Georg Groddeck - Wolfgang Martynkewicz - E-Book

Georg Groddeck E-Book

Wolfgang Martynkewicz

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Beschreibung

Georg Groddeck (1866–1943) eröffnet 1900 ein Sanatorium in Baden-Baden und macht sich als begnadeter Arzt und Vortragsredner bald einen Namen. Als einer der ersten erkennt er, daß die Heilung eines Patienten gleichermaßen physisch wie psychisch erfolgen müsse, und gilt daher als »Vater der Psychosomatik«. Mit seinem »Buch vom Es« reiht er sich in die Zunft der Psychoanalytiker ein, wird aber als Außenseiter betrachtet. Die Person Groddecks mit all ihren Widersprüchen zu zeigen ist Hauptanliegen dieser Biographie, die gleichzeitig ein Bild von den geistigen Strömungen seiner Zeit entwirft. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Wolfgang Martynkewicz

Georg Groddeck

Eine Biographie

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Inhalt

Bildquellennachweis [...]Ganz GroddeckErstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelDankAnhangSiglenverzeichnis

Bildquellennachweis

 

Archiv der Landesschule Pforta, Pforta: S. 62

Stadtarchiv Baden-Baden: S. 124

Ullstein Bilderdienst, Berlin: S. 86, 228 u. 229

Alle übrigen Fotos (auch das Umschlagfoto) wurden von der Georg-Groddeck-Gesellschaft, Frankfurt am Main, zur Verfügung gestellt.

Ganz Groddeck

Im Jahre 1917 wird der inzwischen international anerkannte Entdecker der Psychoanalyse, Sigmund Freud, auf Erscheinungen aufmerksam, die er im Briefverkehr mit seinem Kollegen und Schüler Sándor Ferenczi als »groddecksches Symptom« bezeichnet. Es handelt sich dabei um Symptome, die als körperliches Leiden auftreten, aber keine unmittelbar organischen Ursachen haben, sondern durch unbewußte Phantasien hervorgerufen werden.

Das »groddecksche Symptom« wird im Briefwechsel zwischen Freud und Ferenczi in den folgenden Jahren zum geflügelten Wort für alles das, was man heute als »psychosomatisches Körpertheater«[1] bezeichnet. In den Stücken, die dabei aufgeführt werden, wird der Körper zur Sprache, der innere Vorgänge symbolisiert.

Am 6. November 1917 beschreibt Freud in einem Brief an Ferenczi ein »groddecksches Symptom«, das – in Anbetracht seiner sechs Jahre später ausbrechenden Krebserkrankung – eine zusätzliche Dimension erhält: »Gestern hatte ich die letzte Zigarre verraucht, war seither böswillig und müde, bekam Herzklopfen und eine Steigerung der seit den schmalen Tagen bemerkbaren schmerzhaften Gaumenschwellung (Carcinom? etc.). Da brachte mir ein Patient 50 Zigarren, ich zündete eine an, wurde heiter, und die Gaumenaffektion ging rapid zurück! Ich hätte es nicht geglaubt, wenn es nicht so auffällig wäre. Ganz Groddeck.«[2]

Der Namengeber, Georg Groddeck, ist als Arzt und Leiter eines Sanatoriums in Baden-Baden bis zu diesem Zeitpunkt nur einem kleinen Kreis bekannt. »Meinen ärztlichen Ruf«, schreibt er Freud 1917, »verdanke ich ursprünglich meiner Tätigkeit als physikalischer Therapeut, speziell als Masseur. Infolgedessen ist meine Klientel wohl anders geartet als die der Psychoanalytiker.«[3]

Alfonso Hüppi, Groddecks Naser, Übermalung eines Portraits der Patientin E.H., 1926

Groddeck behandelt in seinem Sanatorium organische Erkrankungen. Mit Vorliebe widmet er sich den sogenannten hoffnungslosen Fällen; den chronisch Kranken, denen bisher kein Arzt helfen konnte und die resigniert nach Baden-Baden kommen. Groddeck gibt ihnen keine Arznei, er hat keine Wundermittel parat, was er seinen Patienten verordnet ist – zumindest auf den ersten Blick – denkbar einfach: Bäder, Massagen und Diät. Er bedient sich also der traditionellen Mittel der Heilkunde, wendet sie aber – wir werden es noch sehen – auf ganz spezifische Weise an. Und im Gegensatz zu vielen anderen Kuren, gibt er seine Patienten nicht aus der Hand, er überwacht die Anwendungen und übernimmt sie zum Teil selbst, vor allem die Massage. Heilung – das war einer seiner Grundüberzeugungen – muß von der Person des Arztes ausgehen, die Mittel sind demgegenüber von sekundärer Bedeutung.

Groddeck konnte die Menschen faszinieren, er war ein Charismatiker. Schon mit seiner Physiognomie, seinem masssigen Körper, wirkte er auf seine Patienten mächtig, ja, bisweilen geadezu übermächtig. Vieles an ihm schien etwas groß geraten zu sein, die schweren, prankenhaften Hände, der Kopf, eingerahmt von den großen, abstehenden Ohren, die wulstigen Lippen und die kräftige Nase. Besonders eindrucksvoll – und von vielen hervorgehoben: Seine Augen, ein bannender, stechender Blick, den manche als satanisch empfinden. Das Dämonische seines Antlitzes und seiner Physis fand eine Entsprechung in seiner Redeweise, in seiner ausdrucksstarken, festen Stimme, die ungeheuer suggestiv wirkt. Manche Patienten fühlen sich aber auch eingeschüchtert, einige beschweren sich über seine Lautstärke, seinen zuweilen herrischen Ton. Bemerkenswert ist, daß diese gebieterischen, autoritären Züge häufig mit einer Gegenbesetzung versehen werden. Hermann Keyserling spricht von einem »wahrhaft diabolischen« Gesicht, das zugleich eine »tiefe Gütigkeit«[4] ausstrahlt. Das Fesselnde und Faszinierende, das von Groddecks Erscheinung ausging, hing offenbar gerade mit dieser Ambivalenz zusammen. Er symbolisiert für viele Patienten das, was sie in ihrem Leben vermissen, was sie suchen und in keinem anderen Menschen finden, den festen, ruhenden Pol. So kommt er mit seiner Physiognomie, seinem Habitus, den Bedürfnissen und Wünschen einer vornehmlich weiblichen Klientel entgegen. Schon mit seinem Äußeren entspricht er jenem tiefverwurzelten Bild vom Arzt als Heiler, Magier und Seelenführer; ein Bild, das sich schon bei Hippokrates findet, für den Aussehen, Auftreten und Erscheinung des Arztes ein wesentliches Element der Heilkunst sind.

Gegenüber seinen Patienten nahm Groddeck eine alles andere als distanzierte Haltung ein, sein Ideal war nicht die von Freud gepriesene und seinen Schülern auferlegte gleichschwebende Aufmerksamkeit, er präsentierte sich als aktiv eingreifende Person, ja, als Über-Person und Projektionsfigur. Von Freud bekam Groddeck zwar 1917 bestätigt, daß er zur Zunft der Psychoanalytiker gehört, doch hat sich Groddeck dem Reglement der Analytiker nicht untergeordnet, die technischen Regeln und das Setting lehnte er als verbindliche Richtschnur ab. Nicht nur in dieser Hinsicht vertrat er ganz eigene Vorstellungen, die Freud zwar mit Skepsis betrachtete, doch gleichwohl – anders als bei den einige Jahre zuvor aus der Psychoanalytischen Vereinigung ausgestoßenen Alfred Adler, Wilhelm Stekel und C.G. Jung – akzeptierte. Als Groddeck zur Psychoanalyse stieß, hatten sich die Zeiten verändert, man konnte sich in der Vereinigung Abweichungen erlauben, zumal wenn man nicht als Rivale im Machtzentrum auftrat. Groddeck wurde das Recht zugestanden, anders zu sein und für seine Klientel andere Wege in der Behandlung zu gehen als die von Freud geebneten und vorgeschriebenen. Und Groddeck pflegte dieses Anderssein, diesen Sonderstatus. Insofern gibt es bei Licht betrachtet zwischen Freud und Groddeck mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Das zeigt sich nicht nur an den Behandlungskonzepten, sondern auch an der Mentalität der beiden Personen, an ihren grundsätzlichen Einstellungen und Anschauungen. Während Freud alles daran setzte, die Psychoanalyse zu verwissenschaftlichen und in einen institutionell abgesicherten Diskurs zu überführen, lehnt Groddeck alles systematische Denken ab, in jeder Methode sieht er einen Zwang, begrifflichen Festlegungen weicht er aus. Ein antiwissenschaftlicher Affekt durchzieht alle seine Schriften.

Zur Darstellung seiner Gedanken bedient sich Groddeck vornehmlich der literarischen Gattung des Romans. Ganz anders als Freud, der in seinen ›Studien über Hysterie‹ noch mit leisem Erschrecken und mit einigem Unbehagen konstatiert, daß sich seine Krankengeschichten wie Novellen lesen würden und des ernsten Gepräges der Wissenschaft entbehren, hat sich Groddeck dieser Bedenken entledigt. Die wissenschaftliche Form ist für ihn ein starres Netz aus Begriffen, mit dem die im Fluß befindlichen Dinge angehalten, fixiert werden. In Wirklichkeit aber wechseln die Wahrheiten, und nur der, der sich der paradoxalen Rede bedient, vermag etwas vom Leben zu erfassen.

