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Als Corona die Zerbrechlichkeit der Lieferketten aufzeigte, war bald von »De-Globalisierung« die Rede. Aus dem Aufstieg Chinas werden protektionistische Forderungen abgeleitet. Und angesichts zunehmender internationaler Spannungen sprechen viele von einer Rückkehr der Geopolitik.
Daraus zu schließen, die neoliberale Globalisierung sei passé und der (National-)Staat wieder da, ist aus Sicht Milan Babićs jedoch zu einfach. Staaten verabschieden sich nicht aus transnationalen Netzwerken. Stattdessen erleben wir eine Regionalisierung, die auch wirtschaftlichen Imperativen folgt. Und im Kampf um globale Infrastrukturen sind Unternehmen weiterhin zentrale Akteure. Wer die neu entstehende Weltordnung begreifen will, so Babić, muss sie daher aus der Perspektive der Geoökonomie betrachten.
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Seitenzahl: 219
Veröffentlichungsjahr: 2025
3Milan Babić
Geoökonomie
Anatomie der neuen Weltordnung
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2833.
© Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin, 2025
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Umschlaggestaltung nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-78317-7
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
Geopolitik/Geoökonomie
Schöne alte Welt
Von Staaten und Märkten
Aufbau des Buches
1 Von der neoliberalen zur geoökonomischen Ordnung
Was ist neoliberale Globalisierung?
Wie entstand die neoliberale Ordnung?
Rückkehr der Geopolitik oder: Hatte Polanyi recht?
Geoökonomie als neuer Modus Operandi der internationalen Beziehungen
2 Staat
Vom Wettbewerbsstaat zum geoökonomischen Staat
Neue defensive Kapazitäten: Investitionsscreening und Ausfuhrkontrollen
Neue offensive Kapazitäten: Finanzielle und materielle Aufrüstung
Klimawandel und Staatshandeln
3 Wirtschaft
Vom globalen Marktplatz zur neuen Fragmentierung
Infrastrukturen als Arenen neuer Konflikte
Lieferketten als Achsen neuer Konflikte
Abschied vom Wachstum?
Mehr Mittel als Zweck: Die Wirtschaft in der neuen Ordnung
4 Politik
Wir sind nie neoliberal gewesen
Politik und Ideologie in geoökonomischen Zeiten
Rechtsdrall oder Anpassung an neue Realitäten?
Covid, Inflation, Krisen
Bedeutet Geoökonomie die Rückkehr des Staates oder der Politik?
5 Eine neue Zeitrechnung
Das Ende des Endes der Geschichte
Die Klimakrise verändert die internationale Politik
Hegemonie und neue Konflikte im 21. Jahrhundert
Progressive Politik im Zeitalter der Geoökonomie
Anmerkungen
Einleitung
1 Von der neoliberalen zur geoökonomischen Ordnung
2 Staat
3 Wirtschaft
4 Politik
5 Eine neue Zeitrechnung
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»Die Globalisierung bedeutet nicht das Ende der staatlichen Handlungsfähigkeit. Wichtig ist, daß wir unsere nationale Politik den Bedingungen der Globalisierung anpassen.«1 So der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder von der SPD in seiner Regierungserklärung im Juni 1999. Staatliche Handlungsfähigkeit ja, aber unter den Bedingungen der Globalisierung: Die Maxime für politisch Verantwortliche um die Jahrtausendwende bestand darin, die neue Realität einer global verflochtenen Wirtschaft, entfesselter Finanzmärkte und internationalen Standortwettbewerbs erfolgreich zu navigieren. Eine ähnliche Vorstellung vom Primat globaler Märkte findet sich auch bei anderen westlichen Staats- und Regierungschefs jener Zeit. Der amerikanische Präsident Bill Clinton bemühte etwa das Bild der Globalisierung als einer Naturgewalt, der sich die Politik stellen müsse. Der britische Premier Tony Blair frotzelte noch 2005, über das Für und Wider der Globalisierung zu streiten, sei in etwa so, als diskutiere man darüber, ob der Herbst dem Sommer folgen solle. Die sich wandelnde Welt biete große Chancen, aber nur für diejenigen, die »sich schnell anpassen, sich nicht beklagen, offen, bereit und fähig sind, sich zu verändern«.2
Die globale Ordnung galt diesen Staatsmännern als Raum (ökonomischer) Möglichkeiten und gleichzeitig 10als ständige Bedrohung für den nationalen Wohlstand und die heimische Wettbewerbsfähigkeit. Vor allem aber sahen sie die Hierarchie von Markt und Staat als klar geregelt an. Staaten und Regierungen konnten die Globalisierung gestalten, aber nur so weit, wie die »Bedingungen« einer offenen Wirtschaft dies zuließen. Der Historiker Quinn Slobodian hat hierfür den Begriff des encasement (etwa: Umhüllung) verwendet. Die Rolle der Politik begrenze sich in der neoliberalen Vorstellung auf die rechtliche, soziale und politische Absicherung des freien Spiels der Marktkräfte. Märkte würden von rechtlichen Strukturen »umhüllt« und damit vor politischer Einflussnahme geschützt.3 In einer solchen Welt erschienen Schröders Aussagen über eine der Globalisierung unterworfene staatliche Handlungsfähigkeit nachvollziehbar.
