamow ist ein Gewinner der Putin-Herrschaft. Im Urlaub fährt er gern ins westliche Ausland. In Interviews windet er sich, um kein böses Wort über Putin zu verlieren. Es könnte seinem Geschäft schaden.

Auf seinem Blog aber legt sich Warlamow mit den Behörden an. Er dokumentiert dort Moskauer Bausünden und Beamtenirrsinn. Beispielsweise hatte Bürgermeister Sergej Sobjanin die Schaffung von 80000 neuen Parkplätzen in der von Staus geplagten Hauptstadt angeordnet. Seine Beamten meldeten bald Planerfüllung, allerdings änderte sich nichts an der angespannten Parkplatzsituation: Sie hatten einfach auf Innenhöfen mit weißer Farbe zusätzliche Stellplätze aufgezeichnet. Ob die für Autos tatsächlich zu erreichen sind, war für die Statistik nebensächlich.

Warlamow hat Fotos davon gesammelt und auf seinem Blog veröffentlicht. Mal versperrt ein Blumentopf die neuen Parkplätze, mal ein Baum. Manche Parklücke ist gerade einmal groß genug für einen Kinderwagen. Die Stadtverwaltung ließ auch Parkplätze für Behinderte ausweisen, die allerdings nicht einmal Menschen ohne Handicap nutzen könnten, weil ein kleiner Zaun die Zufahrt versperrt. Warlamow hat angesichts dieses Irrsinns eine neue Ehrung ins Leben gerufen, den »ersten Preis für Beamten-Idiotismus«, wie er es nennt. Der »Gläserne Bolzen« wird bei einer Gala in einer zum hippen »Flacon Space« umgebauten ehemaligen Kristallfabrik im Norden Moskaus verliehen. Früher hätte man den Behördenwahnsinn nur kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen können, sagt Warlamow. Jetzt will er etwas ändern, mit Humor.

Großmacht im Cyberspace

Dmitrij Medwedew zeigt sich während seiner Zeit als Präsident (2008 – 2012) als begeisterter Internetnutzer und veröffentlicht gelegentlich Einträge auf seinem persönlichen Blog. Medwedew träumt davon, Amerikas Hegemonie im Cyberspace zu brechen. Das klingt vermessen, alle Marktführer der Internetwirtschaft stammen aus den USA. Allein der Marktwert der US-Konzerne Apple und Microsoft summiert sich auf rund eine Billion Dollar, das ist mehr als die Jahresleistung der gesamten russischen Volkswirtschaft.

Im Internet aber kommt Russland durchaus der Status eines talentierten Herausforderers der IT-Supermacht USA zu. Von den 20 populärsten Webseiten in Europa stammen Marktforschern zufolge 16 aus den USA, keine aus Deutschland, keine aus Frankreich, keine aus Großbritannien – aber vier aus Russland, darunter zwei soziale Netzwerke, die in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion besonders verbreitet sind und auch von vielen Russlanddeutschen genutzt werden.

Der IT-Boom ist der bemerkenswerteste Erfolg der russischen Wirtschaft seit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Wer vom Flughafen Scheremetjewo in Moskaus Innenstadt fährt, passiert die gläsernen Firmensitze von Internetkonzernen, die sich entlang der Ausfallstraße in den Himmel recken. Vorreiter der Entwicklung ist die Suchmaschine Yandex, sie kontrolliert rund 60 Prozent des heimischen Markts. Google, das rund 70 Prozent des Weltmarkts beherrscht, erreicht in Russland gerade einmal 30 Prozent. »Wir respektieren Google, aber wir sind einfach besser«, heißt es bei Yandex. Manche der inzwischen rund 4000 Mitarbeiter gehen barfuß ihrer Arbeit nach. Die Firmenzentrale hat einen schallisolierten Musikraum mit Schlagzeug und E-Gitarre, aber keine festen Arbeitszeiten. Hängematten und Schalen mit frischem Obst sorgen für einen Hauch von Silicon Valley. Im September 2011 hat Yandex erstmals das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion verlassen. In der Türkei will das russische Unternehmen dem Rivalen Google bis zu 20 Prozent Marktvolumen abjagen und lockt türkische Nutzer mit neuen Funktionen wie der Suche nach Koran-Zitaten und Staumeldungen für das chronisch verstopfte Istanbul. Das Büro am Bosporus soll eine Art Brückenkopf werden für den Sprung auf den Weltmarkt.