Groddecks ablehnende Haltung gegenüber dem wissenschaftlichen Denken, seine – wie wir noch sehen werden – fundamentale Opposition gegen die Moderne trennen ihn vom aufklärerischen Anspruch der Psychoanalyse. Er glaubt an die Kraft des Unbewußten, des Es, und alle Vorstellungen einer Eroberung dieser Bereiche durch das Ich weist er kategorisch zurück. Von dem Ernst, den die Analytiker in ihrem Auf- und Erklärungseifer an den Tag legen, fühlt sich Groddeck geradezu herausgefordert. Mit Ironie und ein wenig Selbstbespöttelung heißt es im ›Buch vom Es‹: »Was vernünftig oder nur ein wenig seltsam klingt, stammt von Professor Freud in Wien und dessen Mitarbeitern; was ganz verrückt ist, beanspruche ich als mein geistiges Eigentum.«[5]

In dieser Pose des Nonkonformisten, der mit unbändiger Lust gegen alles zu Felde zieht, was im Gewand des Ernsten und vermeintlich Seriösen daherkommt, hat sich Groddeck am liebsten gesehen, in ihr war er faszinierend und überzeugend. So haben ihn seine Patienten gemocht und verehrt, so wollen ihn noch heute seine Anhänger sehen. Groddeck der wilde Analytiker, der die Sicherheiten erschüttert, die in jedem systematischen Denken liegen, der Fragen stellt, die quer zum wissenschaftlichen Diskurs stehen, der einen anderen Blick auf das Leben riskiert und ganz en passant ein neues Paradigma, eine neue Behandlungsmethode begründet:

»Hat jemand Kopfschmerzen und ich frage, zu welchem Zweck, dann ist er zunächst verständnislos; vielleicht sagt er nachher: Ich weiß es nicht. Da gibt es ein einfaches Mittel; man fragt; wozu haben Sie Ihren Kopf? Mit dem Kopf denkt man. Das ist einer der Gründe, warum nicht bloß Kopfschmerz entsteht, sondern eine Reihe von Erkrankungen, um das Denken zu verhindern, besonders das Phantasieren.«[6] Mit solchen Fragen und unorthodoxen Ansichten hat Georg Groddeck seine Patienten und die Zuhörerschaft seiner populärmedizinischen Vorträge, die er in den Jahren zwischen 1916 und 1919 in seinem Baden-Badener Sanatorium hält, gern konfrontiert. Und während die Zuhörer oft noch ihre Verblüffung abreagierten, erzählt Groddeck schon von seinen Hustenanfällen, mit denen er unangenehme Eindrücke ›wegzuhusten‹ pflegt. Groddeck nahm die Krankheiten beim Wort: »Alle wissenschaftlichen Erklärungen gehen von dem Gedanken aus, die Kälte mache den Menschen krank. Die Sprache denkt anders; sie behauptet, der Mensch benutze die Kälte, um sich krank zu machen, er ›erkältet sich‹.«[7] Die Witterung ist nicht die Ursache der Erkältung, der Mensch benutzt das Kaltwerden nur als Hilfsmittel zum Krankwerden: »der Wunsch sich zu erkälten, enthält in sich den Wunsch sich abzukühlen, und dieser Wunsch kann nur entstehen, wenn man von Hitze geplagt ist oder geplagt zu werden fürchtet.«[8] Nicht Bakterien und Bazillen macht Groddeck verantwortlich, sondern ein Motiv, das am Anfang jeder Krankheit steht und die Prädisposition zum Krankwerden schafft. Aufschluß über das Motiv erhält der Arzt oft schon durch die Sprache, aber auch durch das Organ, das zum Krankwerden benutzt und immer mit bestimmten Absichten gewählt wird.

Für Groddeck ist Krankheit nicht der Gegensatz zur Gesundheit, nicht die Nachtseite des Lebens, sie ist eine Ausdrucksform, eine Sprache unseres Körpers, der sowohl sprechender wie besprochener Körper ist. Jedes Symptom erzählt eine Geschichte. Wo Stimme und Laut versagen, da spricht das Symptom. Darum ist es ein Fehler, das Symptom, bevor man es verstanden hat, zu beseitigen. Außerdem wäre es sinnlos, denn das Verdrängte würde sich nur ein anderes Organ, ein anderes Feld suchen, um sich artikulieren zu können.

Der Arzt, so wie ihn Groddeck in den zwanziger Jahren definiert, ist einerseits ein Hörer, der im Wirbel der Laute die Stimme des Es erlauschen muß; andererseits ist er ein Leser, der die Signaturenschrift des Körpers entziffern und in eine signifikante Ordnung zu bringen hat. Wobei er im Grunde nur zusammentragen muß, denn was an Symptomen artikuliert und als Körperschrift manifest wird, ist immer schon auf Sinn hin ausgelegt, die Zeichen verweisen nicht, sie zeigen, offenbaren. Jede Erkrankung ist für Groddeck ein sinnvoller Vorgang, mit dem unser Körper, unser Es, bestimmte Absichten und Zwecke zum Ausdruck bringt. Mit der Sprache unseres Körpers gestalten wir diese Zwecke, bringen wir ein Symptom hervor, das wie das Kunstwerk eine Schöpfung ist. Krankheit als Schöpfung des Es, als Metapher, das war – und ist heute immer noch[9] – eine provozierende These, die Groddeck nicht im allgemeinen beließ, sondern mit kühnen und – wenn man sie isoliert nimmt – geradezu ungeheuerlichen Beispielen illustriert: »Die Erkrankung ist auch eine Leistung, ist eine andere Lebensäußerung. Man kann eine Lungenentzündung einem deutschen Aufsatz parallel setzen oder dem Malen eines Bildes«[10].

Halb Genius, halb Provokateur, so tritt Groddeck im Ersten Weltkrieg auf die Bühne. Er entlarvt das Ich als Possenreißer und vergöttert es zugleich: Wenn ich nicht besser bin, so bin ich doch wenigstens anders. In diesem Satz Rousseaus liegt viel von dem, was Groddeck als Credo in diesen Jahren zu kultivieren und zu stilisieren versucht. Mit dieser Zeit ist sein Renomee verknüpft: Außenseiter und Grenzgänger, Versucher der Schulmedizin und der Psychoanalyse. Die Person Groddecks und sein Werk gehören fast völlig dieser Phase an. Für viele ist er der Autor zweier Bücher: ›Der Seelensucher‹ und ›Das Buch vom Es‹. Das erste erschien im Jahre 1921, das zweite 1923. Alle anderen Schriften werden eher am Rande wahrgenommen. Obwohl seit den sechziger Jahren viele Arbeiten in Sammelbänden veröffentlicht wurden und seit den achtziger Jahren eine Werkausgabe erscheint, ist das Bild Groddecks weiterhin mit einer sehr schmalen Lebens- und Werkperiode verknüpft. Zu disparat scheinen einige Arbeiten und viele Aussagen und Ansichten Groddecks zu sein, als das sie sich so ohne weiteres in das Bild einfügen ließen, das man sich von ihm gemacht hat.

Die einen sehen in Groddeck den wilden Analytiker, der subversiv alles logische und systematische Denken angreift, ein Arzt, in der Pose Dadas; die anderen sehen in ihm den Vater der Psychosomatik, den Gegenkönig zu Sigmund Freud, der ein neues Paradigma in den medizinischen Diskurs eingeführt hat. Wie kommt es zu diesen widersprüchlichen Einschätzungen und Lesarten? Wer war dieser Georg Groddeck, der so unterschiedliche Reaktionen hervorruft?

Erstes Kapitel

An der Saale hellem Strande. Salz & Sole. Eltern & Großeltern. Die demokratische Krankheit. Ein seltsames Exemplar. Wir waren fünf. Große Ohren. Mutter und Sohn. Traumsucht und Renitenz. Ein Charakter wird gespielt. Dir fehlt es am Besten. Die Katastrophe.

Georg Groddeck ist am 13. Oktober 1866 in dem kleinen Kurort Bad Kösen geboren, das in Sachsen-Anhalt, dicht an der Grenze zu Thüringen liegt. Die Lage des Kurortes, unweit von Naumburg und in gehörigem Abstand zur Kultstadt der deutschen Klassik, Weimar, war schon immer ihr Kapital. In einiger Entfernung verlaufen die Hauptverkehrsstraßen Berlin–Nürnberg und Bad Hersfeld–Dresden, und bereits 1846 hält in Kösen der erste Zug der Eisenbahnlinie Halle–Erfurt. Heute erlebt der kleine Bahnhof die stündlichen und keineswegs taktvollen Erschütterungen des Intercity-Verkehrs, der auf halbem Wege zwischen München und Berlin hier durchrauscht. Von der Kultur- und Burgenlandschaft an der Saale weiß dieser Zug nichts, die steilen Felspartien, die der Landschaft um Bad Kösen ihr Gepräge geben, lassen ihn ebenso gleichgültig wie die Weinberge und die Thüringer Pforte, mit der er es gar nicht erst aufnimmt, die er lieber dem Wanderer überläßt, der von hier aus einen schönen Blick über die Mittelgebirgslandschaft hat. Was immer das romantische Herz ersehnt, in dieser Gegend findet sich alles im Übermaß. Im Umkreis von nur zwanzig Kilometern gibt es so viele Burgen und Schlösser wie sonst an keinem anderen Ort. Zu den eindrucksvollsten, die sich in unmittelbarer Nähe von Bad Kösen erheben, gehören die Burgen Saaleck und Rudelsburg. Auf der Rudelsburg fanden Mitte des 19. Jahrhunderts die großen Treffen der Corpsstudenten statt. 1826 weilte hier auch Franz Kugler und dichtete, wie es heißt, in einer ›lauen Sommernacht‹, das Lied von »der Saale hellem Strande«, wo »Burgen stolz und kühn« stehen.