Diese Welt ist nicht länger unsere Wirklichkeit. Staaten, multinationale Konzerne und internationale Organisationen sehen sich seit Längerem mit einer neuen Realität konfrontiert. Handelskriege, wie sie die USA unter Donald Trump 2018 vom Zaun brachen und die unter der erneuten Trump-Regierung noch konfrontativer zu werden drohen, eine »geopolitische EU-Kommission«, wie sie die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen 2019 angekündigt hat, oder die Rückkehr des Territorialkrieges nach Europa im Jahr 2022 durch die russische Vollinvasion der Ukraine sprechen eine andere Sprache als jene, die noch um die Jahrtausendwende den politischen Diskurs beherrschte. Die 11globale Ordnung hat sich längst vom Primat des Marktes verabschiedet. An dessen Stelle tritt etwas, das wahlweise als die »Geopolitisierung« von Handelspolitik, als Rückkehr der Geopolitik, als neuer kalter Krieg oder als »neue Weltunordnung« bezeichnet wird.4 Während solche Zeitdiagnosen unterschiedliche Akzente setzen, sind sie sich in einer Sache einig: Die postneoliberale Konstellation bringt den Staat als Ordnungsprinzip internationaler Politik mit voller Wucht zurück.
Ich fasse diese Positionen als »geopolitische« Vision einer postneoliberalen globalen Ordnung zusammen. Im Kern besteht diese Vorstellung aus zwei Ideen. Erstens nehme Staatsmacht durch das Ende der neoliberalen Globalisierung wieder eine zentrale Rolle im Verhältnis von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ein. An die Stelle globaler Märkte, die lange Zeit als Gradmesser für politisches Handeln fungierten, treten geostrategische und sicherheitspolitische Erwägungen. Daraus folge, zweitens, dass die Aufwertung dieser Aspekte in der internationalen Politik für eine Rückkehr geopolitischer Auseinandersetzungen sorge. Geopolitische Konflikte seien dabei von einer anderen Natur als der wirtschaftliche Wettbewerb, der die neoliberale Globalisierung prägte. Dieser fand im Rahmen anerkannter 12Regeln und internationaler Organisationen (wie etwa der Welthandelsorganisation, WTO) statt. Die neue Welt der Geopolitik breche mit dieser regelbasierten Ordnung. Als Beleg hierfür wird beispielsweise auf Donald Trumps offene Diskreditierung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der NATO oder des Pariser Klimaabkommens verwiesenhttps://www.zotero.org/google-docs/?D1GxHf.5 Unmittelbar nach seinem erneuten Amtsantritt im Januar 2025 unterschrieb Trump denn auch zwei Präsidialerlasse, mit denen die USA aus der WHO und dem Pariser Klimaabkommen ausstiegen. Angesichts dieser Ereignisse sprechen Verfechter einer geopolitischen Lesart unserer Zeit von einer »Rückkehr«, einem »Wiederaufleben« von Geopolitik – oder sie konstatieren, dass diese niemals weg war, sondern lediglich unter dem Irrglauben einer liberalen Hegemonie verdeckt lag.6
