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Das Thema Gerechtigkeit wird hier in all seinen Facetten beleuchtet. Jedes Kapitel enthält ein Interview mit einer bekannten Persönlichkeit, das jeweils ein spezifisches Problem aufgreift und vielschichtig beantwortet. Eingeleitet wird das Buch mit einer Einführung zu den verschiedenen Dimensionen des Begriffs Gerechtigkeit, inklusive einer aktuellen, repräsentativen Umfrage. Mit Interviews u. a. von Martha Nussbaum, Carlo Masala, Udo Di Fabio, Rainer Forst, Carsten Linnemann, Manfred Spitzer und Veronika Grimm.
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Seitenzahl: 430
Veröffentlichungsjahr: 2025
Nils Goldschmidt | Rainer Kirchdörfer | David Deißner
Gerechtigkeit
Wie wir unsere Gesellschaft zusammenhalten
Herausgegeben von der Stiftung Familienunternehmenin Kooperation mit der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft e.V.
Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2025
Hermann-Herder-Straße 4, 79104 Freiburg
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Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Christiane Hahn
E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timişoara
ISBN Print: 978-3-451-07389-2
ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-83644-2
ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-83948-1
Dimensionen der Gerechtigkeit
Wissenschaft
Ist Gerechtigkeit ein Phänomen der Moderne?Gespräch mit Werner Plumpe
Wie gerecht kann eine Gesellschaft sein?Gespräch mit Francis Fukuyama
Ermöglicht Freiheit Gerechtigkeit?Gespräch mit Deirdre McCloskey
Wie fühlen sich Ungerechtigkeit und Armut an?Gespräch mit Johannes Haushofer
Ist Künstliche Intelligenz eine Bedrohung für die Gerechtigkeit?Gespräch mit Manfred Spitzer
Was lehrt die Evolutionsbiologie über Gerechtigkeit?Gespräch mit Christiane Nüsslein-Volhard
Wie findet man den gerechten Preis?Gespräch mit Paul Milgrom
Ist unser Bildungssystem gerecht?Gespräch mit Ludger Wößmann
Was bedeutet Klimagerechtigkeit?Gespräch mit Karen Pittel
Warum gehören Toleranz und Gerechtigkeit zusammen?Gespräch mit Rainer Forst
Was ist qualitative Freiheit, und was lehrt uns die Ideengeschichte über Gerechtigkeit?Gespräch mit Claus Dierksmeier
Wie löst der Fähigkeitenansatz Gerechtigkeitsprobleme?Gespräch mit Martha C. Nussbaum
Ist Erben ungerecht?Gespräch mit Udo Di Fabio
Öffentlichkeit
Warum braucht es für Gerechtigkeit den ganzen Menschen?Gespräch mit Heiner Wilmer
Welche Gespräche befördern Gerechtigkeit, und was kann die Politik daraus lernen?Gespräch mit Michel Abdollahi
Warum fängt der Weg zu einer gerechteren Gesellschaft bei uns selbst an?Gespräch mit Neven Subotić
Ist unsere mediale Berichterstattung gerecht, und was verändern soziale Medien?Gespräch mit Inga Michler
Wie steht es um die Gerechtigkeit im Verhältnis von Ost- und Westdeutschland?Gespräch mit Ursula Weidenfeld
Gibt es einen gerechten Krieg?Gespräch mit Carlo Masala
Sind Unternehmer gerecht? Sind wir gerecht zu Unternehmern?Gespräch mit Angelique Renkhoff-Mücke
Politik
Ist die transatlantische Zusammenarbeit noch Garant für eine gerechte Weltordnung?Gespräch mit Sigmar Gabriel
Wie gelingt es, das Vertrauen in eine liberale und gerechte Demokratie zu stärken?Gespräch mit Ralf Fücks
Wie viel Gerechtigkeit braucht der Liberalismus?Gespräch mit Gyde Jensen
Ist die Soziale Marktwirtschaft gerecht?Gespräch mit Carsten Linnemann
Wie bleibt unsere Energieversorgung sicher, bezahlbar und gerecht? Und wie erklärt man das der Politik?Gespräch mit Veronika Grimm
Wie gerecht ist unser Sozialstaat?Gespräch mit Georg Cremer
Warum dieses Buch?
Danksagung
Über die Autoren
Letzten Sommer an der Nordseeküste. Eine Familie mit einer etwa vierjährigen Tochter beobachtet begeistert das Treiben an einem Containerterminal. Als die Mutter ihrem Kind zeigt, wie ein „klitzekleiner“ Schlepper ein „riesengroßes“ Containerschiff in den Hafen zieht, ruft die Kleine empört aus: „Das ist nicht fair!“
Man muss unwillkürlich schmunzeln. Denn die Szene zeigt drei Aspekte, die in amüsanter Spannung zueinander stehen. Zunächst: Schon die Jüngsten haben ein starkes Empfinden für Fairness und Gerechtigkeit. Folgerichtig befindet die Tochter, dass Stärke und Schwäche unterschiedliche Pflichten begründen – und dass in der Regel doch eher der Größere dem Kleineren helfen sollte. Das wiederum verbindet sich mit einer Unkenntnis darüber, wie die Mutter schnell zu erklären sucht, dass diese kleinen Schlepper tatsächlich keineswegs schwach, sondern echte Kraftprotze sind. Sprich: Man weiß gar nicht immer auf Anhieb, wie die Kräfteverhältnisse sind und was vor diesem Hintergrund gerecht oder ungerecht ist. Drittens zeigt es, dass das Kind die übliche Einschätzung ignoriert, nach der Gerechtigkeit gar kein Verhältnis zwischen Dingen, hier Schiffen, bezeichnet. Die meisten Menschen unterstellen, dass man Gerechtigkeitspflichten wohl in Bezug auf Sachen haben kann – etwa gegenüber dem Eigentum anderer –, würden aber nicht auf die Idee verfallen, Sachen selbst Pflichten aufzubürden.
Aber das muss nicht heißen, dass wir Sachen gegenüber ausschließlich aufgrund von Eigentumsverhältnissen zur Beachtung von Gerechtigkeit verpflichtet sind. Einige indigene Gemeinschaften sind überzeugt, dass man etwa bestimmten Gesteinsformationen oder Flüssen eine Form von Respekt zollen sollte, die ihrer Bedeutung oder Schönheit „gerecht“ wird, ohne dass diese Steine oder Flüsse ihrerseits durch uns in die Pflicht genommen würden. Weiten wir den Blick von der anorganischen in die organische Welt: Pflanzen wohnt womöglich ein Streben inne – ein zweckgerichteter Bezug auf ihr Selbst und auf ihre Umwelt. Manche Umweltethiker überlegen daher, ob es einseitige Verpflichtungen geben könnte, dieses Streben nicht ohne Grund und Not zu stören. Frutarier beispielsweise sind Veganer, die sich nur von bereits heruntergefallenen Früchten ernähren, weil sie bereits das Pflücken oder das Abschneiden von Pflanzenteilen für ethisch nicht vertretbar beziehungsweise für ungerecht halten. Stärker noch tritt der gleiche Gedanke gegenüber Tieren hervor. Immer mehr Menschen versagen sich die verbrauchende Nutzung von tierischem Leben, obschon sie Tieren ihrerseits keine Gerechtigkeitspflichten aufbürden.
Gemeinsam ist diesen Überlegungen, dass sie auf keine Symmetrie von Leistung und Gegenleistung, keine Wechselseitigkeit des Tuns und Unterlassens abstellen, um Verhältnisse der Gerechtigkeit zu etablieren. Schon hier zeigt sich, dass Gerechtigkeitsdiskurse nicht notwendigerweise Gleichheitsdiskurse sind. Und ähnlich asymmetrisch, wenngleich unter umgekehrten Vorzeichen, stellen sich manche Religionen das Verhältnis zum Göttlichen vor. Viele erkennen eine Pflicht an, göttlichen Geboten beziehungsweise göttlichen Wesen gerecht zu werden, ohne dass sie deswegen notwendigerweise auch von einer Pflicht der Gottheit(en) uns gegenüber ausgehen.