Die Saale, ein dunkler, gemächlicher Fluß, der durch die Landschaft mäandert, wird in Bad Kösen zum breiten und in manchen Jahreszeiten unberechenbaren Strom. Jahrhundertelang fuhren die Flößer saaleabwärts bis nach Dürrenberg, Halle und Alsleben. In Kösen machten sie Station, und die Flößerei gehörte lange Zeit zu den wesentlichen Einnahmequellen des Ortes. Die zu Ostern und Johanni abgehaltenen Holzmessen waren bis Mitte des 19. Jahrhunderts Höhepunkte im Leben der Stadt. Am 19. März 1818, einem Gründonnerstag, schreibt Goethe an Zelter und erinnert ihn an den großen Holzmarkt, der an diesem Tag in Kösen an der Saale gefeiert wird, »wo künftige Stadt und Landgebäude zu hunderten roh auf dem Wasser schweben«[11]. In Gedanken sieht sich Goethe oben auf der Kösener Steinbrücke stehen, »auf meiner Zinne über dem rauschenden Brückenbogen, die tüchtigen Holzflöße, Stamm an Stamm, in zwei Gelenken, fahren mit Besonnenheit durch und glücklich hinab«.[12] Groddeck wird später in seinem autobiographischen Roman ›Ein Kind der Erde‹ eine ganz ähnliche Szene beschreiben – etwas ausladender und blumiger allerdings –, und sein Held steht an ebenjener Stelle: »Unter ihm brauste der Fluß in mächtigem Wellenschlag ein Wehr hinabstürzend, große Flöße trieben in dem Strom, oft drei, vier Baumreihen hintereinander, Schiffer in hohen Wasserstiefeln standen darauf (…). Eilig liefen die Flößer mit ihren Stoßhaken über die glatten Baumriesen zum hinteren Ende, um nicht in das Wasser gerissen zu werden, und rasch stürmten sie wieder nach vorn, denn nun galt es, in der reißenden Strömung den Weg durch den engen Brückenbogen zu finden.«[13] Nicht immer ging das gut. Im November 1890 führte das aufgestaute Flußholz bei Hochwasser sogar zum Einsturz der Steinbrücke. Groddeck – wir werden noch darauf zurückkommen – hat dieses Ereignis in seinem Roman aufgegriffen und mit einer familiären Katastrophe verknüpft.

Von der Flößerei haben die Bewohner gelebt, das eigentliche Gepräge aber erhielt der Ort und die Umgebung von den Zisterziensern, die sich hier, im unwirtlichen Winkel des Saaletales, um 1137 ansiedelten und das Kloster Pforte gründeten, das 1543 zur Landesschule wird. Mit der Urbarmachung und Kultivierung des Saaletals schufen die Zisterziensermönche die Grundlage des Ortes. Die in Kösen ansässigen Bauern waren dadurch aber von ihrem Land abgeschnitten; sie mußten, wenn sie es beackern wollten, Pachtzins bezahlen, was sich kaum einer leisten konnte. Erst im 19. Jahrhundert entdeckte man eine Einnahmequelle, von der man sich Unabhängigkeit und Wohlstand versprach, die Gründung und Entwicklung eines Heil- und Kurbades.

Zunächst war man jedoch mehr am Salz als an der heilenden Wirkung der Sole interessiert. Der Dresdner Tischlersohn Johann Gottfried Borlach erschloß von 1730 an die Solequellen in Kösen und machte aus dem Salinenbetrieb ein prosperierendes Unternehmen. Der Salzabbau stieg sprunghaft an und wurde um 1800 in Kösen zu einem wesentlichen Wirtschaftsfaktor. Um diese Zeit entstand hoch über der Saale ein Gradierwerk, das noch heute zu den markanten Bauten der Stadt gehört. Parallel dazu wurde man auf die heilende Wirkung der Kösener Sole aufmerksam. Einer der Freunde und Förderer der Soletherapie war der preußische Hofarzt Dr. Wilhelm Hufeland, der vorschlug, Kösen zu einer vorbildlichen Stätte der Hygiene auszubauen. Anfang des 19. Jahrhunderts kamen die ersten Badegäste, die zum Inhalieren noch in die Bodenräume über den Salzkoten gehen mußten, eine Inhalierhalle entstand erst 1888. Zunächst zählte man im Jahr nicht mehr als 40 Gäste. In der folgenden Zeit wurde vor allem das Badewesen ausgebaut. 1836 eröffnete der Arzt Dr. Rosenberger eine Badeanstalt für erkrankte Kinder und propagierte die Heilwirkung des Badens und – wenig später auch – der Elektrizität. Als 1847 die Eisenbahnlinie eröffnet wurde und gut zehn Jahre später der Salinenbetrieb seine Produktion einstellte, stieg die Zahl der Badegäste beträchtlich. 1859 zählte man bereits 1300 Kurgäste, und Kösen nannte sich nun Solbad. Zur Bade- und Inhalationskur gehörten Molketrinken, Diät, viel Bewegung in frischer Luft, strenges Einhalten von Ruhe- und Schlafphasen.

Von Mitte des 19. Jahrhunderts an kamen vor allem Gäste aus Berlin in die Kurstadt an der Saale. Unter ihnen der Maler Adolph von Menzel, der sich bei seinen Aufenthalten zu zwei Gemälden mit Motiven aus Kösen inspirieren ließ. Aus Weimar reiste mehrfach Franz Liszt in Begleitung der Fürstin Sayn-Wittgenstein in den Kurort. Und am 18. August 1867 kam über Magdeburg und Halle ein Journalist nach Kösen, der später zum Schriftsteller avancierte, sich bis dato aber vor allem als Theaterkritiker und Verfasser von Reisefeuilletons und historischen Betrachtungen aus der Mark Brandenburg hervorgetan hatte: Theodor Fontane. Fontane fand es hier ganz reizend und machte in Gesellschaft Ausflüge nach Naumburg, Almrich, Schulpforte und natürlich auf die Rudelsburg. Zum Souper ging es dann in den Gasthof Mutigr Ritter, das Aushängeschild der Kösener Gastronomie.

Freilich, Kösen war kein Luxusbad, aber es hatte Atmosphäre und Charme, den man noch heute spürt oder, vielleicht besser, wieder spürt, denn die Stadt besinnt sich nach der Zeit der volkseigenen Sanatorien und Badeanstalten auf ihre Tradition.

 

Doch gehen wir noch einmal zurück in die Aufbruchjahre des Kurbades Mitte des 19. Jahrhunderts. Neben dem schon erwähnten Dr. Rosenberger machte zu dieser Zeit noch ein anderer Arzt von sich reden: Dr. Carl Theodor Groddeck. Am 20. Juni 1855 eröffnet er neben seinem Wohnhaus, in der Chaussee Nr. 81, eine Molkenund Brunnenanstalt, zu der ein Jahr später noch eine Solbadeanstalt kommt. Diese Anstalt war zwar nicht die größte in Kösen, sie stand der Hartungschen Bade- und Trinkanstalt an Größe ein wenig nach, übetraf aber alle anderen Einrichtungen an Eleganz und Komfort. Das Haus verfügte über die modernsten Wannen aus Porzellan und Kupfer, die Dr. Groddeck, wie die gesamte Einrichtung des Hauses, in Berlin kaufte. In Stil und Ausstattung setzte Dr. Groddeck neue Maßstäbe für die Bäderkultur in Kösen. Von besonderem Vorteil war zudem die Lage des Anwesens: ein stattliches Haus mit großem Garten, dicht am Bergwald gelegen und mit einer schönen Aussicht über das Saaletal. Für Dr. Groddeck, der sich mit seiner hochschwangeren Frau in Kösen niederließ, war dies ein großer Sprung. Die eigenen finanziellen Mittel der Familie reichten nicht aus, so daß man sich von Verwandten Geld leihen und – zur Verbesserung der Einnahmen – die Wohnungen im Haus vermieten mußte. Da das Kurbad eine gute Entwicklung versprach, war man bester Hoffnung, daß sich die Investitionen bald auszahlen würden. Neben dem finanziellen Risiko brachte die Niederlassung in Kösen für Dr. Groddeck auch in seiner beruflichen Tätigkeit Veränderungen mit sich, denn als Badearzt hatte er keine Erfahrung, da er bisher bei der Seuchenbekämpfung in Preußen gearbeitet hatte. Gleichwohl war er in Kösen kein Unbekannter, das lag nicht so sehr an seinem Ruf als Arzt, sondern vor allem an seiner Frau Caroline, die aus dem nahe gelegenen Schulpforte stammt und – wie sie ein Leben lang mit Stolz betont – eine geborene Koberstein ist. Auch nach ihrer Heirat unterzeichnet sie jedes Schriftstück mit ihrem Ehe- und Geburtsnamen. »Sie blieb«, sagt später ihr Sohn Georg, »trotz aller Liebe zu ihrem Ehemann, trotz der sechs Kinder, die sie ihm gebar, Lina Koberstein, verheiratete Groddeck.«[14]

Ihr Vater, August Koberstein, genoß in Kösen großes Ansehen. Er war ein bekannter Literarhistoriker, der unter anderem eine mehrbändige ›Geschichte der deutschen Nationalliteratur‹ geschrieben hatte und seit 1820 an der Landesschule Pforta unterrichtete. 1824 heiratet er die aus einer Gelehrtenfamilie stammende zweiundzwanzigjährige Caroline Henriette Auguste Hecker. August Koberstein war der Sohn eines Lehrers und Pfarrers aus Rügenwalde in Pommern, dort ist er am 9. Januar 1797 geboren. Er wird in einer Kadettenanstalt erzogen, besucht anschließend das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Berlin, wo er ab 1816 unter anderem Philologie, Philosophie und Mathematik studiert. Zur Finanzierung seines Studiums unterrichtet er Schauspielerinnen in deutscher Sprache. Nicht zuletzt daher rührt seine Vorliebe fürs Theater. Georg Groddeck, der sich immer wieder auf seinen Großvater bezieht, den 1870 verstorbenen Koberstein persönlich aber kaum gekannt hat, führt seine eigene Lust am Schauspielern auf Koberstein zurück. Koberstein war aber auch selbst ein großer Vortragskünstler und Vorleser, der in seiner Deklamation von Ludwig Tieck beeinflußt war, mit dem er auch in näherer Beziehung stand. Als er an die Landesschule kommt, fällt er nicht nur durch seine breite Bildung und seine imponierende Gelehrsamkeit auf, sondern auch durch sein kräftiges und stattliches Äußeres. Ein Philologe der, wie ein Kollege aus Pforta sich erinnert, in den Kraftübungen alle übertraf. Auch in seinem Verhalten gab es Eigenheiten, die bei manchen Kollegen Mißfallen erregten. Einmal trat Koberstein als Sänger auf, was als unvereinbar galt mit dem Respekt vor einem Lehrer. Sogleich wurde er verwarnt, er solle sich Gegenständen zuwenden, die mit der Aufgabe der Schule in engerem Zusammenhang stehen: eine Belehrung, die Koberstein nicht nötig hatte, denn schon 1821 wurde er Mitbegründer der Naumburger »Literaria«, einer literarischen Vereinigung von Lehrern, Juristen, Pfarrern und Apothekern, in der er mehr als 50 Vorträge hielt. Er trat auch auf den alljährlichen Frauentagen des Vereins auf, wozu viele der ausschließlich männlichen Mitglieder nicht bereit waren, denn Frauen wurden ansonsten weder im Vereinsleben geduldet noch als Zuhörerinnen ernst genommen. Professor Koberstein ließ sich gern in die Pflicht nehmen und entwickelte ein außerordentliches Gespür für das weibliche Publikum. Am 8. Dezember 1840 spricht er auf dem Frauentag zum Thema: »Über das gemüthliche Naturgefühl der Deutschen und dessen Behandlung im Liebesliede mit besonderer Beziehung auf Göthe«.