Dem setze ich eine geoökonomische Interpretation entgegen. Sie geht davon aus, dass wir derzeit keine Rückkehr von Staatsmacht anstelle von Marktmacht erleben. Eine solche Verschiebung würde implizieren, dass die durch die Globalisierung geschaffenen wirtschaftlichen Zusammenhänge durch ein »Comeback« staatlicher Gestaltungsmacht zumindest teilweise gekappt werden. Das encasement der Wirtschaftspolitik würde abgewickelt und das Primat der globalen Wirtschaft durch das der Politik ersetzt werden. Doch schaut man genauer hin, ergibt sich ein anderes Bild. Wir leben nicht in einer Zeit flächendeckender Deglobalisierung. Wo geoökonomische Gefahren und Abhängigkeiten lauern, 13diversifizieren Firmen ihre Lieferketten und vertiefen somit teilweise ihre Integration in die Weltwirtschaft. Ein zentrales Ergebnis des sinoamerikanischen Handelskriegs etwa ist die Regionalisierung und Verlängerung von Lieferketten – aber nicht unbedingt deren Auflösung.7 So lautet das trockene Fazit einer Deglobalisierungsstudie der größten US-amerikanischen Bank, J. P. Morgan Chase: »Die Globalisierung bleibt intakt.«8
Was sich aber ändert, ist die Natur der wirtschaftlichen Verflechtungen. Handels- und Investitionsbeziehungen galten lange Zeit als Positivsummenspiel, von dem alle Beteiligten profitierten. Inzwischen sieht die politische Klasse in ihnen vermehrt Instrumente in globalen politischen Auseinandersetzungen, bei denen es Gewinner und Verlierer gibt.9 Sowohl Staaten als auch mächtige Konzerne setzen weltweite Infrastrukturen wie etwa den Zahlungsverkehrsdienstleister SWIFT ein, um politische und ökonomische Ziele auf Kosten anderer zu erreichen.10 Der »Tod der Distanz« durch die Globalisierung von Telekommunikation, wie ihn die Ökonomin Frances Cairncross beschrieben hat, wird so für die Zwecke globaler Rivalität genutzt.11
Um unsere neue geoökonomische Realität von einer geopolitischen unterscheiden zu können, ist es wichtig zu verstehen, dass die neoliberale Globalisierung die Voraussetzungen für eine geoökonomische Ordnung bereitstellt. Nur weil es globale wirtschaftliche Verflechtungen gibt, sind mächtige Staaten und Konzerne heu14te in der Lage, geoökonomisch zu agieren. Ohne die Infrastrukturen, Handels- und Investitionsbeziehungen oder Organisationen, die in den 1990er und 2000er Jahren entstanden sind, wäre eine politische Instrumentalisierung von Interdependenz unmöglich. Der amerikanische Politikwissenschaftler und Militärstratege Edward Luttwak, der in einem Artikel aus dem Jahr 1990 den Begriff »Geoökonomie« in die Debatte eingeführt hat, sprach von einer »Verbindung der Logik des Konflikts mit den Mitteln des Handels – oder, wie von Clausewitz es ausgedrückt hätte, die Logik des Krieges in der Grammatik des Handels«.12 Drei Jahrzehnte später lässt sich feststellen: Konflikte und Auseinandersetzungen prägen zwar die neue Realität in der Weltwirtschaft. Jedoch ist die Geoökonomie nicht auf die von Luttwak vorgeschlagene Formel von Krieg in anderer Form reduzierbar. Wie der Nationale Sicherheitsberater Joe Bidens, Jake Sullivan, erläuterte, ist es »in dieser neuen Ära des geoökonomischen Wettbewerbs« eine strategische Kernaufgabe, »einen Balanceakt zwischen restriktiven Instrumenten, die wirtschaftlichen Schaden zufügen, und positiven Instrumenten, die gegenseitigen ökonomischen Nutzen in Aussicht stellen«, zu ermöglichen.13 Diese Ambiguität der geoökonomischen Ordnung – zunehmende Konflikte bei gleichbleibender oder vielleicht sogar vertiefter globaler Verzahnung – ist ein Ergebnis ihrer Genese aus der neoliberalen Globalisierung heraus. Interdependenz ist für die Möglichkeit, geoökonomische Konflikte aus15zutragen, zentral. Ihr Rückbau im Sinne von De- oder Entglobalisierung ist daher unwahrscheinlich.