Dennoch: In der Diskussion über Gerechtigkeit stellt das Verhältnis von Mensch zu Mensch den „Normalfall“ dar – und zwar basierend auf Vorstellungen von Wechselseitigkeit und prinzipieller Gleichbehandlung. Aber das genaue Wie und Warum sind strittig. Talkshows führen uns diesen Streit um die Prinzipien der Gerechtigkeit ständig vor Augen, wenn dort beispielsweise Freunde eines bedingungslosen Grundeinkommens auf Verfechter der Leistungsgerechtigkeit treffen. Letztere argumentieren, dass es gerecht sei, wenn sich Leistung lohne und der Staat in den durch Leistung erworbenen Besitz nicht zum Zwecke der Umverteilung eingreife. Erstere halten dagegen und vertrauen darauf, dass ein für alle gleicher Geldtransfer faire Chancen zur Teilhabe an Wirtschaft, Politik, Kultur und Gesellschaft ermöglicht – und dafür in die Auszahlungsmatrix des Marktes eingegriffen werden muss.
Fragen nach Gerechtigkeit beziehungsweise Solidarität gehören zum Kernbestand der gesellschaftlichen Debatte und sollten idealerweise im Rahmen einer klar definierten Gesellschaft beantwortet werden. Schwieriger wird es, wenn nicht klar ist, was wir unter Gesellschaft verstehen, wer ihr angehört, oder wenn mehrere Gesellschaften betroffen sind – wie es beim Klimawandel oder bei der Frage nach Krieg und Frieden der Fall ist. Dieser Unschärfe im Raum entspricht eine in der Zeit. Den meisten fällt es leichter, Gerechtigkeit im Hinblick auf ihre Zeitgenossen zu thematisieren. Wie aber gehen wir mit den Rechten und Interessen zukünftiger Generationen um? Was verpflichtet uns, individuell wie institutionell, zur Gerechtigkeit? Warum sollten wir Ansprüchen der Gerechtigkeit auch dann genügen, wenn uns einmal nicht danach ist?
Klar: Wenn wir Verbindlichkeiten der Gerechtigkeit aus Verhältnissen symmetrischer Wechselseitigkeit ableiten, wo jede oder jeder nur nimmt, was und wie viel sie oder er gibt, dann ist die Verengung auf Gruppen, in denen ein nachprüfbarer Tausch von Tun und Unterlassen stattfinden kann, also auf räumlich begrenzte Verhältnisse zwischen gleichzeitig existierenden Menschen, unausweichlich. Aber die normative Begründung von Gerechtigkeit – warum ihre Normen gelten sollten – muss keineswegs nur über das Gedankenmodell eines Tauschs erfolgen, wie die im späten 20. Jahrhundert populären Sozialvertrags- und Spieltheorien suggerierten. Die Philosophie hat seit jeher Alternativen dazu formuliert. Andere Ansätze stellen etwa auf den Nutzen ab, den Gerechtigkeit bringt oder ermöglicht (zum Beispiel Frieden, Kooperation, Selbstverwirklichung). Wieder andere betonen, dass die Pflichten der Gerechtigkeit deswegen bestünden, da sie von Gott dekretiert oder in bestimmten Verfahren deklariert worden. Nicht minder verbreitet sind Versuche, Gerechtigkeit als Selbstzweck zu erweisen, als höchste aller Tugenden auszuzeichnen, als Schnittmenge eines humanen Wertekonsenses oder als Korrelat von Freiheit und Menschenwürde abzuleiten, um so jeweils den Normen der Gerechtigkeit eben den Nimbus zu verleihen, der diesen Gründen zukommt. Je nachdem, welcher Weg beschritten wird, ergeben sich Pfade des Argumentierens, die den Geltungsraum der Gerechtigkeit mal weit und mal eng abstecken und sie mehr oder weniger für asymmetrische Verhältnisse tauglich machen.
Besonders relevant sind asymmetrische Verhältnisse bei strukturellen, epistemischen und hermeneutischen Aspekten der Gerechtigkeit. Wer vermögend ist und in rechtlich gesicherten Eigentumsverhältnissen lebt, geht davon aus, dass Diebstahl und Raub eine ungerechte Verletzung dieser Strukturen darstellten. Diese Wertung ist allerdings nur legitim, sofern eben diese Strukturen als gerechtfertigt gelten können, was in Unrechtssystemen – man denke an die koloniale Vergangenheit – oder bestimmten Notlagen nicht immer so sein muss. Ferner: Wer nur das Wissen bestimmter Gruppen zum Gespräch über Gerechtigkeitsfragen zulässt, macht sich oft wohl oder übel epistemischer – also einer das Wissen betreffenden – Ungerechtigkeit schuldig. Oder: Wer nur für einzelne Aspekte der Gerechtigkeit Gespür und Verständnis hat und nur hinsichtlich bestimmter Güter Fragen der Gerechtigkeit überhaupt für berührt hält (etwa beim Privateigentum, aber nicht bei der Barrierefreiheit), bei dem hapert es oftmals an hermeneutischer – also einer auf Auslegung und Interpretation bezogenen – Gerechtigkeit. Kurz: Je tiefer wir nachdenken, desto weniger selbstverständlich erscheinen Wesen und Grund der Gerechtigkeit.
Oft können unerwartete Situationen uns aus fixen Denkschablonen herausreißen und (selbst)kritische Reflexionen anstoßen. So erging es uns neulich an der Theaterkasse. Wir standen an, um nicht gerade günstige Karten für eine Aufführung zu erwerben. Einen älteren amerikanischen Kollegen, der uns begleitete, wiesen wir darauf hin, dass er eine Verbilligung für Senioren in Anspruch nehmen könne. Als er aber an die Reihe kam, machte er davon keinen Gebrauch. Auf unsere Nachfrage erklärte er, dass er aufgrund seines auskömmlichen Professorengehalts diese Vergünstigung doch wirklich nicht benötige …
Damit stieß er uns auf ein Gerechtigkeitsverständnis, das über Jahrhunderte in der Antike vorherrschend war: Gerechtigkeit als individuelle Tugend. In dieser Tradition markiert Gerechtigkeit zunächst einmal das rechte Verhältnis zu sich selbst, zu den eigenen Fähigkeiten, Absichten und Haltungen. Davon abgeleitet erst kommt der gesellschaftliche Bezug in den Blick. Wer tugendhaft leben will, muss folgerichtig seine Beziehungen zur natürlichen Umwelt und sozialen Mitwelt korrekt justieren. Hinzu kam der schon bei den alten Griechen verbreitete Gedanke einer ausgleichenden beziehungsweise sanktionierenden Gerechtigkeit: Wo intakte Verhältnisse beschädigt und verletzt wurden, galt es, sie zu reparieren und ihre schuldhafte Zerstörung zu bestrafen. Auch im Mittelalter war diese Lesart von Gerechtigkeit zentral.
Die Neuzeit addierte den Gedanken von Verfahrensgerechtigkeit hinzu. Demnach ist gerecht, was bei fairen, unparteilichen Verfahren als richtig ermittelt wird. Nach und nach begannen diese prozeduralen Aspekte die substanziellen Hinsichten von Gerechtigkeit als Tugend zu ersetzen; zumal die Sorge um die Mitmenschen zusehends aus familiären Näheverhältnissen heraus ins Gesellschaftliche verlagert wurde. Je mehr Solidarität institutionell statt individuell angegangen wurde, desto stärker rückten Fragen von staatlicher Verteilungsgerechtigkeit in den Fokus: Wer schuldet wem was warum?
Gerechtigkeit hat offenbar viele Dimensionen. Gerade darum war es uns wichtig, in diesem Band den Blick zu weiten, um möglichst viele Aspekte mit einzubeziehen. Denn oftmals bedingt die Art, wie wir uns intuitiv zu impliziten Dimensionen der Gerechtigkeit verhalten, die Weise, wie wir uns explizit zu aktuellen Fragen nach Solidarität und Teilhabe positionieren. Anders formuliert: Nur wenn wir die Herkunft unserer normativen Erwartungen kennen, können wir stimmige Entwürfe für die Zukunft der Gerechtigkeit formulieren.
Auf der einen Seite stehen die gerade aufgezeigten konzeptionellen Zugänge und wissenschaftlichen Begründungswege von Gerechtigkeit. Die andere Seite sind die Wahrnehmungen von Gerechtigkeit. Wie wird in der deutschen Bevölkerung, wie wird in unserer Gesellschaft über Gerechtigkeit nachgedacht? Haben die Menschen das Gefühl, in einer gerechten Gesellschaft zu leben? Oder sehen sie Fairness und Zusammenhalt bedroht? Um das herauszufinden, haben wir das Institut für Demoskopie Allensbach beauftragt, mit einer repräsentativen Umfrage die Vorstellungen der Bevölkerung von Gerechtigkeit zu ergründen. Hierfür wurden im September 2024 im Rahmen einer Mehrthemenumfrage 1.040 Personen mündlich und persönlich befragt.