Carl Groddeck, der 1855 geborene älteste Bruder Georgs, hat aufgrund seines Alters noch ein sehr viel genaueres Bild von seinem Großvater. In einem Brief vom 7. Juli 1903 sagt er, Koberstein habe sehr viel Sarkasmus gehabt, sei ein Mensch mit Geist und Geschmack gewesen, der mit seinen angenehmen Umgangsformen vor allem die Weiblichkeit verzauberte: »Er war ein Charmeur, der alte Herr, und ich habe keinen Menschen gesehen, der ihm hätte widerstehen können.«[15] Nicht nur im persönlichen Verkehr, auch in seinen politischen Ansichten galt Koberstein als liberal, er setzte sich für die Idee eines geeinten Nationalstaates ein und ließ sich sogar als Kandidat für das Frankfurter Parlament aufstellen. Doch neben allen guten Seiten, wird von den Zeitgenossen immer auch sein eigensinniges Wesen betont, seine zuweilen herrische und aufbrausende Art. Gegen sich selbst hart und unbestechlich, verlangte er die gleiche Haltung auch von anderen. Mit Spott und Arroganz äußerte er sich über die mangelnde Charakterfestigkeit und Prinzipientreue der Süddeutschen, die er rein mentalitätsmäßig ablehnte. Noch in einer Würdigung des Verstorbenen, verfaßt vom damaligen Rektor der Landesschule Dr. Peter, beklagt man seine ungerechten Invektiven, die so gar nicht mit seiner sonstigen Liberalität in Einklang zu bringen waren.

Daß Koberstein auch ausgesprochen markige Urteile fällen konnte und mit äußerster Strenge auf die Einhaltung seines literarischen Kanons pochte, war unter den Schülern bekannt. Einer von ihnen war Friedrich Nietzsche, der zwischen 1858 und 1864 als Schüler die Landesschule Pforta besuchte. Am 19. Oktober 1861 schrieb er einen deutschen Aufsatz über Hölderlin und pries ihn emphatisch als »hellenischen Mönch«, dem er sich geistesverwandt fühlen und dessen Haß gegen das Fachmenschen- und Philistertum er voll und ganz teilen würde. Am Ende plädiert Nietzsche für eine »vorurteilsfreie Würdigung« Hölderlins. Der korrigierende Lehrer Koberstein schreibt unter die Arbeit: »Ich möchte dem Verfasser doch den freundlichen Rat erteilen, sich an einen gesünderen, klareren, deutscheren Dichter zu halten.«[16] Nietzsche beherzigt den Rat und schreibt als Untersekundaner eine kritisch-historische Arbeit über die Ermanarichsage, die Koberstein mit außerordentlichem Lob bedenkt.

Koberstein hatte seine Standpunkte, er meinte zu wissen, was gut und schlecht ist, dies galt nicht nur für seine Schüler, sondern in noch viel stärkerem Maße für seine Familie. Sein 1836 geborener Sohn Karl, den man in der Familie Groddeck Onkel Pritschke nannte, wollte eigentlich Maler werden, der theaterbegeisterte Vater aber war davon überzeugt, daß sein Sohn zum Bühnenschauspieler berufen sei. Trotz aller Förderung wurde Karl Koberstein dann ein eher mittelmäßiger Schauspieler in Dresden. Auf die Erziehung und Ausbildung der Tochter Caroline nahm zunächst vor allem die Mutter Einfluß. Sie war eine distinguierte Frau, die in der Erziehung ihrer Tochter auf Sicherheit im Geschmack, kultiviertes Benehmen und literarische Bildung Wert legte. Georg Groddeck vertritt später gegenüber seinem Bruder Carl sogar die Meinung, daß alle »Eigentümlichkeiten und Talente« aus der Familie der Großmutter stammen: »der Zug ins Große und Großartige, die Überlegenheit und vornehme Auffassung des Lebens und der Verhältnisse«.[17] Die Briefe an ihre Tochter zeigen aber auch, daß sie größten Wert auf Natürlichkeit legte und mehr Freiheiten zuließ als ihr Mann. An die in Frankfurt weilende Caroline schreibt sie: »Nütze Deine Zeit recht, Du giebst uns dadurch die beste Lebensfreude. – Du wirst ja ganz wild Mädchen, zweimal so flott nach einander getanzt, es ist ja arg.«[18] Unter der Obhut ihrer Mutter wuchs Caroline zu einer überaus gebildeten und sehr selbständigen jungen Frau heran. Bemerkenswert ist, daß Georg Groddeck, der in den Briefen an seinen Bruder Carl die großmütterlichen Ideale preist, mit der selbständigen Mutter seine Schwierigkeiten hat. Mit eher mißfälligem Beifall bedenkt er später die mütterliche Fähigkeit, sich in Gesellschaft Respekt und Geltung zu verschaffen: »sie war eine starke und eifrige Göttin, die keine anderen Götter neben sich duldete.«[19] Eine Ausnahme waren literarische Götter, aber auch hier gab es für sie eigentlich nur einen, den sie verehrte: Goethe. Auf ihrem Nähtisch, erinnert sich ihr Sohn Georg, lag »immer ein grün gebundenes Buch mit einer Auswahl Goethescher Gedichte (…), das sie ihre Bibel nannte«[20].

Koberstein war stolz auf seine Tochter und schätzte sie als Gesprächspartnerin. Einen Mann, der ihrer würdig war, gab es für den Vater eigentlich nicht. Wer immer da gekommen wäre, er hätte es schwer gehabt. Ganz und gar unmöglich erschien Koberstein aber eine Verbindung seiner Tochter mit dem Arzt Carl Theodor Groddeck. Koberstein kannte Groddeck seit langem, er war im Alter von fünfzehn Jahren als Extraneer (Externer) nach Schulpforta gekommen und lebte im Haushalt des Professors. Nach einem halben Jahr erkrankte er an einem Herzleiden. Frau Koberstein und ihre damals sechzehnjährige Tochter Caroline übernahmen die Pflege des Schülers. In dieser Zeit entwickeln sich die ersten zarten Bindungen zwischen den beiden. Gleich nach der Genesung wird Carl Theodor dann aber von seinem Vater in die Heimatstadt Danzig zurückgeholt, wo er durch einen Hauslehrer auf das Studium vorbereitet wird.

Der Vater, Karl August Groddeck, entstammt einer Rats-, Kaufmanns- und Reederfamilie. Zu dem Besitz der Familie gehörten seit dem 17. Jahrhundert die beiden mächtigsten Speicher der Stadt, die man den »Großen Groddeck« und den »Kleinen Groddeck« nannte. Der 1794 geborene Karl August Groddeck war Justizrat, er erwarb sich großes Ansehen als Abgeordneter Danzigs in der preußischen Nationalversammlung und vor allem als Bürgermeister der Stadt in den Jahren zwischen 1851 und 1863. Seinen Sohn schickte er zum Studium der Medizin nach Berlin.

Es ist die Revolutionszeit um 1848, der Beginn der konstitutionellen Bewegung, in der das wirtschaftlich dominante Bürgertum um politischen Einfluß kämpft. Besonders aufgewühlt ist die Situation in Berlin; im März 1848 gibt es hier bei Straßenkämpfen mehr als 240 Tote. Als die Truppen auf Befehl des Königs die Stellungen in der Stadt aufgeben, flieht Prinz Wilhelm von Preußen, der spätere König und Kaiser Wilhelm I., aus Berlin. Der Staat macht schließlich der liberalen Opposition Konzessionen, und am 31. März tritt in Frankfurt ein Vorparlament zusammen und beschließt die Berufung einer Nationalversammlung zur Feststellung der deutschen Reichsverfassung.