Auf zwei wichtige Aspekte dieser vorgeschlagenen Zeitdiagnosen gilt es hinzuweisen. Erstens negiere ich nicht die Realität von Geopolitik. Der russische Überfall auf die Ukraine ist kein geoökonomisches Phänomen, sondern bittere geopolitische Realität. Dasselbe gilt für eine drohende chinesische Invasion Taiwans oder die neuerlichen imperialistischen Drohgebärden aus dem Weißen Haus gegenüber Panama, Kanada oder der Europäischen Union. Mein Punkt ist ein anderer: Es wäre analytisch unzureichend, die komplexen Veränderungen der Weltordnung auf die Formel einer (erneuten) Geopolitisierung zu reduzieren. Die meisten Auseinandersetzungen, welche die internationale Politik prägen, sind entweder geoökonomischer Art oder bedienen sich (unter anderem) geoökonomischer Instrumente. Selbst in der Konfrontation mit einem neoimperialistischen Russland greift die EU beinahe ausschließlich auf geoökonomische Hilfsmittel – Sanktionen, Entkoppelungen, wirtschaftlicher Druck – zurück. Darüber hinaus betrifft die Geoökonomisierung der Weltwirtschaft auch jene Segmente, die keinen direkten geopolitischen Bezug haben. Industriepolitik oder die Instrumentalisierung von Interdependenzen zur Sicherung von Wettbewerbsvorteilen zielen nicht auf Landnahme oder die Erweiterung territorialer Einflusssphären. Herfried Münkler spricht daher davon, dass »Geoökonomie und Geopolitik wieder in ein 16Gleichgewicht gekommen« sind und heutzutage wirtschaftliche und militärische Macht »darum konkurrieren, wer von beiden bei Entscheidungen den Ausschlag gibt«.14 Kurzum, die Geoökonomisierung globaler Interdependenzen ist ein vielschichtiger und nicht auf die Rückkehr der Geopolitik reduzierbarer Epochenwandel.
Daran schließt auch eine zweite wichtige Klarstellung an. Ich sehe das Aufkommen der geoökonomischen Ordnung als einen unabgeschlossenen, widersprüchlichen und nichtlinearen Prozess, der inkrementell die wichtigsten Strukturen neoliberaler Globalisierung entkernt und mit neuen Inhalten füllt. Ausdrücke wie der »geoökonomische Staat« sind dabei nicht essentialistisch zu verstehen. Ich meine nicht, dass der moderne Staat mit all seinen Facetten und Funktionen vollständig geoökonomisch wird. Sondern ich drücke damit die Geoökonomisierung von Staatlichkeit in einer postneoliberalen Welt aus: Es handelt sich um einen Prozess, nicht um einen Zustand. Und dieser Prozess ist eben widersprüchlich und fragmentiert. Manche staatlichen Instrumente werden zu geoökonomischen Werkzeugen, andere Funktionen bleiben aber bestehen. Um diese Prozesshaftigkeit und Unabgeschlossenheit nicht ständig betonen zu müssen, benutze ich Kurzformen wie die genannten. Wenn also von der »geoökonomischen Ordnung« die Rede ist, sollten diese Voraussetzungen immer mitgedacht werden.
Die Geoökonomie der heraufkommenden Ordnung 17ist durch zwei übergreifende Strukturmerkmale geprägt. Zum einen rücken die Macht über internationale Handels- und Investitionsströme, globale Infrastrukturen und wichtige Lieferketten (z. B. für seltene Erden oder Halbleiter) sowie deren Kontrolle in den Mittelpunkt politischer Auseinandersetzungen. Staaten fördern eine ökonomische Verflechtung hauptsächlich noch dort, wo sie sicherheitspolitischen und geostrategischen Allianzen entspricht. Zum anderen sind die Hauptakteure dieser geoökonomischen Ordnung nicht nur Nationalstaaten, wie etwa die geopolitische Perspektive suggeriert. Wir leben heute in einer Welt der sagenhaften Macht internationaler Großunternehmen, welche die finanziellen Kapazitäten mancher Ländern übertrifft.15 Die geoökonomische Ordnung schafft diese Macht nicht ab, sondern verleiht ihr eine andere Bedeutung. Auch Unternehmen werden nun zu Akteuren in einem globalen Wettkampf um politische Macht und politischen Einfluss.