Abb. 1: Wahrnehmung der wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland
Wie dringend nötig es ist, in einen gesellschaftlichen Dialog über Gerechtigkeit einzusteigen, zeigen bereits die Ergebnisse zu unserer ersten Frage, mit der wir wissen wollten, ob die wirtschaftlichen Verhältnisse gerecht oder nicht gerecht sind (Abb. 1). Die Einschätzung der Bevölkerung ist ernüchternd: Weniger als ein Fünftel hat aktuell den Eindruck, dass es in wirtschaftlicher Hinsicht in unserer Gesellschaft gerecht zugeht. Dieses Resultat ist um so bedrückender, da ein klar negativer Trend zu beobachten ist. Seit Mitte der 1970er Jahre sind die Zustimmungswerte („Sind die wirtschaftlichen Verhältnisse gerecht?“) rapide gesunken. Schaut man detaillierter in die Zahlen, ist auffällig, dass sich West- und Ostdeutschland in ihrer Einschätzung deutlich unterscheiden (Abb. 2). Halten in Westdeutschland 21 Prozent die Verhältnisse derzeit für wirtschaftlich gerecht, sind es in Ostdeutschland nur noch 9 Prozent. Ein weiteres Ergebnis ist bemerkenswert. Fragt man, ob sie ihre eigene Lage als wirtschaftlich gerecht empfinden, ist fast die Hälfte der Befragten der Meinung, dass das zutreffe (insgesamt: 47 Prozent, Westdeutschland: 49 Prozent, Ostdeutschland: 40 Prozent). Es gibt also eine klare Diskrepanz zwischen dem individuellen Empfinden der eigenen Lage und dem Urteil über die gesellschaftliche Situation. Offensichtlich schätzen die Menschen die gesellschaftliche Realität in Bezug auf Gerechtigkeit systematisch schlechter ein, als es die Summe der individuellen Einschätzungen rechtfertigen würde. Zugleich gibt es unter den repräsentativ Befragten ein ausgeprägtes Verständnis von Leistungsgerechtigkeit. In unserer Umfrage stimmten 82 Prozent der Aussage zu, dass es gerecht sei, wenn Arbeitslose deutlich weniger verdienen als Berufstätige – ein Wert mit steigender Tendenz.
Abb. 2: Gesellschaftliche und individuelle wirtschaftliche Verhältnisse im Vergleich
Was verstehen Menschen inhaltlich unter Gerechtigkeit? Wie sich zeigt (Abb. 3), ist Bildungsgerechtigkeit der Spitzenreiter hinsichtlich verschiedener, konkreter Gerechtigkeitsdimensionen. Dass Kinder gleiche Chancen haben sollten, findet in der Bevölkerung fast einhellig Akzeptanz. Springen wir nach ganz unten: Der letzte Platz bestätigt den eben bereits gezogenen Schluss zur Leistungsgerechtigkeit. Die geringste Zustimmung erhält die Aussage, dass Menschen generell ähnlich viel Geld zur Verfügung haben sollten (21 Prozent). Die Gleichheit der materiellen Verhältnisse scheint in der Bevölkerung nur einen geringen Stellenwert zu haben und wird nicht als Ausweis von Gerechtigkeit gesehen. Dies bestätigen auch weitere Ergebnisse der Umfrage: Wer mehr leistet, soll mit einer Zustimmung von 77 Prozent auch mehr verdienen. Mit einer fast gleichen Quote sehen es die Befragten als gerechtfertigt an, dass Arbeitslose, die sich nicht um eine Arbeit bemühen, Kürzungen ihrer Sozialleistungen hinzunehmen haben (75 Prozent). Gleichzeitig sieht eine große Mehrheit den Staat in der Pflicht, Menschen in Not zu unterstützen. Drei weitere Ergebnisse fanden wir bei der Frage nach der inhaltlichen Konkretisierung von Gerechtigkeit besonders bemerkenswert. Erstens: Fast die Hälfte der befragten Personen bejahten die Aussagen, dass reiche Länder ärmere Länder, zum Beispiel in Afrika, unterstützen sollten (47 Prozent). Zweitens: Mehr als 40 Prozent sind der Meinung, dass das Leben von Tieren genauso viel wert ist wie das von Menschen. Drittens: Lediglich ein gutes Viertel der Befragten sieht die Bürgerinnen und Bürger in der hauptsächlichen Pflicht, für ihre soziale Sicherung selbst zu sorgen.
Abb. 3: Verständnis von Gerechtigkeit
Abb. 4: Rolle der Politik
Abb. 5: Legitimität von hohem Einkommen und hohem Vermögen
Um die Rolle der Politik für das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung noch genauer einschätzen zu können, haben wir gefragt, ob die Politik in der Lage ist, für mehr Gleichheit beziehungsweise mehr Gerechtigkeit zwischen Ärmeren und Reicheren zu sorgen (Abb. 4). Das Ergebnis ist in doppelter Hinsicht eindrücklich. Zum einen unterscheidet die Bevölkerung kaum zwischen Gerechtigkeit und Gleichheit. Die Ergebnisse variieren nur marginal, ob man nach dem einen oder dem anderen Begriff fragt. Zum anderen sehen mehr als 50 Prozent der Bevölkerung in der Politik einen Treiber der Ungerechtigkeit beziehungsweise der Ungleichheit in der Gesellschaft. Nur rund jeder Zehnte traut der Politik zu, hier Positives zu bewirken. Diese Einschätzung steht im Gegensatz zur oben beschriebenen Forderung eines Großteils der Bevölkerung, dass der Staat Menschen in Not helfen solle.
Mit der letzten Frage haben wir nochmals die Leistungsgerechtigkeit tiefer ausgelotet und wollten wissen, ob Anstrengung und Leistung hohe Einkommen und Vermögen rechtfertigen (Abb. 5). Auch hier ist der Befund eindeutig – eine klare Mehrheit sieht es als gerecht an, wenn Leistung und materieller Erfolg zusammenfallen, und nur ein knappes Viertel empfindet hohe Einkommen und Vermögen als problematisch und plädiert für staatliche Eingriffe. Auffällig ist, dass jüngere Menschen mit Blick auf Leistungsgerechtigkeit deutlich zurückhaltender sind als Kohorten älterer Jahrgänge.
Doch nun genug der Einführung, der theoretischen Differenzierungen und demoskopischen Befunde. Tauchen wir ein in den Austausch mit Menschen, die es wissen müssen: aus der Wissenschaft, aus dem öffentlichen Leben, aus der Politik. 26-mal haben wir nachgefragt, was Gerechtigkeit ist, 26-mal haben wir unterschiedliche Dimensionen beleuchtet, 26-mal haben wir sehr verschiedene, aber jeweils sehr beeindruckende Menschen getroffen. Überlassen Sie sich dem Sog der kleinen und großen Gedanken zu Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Erzählungen von intellektueller Schärfe genauso wie von praktischem Tun. Die Verständigung über die Frage der Gerechtigkeit kann wohl niemals als abgeschlossen betrachtet werden und so bleibt sie in einer liberalen Demokratie auch weiterhin Gegenstand ständiger Auseinandersetzung. Wenn unsere Gesellschaft zusammenhalten soll, brauchen wir den offenen Dialog auf Grundlage guter Argumente. Die Beiträge in diesem Buch stimmen optimistisch, dass dies gelingen kann.
Werner Plumpe (*1954, Bielefeld) ist Historiker. Ab 1999 lehrte er als Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Bekannt ist er u. a. als Autor von „Das kalte Herz. Kapitalismus: die Geschichte einer andauernden Revolution“ (2019).
Foto: Martin Joppen
Die Tür geht auf, ich betrete ein halb leer geräumtes, geräumiges Büro. Werner Plumpe ist im Aufbruch – seine Zeit an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main endet in den nächsten Wochen, doch sein Wirken als Wirtschaftshistoriker hört damit ganz sicher nicht auf. Die Regale sind fast leer, überall liegen aufgeschlagene Bücher, darunter viele Kataloge und Festschriften mit großformatigen Bildern. Er arbeitet zurzeit an der Geschichte eines einstmals großen deutschen Kaufhauskonzerns. Eine kurze, herzliche Begrüßung, wir kennen uns schon einige Jahre. Zu Beginn führen wir das Interview im Stehen – auf Wunsch des Fotografen. Aber ob im Sitzen oder Stehen, Gespräche mit Werner Plumpe sind immer intensiv, geistreich und kurzweilig.