Yandex ist beispielhaft für den Erfolg von Russlands New Economy. Die Suchmaschine besetzte Mitte der neunziger Jahre eine Nische, für die sich niemand interessierte. Die westliche Konkurrenz fokussierte sich lieber auf die finanzstärkeren Märkte in Europa und Asien. Google hatte zudem mit den kyrillischen Schriftzeichen und den Tücken der russischen Grammatik zu kämpfen. Den staatlichen Aufsehern des Kreml schienen die Start-ups wiederum lange unbedeutend. Russlands IT-Pioniere konnten deshalb weitgehend unbehelligt experimentieren.

Das änderte sich sukzessive mit dem Einfluss, den Yandex gewann. Die von Putins Ex-Wirtschaftsminister German Gref geführte Staatsbank Sberbank sicherte sich eine goldene Aktie. Sie berechtigt, den Verkauf von mehr als 25 Prozent der Firma zu blockieren. Der Kreml will nicht, dass Yandex in ausländische Hände fällt. Die Firma sei für Russland von »strategischer Bedeutung«, sagt Yandex-Gründer Arkadij Wolosch – und damit ähnlich wichtig wie Gazprom, Pipeline-Betreiber oder Telefongesellschaften. Im Jahr 2011 erreichte die Yandex-Startseite mit knapp 20 Millionen Nutzern täglich erstmals mehr Russen als der größte TV-Sender des Landes.

Das Internet reift damit auch zu einem möglichen Machtfaktor heran. Bei den Parlamentswahlen 2011 hat die Opposition das Netz genutzt, um Belege für Wahlmanipulationen zu verbreiten. Ein Clip, auf dem zu sehen ist, wie ein Vertreter der Wahlkommission selbst reihenweise Stimmzettel ausfüllt, wurde zwar vom Staatsfernsehen ignoriert, auf YouTube aber zwei Millionen Mal angeklickt. Das größte Talent der russischen Opposition ist über seinen Blog bekannt geworden: Alexej Nawalny veröffentlicht dort Dokumente, die Filz und Vetternwirtschaft in höchsten Regierungskreisen belegen.

Die Plattform VK.com, das größte soziale Netzwerk des Landes, legte sich sogar öffentlich mit den Behörden an. Die Seite geriet unter den Druck von Sicherheitsbehörden, weil sie Regierungskritikern eine Plattform bot, um Massenkundgebungen zu planen. VK.com hat fast 110 Millionen Nutzer in Russland und Osteuropa und einen störrischen Gründer. Pawel Durow, geboren 1984, hat ein blasses Gesicht und erinnert an den Cyber-Rebellen Neo aus der Hollywood-Trilogie Matrix. Als ihn im Winter 2012 der Inlandsgeheimdienst FSB auffordert, Foren zu schließen, in denen sich Zehntausende Russen zu Großdemos gegen den Wahlbetrug verabreden, leistet er öffentlich Widerstand. »Ich weiß nicht, wo das enden wird«, twittert er. »Aber noch stehen wir.«

Durow muss allerdings auch behutsam manövrieren. Zum damaligen Zeitpunkt gehören 40 Prozent seines Unternehmens Alischer Usmanow, einem Milliardär mit Draht zum Kreml. Dennoch schreibt Durow ein »Bürgerliches Manifest«, in dem er Freiheit für das Netz fordert – und hohe Strafsteuern für Öl- und Gaskonzerne, die wirtschaftlichen Pfeiler des Systems Putin. So will er endlich die Rohstoffabhängigkeit des Landes brechen. Durows Manifest liest sich wie eine Kriegserklärung des neuen Russland an das alte. Wie diese Kraftprobe ausgehen wird, ist bis heute ungewiss. »Entweder das Internet vernichtet Putins Regime«, sagt Julija Latynina, Star-Kommentatorin von Radio Echo Moskau, »oder das Regime zerstört das Internet.«