Die globale Ordnung, aus der sich die geoökonomische Welt herausbildet, ist unterschiedlich betitelt worden – als liberale Weltordnung, als Globalisierung, als »freie Welt« oder als pax americana. Ich verwende den Begriff der »neoliberalen Globalisierung«, um die Periode von Ende der 1980er Jahre bis zur Mitte der 2010er 18Jahre zu beschreiben. Damit soll der Prozesscharakter von Globalisierung und der sie antreibenden wirtschaftlichen Dynamiken betont werden, nämlich die allmähliche Auflösung der Eckpfeiler der Wirtschaftsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Von 1945 bis etwa in die 1970er Jahre prägten in erster Linie Nationalstaaten die Weltwirtschaft. Wertschöpfung fand hauptsächlich innerhalb staatlich verfasster Wirtschaftskreisläufe statt. In den entwickelten Industrienationen herrschte eine keynesianische Wirtschaftspolitik von Massenproduktion und Massenkonsum, flankiert von starken Wohlfahrts- und Steuerstaaten.16 Die internationale Einbettung dieser national definierten Volkswirtschaften bestand im Wesentlichen aus bilateralem Handel, der durch das Währungssystem von Bretton Woods liberalisiert wurde.
Die politischen und ökonomischen Krisen dieses Nachkriegsmodells in den turbulenten 1970er Jahren verliehen den Verfechtern neoliberaler und monetaristischer Ansätze Aufwind. Politikerinnen und Politiker wie Margaret Thatcher oder Ronald Reagan kamen mit dem Versprechen an die Macht, Inflation und Arbeitslosigkeit durch die Disziplinierung von Gewerkschaften, die Entfesselung der Marktkräfte und die Deregulierung der Wirtschaft zu bekämpfen. Ein Kernelement ihrer Reformen war die Ermöglichung transnationaler wirtschaftlicher Verflechtung über bloße Handelsbeziehungen hinaus. Vertreter neoliberaler Ideen erhofften sich einen Ausweg aus der Profitabilitätskrise der 191970er Jahre. Indem sie z. B. Auslandsinvestitionen heimischer Firmen förderten und Direktinvestitionen ausländischer Unternehmen in die eigene Wirtschaft zuließen, öffneten sich viele westliche Regierungen für eine Intensivierung und Vertiefung globaler Verschränkungen ihrer vormalig national orientierten Volkswirtschaften. Für den Politökonomen William Robinson besteht die Eigentümlichkeit dieser Periode der Globalisierung darin, dass neue Räume geschaffen wurden, in denen sich Kapital bewegen konnte. So sind beispielsweise ausländische Direktinvestitionen eine Form transnationaler wirtschaftlicher Verflechtung, die vorherige Globalisierungsphasen (etwa im 19. Jahrhundert) im heutigen Ausmaß nicht kannten.17 Hinzu kommen globalisierte Finanzmärkte oder parzellierte, kleinteilige und vulnerable Lieferketten, die eine fundamentale Transformation der internationalen Wirtschaft der Nachkriegszeit in Gang setzten.