Aufgewachsen ist er am Nordrand des Ruhrgebiets in einer Pfarrersfamilie. Sein Studium der Geschichtswissenschaft und der Wirtschaftswissenschaft begann er in den 1970er Jahren an der Ruhr-Universität in Bochum, wo er 1985 über die Wirtschaftspolitik in der britischen Besatzungszone nach dem Zweiten Weltkrieg promoviert wurde. Danach wirkte er in Bochum als Assistent und Hochschuldozent in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Seine umfassenden Kenntnisse nicht nur auf diesem Gebiet wie seine gründliche Befassung mit der soziologischen und ökonomischen Theorie führten schnell zu einer großen Zahl von Schülern und Mitstreitern, die sich insbesondere mit der Unternehmensgeschichte befassten. Der von Plumpe 1988 mitbegründete Arbeitskreis für kritische Unternehmens- und Industriegeschichte (AKKU) revolutionierte die unternehmenshistorische Forschung in Deutschland. Seine Habilitation aus dem Jahr 1994 über die industriellen Beziehungen in der Weimarer Republik entstand in diesem Umfeld.
Nach einer Gastprofessur in Tokio und einigen Lehrstuhlvertretungen wurde Plumpe 1999 an die Frankfurter Universität berufen. Hier setzte er zu einer beispiellosen akademischen Karriere an, als weit über das engere Fach der Wirtschafts- und Sozialgeschichte bekannter Wissenschaftler – beispielsweise als Vorsitzender des Historikerverbandes von 2008 bis 2012 –, aber auch als öffentlicher Intellektueller. Ein Überblicksband in der Reihe Beck Wissen über „Wirtschaftskrisen“ 2010 sowie eine fulminante Biografie des legendären Bayer-Chefs Carl Duisberg 2016 sind genauso Ausdruck seines akademischen Wirkens wie seine 800 Seiten starke Kapitalismusgeschichte von 2019 mit dem bemerkenswerten Titel „Das kalte Herz“, eine Reverenz an ein Märchen von Wilhelm Hauff. Dass er stets Verbindungen zwischen europäischer Geistesgeschichte und dem engeren Feld der Wirtschaftsgeschichte mit ihren technischen, volkswirtschaftlichen Details herstellt, zeichnet seine Tätigkeit bis heute aus und macht ihn zum idealen Ansprechpartner für Journalisten, die nach hintergründigen Kommentaren zum tagespolitischen Getriebe der Gegenwart suchen. Die Ludwig-Erhard-Stiftung verlieh ihm folgerichtig 2014 den renommierten Preis für Wirtschaftspublizistik.
Neben seiner langen Liste von Publikationen schaltet sich Werner Plumpe immer wieder über Zeitungsartikel, Interviews und Radiobeiträge in die öffentliche Diskussion zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik ein. Seine messerscharfen Analysen bleiben selten ohne Resonanz. Zuletzt machte er Ende 2024 mit einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Furore, in dem er die derzeitige wirtschaftliche Lage in der Bundesrepublik mit der Endphase der DDR verglich. Hinzu kommen unzählige öffentliche Vorträge, die von den Teilnehmenden als provokant oder informativ, jedoch immer als unterhaltsam erinnert werden.
Am Ende unseres Gesprächs ist mir klar: Dieses Interview muss an den Anfang unseres Bandes. In wunderbarer Weise führt Werner Plumpe in das Thema Gerechtigkeit ein – historisch fundiert, mit überraschenden Einsichten und den Blick fest auf die Zukunft gerichtet.
***
Ist Gerechtigkeit ein Phänomen der Moderne?
Gerechtigkeit in unserem modernen Verständnis setzt voraus, dass Spielräume existieren, um Menschen nach bestimmten Kriterien zu behandeln. Dafür sind Geld oder Güter notwendig, die man verteilen kann. In einer vormodernen Knappheitswelt ist ein Gerechtigkeitsbegriff, der vor allen Dingen über materielle Verteilung definiert ist, dagegen sehr schwierig anzuwenden. Deswegen hat man früher über Gerechtigkeit ganz anders nachgedacht, als man es heute tut, und insofern kann man sagen, dass Gerechtigkeitskonzepte sehr stark von dem historischen Kontext abhängen, in dem sie entwickelt werden.
Wie muss man sich ein vormodernes Verständnis von Gerechtigkeit vorstellen?
Der Großteil der bäuerlichen Welt vor 1800 war froh, wenn er über die Runden kam. Der Gerechtigkeitsbegriff in dieser Zeit richtete sich deshalb viel stärker daran aus, dass der Einzelne seine Rolle erfüllte, und nicht so sehr daran, dass er so viele Waren und Dienstleistungen zur Verfügung hatte wie andere. Die gab es einfach nicht, und insofern war es wichtig und wurde als gerecht angesehen, dass man zum Überleben des Hofes beitrug und seine Rolle nicht infrage stellte.
Hat erst der Kapitalismus eine Gerechtigkeitsdebatte hervorgebracht, wie wir sie heute kennen?
Der entscheidende Punkt sind aus meiner Sicht die großen Produktivitätssteigerungen gewesen, die etwa 1800 einsetzten und dazu führten, dass die Menschen sehr viel mehr Waren und Dienstleistungen zur Verfügung hatten, die verteilt oder nicht verteilt werden konnten. Insofern ist unsere moderne Gerechtigkeitsdebatte daran gebunden, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zunimmt, und damit in gewisser Weise an den Kapitalismus.
Bleiben wir bei diesem schillernden Begriff des Kapitalismus. Was sollten wir darunter historisch verstehen?
Das lässt sich nur schwer bestimmen, weil der Kapitalismus eine Diskussionsgeschichte hat, die es nicht leicht macht, seinen eigentlichen Kern herauszukristallisieren. Deshalb schlage ich vor, den Kapitalismus als das zu nehmen, was er ist, nämlich ein Mechanismus, die Menge der vorhandenen Güter deutlich zu steigern und sie relativ preiswert anbieten zu können, damit die wenig vermögende Masse der Menschen überleben kann. Kapitalismus ist insofern die Entdeckung der Armut als Markt, und das geht nur, wenn man Kapital in die Hand nimmt, um große Serien preiswert zu produzieren. Der Kapitalismus erfordert somit Kapitalakkumulation, die das Herstellen von Waren und Dienstleistungen ermöglicht, die von den einfachen Menschen nachgefragt werden.
Dazu kommt, dass schon im 18. Jahrhundert der Teil der Bevölkerung, der nicht mehr vom Land leben konnte, stark zunahm. Auch da war der Kapitalismus die Alternative, weil er ein Produktionssystem war, in dem die landlosen Armen Einkommen im Gewerbe erzielen konnten, also nicht mehr vom Landzugang abhängig waren. Um diese Einkommen zu erzielen, wurden sie Träger des Produktionsprozesses der Waren und Dienstleistungen, die sie mit dort erwirtschafteten Einkommen dann auch konsumieren konnten. Der Kapitalismus ist somit eine Verbindung von kapitalintensiver Massenproduktion und hierdurch erst möglichem Massenkonsum.
Aus historischer Perspektive war Konsum also durchaus etwas Gutes, weil er Menschen ermöglicht hat, Güter zu erwerben, und so die Gesellschaft in gewisser Weise gerechter wurde.
Die damaligen Zeitgenossen haben sehr genau gemerkt, dass sich etwas ändert. Die Vorwürfe, die Menschen würden nur Ramsch kaufen und sich mit Dingen schmücken, die sie gar nicht benötigen, waren typische Argumente der Oberschicht des 18. Jahrhunderts. Diese Oberschicht hatte nie ein Konsumproblem und konnte Kleidung und alle anderen Güter auf hohem Niveau erwerben. Plötzlich aber machten sie die Erfahrung, dass eine Wirtschaft entstand, die sich gar nicht mehr an ihr, sondern an den armen Leuten orientierte. Und damit das erfolgreich sein kann, mussten die Güter preiswert sein. Und das wiederum setzte voraus, dass sie preiswert, kostengünstig hergestellt werden konnten.
Die Konsummöglichkeiten haben somit dazu geführt, dass Privilegien einzelner Schichten abgebaut wurden, weil es für den Markt nicht interessant war, nur für sie zu produzieren.