Balance

Ein Fotoapparat ist zu Marats ständigem Begleiter geworden, eine digitale Spiegelreflexkamera. Auf seinen Streifzügen entstehen Aufnahmen, die den Atem stocken lassen. Eines der Fotos wurde mit dem »Best of Russia«-Fotografiepreis ausgezeichnet. Sogar das Hamburger Magazin Stern View hat es nachgedruckt: Das Bild zeigt Marats Kumpel Alexej bei einem Roofing-Ausflug ins Moskauer Umland. Er steht auf der Spitze eines rostigen Funkmasts, 200 Meter über den Wipfeln des Waldes. Alexej balanciert über einen Stahlträger und breitet die Arme aus, ohne Sicherungsseil. Eine Zeitung gab Marat und Alexej wegen dieses Fotos den Spitznamen »Skywalker«.

Marat ist gut informiert über Politik. Er bemüht sich dabei – ähnlich wie beim Roofen –, das Gleichgewicht zu halten. Über Putin sagt er, der Präsident habe auch nichts dagegen unternommen, dass »die Staatsmacht durch und durch korrupt ist«. Andererseits glaubt er, dass es »noch schlimmer kommen könnte ohne ihn«.

Ein anderes Beispiel ist Marats Einstellung zum Schicksal des Oligarchen Michail Chodorkowski. Als der Milliardär 2003 verhaftet wurde, war Marat zwölf Jahre alt. Chodorkowski polarisiert das Land bis heute. Viele Russen hassen ihn, weil er und andere Oligarchen in den neunziger Jahren reich wurden, während die meisten verarmten. Für Oppositionsanhänger ist Chodorkowski dagegen ein Held, weil der Kreml ihn ins Gefängnis warf. Marat erinnert sich an die TV-Bilder der Verhaftung. »Ich sah ihn im Fernsehen, er wurde an den Kameras vorbeigeführt. Er sah erschrocken aus. Mein Vater sagte, das sei ein schlechter Mensch.«

Chodorkowski habe »als Unternehmer Steuern nicht gezahlt«, sagt Marat. Der Magnat habe wohl auch »Menschen ins Unglück gestürzt und sogar Mordanschläge in Auftrag gegeben«. Das Schicksal des Milliardärs beeindruckt ihn dennoch. »Ungeachtet seiner kriminellen Vergangenheit ist er für seine Überzeugungen ins Gefängnis gegangen. Er ist nicht ins Ausland geflohen, obwohl er Möglichkeiten dazu hatte. Er ist nicht eingeknickt.« Marat empfindet deshalb heute sogar eine gewisse Sympathie für ihn. »Chodorkowski steht zu seiner Meinung. Er ist das klassische Beispiel eines rohen, unbeugsamen russischen Mannes.« Seinen Platz in der Geschichte des Landes könne dem Oligarchen niemand mehr streitig machen.

Fernweh

An einem kalten Februartag steigt Marat die Sprossen einer klapprigen Feuerleiter hinauf. Der Wind zerzaust seine dunklen Locken. Unter seinen Füßen, am Boden, hundert Meter tiefer, tost der Feierabendverkehr durch die Straßenschlucht von Moskaus Neuem Arbat. Die Kommunisten haben in den sechziger Jahren ein Viertel mit verwinkelten Gassen für die Schnellstraße sprengen und dafür Hochhäuser bauen lassen. Sie ragen in den Himmel wie ein graues Gebiss.

In der Ferne streben neben neuen Wolkenkratzern des Geschäftsdistrikts Moscow City auch die Spitzen der Sieben Schwestern in den Himmel, das architektonische Erbe der Stalin-Zeit. Marat hat als Roofer heimlich fünf der sieben Stalin-Hochhäuser bestiegen, die 240 Meter hohe Lomonossow-Universität und die drei, die heute Wohnhäuser sind. Auf der Spitze des legendären Hotels Leningradskaja feierte er mit Freunden Geburtstag und schoss dabei Fotos seiner Füße, sie baumelten 130 Meter über dem Abgrund.

Nachdem Marat die meisten von Moskaus Hochhäusern bestiegen hatte, schweifte sein Blick weiter in die Ferne. Er hat die Wolkenkratzer Dubais bestiegen, flog nach Südkorea, in die USA und nach Europa. Innerhalb von drei Jahren hat Marat mehr als 70000 Reisekilometer absolviert und 42 Länder bereist. Er hat seinen Blog mit Fotos seiner Ausflüge gefüllt, so sind Medien im Westen auf ihn aufmerksam geworden. Ein deutscher TV-Sender hat mit ihm einen Film über extreme Jugendkulturen in Moskau gedreht, der Titel der Doku war »Russisches Roulette«.