In dieser Zeit war an ein rein fachlich ausgerichtetes Studium nicht zu denken, die politischen Ereignisse zogen alles in ihren Sog. Auch die Medizin wurde zum Kampfplatz politischer Ideen. Einer, der dabei im Mittelpunkt stand, der zu polarisieren wußte und um den sich schnell ein Kreis Gleichgesinnter scharte, war Carl Theodor Groddeck. Im Jahre 1849 approbierte er sich an der medizinischen Fakultät Berlin als Arzt mit einer Dissertation, die zunächst in lateinischer Sprache unter dem Titel ›De Morbo Democratico, Nova Insaniae Forma‹ und 1850 in einer erweiterten Fassung mit dem deutschen Titel ›Die demokratische Krankheit, eine neue Wahnsinnsform‹ erschien. Carl Theodor Groddeck legte mit dieser Arbeit weniger eine wissenschaftliche Abhandlung als eine politische Kampfschrift vor. Er diagnostiziert die gesamte liberal-demokratische Bewegung mit ihren konstitutionellen Ideen als pathologisch. Leitend für Groddecks Untersuchung sind die Arbeiten von K.W. Ideler über die ›Seelenheilkunde‹ und vor allem die 1832 erschienene Schrift von J.F. C. Hecker über ›Die Tanzwuth, eine Volkskrankheit im Mittelalter‹. Was Hecker für die Tanzwut behauptet, daß es sich um eine ansteckende Krankheit handle, bezieht Groddeck auf die demokratische Bewegung und ihre politischen Ziele. Die »Ansteckung« selbst erklärt er mit Idelers Lehre von der Macht der Nachahmung. Groddeck kommt in seiner Arbeit zu dem Ergebnis, daß die Zustände seiner Zeit »mit einer krankhaften Steigerung des Nachahmungstriebes und des Triebes nach äusserer Freiheit, in allen seinen Richtungen, zu thun haben.«[21] Nachdem er die Diagnose gestellt hat, schlägt er am Schluß in unmißverständlichen Worten eine Therapie vor: »Aus der Erwägung dieser ätiologischen Momente fliessen die Indicationen für die Art der Behandlung, der die Krankheit zu unterwerfen sein wird. Die erste Aufgabe wird hier, wie bei der Behandlung aller Geisteskranken, die sein, diejenigen Lebensäusserungen derselben, die dem Kranken selbst wie der Allgemeinheit der Gesellschaft Gefahr bringen, zu beschränken. Dieser Zweck wird erreicht durch die Anwendung des äusseren Zwanges sowohl, als auch des inneren, den die Furcht vor der Beeinträchtigung der selbstischen Interessen ausübt.«[22]

Am 12. März 1850 kommt es, nachdem ein erster Termin platzt, an der Berliner Universität zu einer öffentlichen Disputation der Arbeit, die noch fünfzig Jahre später Schlagzeilen macht. Weit vor der festgesetzten Zeit war der Raum überfüllt, und viele Anwesende fanden nur noch im Flur und im Nebenraum einen Platz. Eine johlende und grölende Menge, die immer wieder zur Ordnung gerufen werden mußte, stand auf den Bänken und wartete auf den »Erfinder des Demokraten-Wahnsinns«. Kurz nach 12 Uhr erscheint im roten Mantel der Dekan, Medizinalrat Prof. Dr. Casper, hinter ihm der Doktorandus Groddeck, ein hochgeschossener junger Mann im schwarzen Frack und mit weißen Glacéhandschuhen, »blaß aber«, wie es am 14. März in der ›Abendpost‹ heißt, »mit wohlgekämmten Haar, bartlos, aber mit Stehvatermörder – sein Gang war schwankend, aber männlich«[23]. Das Publikum fordert nun lautstark die Verlegung der Disputation in die Aula, dem Wunsch wird schließlich stattgegeben. Nach einiger Verzögerung kann die Disputation, die in lateinischer Sprache stattfindet, beginnen. Am Anfang fordert Groddeck in einer Captatio benevolentiae vom Publikum eine Opposition ohne Leidenschaft, in diesem Sinn habe er auch seine Arbeit verfaßt. Um sich gegen die vielen Zwischenrufe, die seine Rede begleiten, Gehör zu verschaffen, schlägt er heftig auf das Katheder und macht dabei einen alles andere als leidenschaftslosen Eindruck. Dann treten die gewählten Opponenten auf, zunächst Dr. med. Friedländer, der sich mit einer Rede an die Versammlung wendet und unter lautem Beifall sagt, daß nicht die Demokraten verrückt seien, sondern der Verfasser der Arbeit, Carl Theodor Groddeck, in eine Behandlung gehöre. Der Kandidat weist diese Rede in scharfem Ton als unsachlich zurück. Als nächstes tritt Professor Krüger auf, der die Sprache und die Form der Arbeit kritisiert. Groddeck reagiert darauf mit Hochmut und abweisendem Lächeln, belehrt den Opponenten auch, daß die Diskussion der Latinität nicht hierhergehöre. Die allgemeinen Ausführungen des Opponenten zur Demokratie tadelt Groddeck als leeres Geschwätz. Nach Dr. med. Bernhardt und einem Studenten der Theologie tritt am Schluß Professor Bernary als Opponent auf, der Groddeck in sachlicher Form auf viele Widersprüche in seiner Arbeit aufmerksam macht. Die Disputation geht jetzt bereits in die dritte Stunde, das Publikum ist gleichwohl noch immer aufgebracht und unterbricht durch Brüllen und Trampeln den Kandidaten und bedenkt die Ausführungen der Opponenten mit Beifall. Als nach gut drei Stunden der Dekan die Sitzung schließt und Groddeck den Doktortitel verleiht, kommt es zu tumultartigen Szenen. Viele Berliner Zeitungen berichten von dem Ereignis in zum Teil ausführlichen Artikeln unter der Überschrift: »Doktordisputation des Wahnsinns«. Im ›Kladderadatsch‹ vom 17. März 1850 erscheint eine Glosse. Als das ›Deutsche Montagsblatt‹ zweiunddreißig Jahre später, am 11. Dezember 1882, an die Disputation erinnert und dabei viele Einzelheiten entstellt, nimmt Carl Theodor Groddeck in einer scharfen und zum Teil polemischen Entgegnung selbst noch einmal zu dem Ereignis Stellung. Genausowenig wie derjenige, der über religiösen Wahnsinn schreibt, die Religion und die religiöse Gesinnung für wahnsinnig erklärt, habe er, betont er zum Schluß, die demokratische Gesinnung für einen Wahnsinn gehalten. Ironisch unterschreibt er den Artikel mit »Dr. Groddeck, der Erfinder des Demokraten-Wahnsinns«[24]. Noch am fünfzigsten Jahrestag erinnern Zeitungen an den Tag der Disputation und an die »seltsame« Doktorarbeit des Carl Theodor Groddeck. »Es ist das einzige Mal gewesen«, schreibt später sein Sohn Georg, »daß mein Vater öffentlich aufgetreten ist, und er war nicht wenig stolz auf diesen großen Moment seines Lebens; noch als alter Mann erzählte er mit großer Freude, wie alles hergegangen sei.«[25]

Als Carl Theodor Groddeck in Berlin sein Studium abschließt, trifft er auch Caroline Koberstein wieder, die in der Zwischenzeit im Haus ihres Onkels, des Kabinettsrats Illaire, lebt und von der Männerwelt umworben wird. Caroline Koberstein hat sich zu dieser Zeit aber bereits für den geistreich und eloquent auftretenden Groddeck entschieden. Sie wird von ihrer Mutter unterstützt, die Groddeck schon bei seinem Aufenthalt in Schulpforte ins Herz geschlossen hatte. Ihr Vater ist jedoch nur schwer umzustimmen und betrachtet von Schulpforte aus die enger werdende Bindung zwischen den beiden mit einigem Mißfallen. Die politischen Ansichten des zukünftigen Schwiegersohns, seine Radikalität, erscheinen ihm nicht nur unschicklich, sondern gegen alle Vernunft. In einem Artikel der Landesschule Pforta über Georg Groddeck heißt es, daß sein Vater sich der »überlegenen Tradition« des berühmten Literarhistorikers fügte, sich dabei aber »eine Unabhängigkeit des Denkens von ungewöhnlichen Graden«[26] bewahrte. Die gewundenen Formulierungen sagen einiges über die Problematik des Verhältnisses.

Bemerkenswert ist, daß Carl Theodors Vater die Einschätzungen Kobersteins im allgemeinen durchaus teilte, seinerseits aber Bedenken gegen die Heirat seines Sohnes mit einer Lehrerstochter erhob, die er als nicht standesgemäß ansah. Trotz aller Widerstände kommt es im Jahre 1852 zur Hochzeit, wobei auch äußere Gründe eine Rolle spielen: In Preußen brach eine Cholera- und Typhusepidemie aus, und Carl Theodor Groddeck wird in Marienburg eine Stelle als Seuchenarzt angeboten. Damit hat er eine berufliche Position, die nicht eben großartig ist, aber doch eine Heirat möglich macht. Da Caroline Koberstein zusammen mit ihrem zukünftigen Mann in das gefährdete Gebiet ziehen will, setzt man unter Dispens vom Aufgebot einen raschen Heiratstermin durch. Am 14. September 1852 wird das Paar in Danzig getraut und zieht gleich anschließend nach Marienburg. Die Jahre in Marienburg waren von einigen Schicksalsschlägen gekennzeichnet: Die erste Tochter stirbt bereits einen Monat nach der Geburt am 22. Juni 1853, die Mutter erholt sich erst nach einigen Monaten von einer Erkrankung. Als im Frühjahr 1854 die Seuche zurückgeht, steckt sich Carl Theodor Groddeck, der zuvor Hunderte von Typhuskranken behandelt hat, an und erkrankt schwer. Die Situation der Familie änderte sich erst 1855 mit der Niederlassung in Kösen.

In mehreren Zeitungsanzeigen offeriert Dr. Groddeck ein an modernsten Prinzipien ausgerichtetes Theraphie- und Kurprogramm: Er bietet den Patienten Solbäder sowie eine Molken-, Brunnen-, Kräuter- oder Traubenkur an. Auch elektrische Kuren nach der von Duchenne 1852 angegebenen Methode werden von ihm durchgeführt. Die Behandlungszeiten erstrecken sich von 6 Uhr früh bis zum späten Nachmittag.