Ja, die Oberschicht wurde, was die Wirtschaft angeht, an den Rand gedrängt. Sie spielt seit der Industrialisierung nur noch eine Nebenrolle, während man vorher dachte, dass alles, was in der Welt wichtig ist, in der Oberschicht stattfindet. Neu war auch, dass nicht die traditionellen Adeligen oder die bürgerlichen Kaufleute in den Städten reich wurden, sondern die industriellen Unternehmer – also die Personen, die Fabriken gründeten, um Güter herzustellen, die über Märkte den Massen angeboten wurden, die sie hergestellt hatten. In diesem Sinne verlagerte die moderne Wirtschaft ihren Fokus weg von der Befriedigung der Bedürfnisse der Oberschichten zu den Mittel- und Unterschichten, die mit anderen als den herkömmlichen Luxusgütern erreicht wurden.
Das erinnert mich an Ludwig Erhard, der von der „Sozialisierung von Fortschritt und Gewinn“ sprach. Er meinte damit, dass mit der Marktwirtschaft der Konsum in der Breite ankommt und damit eine gerechtere Gesellschaft möglich wird.
Das ist völlig richtig, durch moderne Märkte werden die Möglichkeiten einfach größer. Das hat aber natürlich seinen Preis, denn diese Art der Wirtschaft versorgt auf der einen Seite die Menschen besser, als es vorher der Fall war, doch es entsteht eine neue Form der Ungleichheit, an der sich Gerechtigkeitsdiskurse festmachen können. Denn die moderne Industrie ist kapitalintensiv. Dieses Kapital befindet sich in privater Hand, sodass mit dem Kapitalismus und der Zunahme der Kapitalgüter, der Fabriken und der Maschinen notwendig die Ungleichheit zunimmt, die in gewisser Hinsicht eine Bedingung der modernen Wirtschaft ist. Aber da zugleich die Menge der Güter zunimmt, ist auch die Versorgung der Menschen einfacher. Soziale Ungleichheit bedeutet eben gerade nicht zwingend Zunahme von Armut; eher ist das Gegenteil der Fall. Wenn hingegen die Anzahl der Waren und Dienstleistungen, die zur Verfügung stehen, geringer wird, steigen in einer Marktwirtschaft deren Preise. Und steigende Preise bedeuten soziale Rationierung. Dann können sich nur noch Menschen ihre Versorgung leisten, die das entsprechende Einkommen haben. Der Kapitalismus dagegen war ursprünglich eine Gleichheitsmaschine, weil er aus vermögenslosen Menschen einfach gesprochen Kunden gemacht hat, deren Zahlungsfähigkeit in seinem existentiellen Interesse liegt. Das bedeutet nicht, dass im Kapitalismus soziale Wärme herrscht. Die Kosten der Produktion, zu denen die Löhne zählen, sind ausschlaggebend. Das kann unter Umständen auch zu erheblichem Lohndruck führen.
Ist der Sozialstaat also historisch gesehen der notwendige Gegenspieler des Kapitalismus?
Der Sozialstaat ist in der Tat aus Auseinandersetzungen um die Gestaltung der Arbeitswelt und die Absicherung der mit dem Kapitalismus verbundenen sozialen Risiken wie etwa Erwerbslosigkeit entstanden. Er korrigiert den Kapitalismus nicht, er strukturiert seine Risiken. Umkämpft ist er, weil er mit Kosten verbunden ist, die über die Lohnhöhe die Produktionskosten steigern oder über Abgaben an den Staat die Steuerlast. Das ist aber nicht mit Gegnerschaft zum Kapitalismus verbunden, sondern dient eher zu seiner Stabilisierung, auch wenn es im Einzelnen heftige Konflikte gab. Gewerkschaften und Sozialdemokratie waren in den Augen der Kommunisten deshalb ja auch stets Ärzte am Krankenbett des Kapitalismus, wie polemisch gesagt wurde. Das trifft es schon, denn der Sozialstaat erleichtert es, die sozialen Probleme, die der Kapitalismus über seine zyklischen Krisen und den Strukturwandel wiederholt erzeugt, zu bewältigen. Wie das im Einzelnen geschieht, ist umstritten, aber der Kern der Sache ist klar.
Kommen wir zur Rolle des Staates. Was ist seine Funktion?
Märkte gibt es in einem engeren Sinne, seit es Menschen gibt, aber sie bedürfen der politischen Gestaltung und Rahmung. Die älteren Märkte in der vorkapitalistischen Welt waren nicht wie heute eine Art abstraktes Prinzip, nach dem Menschen im Grundsatz frei wirtschaftlich handeln können. Vielmehr hat die Obrigkeit sehr genau darauf geachtet, dass Waren nicht zu teuer angeboten wurden und nicht betrogen wurde. Die älteren Märkte waren also sehr stark durch die Obrigkeiten reguliert, was dem Schutz der Menschen diente, aber die Handlungsmöglichkeiten einschränkte und die Dynamik bremste. Im Laufe des 17. und im 18. Jahrhundert bildeten sich dann in den großen Städten der Niederlande und Großbritanniens weniger regulierte Märkte mit neuen Waren heraus, die gut funktionierten. Die Obrigkeit stellte in der Folge fest, dass es aus Gründen der Steuererhebung und des Städtewachstums gut ist, wenn solche Märkte entstehen und der Einfluss des Staates sinkt. Die Städte etwa verzichteten auf viele Eingriffe auch keineswegs, weil sie den Kapitalismus einführen wollten, sondern weil eine florierende Wirtschaft den Besteuerungsspielraum vergrößerte und damit die Leistungsfähigkeit der Obrigkeiten verbesserte. Es dauerte lange, bis sich das allgemein durchgesetzt hatte, denn viele Städte hatten Angst, eine freie Wirtschaft würde die Bürger überfordern und die hergebrachte Ordnung infrage stellen. Das traf auch zu, doch es stellte sich heraus, dass die Vorteile wirtschaftlicher Freiheit überwogen. Der Streit ist bis heute nicht abgeschlossen.
Ist der Staat nicht trotzdem immer wieder das normative Gewissen der Märkte?
Er hat gelernt, mit der Spannung zwischen Freiheit der Märkte, ökonomischer Dynamik und Regellosigkeit umzugehen. Lange glaubten viele Vertreter der Obrigkeit wie gesagt, ohne ihren regulierenden Einfluss gehe es gar nicht. Die Realität der boomenden Marktwirtschaften Englands und der Niederlande zeigte aber schon im 18. Jahrhundert, dass das ein Irrglaube war. Je geringer die Eingriffe, desto florierender nicht nur die Wirtschaft. Auch die Arbeitsmöglichkeiten wuchsen, der Lebensstandard stieg und nicht zuletzt entspannten sich die Finanzmärkte. Die relativ früh liberalen Niederlande hatten sehr niedrige Zinssätze, als anderswo noch prohibitive Zinsen verlangt wurden. Sie wurden nicht nur wegen ihres Reichtums bewundert, viele europäische Obrigkeiten, aber auch vermögende Bürger drängte es nach Amsterdam, um dort ihr Geld sicher anzulegen oder zu niedrigen Zinsen Kredite aufzunehmen. Das hatte erhebliche Ausstrahlungskraft und machte Schule.
Ein goldenes Zeitalter des Liberalismus?
Das 19. Jahrhundert funktionierte zwischen 1815/1820 und den beginnenden 1870er Jahren nach diesen liberalen Gesichtspunkten – es hatte aber freilich auch seine sozialen Schattenseiten. Das Bild drehte sich erst, als die zyklischen Krisen in den 1870er Jahren stärker wurden und zugleich die Arbeiterschaft zur politischen Massenbewegung wurde, die eine Verbesserung ihrer Lage verlangte. Die Vorstellung, der Staat müsse den Kapitalismus bändigen, entstand zu dieser Zeit. Das war nicht nur der Marxismus, der das propagierte; auch in den Staaten selbst gab es eine Art Gegenbewegung, die nicht ganz zu Unrecht Neomerkantilismus genannt wurde. Die Staaten wollten den Kapitalismus nicht beseitigen, aber doch durch staatliche Vorschriften einhegen.
In Ihrem Buch „Das kalte Herz“ schreiben Sie auch über die jüngste Vergangenheit und die Entfesselung globaler Finanzmärkte. Was hat sich dadurch im Kapitalismus verändert?