Der Fernsehkanal ProSieben lud ihn zweimal ein. Die Unterhaltungsshow »Joko & Klaas – Duell um die Welt« stellte ihn als den »krassesten Action-Fotograf der Welt« vor. Moderator Klaas Heufer-Umlauf zog sich einen Helm über und musste vor laufenden Kameras Marat auf die Spitze einer der Stalin-Schwestern folgen, dem Wohnhaus am Moskauer Kudrinskaja-Platz. Danach war Marat bei »TV total« zu Gast, der Late-Night-Show des Entertainers Stefan Raab. Marat spricht kein Deutsch, Raab führt das Interview deshalb auf Englisch. »Is roofing a way to make money?«, fragt der Moderator. »It’s a way to express yourself«, sagt Marat. »You should try it, too.« Man müsse nur ein paar Klimmzüge können, das reiche. »No, no, no«, antwortet Raab.

Es ist die Rolle, die Marat immer von der Regie zugewiesen bekommt: der durchgeknallte Russe. Marat mag sie nicht, er sagt, er sehe sich als Botschafter seines Landes. »Ich will ein anderes Gesicht Russlands zeigen als die üblichen Klischees.«

Sein Hobby hat ihm die Tür aufgestoßen zur Welt. Auf Facebook folgen Marat 4500 Fans aus aller Herren Länder. Er ist nach München geflogen, weil er Lust hatte, Kirchtürme in Bayern zu besteigen. Am Flughafen erwarteten ihn sechs junge Deutsche, die sich zuvor weder untereinander persönlich kannten noch den Moskauer Marat. Sie waren nur über das Internet miteinander verbunden. Die virtuelle Vernetzung lässt die Welt zusammenrücken, manchmal im wahrsten Sinne des Wortes: In Deutschland quetschte sich Marat neben andere auf ein Matratzenlager.

Weit nach Mitternacht saß er im Glockenturm der Münchner Frauenkirche. Er stand auf dem Dach des Louvre in Paris. Seine Reise nach Ägypten führte sogar zu diplomatischen Verwicklungen. Marat hatte mit anderen Moskauer Roofern die 65 Meter hohe Mykerinos-Pyramide bestiegen. »Wir sind einfach drauflos und hoch. Bis zur Spitze haben wir nur acht, neun Minuten gebraucht«, sagt er. Seine Fotos zeigen die Wüste kurz vor Morgengrauen, am Horizont schimmern die Lichter des nächtlichen Kairo.

Das ägyptische Außenministerium bemühte sich später in Moskau vergeblich um die Auslieferung der Dachkletterer. Die Pyramiden von Gizeh zählen seit 1979 zum UNESCO-Weltkulturerbe, sie stehen unter besonderem Schutz. Im Netz, vor allem auf Twitter, gab es deshalb viel Kritik an der Aktion der Russen. Marat fand die Aufregung übertrieben: »Als ob das einer Pyramide, die schon so lange steht, etwas ausmachen würde.«

Das Geld für seine Reisen verdient er mit dem Verkauf seiner Fotos. Marat arbeitet auch als freier Mitarbeiter für russische Kino-Webseiten. Sein Lieblingsfilm heißt Inception, Hollywood-Star Leonardo DiCaprio spielt darin einen Agenten, der sich nicht nur zu gesicherten Gebäuden Zugang verschafft, sondern in die Träume anderer Menschen einzubrechen vermag. Marat hat eine Kritik über den Film geschrieben. Seine Honorare sind nicht hoch, er braucht aber auch nicht viel zum Reisen: neben der Kamera vor allem mehrere Paar Handschuhe zum Klettern, Medikamente, Schmerzmittel für den Notfall, eine Taschenlampe, Ultraschallpfeifen zur Abwehr von Hunden und ein paar Souvenirs aus Moskau für Menschen, die ihm helfen. Mal übernachtet er bei Facebook-Freunden oder Bekanntschaften von unterwegs und, wenn es sein muss, eben im Mietwagen.