Ich verstehe die Gesamtheit dieser Elemente und ihre politische Einbettung als »globale Ordnung«. Die neoliberale Globalisierung brachte Strukturen, Institutionen und wirtschaftliche Verflechtungen aller Art hervor, welche die Weltwirtschaft und die internationale Politik in entscheidender Weise vermachteten. Sie priorisierten bestimmte Akteure, z. B. transnationale Konzerne, und bearbeiteten Probleme wie Wirtschaftskrisen, den Klimawandel und andere Herausforderungen meist marktförmig. So wurde als Antwort auf die sich abzeichnende ökologische Krise in den 2000er Jahren 20der europäische Emissionshandel eingeführt, der vor allem in seiner Frühphase ein reiner Marktmechanismus war. Die Lösung für eine Folge marktförmigen Wirtschaftens war also – die Schaffung neuer Märkte. Solche Logiken durchdrangen sowohl nationale Wirtschaftspolitiken als auch die Arbeitsweise internationaler Organisationen wie der Weltbank oder des Internationalen Weltwährungsfonds (IWF). Zur neoliberalen Ordnung gehörten politische, ideologische und ökonomische Aspekte, die sie aufrechterhielten und ihr Stabilität verliehen. Kernelemente waren z. B. globale Finanzmärkte, die den fiskalischen Spielraum von Regierungen und Individuen einschränkten, Policy-Ideen wie nationale Wettbewerbsfähigkeit, die bestimmte Best-Practice-»Skripte« politischen Handelns in der Wirtschafts- und Steuerpolitik vorgaben, und internationale Organisationen wie der IWF, die diese Skripte gegenüber Staaten durchsetzten.18
Politisch gesehen war diese Ordnung relativ befriedet. Die USA fungierten als unipolare Macht und somit als Primus inter Pares einer zusammenwachsenden Welt. Zivilgesellschaftliche Bewegungen in Osteuropa, Teilen von Lateinamerika und Asien nährten Hoffnungen auf einen Siegeszug liberaler Demokratien und das sprichwörtliche »Ende der Geschichte«.19 Ökonomisch versprach die Globalisierung Großartiges. Die Gründung der Welthandelsorganisation 1995 war mit der Aussicht auf den Abbau von Hindernissen für den internationalen Handel verbunden. Der Eintritt Chinas 21in die WTO 2001 erschloss einen potenziellen Markt von über einer Milliarde Menschen für global agierende Unternehmen. Die Eröffnung der bis heute größten Welthandelsrunde (der Doha-Runde) im selben Jahr mit dem Ziel weiterer Liberalisierungen reflektierte den generellen Optimismus von Entscheidungsträgern mit Blick auf eine tiefergehende Verflechtung.
Die materielle Realität stützte diese Aussicht. So nahm der Welthandel zwischen 1990 und 2008 von 38 auf über 60 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu. Ausländische Direktinvestitionen wuchsen im selben Zeitraum von unter einem auf zwischenzeitlich über fünf Prozent des globalen BIP an, und der Exportanteil an der Gesamtwirtschaft kletterte von unter 19 auf 31 Prozent.20 Gleichzeitig halbierte sich der Anteil der Menschen an der Weltbevölkerung, die in absoluter Armut lebten, von ca. 38 im Jahr 1990 auf etwas unter 19 Prozent 2008,21 und das durchschnittliche BIP pro Kopf stieg von ca. 6800 US-Dollar im Jahr 1990 auf über 9200 in 2008 an.22 Diese und andere Indikatoren ließen die neoliberale Ordnung von außen betrachtet relativ stabil und fast schon hegemonial erscheinen.
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Doch die Ordnung der schönen (alten) Welt der Globalisierung war keineswegs unumstritten. Mit dem 11. September 2001 und den folgenden Kriegen in Afghanistan und dem Irak rückte der internationale Terrorismus in den Mittelpunkt der Politik. Zivilgesellschaftlicher Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung wurde im sogenannten »Battle of Seattle« 1999 und den Protesten während des G8-Gipfels in Genua 2001 mehr als deutlich. Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien wurden nur mühsam beendet und beschleunigten die politische Entfremdung zwischen Russland und dem Westen nach 1999. Der Aufstieg der sogenannten BRICS-Staaten – Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika –, sowohl in politischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht, war weniger harmonisch, als Globalisierungsbefürworter zunächst erwartet hatten. Die BRICS-Staaten propagierten ein eigenes, staatskapitalistisches Entwicklungsmodell und institutionalisierten sich als Alternative zu einer vom Westen gestalteten liberalen Wertegemeinschaft. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 schließlich desillusionierte auch die vehementesten Anhänger einer (neo-)liberalen globalen Ordnung und ließ die vorangegangenen Jahrzehnte von Liberalisierung und Deregulierung in einem kritischen Licht erscheinen.