Carl Theodor Groddeck hatte in Kösen Erfolg, er kam im richtigen Moment in den aufblühenden Ort und scheute nicht das Risiko: 1859 wurde er Badearzt und stand an der Spitze der Badekommission. Befördert wurde sein Aufstieg durch eine Reihe von Heilerfolgen, die sich schnell herumsprachen. Mit seinen Behandlungsverfahren, die er oft änderte, ging er auf Distanz zu den Methoden der sich gerade entwickelnden empirisch-naturwissenschaftlichen Medizin. Carl Theodor Groddeck war ein Verächter der Schulmedizin und wetterte zeitlebens gegen die Hybris der medizinischen Wissenschaft. Er berief sich auf den hippokratischen Begriff der Natur, die der Arzt zu beobachten und in ihrer Heilkraft zu unterstützen hat. Angezogen wurde er von den Außenseitern der Heilkunde wie Johann Gottfried Rademacher. Rademacher, 1772–1850, praktizierte als Arzt in einer kleinen Stadt am Niederrhein und veröffentlichte unter anderem eine ›Erfahrungsheillehre‹, in der er alle modernen Kenntnisse der Anatomie und Physiologie ablehnte und nur das sinnlich Erkennbare gelten ließ. Das Wesen der Krankheit war Rademacher zufolge nicht durch Untersuchung zu erschließen, sondern nur über die Heilmittel und ihre Wirkung. Über Rademachers Lehre ging der Siegeszug der naturwissenschaftlichen Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinweg, sie geriet in Vergessenheit. Was aber sowohl den Vater wie später auch den Sohn Groddeck an Rademacher anzog, war das Gefühl einer Geistes- und Wesensverwandtschaft. Rademacher wird von seinen Zeitgenossen als kantiger, unbestechlicher Charakter geschildert. In seiner Denkungsart von entschiedener Schroffheit, legte er sich gern mit der gesamten Zunft an und wurde deshalb von vielen seiner Kollegen angefeindet, von seinen Patienten jedoch verehrt.

Wenn Georg Groddeck seinen Vater beschreibt, dann sind es eben solche Charakterzüge und Eigenschaften, die er mit Vorliebe hervorhebt und mit denen er ein Bild entwirft, in dem er sich selbst spiegelt: »Mein Vater war ein Ketzer unter den Ärzten; war sich selbst Autorität, ging eigene Wege und Irrwege, und von Respekt vor der Wissenschaft war weder in Worten noch in Taten viel bei ihm zu spüren. Ich besinne mich noch, wie er über die Hoffnungen spottete, die sich an die Entdeckung des Tuberkel- und des Cholerabazillus knüpften, und mit welchem Hochgenuß er erzählte, daß er gegen alle physiologischen Lehrsätze ein Wickelkind ein Jahr lang nur mit Boullion gefüttert habe.«[27]

Ein »seltsames Exemplar«[28] sei der Vater gewesen, meint auch der älteste Sohn Carl. Durch Kösen lief er im Sommer immer mit einem Schirm, um sich gegen die Sonne zu schützen. Da er seinen Sonnenschirm immer mal wieder verlor, mußte er des öfteren einen Regenschirm nehmen. »Schließlich kam er auf den Ausweg, sich einen extra Schirm bauen zu lassen, bei dem ein Feld schwarz und das andere rot war.«[29] Von weitem machte er den Eindruck eines skurrilen Menschen, wer ihn aber wie die Familie aus der Nähe erlebte, der sah das Aufbrausende, Rechthaberische und Tyrannische in seinem Wesen. »Eine elementare Gewalt lag in ihm«[30], schreibt Georg Groddeck in seinem Roman ›Ein Kind der Erde‹.

Carl Theodor Groddeck gehörte zu den Ärzten, die eine einmal getroffene Anordnung nicht veränderten und nie in Zweifel zogen. Dieses Prinzip übertrug er auch auf das familiäre Leben. Hatte er eine Entscheidung gefällt, eine Ansicht oder Position geäußert, dann hielt er unerschütterlich daran fest. Von seiner Frau und seinen Kindern wurde er deshalb mit einiger Distanz und Vorsicht behandelt. Auf der anderen Seite konnte er über alles und jedes groß reden, hielt den Kindern gern und oft Vorträge, so zum Beispiel über die Schädlichkeit der Butter, die nichts weiter als verfaulte Milch sei, oder über das Bier, das ebenfalls aus verfaulten Substanzen bestehe. Nicht nur im Kleinen, auch mit seinen Zukunftsplänen schwebte der aus der großen Stadt Danzig kommende Mann immer etwas über den Menschen seiner Sphäre, und seine Kinder registrierten diese Überlegenheitsgesten mit Wohlgefallen.

Als Badearzt war er ein Saisonarbeiter, der sich im Sommer kaum um seine Familie kümmern konnte, mit Beginn von Herbst und Winter aber mehr Zeit hatte. Die Familie rückte um diese Jahreszeit enger zusammen, so jedenfalls empfand es Georg Groddeck. Es war seine Jahreszeit, wie er immer wieder betont, weil er im Herbst geboren wurde, an einem Freitag, den dreizehnten: »Ich war stolz darauf, daß diese doppelt bösen Mächte mir nichts anhaben konnten«[31], sagt Groddeck später. Doch in einer abergläubischen Familie, die Kreuze macht, bevor das Brot angeschnitten wird, dreimal unter den Tisch klopft und unberufen sagt, ist das Datum allemal ein Omen, dem – wie immer man es sieht – Bedeutung zukommt. Und Groddecks später Stolz rührt ja daher, daß er selbst dieses Datum als Belastung empfunden, sich aber trotz des negativen Vorzeichens behauptet hat, wie er meint, und zwar gegen den Aberglauben der anderen. Er hat das, was alle als Unglück sehen, in Glück verwandelt. Damit erst ist er zu sich, aber – wie wir noch sehen werden – längst noch nicht zur Welt gekommen. Die Kindheit ist für Groddeck ein ständig retuschiertes Produkt, es ist kein Lebensabschnitt, den er überwindet, sondern den er immer wieder vor sich hat und verändert.

Georg Groddeck wuchs mit vier Geschwistern auf: »Ich bin der fünfte Groddeck«[32], sagt er, die Fünf sei seine Zahl, und er leitet davon später allerhand ab. Doch eigentlich war er ja, nach dem Tod des ersten Kindes, der sechste Groddeck. Der Altersunterschied zu seinem bereits am 20. Juli 1855 geborenen Bruder Carl betrug elf Jahre, der zweitälteste, Hans Albrecht, wurde am 7. April 1860 geboren, neunzehn Monate später, am 29. Oktober 1861, Georg Wolfram, genannt Wolf, und am 21. Juni 1865 die Schwester Caroline, genannt Lina.

Als Jüngstem werden Georg, den man in der Familie Pat nennt, viele Zuwendungen zuteil, er genießt in der ersten Zeit den Status eines Hätschelkindes, das in enger Symbiose mit der Mutter aufwächst. Der kindliche Narzißmus entwickelt sich bei ihm besonders stark. Er ist in dieser Phase nicht im gleichen Maß Versagungen ausgesetzt wie seine älteren Brüder. Doch nach dem Aufbrechen der Symbiose erfährt er die Position des Jüngsten als Zurücksetzung, denn nun hat er einerseits die herausgehobene Position verloren, die ihm affektive Zuwendungen sichert, zum anderen aber kann er sich im Kreis der Älteren noch nicht behaupten. In ›Das Buch vom Es‹ schreibt Groddeck: »Ich war der Jüngste in meiner Familie. Man brauchte bloß eine Dummheit zu sagen, so bekam man sie alle Tage aufs Butterbrot geschmiert; und daß der Kleinste in einer Geschwisterschar mit ziemlich großen Altersunterschieden die meisten Dummheiten sagt, ist begreiflich. Da habe ich es mir frühzeitig abgewöhnt, Meinungen zu äußern; ich habe sie verdrängt.«[33] Es ist dieser Verlust einer ursprünglichen Privilegierung, einer Ausschließlichkeit, den Groddeck zwischen dem fünften und achten Lebensjahr empfindet. In dieser Phase sieht er, daß alle wichtigen Positionen in der Familie besetzt sind, der älteste Bruder ist der Hoffnungsträger des Vaters, er steht schon etwas außerhalb der Geschwister und soll schon bald als Zögling an die Landesschule Pforta. Und die Position des Nesthäkchens wird ihm zunehmend von seiner Schwester Lina streitig gemacht. Lina hat nach einer schweren Scharlacherkrankung als Kleinkind einen Herzfehler behalten und bedarf der besonderen Aufmerksamkeit.

 

Zur Zeit von Georgs Geburt ist die Familie in Existenznöten. Im Laufe der Jahre hatte man die Räumlichkeiten dem modernsten Stand angepaßt und durch den Ankauf des Nachbarhauses erheblich erweitert. Die Kredite, die dazu nötig waren, wollte man durch die regelmäßigen Einnahmen im Sommer abzahlen. Doch 1866 brach die Saison zusammen. Der Krieg Preußens um die Vorherrschaft in Deutschland ließ die Gäste verschreckt abreisen. Seit 1862 ist in Preußen Otto von Bismarck an der Regierung, der mit kriegerischen Mitteln die Reichsgründung unter Führung Preußens vorantreibt. Nach dem Sieg der Preußen bei Königgrätz am 3. Juli beruhigt sich die Lage zwar, aber Kurgäste kommen in diesem Jahr nicht mehr nach Kösen. Von den Einnahmen außerhalb des Kurbetriebs kann die Familie Groddeck kaum leben. In Kösen hält man die Groddecks für wohlhabend, auch die Kinder, vor allem die Jüngeren, leben in dem Glauben, »der Dr. Groddeck sei der Reichste im Lande«[34]. Der Lebensstil der Familie entspricht dem eines arrivierten Kur- und Badearztes. Man verfügt über Personal, das in der Solbadeanstalt und im Haus arbeitet, und in der Erziehung der Kinder läßt man es an nichts fehlen. Doch der äußere Eindruck täuscht, da die Familie über keine finanziellen Rücklagen verfügt. 1866 müssen die Ausgaben deutlich eingeschränkt werden. Die Schädlichkeit der Butter, vom Vater vorher wortreich begründet, erweist sich nun, wo man verzichten muß, als Segen für die Haushaltskasse. Allen Einschränkungen zum Trotz kann man aber die Kredite nicht abbezahlen. In dieser Situation hilft dem Vater ein Kaufmann und mehrfacher Millionär aus Stettin, Georg Marchand, mit dem er sich seit einiger Zeit angefreundet hat. Marchand, der sich in Kösen wohl fühlt und von der Lage entzückt ist, wird in den folgenden Jahren zu einer zentralen Figur im Leben der Kurstadt. Er gründet zusammen mit seinem Freund Carl Theodor Groddeck ein Komitee, das aus Kösen ein Welt- und Modebad machen will, und er setzt einen Teil seines Vermögens für dieses Ziel ein. Besonders stolz ist man in der Familie Groddeck, als Marchand die Patenschaft für Georg übernimmt.