Ich würde nicht sagen, dass es so etwas wie einen eigenständigen Finanzkapitalismus gibt. Aber seit den 1990er Jahren hat eine eigenartige Entwicklung begonnen, die durch die Politik gefördert wurde. Das Ganze hat damit zu tun, dass wirtschaftlicher Erfolg nicht mehr unmittelbar an die materielle Produktion gebunden ist. Je nach Konstellation kann es sein, dass die materielle Produktion nicht mehr sonderlich viel Profit abwirft. Dagegen hat sich im Kontext der Globalisierung gezeigt, dass Kapitalmarktgeschäfte viel interessanter sein können. Diese Entwicklung ist in der Tat neu, doch diese Autonomie konnte der Finanzmarkt nur erringen, weil Staaten und Zentralbanken eine immer lockerere Geldmengenpolitik betrieben haben. Das hängt auch an den explodierenden Staatsschulden, die in ganz hohem Maße einen Markt für Finanzdienstleistungen konstituiert haben, auf dem die großen Akteure wunderbar handeln konnten. Ich würde daher sagen, dass die Form von Finanzkapitalismus, die wir seit den 1990er Jahren im globalen Rahmen haben, nicht eine Absage an den Kapitalismus oder ein neues System ist, sondern eine Art Sidekick der kapitalistischen Entwicklung, die vor allem auf die politisch bedingten Veränderungen im Finanzsektor reagiert. Angesichts der auf dem Spiel stehenden Summen hat das freilich eine bis dato unbekannte Risikodynamik ausgelöst.
Bleiben wir bei der globalen Frage. Wir haben gesehen, dass der Kapitalismus in Europa und Nordamerika Konsummöglichkeiten und Wohlstand gebracht hat. Ist er aber nicht auch daran schuld, dass viele Länder gerade in Subsahara-Afrika oder Lateinamerika unterentwickelt sind?
Das ist eine interessante Frage. Normalerweise wäre die Standardantwort, dass diese Länder ein Produktivitätsproblem haben und als Folge davon für die jeweilige Bevölkerung nicht viel bleibt, wenn sie sich nicht einer kapitalistischen Modernisierung öffnen. Das ist aber keine Folge von zu viel, sondern von zu wenig Kapitalismus. Denn in vielen Ländern führt soziale Ungleichheit nicht zu erhöhten Investitionen und damit zu einer Ausdehnung der Produktion und einer Erhöhung des Lebensstandards, sondern der Reichtum wird aus Bereicherungsgründen unproduktiv in einer kleinen Elite hin- und hergeschoben und eben nicht mit positiven Folgen für die Allgemeinheit genutzt. So kann es zu der paradoxen Entwicklung kommen, die man in vielen Staaten Afrikas sieht, dass aufgrund von Hilfen zwar die Bevölkerung wächst, aber dieser Zuwachs nicht mit einer Zunahme an Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten verbunden ist. Durch die enorme Bevölkerungsentwicklung wird das Problem stattdessen immer größer, denn die niedrige Produktivität und eine gewaltig angestiegene Einwohnerzahl sorgen dafür, dass die Lebensbedingungen schlechter werden oder zumindest schlecht bleiben.
Was ist anders in China?
Das chinesische Beispiel ist sehr interessant. China und auch Indien waren ja lange Zeit die Armenhäuser der Welt. In China und Indien gab es aufgrund der Ertragsfähigkeit der Landwirtschaft immer viele Menschen, die aufgrund der niedrigen Produktivität in einem Armutsstadium verharrten. Durch die Ausbreitung kapitalistischer Verfahrensweisen haben diese beiden Länder zum Teil Produktivitätssprünge gemacht, die gewaltig sind. Sie reichen noch nicht an die westlichen Verhältnisse heran, doch die Armutsquoten sind deutlich niedriger geworden, und dadurch ist erstaunlicherweise, ähnlich wie hier im Westen, die Bevölkerungsdynamik zurückgegangen. Daran sieht man, dass das Problem Afrikas nicht so sehr darin liegt, ausgebeutet zu werden, sondern man sich die Frage stellen muss, wie man die produktiven Kräfte Afrikas entwickeln und fördern kann.
In Ihrem Buch „Das kalte Herz“ steht ein Satz, der zunächst paradox klingt: „Die Kälte der Ökonomie ist eine notwendige Bedingung eines gelingenden Lebens.“ Wie ist das zu verstehen?
Dazu muss man wissen, was ein gelingendes Leben ist. Das kann man im Einzelnen nicht vorgeben, aber klar ist, dass es an Bedingungen geknüpft ist, die vor allem an der Sicherung der materiellen Existenz hängen. Erst diese schafft die Basis für eine einigermaßen freie Lebensgestaltung. Gestaltungsspielräume sind notwendig, damit man nicht durch Knappheit gezwungen ist, um das bloße Leben zu kämpfen und alle Zeit und Ressourcen hierfür aufzuwenden.
Ein gelingendes Leben setzt also eine gewisse „Hintergrundentlastung“ voraus, wie der deutsche Soziologe Arnold Gehlen das nannte. Sie gelingt dann am besten, wenn die Menge und der Preis der produzierten Waren und Dienstleistungen den Menschen Spielräume verschafft (etwa durch ausreichende Löhne und kürzere Arbeitszeiten), die aktiv für eine freie Lebensgestaltung genutzt werden können. Und insofern ist die Kälte der Ökonomie, die rein nach Effizienzgesichtspunkten geht, nicht nur eine Bedingung für die Steigerung der Produktivität, sondern zugleich eine Erweiterung der Spielräume, die dem Individuum ermöglichen, sich ethisch wählend zu verhalten und einigermaßen frei zu entscheiden, wie es sein Leben gestalten möchte.
Heute herrscht leider eine andere Vorstellung, die cum grano salis davon ausgeht, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse über die Möglichkeiten sinnvoller Lebensgestaltung entscheiden. Insofern damit eine Gesellschaft gemeint ist, die ein Leben aus eigener Verantwortung und hoher Leistungsbereitschaft zulässt, bin ich einverstanden. Wenn allerdings das „gute Leben“ der Gesellschaft sozusagen als Bringschuld aufgebürdet wird, würde ich entschieden widersprechen, denn so ist ein gutes, ja nur zustimmungsfähiges Leben ausgeschlossen. Da die gesellschaftlichen Verhältnisse nie wirklich perfekt sein werden, liefe eine solche Vorstellung letztlich auf Resignation, Eskapismus oder ziellosen Radikalismus hinaus. Da erscheint mir die Möglichkeit, unter kapitalistischen Verhältnissen ein von materiellen Existenzsorgen relativ freies Leben selbstgewählt, aber auch selbstverantwortlich führen zu können, attraktiver. Für manche liegt in diesem Zwang zur Selbstverantwortung vielleicht eine Zumutung; für mich ist das die Bedingung eines guten Lebens.
Das wäre ein perfektes Schlusswort gewesen, aber ich habe noch eine letzte Frage: Oft sagen Anhänger des Liberalismus und der freien Märkte, dass durch steigenden Wohlstand auch die Forderung nach mehr politischer Freiheit steigt. Mit China gibt es aber ein Land, das wirtschaftlich immer stärker wird, aber ganz sicher keine Demokratie ist. Müssen wir die Hoffnung aufgeben, dass freie Märkte auch irgendwann Demokratie bringen werden?
Das tun sie schon, nur gibt es hier keinen Automatismus. Kapitalismus war auch im Westen nicht immer mit demokratischen politischen Strukturen verknüpft, im Gegenteil. Aber letztlich haben die Erfolge der kapitalistischen Ordnung (Strukturwandel, Wohlfahrtsgesellschaft, Massenkonsum) doch ältere, autoritäre Ordnungsentwürfe, die von nur politisch bewältigbaren Knappheiten beherrscht schienen, ins Wanken gebracht. Menschen, die materielle Spielräume haben, neigen gewiss auch zu anderen Freiheitsvorstellungen. Insofern verbessert der Kapitalismus die Voraussetzungen und Bedingungen einer demokratischen Ordnung und lässt diktatorische Verhältnisse erstarren, aber er erzwingt nicht, dass es in diese Richtung geht; er macht es nur wahrscheinlicher. Was die Koexistenz mit politischen Formen angeht, halte ich ihn grundsätzlich für ziemlich flexibel, sofern seine Grundprinzipien, also die Märkte und die Knapphaltung des Geldes, respektiert werden.