In diesem Buch möchte ich das Augenmerk auf das Verhältnis von Staaten und Märkten legen, um die Kri23se der neoliberalen Globalisierung und die Entstehung einer geoökonomischen Ordnung zu beschreiben. Die Internationale Politische Ökonomie erlaubt eine Perspektive auf Vorgänge der internationalen Politik, die ökonomische und politische Erklärungsversuche integriert. Staaten und Märkte können theoretisch geschieden werden, empirisch sind sie aber miteinander verwoben. Die Verflechtungen und Interdependenzen, welche die Phase der neoliberalen Globalisierung prägten, sind ein Ergebnis von Markt- und Staatshandeln auf unterschiedlichen Ebenen. Diese Verflechtung setzt sich auch in der sich entwickelnden Ordnung fort. Mächtige Staaten und andere Akteure nutzen die Strukturen und Kanäle einer globalisierten Weltwirtschaft, um ihre Interessen durchzusetzen. Dabei verschwimmt die theoretisch saubere Distinktion von Staat und Markt oft, etwa wenn eine geoökonomisch motivierte Industriepolitik in den USA und Europa Unternehmen strategisch fördert und sie gleichzeitig als Instrumente für globale Auseinandersetzungen, z. B. um die Vorherrschaft im Bereich künstlicher Intelligenz, positioniert. Die aufkommende geoökonomische Ordnung ist demnach nicht die einfache Rückkehr geopolitischer Macht auf die Weltbühne, sondern eine komplexere Transformation der Art und Weise, wie Macht in der internationalen Politik des 21. Jahrhunderts ausgeübt wird. Das Verständnis dieser neuen Welt ist nicht nur eine theoretische oder gar akademische Frage, sondern wird die Gestaltungsspielräume 24von Politik und Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten definieren.
Der politische Theoretiker Paolo Gerbaudo hat die neoliberale Ära als eine Phase der »Exopolitik« bezeichnet, die auf den äußeren (Wettbewerbs-)Druck der Globalisierung reagierte.23 Politik und Gesellschaft traten in dieser Ansicht der Globalisierung als offenem Raum entgegen, in dem Arbeitsplätze, Exportgüter, Lieferketten und vieles mehr ausgelagert werden konnten. Die Politik war mit der (limitierten) Ausgestaltung dieses exogenen Verhältnisses bedacht. Anders, so Gerbaudo, verhält es sich mit der neuen »Endopolitik«. Gesellschaften würden sich mit der Krise der Globalisierung und nach der Covid-19-Pandemie wieder vermehrt auf ihre inneren Angelegenheiten zurückziehen, was sich unter anderem in der Debatte um die Heimbringung ausgelagerter Lieferketten essenzieller Güter widerspiegelt. Anstatt des Wettbewerbsdrucks würden mit der neuen Endopolitik Ideen wie nationale Souveränität, Protektionismus und politische Kontrolle (z. B. nationaler Grenzen) wieder die politischen Realitäten bestimmen.
Gerbaudos Analyse ist überzeugend für die Verortung politischer Diskurse in der postpandemischen Welt, welche die Abkehr von neoliberalen Erzählungen längst vollzogen haben. Anders verhält es sich jedoch mit der materiellen Wirklichkeit internationaler Politik. Selbst dort, wo Staaten und Bürger für endopolitische Maßnahmen wie verstärkten Protektionismus ein25treten, geschieht die praktische Umsetzung durch die Strukturen und transnationalen Spielräume, welche die neoliberale Globalisierung geschaffen hat. Die begonnene Entkopplung von russischem Gas auf Seiten der Europäischen Union im Frühjahr 2022 etwa fußte ganz zentral auf der Verfügbarmachung alternativer Handels- und Bezugsrouten für Flüssiggas, das die europäischen Haushalte und Industrie nun über eine Vielzahl transnationaler Verbindungen erreicht. Der Weg aus der Abhängigkeit von Russland führte also nur über die Steigerung transnationaler Verflechtung und der Nutzung globaler Logistik- und Transportinfrastrukturen.