Gleichwohl schauen die Eltern skeptisch auf die Entwicklung ihres Jüngsten, der in seiner Auffassungsgabe nicht gerade der Schnellste ist und immer wieder zum Objekt von Hänseleien wird. »Du entsinnst Dich vielleicht noch«, schreibt Groddeck später seinem Bruder Carl, »daß ich schon als Kind immer eine halbe Stunde brauchte, ehe ich hinter den Sinn einer Sache kam.«[35] Eine andere Auffälligkeit scheint zunächst eher nebensächlich, wird in den folgenden Jahren aber noch eine gewichtige Rolle spielen: Im Vergleich zu seinen vier Geschwistern ist Georg ein eher häßliches Kind mit großen abstehenden Ohren. Die Mutter wendet die Sache positiv: »Große Ohren befähigen und verpflichten zu großen Leistungen.«[36] Groddeck zitiert später gern diesen Satz, aber er erinnert sich auch an die Position des häßlichen Entleins, die er innehatte. Im fünfzehnten Vortrag, den er 1916 in seinem Sanatorium hält, spricht er von seinen eigenen Phantasien, von Märchen, aus denen sich diese Phantasien entwickeln und die er als Kernpunkt des Lebens bezeichnet. Solche Kernpunkte sind für Groddeck die beiden Märchen vom ›Aschenputtel‹ und vom ›Hässlichen Entenküken‹. »Sie haben«, so Groddeck, »einen gemeinsamen Zug. Das unterdrückte Wesen, das von allen für häßlich und minderwertig gehalten wird und bei dem sich plötzlich herausstellt, daß es weit über die Umgebung herausragt.«[37] Das zunächst Verkannt- und dann Erhobenwerden gehört zum Groddeckschen Familienroman, ein Tagtraum, an dem er auch als Erwachsener festhält, weil sein Größen-Selbst in der Kindheit lediglich verdrängt oder abgespalten, aber nicht abgebaut wurde. Ein solcher Abbau hätte, so beschreibt es Heinz Kohut in seiner Untersuchung zum Narzißmus, »das allmähliche Erkennen der realistischen Unvollkommenheiten und Begrenzungen des Selbst«[38] zur Folge. Typisch für Groddeck ist aber, daß er Größenphantasien ausbildet, die auch im späteren Lebensalter fortbestehen und Forderungen an sein Ich stellen, etwas Ungewöhnliches zu leisten.

Zu den Auffälligkeiten in Groddecks Entwicklung gehören die starken exhibitionistischen Bedürfnisse. Der Wunsch, im Mittelpunkt zu stehen und sich bewundern, sich feiern zu lassen, an diesem infantilen Phantasma hält er ein Leben lang fest. So begeht er noch als Erwachsener wie ein Kind seine Geburtstage, mit Kostümierungen, besonderem Geschirr und Darbietungen. »Geburtstag«, so schreibt er 1925, »das ist der Tag, an dem man Herr der Welt ist. Und doch (…) es gibt Menschen, die von sich behaupten, sie machten sich nichts aus ihrem Geburtstage. Das sind die entthronten Könige, Menschen, die schon in der Kindheit ihr Königtum verloren.«[39] Groddeck hat auf diesem »Königtum« immer bestanden, und wo es ihm verweigert worden ist, hat er die Realität verleugnet. Der Druck von Phantasien und das Bedürfnis nach einem idealisierten Objekt, das er selbst ist, lassen in ihm Erinnerungen an Kindheitsgeburtstage entstehen, die sich jeder Realitätsprüfung entziehen: »Aus fern ferner Zeit steigt das Bild eines solchen Tages auf: Alle, Geschwister, Freunde und Freundinnen sitzen um den runden Mahagonitisch herum und neben der Mutter thront auf seinem herzlich geliebten Lederkissen mit olivfarbner-schwarzgemusterter Kreuzstickerei (…) das Geburtstagskind und sperrt in kurzen Pausen den Mund auf, um die süße Schokolade zu schlucken, die ihm die Mutter löffelweise reicht«.[40] Geburtstag, das ist für Groddeck eine Selbst-Feier, ein Schwelgen in Größenphantasien, das Ausleben eines narzißtischen Exhibitionismus, bei dem alle anderen zu Echo- und Spiegelobjekten werden. Darüber hinaus ist für Groddeck jeder Geburtstag auch ein Rückphantasieren an ein vergangenes, verlorenes Paradies, an eine Zeit, in der ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit zuteil wurde und er im Mittelpunkt der mütterlichen Sorge und Pflege stand.

Bis zum sechsten Lebensjahr, sagt er später, habe er ein Goldenes Zeitalter erlebt, eine sonnige Kindheit. In dieser Zeit war er der Favorit seiner Mutter. Kein Problemkind wie Lina, aber auch noch nicht so selbständig und eigensinnig wie seine Brüder, die ihn ihm schon aufgrund seines Alters keinen vollwertigen Partner sehen. Das Verhältnis zu seinen Brüdern empfand Groddeck als kühl und eher schwierig. Als besonders innig schildert er dagegen das Verhältnis zu seiner Schwester. Er erinnert sich an viele Spielszenen, die aber nur selten friedlich verliefen, ein plötzlicher Zorn sei zuweilen über ihn gekommen, und dann hätte er die Puppen mißhandelt oder beim Soldatenspiel die Heere der Schwester zertrümmert. Wenn ihm dies mißlang, hätte er sich vor Wut auf den Boden geworfen. Als Kind habe er oft eine »Lust am Wehtun«, einen »Hang zur Grausamkeit«[41] verspürt. »Ich habe (…) eine große Freude an Schlagspielen gehabt, Schlagball, Räuber und Prinzessin, Räuber und Gendarm, Schulespielen, habe Puppen den Bauch aufgeschnitten, habe Tiere an den Beinen angebunden und sie flattern lassen.«[42] Grundlage dieser destruktiven Regungen, so meint er später, sei eine Angst, die ihn auch als Erwachsener immer wieder befallen habe: »mitunter (…) versetzt mich schon eine fremde Umgebung, ein Titel, ein unbekanntes Gesicht in eine Erregung, die bis zum Zittern der Beine sich steigert. Ein Hülfsmittel dagegen war mir von frühester Kindheit an die Wut. Unter ihrem Einfluß verschwand jedes Bedenken.«[43] Die Aggression bringt die Angst zum Verschwinden, hebt die Blockierung auf, aber der Anlaß, die Empfindung eines Bedrohtseins, stellt sich offenbar immer wieder ein. Auch hier zeigt sich eine übergroße narzißtische Verwundbarkeit, die bei Kränkungen zu extremen Reaktionen, zur Aggression führen kann.

In der kindlichen Entwicklung stellt sich dieser Mechanismus von Angst und Aggression ein, wenn nach dem Aufbrechen der Symbiose das Verhältnis von Bestätigung und Versagung zum unvermeidlichen Konflikt wird. Groddeck kann sich nur schwer aus der symbiotischen Verbindung mit der Mutter lösen, ihr »gegenüber bin ich sehr zärtlich gewesen, dem Vater gegenüber habe ich nie eine Scheu überwinden können«[44]. Die Mutter macht Groddeck zum Fixpunkt einer unerfüllten und unerfüllbaren Sehnsucht. In seinen späten Erinnerungen vollzieht er eine Rache am Liebesobjekt, indem er aus ihr eine strenge, gebieterische Person macht, die sich in der Erziehung ihrer Kinder vor allem um eins kümmerte, die Bekämpfung der »Groddeckschen Laster«[45], und darunter hätte sie »das Lügen, das Aufdielangebankschieben und die Verdrußscheu«[46] verstanden.

Als Groddeck mit sechs Jahren gewaltsam aus der Symbiose gerissen wird, reagiert er mit einer Versteinerung, einer Charakterpanzerung. »Seht, da kommt der Träumer her«[47], rufen seine Geschwister, sobald er sich ihnen nähert. In ›Ein Kind der Erde‹ spricht er davon, daß er sich in dieser Zeit immer in einem Halbschlaf befunden hätte, und in diesem Zustand sei ihm, ungeahnt von anderen und ihm selbst unbewußt, alles zugeflogen. In den Lebenserinnerungen schreibt er später: Seine jungen Jahre seien »in ein unergründliches Dunkel«[48] gehüllt, alles, was er aus dieser Zeit erzählt bekommt, berühre ihn »wie etwas Fremdes«; »es ist als ob ein Schlafwandelnder oder ein in tiefe Träumereien Versunkener das alles getan und gesagt hätte«[49]. So habe er eine ganze Weile ohne Gedächtnis gelebt, und wenn er als Kind angesprochen wurde, sei er mit den Gedanken woanders gewesen und hätte sich später an nichts mehr erinnern können. Die Absencen inszeniert er als Abwehr. In ›Das Buch vom Es‹ beschreibt Groddeck eine solche Strategie der Absence, er bezieht sich dabei auf das Sehen: »Wäre es nicht denkbar«, daß das Auge, »wenn es tausendmal am Tage gezwungen ist, etwas, was es sieht, zu übersehen, schließlich die Sache satt bekommt und sagt: ›Das kann ich bequemer haben; wenn ich durchaus nicht sehen soll, werde ich kurzsichtig, verlängere meine Achse, und wenn das nicht ausreicht, lasse ich Blut in die Netzhaut treten und werde blind‹«?[50]

Groddeck wird weder kurzsichtig noch blind, aber er läßt sich in einen Zustand fallen, in dem er nichts mehr registriert und nichts mehr verarbeitet: »Wenn ich sagen wollte, daß ich in einer Traumwelt lebte, so ist das nicht richtig, denn der Träumer träumt etwas Bestimmtes, bei mir war alles Erleben dumpf nebelhaft verschleiert.«[51]

Das Träumerische und Renitente sind ursprünglich Formen der Abwehr, die bei der Entwicklung des Ichs in Gesten umgesetzt werden und schließlich als Charakterzug erscheinen. Der Abwehrmechanismus wird dann zum angenommenen Ausdruck, mit dem das Kind Komödie spielt. Groddeck hat später seine Neigung zur Theatralisierung, zur großen Gebärde, immer wieder betont, aber in diesen frühen Jahren ist das Spiel noch nicht eine bewußte Inszenierung. Er reagiert auf die eigenen Bedürfnisse und vor allem auf die Vorlieben der anderen. Wenn er das träumerische oder wütende Kind spielt, ist er eine Maske, die ihn definiert, aber die er nicht unbedingt als seine Realität empfindet. Was er in diesem Spiel entdeckt, ist nicht sein wahres Ich, sondern seine suggestible Natur, sein Talent zur Autosuggestion.