Die, das mag provokant klingen, charmante Seite des Kapitalismus ist, dass er die Menschen in gewisser Weise zu einem selbstgestalteten Leben zwingt, also auch aus der politischen Bevormundung durch einen mütterlich betreuenden Staat herausführt. Das ist wohl eine Erfahrung, die China gerade macht und unter der schon Ludwig Erhard zu Beginn der 1960er Jahre gelitten hat: Wenn die materielle Lebenssituation der Menschen besser, entspannter wird, machen sie nicht mehr unbedingt das, was man ihnen mit Knappheitszwängen noch einigermaßen wirksam vorschreiben konnte. Sie fügen sich immer weniger. Und das ist doch sehr wünschenswert.
Das Gespräch führte Nils Goldschmidt im Oktober 2024.
Francis Fukuyama (*1952, Chicago) ist Politikwissenschaftler. Seit 2010 ist er Olivier Nomellini Senior Fellow an der Stanford University. Er wurde 2015 mit dem Johan-Skytte-Preis für seine Forschung zur modernen politischen Ökonomie ausgezeichnet. International bekannt wurde er durch „The End of History and the Last Man“ (1992). Zuletzt erschien sein Buch „Liberalism and Its Discontents” (2022).
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Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama erlangte weltweite Bekanntheit, als er den Fall der Berliner Mauer mit seinem Buch „Das Ende der Geschichte und der letzte Mensch“ sozialphilosophisch verarbeitete. An Hegels Freiheitsdenken und Fortschrittsoptimismus angelehnt, lautete seine zentrale These, dass sich die Welt einer Ära nähere, in der das westliche Gesellschaftsmodell von Demokratie plus Marktwirtschaft zusehends dominieren werde. Es folgte eine globale Diskussion, die bis zum heutigen Tag andauert.
Während Fukuyama in „Ende der Geschichte“ argumentierte, dass der Zusammenbruch des Kommunismus nicht nur einen zeitweiligen Sieg des liberalen Modells, sondern auch den Endpunkt der ideologischen Entwicklung der Menschheit markiere, konzentrierte er sich in späteren Werken mehr auf Fragen der Robustheit und Resilienz der zusehends fragiler wirkenden liberalen Ordnung. So wandte er sich etwa den sozialen, ökologischen sowie institutionellen und kulturellen Voraussetzungen einer freiheitlichen Gesellschaftsverfassung und damit auch der Frage nach sozialer und prozeduraler Gerechtigkeit zu.
Durchgehend verteidigt Fukuyama die liberale Demokratie als das beste verfügbare System, da eine Garantie individueller Freiheiten gleichzeitig sozialen Frieden und die öffentliche Ordnung bewahre – und umgekehrt diese Friedensordnung die persönlichen Freiheiten. Zur Legitimation der freiheitlichen Ordnung wendet sich Fukuyama gegen kulturellen Relativismus und vertritt, dass es universelle Werte gibt, die jede Gesellschaft schützen sollte, etwa die Menschenrechte und den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz.
Aber nicht das Recht allein vermag die freiheitliche Gesellschaft zu garantieren. Ebenso bedarf es bestimmter durch Tradition und Kultur genährter Grundwerte, die das individuelle Streben nach Wohlstand und Eigennutz so ausrichten, dass es den sozialen Zusammenhalt stärkt, statt ihn zu schwächen. Eine übereilte Modernisierung und ein Verlust traditioneller Werte könnten daher dem Projekt eines sich ausbreitendenden Liberalismus schaden. Dies betont Fukuyama nicht zuletzt mit Blick auf jene Herausforderungen, denen die liberale Demokratie heute angesichts von politischer Polarisierung, Populismus und autoritären Tendenzen gegenübersteht.
Um demgegenüber den Geist der Freiheit und liberale Institutionen zu verteidigen, so Fukuyama, dürften offene Gesellschaften das weite Feld der Gerechtigkeitspolitik nicht ihren Gegnern überlassen. Ohne Frage sei eine gerechte(re) Verteilung von Ressourcen und Chancen eine wichtige Voraussetzung für den Zusammenhalt einer Gesellschaft: ein Schwerpunkt, den Fukuyama in unserem Gespräch erneut setzt. Allerdings sei nicht nur ein Untermaß, sondern auch ein Übermaß zu vermeiden. Eine zu starke Umverteilung könne ökonomische Anreize und damit die wirtschaftliche Dynamik untergraben, was für ein freiheitliches Politik- und Wirtschaftsmodell ebenso schädlich sei wie die öffentliche Wahrnehmung, dass Freiheit und soziale Gerechtigkeit gänzlich unvereinbar seien.
In späteren Werken wie in „Political Order and Political Decay“ aus dem Jahr 2014 untersucht Fukuyama, wie robuste und faire Institutionen die soziale Gerechtigkeit fördern, indem sie gleiche Rechte und Chancen garantieren, während schwache und korrupte Institutionen bestehende Ungleichheiten verschärfen und so die soziale Ordnung destabilisieren. Eine weitere Marke setzt er in seinem Buch „Identität: Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“ aus dem Jahr 2018 mit einer Betrachtung der Rolle öffentlicher Anerkennung. Fukuyama argumentiert, dass Forderungen nach Gerechtigkeit nicht allein auf materielle Umverteilung zielen, sondern die soziale und kulturelle Anerkennung von Individuen und Gruppen ebenso entscheidend ist. Gerade in modernen Gesellschaften, die von Identitätskonflikten und Polarisierungen geprägt sind, sieht Fukuyama die Wahrung der Würde des Einzelnen als Schlüssel zu einer stabilen, von den Bürgerinnen und Bürgern mitgetragenen Ordnung. Nicht zuletzt deshalb erkennt er keine taugliche Alternative zur demokratischen Regierungsform. Indem sie darauf angelegt sind, unterschiedliche Interessen und Ansprüche auszugleichen, bieten Demokratien geeignete Voraussetzungen, um Gerechtigkeit durch Teilhabe und Inklusion zu erreichen. Die Anerkennung von Vielfalt und die gleichzeitige Stärkung gemeinsamer Werte zu organisieren, bleiben auch in Zukunft die zentralen Aufgaben der Demokratie – wie auch sein jüngstes Buch „Der Liberalismus und seine Feinde“ von 2022 zeigt.
Fukuyamas tiefgründige Analysen und seine klare Sprache machen ihn zu einem gefragten Gesprächspartner für alle, die sich für die Zukunft offener Gesellschaften interessieren – und es war ein Privileg, dass wir mit ihm sprechen konnten. Seine Ideen haben Relevanz auch aufgrund ihrer Prägnanz. So positioniert ihn etwa sein Standpunkt, dass mit der Freiheit nicht nur ein „westlicher“ Wert, sondern ein universelles Prinzip verteidigt wird, klar und unmissverständlich in der gegenwärtigen Debatte.
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Lieber Francis Fukuyama, im Mittelpunkt Ihrer Definition der liberalen Demokratie steht die Vorstellung, dass alle Menschen die gleichen Individualrechte haben und diese geschützt werden müssen. Inwieweit ist Gerechtigkeit eine Voraussetzung für den Erfolg einer liberalen und demokratischen Gesellschaft?
Die Antwort auf diese Frage hängt eindeutig von der Definition von Gerechtigkeit ab. Für die meisten klassischen Liberalen, zu denen ich mich zähle, geht es immer auch um die Frage, was Menschen über die grundlegende Anerkennung und den Schutz ihrer Rechte hinaus zusteht. Dies betrifft vor allem Themen wie Einkommen, Vermögen, Gesundheitsvorsorge und Rechtssystem. In den meisten liberalen Gesellschaften sind diese Werte ungleich verteilt, obwohl es staatliche Bestrebungen gegeben hat und gibt, diese Unterschiede zu korrigieren.
Zur Gerechtigkeit gehören auch immer soziale Maßnahmen?
Ich glaube, es gibt heute niemanden, der ernsthaft die grundlegende soziale Funktion infrage stellt, die ein demokratisches politisches System ausüben muss. Wir haben gesehen, welche Folgen es hat, wenn man versäumt, einen Ausgleich für Ungerechtigkeiten bei der Verteilung von Ressourcen, Bildung und Ähnlichem zu schaffen.