Dieses Buch dient der Skizzierung und Einordnung einschneidender Veränderungen für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein realistisches Verständnis einer postneoliberalen Welt, das sowohl die Brüche als auch die Kontinuitäten der neuen Ordnung kenntlich macht, erlaubt eine adäquate Einschätzung politischer Spielräume und Limitierungen, welche die Politik der geoökonomischen Auseinandersetzungen in den kommenden Jahren prägen werden.
In Kapitel 1 zeichne ich den Übergang von der neoliberalen zur geoökonomischen Ordnung, in der wir uns zurzeit noch befinden, empirisch und historisch 26nach. Ich lege dar, weshalb ein zyklisches Verständnis des Zusammenspiels von Staat und Markt nicht die Realität der globalen politischen Ökonomie abbildet, und biete stattdessen eine historisch sensibilisierte Lesart an. Zudem umreiße ich die Eckpfeiler der geoökonomischen Ordnung und zeige, warum diese nicht unbedingt eine hegemoniale und stabile Konfiguration politischer Kräfteverhältnisse darstellt.
Kapitel 2 thematisiert die sich verändernde Rolle des Staates in einer geoökonomischen Welt. In gängigen geopolitischen Erklärungen der aktuellen Umbrüche in der internationalen Politik wird der Nationalstaat in den Mittelpunkt gerückt. Ich lege dar, wie ein differenziertes Verständnis von dem, was »Staat« ausmacht, uns helfen kann, die komplexen und teilweise widersprüchlichen Transformationen von Staatlichkeit im Kontext globaler Krisen besser zu verstehen. Das Kapitel diskutiert sowohl die »defensiven« als auch die »offensiven« Instrumente, die staatlichen Akteuren in einer geoökonomischen Welt zur Verfügung stehen.
In Kapitel 3 zeichne ich die Veränderungen globaler Märkte, Marktakteure und Marktinfrastrukturen in den letzten Jahren nach. Ich analysiere, wie diese sich im Zuge der Veränderungen von Politik und Wirtschaft sowohl anpassen als auch diese Veränderungen mitgestalten. Multinationale Konzerne sind heute in vielerlei Hinsicht mächtiger als jemals zuvor, geraten aber durch die Krisen der Globalisierung in unruhiges Fahrwasser. Wie genau Märkte und Marktakteure diese neue Welt 27navigieren, erkläre ich anhand globaler Lieferketten und Infrastrukturen und deren Instrumentalisierung für politische Zwecke.
Kapitel 4 widmet sich den Themen Politik und Ideologie und fragt, wie diese sich in einer geoökonomischen Welt verändern. Während der demokratische Kapitalismus der Nachkriegszeit einen hegemonialen Minimalkonsens für breite Bevölkerungsschichten bot, erweist sich die geoökonomische Ordnung als relativ instabil. Ein Grund dafür ist, dass die neoliberale Globalisierung im Kern eine »Ordnung ohne Volk« und somit niemals wirklich hegemonial war. Neue kollektive Identitäten in einer Welt geostrategischer Konfrontation zu schaffen, ist daher sehr schwierig. Ich argumentiere, dass Politik und Ideologie in geoökonomischen Zeiten zwar widersprüchlich und inkohärent, aber nicht unwirksam sind. Sie bringen eigentümliche Gebilde wie einen falschen Rechtspopulismus hervor, der für die wichtigsten Anliegen breiter Bevölkerungsschichten keine Lösungen parat hat. Für technokratische Eliten, deren Wählerbasis zerbröselt, stellt das ein handfestes Problem dar. Zugleich ist es aber auch eine Möglichkeit, in einer unsicheren Welt neue (konstruktive) Politisierungsdynamiken in Gang zu bringen.
Während eine geoökonomische Welt in vielerlei Hinsicht problematisch zu werden droht – mit Wohlstandsverlusten, der steigenden Gefahr populistischer Auswüchse, der Vernachlässigung globaler Kooperation zur Bewältigung der Klimakrise und so weiter –, gibt 28es, so argumentiere ich im letzten Kapitel, auch Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Der Umstand, dass die geoökonomische Ordnung instabil und ihr Fortbestand noch nicht ausgemacht ist, eröffnet mehr politischen Spielraum, als viele Akteure heutzutage wahrnehmen.
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