Mit Vorliebe spielt er vor der Mutter den frühreifen, kleinen Erwachsenen. Es ist die Rolle, mit der er Anerkennung findet. In Wirklichkeit ist er ein Spätentwickler, der, wie er im reiferen Alter bekennt, »länger als andere ein ungeschliffener Tölpel, ein indifferenter Mensch«[52] blieb. Vor Eintritt in die Schule fällt sein unentwickeltes, unentfaltetes Ich nur nicht auf.

Mit der Einschulung endet dann aber sein Goldenes Zeitalter. In dieser Zeit scheint vor allem die Mutter skeptischer geworden zu sein. Statt der Hingebung an die Pflicht, die sie von ihrem Jüngsten erwartet, zeigt er sich undiszipliniert und gleichgültig. Das Träumerische und Nachdenkliche, das sie vorher nicht nur gelitten, sondern auch gefördert hatte, erscheint ihr nun als Gedankenlosigkeit, als ein bequemes Sich-Hängenlassen, als eine Haltung, die ohne jedes »innerliche Streben« ist: »Dir fehlt es am Besten«[53], pflegt sie jetzt zu sagen, wenn bei ihm irgend etwas schiefgeht und er sich wieder dumm anstellt.

Im Jahre 1872, mit noch nicht ganz sechs Jahren, kommt Georg Groddeck zusammen mit seiner Schwester in eine Mädchenschule. Er mußte zwar wie alle im Flügelkleid zur Schule gehen, aber er war keineswegs der einzige Junge in der Mädchenklasse. Die Leitung der Schule liegt in den Händen von drei Schwestern, den Hochbohms, die auch den Unterricht unter sich aufteilen. Von Anfang an, behauptet Groddeck später, habe er eine Abneigung gegen dieses Institut gehabt: Mit ihrer opulenten Leibesfülle hätten die drei Schwestern auf ihn abstoßend gewirkt. Die Umarmung durch Emma Hochbohm, die mittlere der drei Schwestern, schildert er als Augenblick seelischer Qual, der ihm unauslöschlich im Gedächtnis geblieben ist. Von diesem Tag an datiert er einen Widerwillen gegen den »Lehrerstand an und für sich«[54]. Diese Haltung ist typisch für Groddeck. Ob er sich für eine Sache begeistert oder sie ablehnt, das entscheidet sich an zum Teil zufälligen, äußeren Details. Trotz seiner Abneigungen sind aber seine Leistungen in der Hochbohmschen Schule zunächst außerordentlich gut. Erst am Ende der zweijährigen Schulzeit rutscht er in einigen Fächern etwas ab. Auch in Fleiß und Aufmerksamkeit läßt er jetzt nach. Auffälliger als die Noten sind aber die versäumten Schultage, gleich im ersten Halbjahr fehlt Groddeck an 19 Tagen, im letzten Halbjahr kommt er auf 22 Tage. In ›Ein Kind der Erde‹ hat Groddeck die Fehlzeiten aufgeklärt: Während seine Schwester an einem Gelenkrheumatismus erkrankte und zu Hause bleiben mußte, hat er sich versteckt und die Schule geschwänzt. Kam er dann einmal zu früh nach Hause, sagte er einfach: Die Lehrerin »habe Kopfschmerzen und könne heute nicht unterrichten«[55]. Das ging natürlich nicht lange gut. Sein Fehlen wird entdeckt und von den Eltern geahndet. Besonders die Mutter ist enttäuscht, weil ihr Sohn sie immer wieder angelogen hat.

Groddeck ist jetzt acht Jahre alt. Er hält die Schule für langweilig, fühlt sich unterfordert und verliert sich in Träumereien. Die Eltern hoffen, daß eine neue Schule ihn mehr fordert, und schicken ihn im Frühjahr 1875 in die Raabesche Privatschule in Kösen. Hier soll er für die Aufnahme in Schulpforta vorbereitet werden. Seine Leistungen sind zunächst wieder gut, in Fleiß und Betragen wird er im zweiten Halbjahr 1876 sogar mit sehr gut benotet. Es sind nicht die rein fachlichen Leistungen, die seine Mutter bemängelt, sondern der mangelnde Fleiß und seine Trägheit. Nicht zufällig steht dieser Wesenzug in seinen Lebenserinnerungen am Anfang, so, als wenn er sich noch einmal vor der Mutter legitimieren wollte: »Mir wird das Schreiben besonders schwer: das Kind hat eine schwere Hand, pflegte meine erste Lehrerin zu meiner Mutter zu sagen, womit sie gewiß recht hatte. Was schwer ist, läßt sich schwer von der Stelle rücken, es verharrt da, wo es ist.«[56] Das ist natürlich ein stückweit Selbstmythisierung. Die Trägheit, das Schwere, war ihm nicht eingeschrieben, sie war kein konstitutionelles Merkmal, er hat sie in sich hervorgerufen. Mit ihr schuf er sich, wie er in seinem Roman schreibt, »eine seltsame Mischung von nachdenklicher Frühreife und wunderlicher Kindlichkeit«[57]. Im Kreis der Familie aber findet er damit keine Anerkennung, die Verstiegenheit des Jüngsten nimmt man nicht ganz für voll. Wenn er in dieser Zeit von seinen Exkursionen nach Hause kam, so erinnert er sich später, liefen in der Familie alle nebeneinanderher und sprachen von Geld. Groddeck hat dem Ich-Helden in seinem Roman die Worte in den Mund gelegt, die er wohl selbst in dieser Situation gesprochen hat: »Was ist denn Geld? Geld ist gar nichts. Wenn ich groß bin, gehe ich in den Wald und lebe von Wurzeln und Beeren, ich brauche kein Geld.«[58] Das sind natürlich Dummheiten, über die man sich im Kreise der Familie – je nach Stimmung – amüsiert oder aufregt.

»… ein Gruppenbild von uns fünf Geschwistern. Es stellt mich als zehnjährigen Knaben dar, stehend mit etwas gesenktem Kopf; der traurig verträumte Blick geht von unten nach oben in die Ferne.«

Zwischen dem achten und zwölften Lebensjahr entdeckt Groddeck sein eigenes Ego nicht mehr in und durch den anderen, sondern vornehmlich in seinen omnipotenten Phantasien. Und mit seiner suggestiblen Anlage, die sich in vielerlei Imitationen und Nachahmungen schon früh geltend macht, verschafft er sich jetzt eine gewisse Überlegenheit, ein Gefühl der Macht. Gleichwohl liegt in der Nachahmung immer auch der Wunsch, die eigene Persönlichkeit zu vernichten, um eine andere anzunehmen.

Als Knabe stellt er sich vor einen Spiegel, fuchtelt mit einem Kindersäbel und deklamiert Schillersche Verse: »Dabei bemühte ich mich die Augenbrauen finster zusammenzuziehen.«[59] Seine Zornesausbrüche inszeniert er nun als phantastisches Spiel, er erkennt die faszinierende Macht des Pathetischen und versucht die aufbrausenden und jähzornigen Gesten des Vaters nachzuahmen, oder er nimmt sich Helden aus Sagen und Märchen zum Vorbild.

Was immer er spielt, alles ist Nachahmung, keine seiner Gesten ist orginell. Es ist ein armseliges Rollenspiel, ohne alle Distanz, aber mit makabrem Ernst vorgetragen. Seinen zehnten Geburtstag feiert er mit Spielkameraden und Freundinnen seiner Schwester, man spielt Räuber und Prinzessin: »Irgend etwas muß mich in meiner Geburtstagskindwürde gekränkt haben«, so erinnert er sich später, »denn plötzlich fuhr ich mitten zwischen die Spielenden und schlug mit den Fäusten auf sie ein, dann sprang ich eine Treppe in die Höhe, stellte mich auf den obersten Absatz der Stufen, riß mir Jacke und Hemd auf und setzte die Klinge eines kleinen Federmessers, das ich eben geschenkt bekommen hatte, auf meine nackte Brust.«[60]

Um eine Geste hervorbringen zu können, muß man sie nicht empfinden, man muß nur an sie glauben. Wahrheit und Objektivität spielen dabei keine Rolle. In jungen Jahren aber wird ihm die Suggestibilität zur zweiten Natur, die in Somatisierung übergeht. Groddeck entwickelt in seiner Kindheit und Jugend eine ganze Reihe von Erkrankungen, die man heute als psychosomatisch bezeichnen würde: so zum Beispiel das später von ihm selbst analysierte Bettnässen oder ein häufig auftretendes Nervenfieber, eine Scharlacherkrankung, aus der sich unspezifische Symptome entwickeln, oder seine bronchitischen Erkrankungen und Gelenkentzündungen, an denen er auch als Erwachsener leidet.