Wenn Marat beschreibt, was ihn immer wieder hinaus in die Welt treibt, benutzt er einen Begriff, den er auf seinen Reisen gelernt hat und dessen eigenartiger Klang ihm gefällt. Es ist das deutsche Wort Fernweh.

Die Sehnsucht nach fremden Ländern hat nicht nur Marat erfasst. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion bekamen die Russen die Freiheit zu reisen, und mit dem wirtschaftlichen Aufschwung unter Putin auch das Geld dafür. Zwischen 1995 und 2011 stieg die Zahl russischer Touristen im Ausland von 1,7 Millionen auf 14,5 Millionen. Russland hat aufgeschlossen zu den größten Reisenationen der Welt. 50,4 Milliarden Dollar gaben die Russen 2014 für Urlaube im Ausland aus – nur bei Chinesen, Amerikanern, Deutschen und Briten war es noch mehr.

Die Jüngeren zieht es besonders häufig in die Ferne. In Umfragen geben dreimal mehr 18- bis 35-Jährige an, zum Urlaub ins Ausland zu reisen, als ältere Russen das tun. »Als meine Eltern jung waren, haben sie sich Gedanken darüber gemacht, was sie am nächsten Tag kochen würden«, sagt Marat. »Ich überlege mir, wohin ich nächsten Monat fahren soll.« Dennoch denkt er manchmal, die Generation seiner Eltern habe es womöglich früher leichter gehabt. Sein Vater war Offizier in der Armee. Er war oft auf Reisen, manchmal hat Marat ihn über Monate nicht gesehen, bis in seinen Erinnerungen sogar die Konturen des väterlichen Gesichts unscharf wurden. Auf der anderen Seite gab es weniger zu entscheiden. »Die Grenzen waren geschlossen, die Menschen Patrioten, die Ziele klar: Karriere in Fabrik oder Armee und die Gründung einer Familie. Sie hatten keine Wahl, aber sie haben auch nicht gespürt, dass ihnen etwas fehlt«, sagt Marat.

Eigentlich gilt seine Suche gar nicht dem besten Ausblick und dem größtmöglichen Kick: Marat sucht sich selbst.

Schnell wie New York

Die Sieben Schwestern genannten Stalin-Hochhäuser umgeben das Stadtzentrum wie Türme einer unsichtbaren Burgmauer. Marat mag ihren »etwas pathetischen Charme. Moskau wäre nicht Moskau ohne sie.« Beim Betrachten der Gebäude bekomme er eine Ahnung vom Wesen der Sowjetunion. Er fühle sich dann wie ein Zeitreisender, spüre die »kategorische Strenge, Größe, aber auch den Schauer der Todesangst, die während der Zeit des Großen Terrors viele hatten«. Für Marat symbolisieren die Sieben Schwestern den Charakter der Stadt. »Sie erscheinen finster und abweisend. Aber wenn du den richtigen Zugang kennst, eröffnen sie dir ihre besten Seiten.«

Wohnungen in einer Stalinka – so lautet die in Russland gebräuchliche Kurzform für Stalinbau – sind in Moskau ähnlich beliebt wie gepflegte Altbau-Appartements in München oder Hamburg. Die Decken sind bis zu vier Meter hoch, das Mauerwerk unverwüstlich, die Küchen nie kleiner als zwölf Quadratmeter, das gilt in Russland als Luxus. Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow ist zwar im Westen wegen seiner Tauwetterpolitik geachtet, in Russland aber auch deshalb unbeliebt, weil er Durchschnittsküchen von sechs Quadratmetern bauen ließ. »Wenn in einigen Jahrhunderten noch etwas vom heutigen Moskau steht, werden es die Stalinkas sein«, glaubt Marat. Stalin habe »für die Ewigkeit gebaut«.

Der Abend senkt sich über die russische Hauptstadt. Moskau beginnt zu leuchten. Tausende Scheinwerfer erhellen alte und neue Fassaden. Unten tost der Verkehr über den Neuen Arbat, die sechsspurige Schnellstraße, Tempo 60 ist erlaubt, 70 wird toleriert, die meisten fahren 90. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich die Zahl der Autos in Moskau von 900000