Aber die eigentliche Frage ist: Wie weit will man dabei gehen? Ein Thema, das durch die zeitgenössische Identitätspolitik aufgeworfen wird, besteht in den vielen verschiedenen Formen von Ungleichheit, die mit den Identitäten der betroffenen Menschen zusammenhängen. Die Demütigungen, denen Frauen ausgesetzt sind, unterscheiden sich von denen, die Afroamerikaner oder homosexuelle Menschen erfahren.
Das tatsächliche Maß, mit dem man über die bloße Anerkennung hinausgeht und substanziellere Gleichheit schafft, hängt in erster Linie vom Wohlstand der Gesellschaft und den historischen Umständen ab.
Zum Beispiel blicken wir in den Vereinigten Staaten auf eine Vergangenheit mit Rassismus und Sklaverei zurück, wie sie andere Länder schlicht nicht kennen. Ich denke, dass dies bis heute einen großen Einfluss auf das amerikanische Verständnis davon hat, was Gerechtigkeit ausmacht. Das Unrecht, das Afroamerikanern angetan wurde, war so groß, dass viele andere Gruppen versucht haben, diese Perspektive für ihre eigenen Probleme zu nutzen und ähnliche Lösungsansätze zu finden.
Was bedeutet das konkret?
Im Falle der Afroamerikaner bedurfte es des Obersten Gerichtshofs, um die Rassentrennung aufzuheben. Das hatte zur Folge, dass andere marginalisierte Gruppen wie Frauen, Schwule und Lesben die Gleichberechtigung ebenfalls gerichtlich einklagten, anstatt zu versuchen, den Gesetzgeber zu überzeugen. Das ist in einer Demokratie problematisch, da Gerichte nicht auf den Druck der Öffentlichkeit reagieren müssen, sondern Entscheidungen treffen können, die nicht den Wünschen der Bevölkerung entsprechen. Ein Beispiel erleben wir gerade beim Thema Abtreibung, wo ein Gericht in den 1970er Jahren die Abtreibung legalisierte und dann ein anderes Gericht vor zwei Jahren plötzlich Einschränkungen erlaubte. Oder ein anderes Beispiel: Sind die Probleme von Frauen am Arbeitsplatz mit dem Kampf der Afroamerikaner vergleichbar?
Das sind schwierige Fragen, weil die Art des Unrechts anders ist und daher die Lösungsansätze sehr unterschiedlich ausfallen. Somit ist es sehr fraglich, ob es tatsächlich zu einer gerechten Lösung führt, wenn man bei all diesen Fällen dieselbe Perspektive einnimmt.
Was sind die entscheidenden Stellschrauben?
Letztlich ist es eine wirtschaftliche und politische Frage. Viele Lösungen für Ungerechtigkeiten erfordern ein gewisses Maß an staatlichem Eingreifen, das sich auf andere gesellschaftliche Güter auswirkt, die den Menschen wichtig sind. Ein extremes Beispiel dafür war der Kommunismus, wo eine Ein-Parteien-Diktatur versucht hat, eine gleichberechtigte Gesellschaft zu schaffen – auf Kosten der Individualrechte aller und auf Kosten der Wirtschaft. Aber selbst im Fall von Sozialdemokratien, die sich grundsätzlich für die Wahrung der Rechte des Einzelnen einsetzen, kann es Regierungen geben, die einfach zu viele Versprechungen machen, die finanziell nicht tragfähig sind.
Zu den Entwicklungen der 1990er Jahre gehörte, dass viele Sozialdemokratien Teile ihrer Sozialprogramme aufgeben mussten, weil sie sonst auf eine Rentenkrise oder andere finanzielle Schwierigkeiten zugesteuert wären. Zwar sollte man diese Programme im Idealfall finanzieren, doch die Politik war nicht nachhaltig.
Sie merken, ich vermeide eine direkte Antwort, denn es lässt sich einfach nicht auf eine Formel wie „Soziale Gerechtigkeit setzt das Recht auf Gesundheitsversorgung voraus“ herunterbrechen. Die Frage ist viel komplizierter, denn jedem Bürger eine Gesundheitsvorsorge zu ermöglichen, ist äußerst kostspielig. Wie wägt man das gegen Ausgaben für Bildung, Renten oder andere Bereiche ab, die unterschiedliche Gruppen auf unterschiedliche Weise betreffen? Das sind aus meiner Sicht die praktischen Überlegungen, die man berücksichtigen muss, wenn man über eine gerechte Gesellschaft nachdenkt.
Häufig sind einzelne Gruppen in einer Gesellschaft der Meinung, dass sie nicht fair behandelt werden, und berufen sich dann auf Gerechtigkeit. Ist der Zugang zur Gerechtigkeit nicht per se subjektiv beziehungsweise gruppenbezogen?
Ja, ich glaube, dass eine objektive Sicht sehr schwierig ist. Mein Verständnis von Gerechtigkeit geht auf ein Seminar über Platons „Politeia“ zurück, das ich in meinem ersten Studienjahr belegt habe. Darin stellt Sokrates genau die Frage, die Sie im Blick haben: „Was ist Gerechtigkeit?“ In den zehn Büchern der „Politeia“ werden verschiedene Definitionen erörtert, darunter die von Thrasymachos im ersten Buch, laut der „Gerechtigkeit nichts anderes ist als das dem Stärkeren Zuträgliche“. Es gibt also keinen universellen Maßstab für Gerechtigkeit, mit dem Regeln festgelegt werden, und das müssen die anderen akzeptieren. Danach erklärt Sokrates, warum diese Definition nicht optimal ist, und entwickelt sie dahingehend weiter, dass Gerechtigkeit darin besteht, jedem Menschen das zu geben, was ihm zusteht. Was aber steht den Menschen zu? Und was steht verschiedenen Gruppen zu? Das sind die Bereiche, in denen ich wirklich bezweifle, dass sich ein objektiver Maßstab für die gerechte Behandlung von Menschen finden lässt – im Sinne dessen, was ihnen tatsächlich zusteht.
In Ihrem neuen Buch „Der Liberalismus und seine Feinde“ geht es Ihnen vorrangig um die Faktoren, die die liberale Demokratie von innen heraus bedrohen. Sie postulieren darin, dass die Globalisierung für große Ungerechtigkeiten und nicht für Wohlstand für alle gesorgt hat. Welche Rolle spielt wirtschaftliche Ungleichheit, wenn man den Aufstieg antidemokratischer, radikaler Kräfte erklären will?
Darüber haben wir in den letzten zehn Jahren viel diskutiert, ohne eine Antwort zu finden. Die wirtschaftliche Ungleichheit ist sicherlich ein Element, das den Aufschwung des Populismus mitverursacht hat. Viele Arbeiter erleben, dass ihr Einkommen stagniert oder sogar sinkt, und das führt zu großer Unzufriedenheit. Aber: Wenn man sich die Rhetorik des Populismus anhört, geht es nicht primär um die wirtschaftliche Ungleichheit.
Wäre sie das Hauptmotiv, würden seine Anhänger eher einer klassischen Sozialdemokratie nahestehen, die versucht, Einkommen anzugleichen und soziale Leistungen zu sichern. Stattdessen wählen sie rechte Parteien, da sie sich auf kulturelle Fragen konzentrieren. Die Tatsache, dass Menschen das Gefühl haben, ihre nationale Identität würde durch Einwanderer bedroht, spielt eine wichtige Rolle. Man könnte allerdings sagen, dass diese Themen indirekt durch wirtschaftliche Faktoren beeinflusst wurden, da die Globalisierung viel Unruhe geschaffen hat. Sie hat zu einer Migrationskrise geführt, die viele hochentwickelte Länder betrifft. Es geht aber nicht um wirtschaftliche Ungleichheit an sich, sondern um das Gefühl derer, die früher der dominierenden Ethnie in dem jeweiligen Land angehörten. Sie glauben, ihnen käme bei der Definition der nationalen Identität eine besondere Rolle zu, doch durch die Migranten gerät diese Rolle in Gefahr. Darüber sind sie verärgert, und das ist, genau genommen, kein wirtschaftliches Problem, sondern eine kulturelle Frage, welche Werte das Land prägen, in dem sie leben.
Gibt es aus Ihrer Sicht einen Zusammenhang zwischen dem Eindruck, den Bürger von Gerechtigkeit haben, und politischer Stabilität?
Auf jeden Fall, und deshalb glaube ich nicht, dass man heute ein echter klassischer Liberaler im Sinne des 19. Jahrhunderts sein kann. Vielmehr muss man die liberale Demokratie und ein gewisses Maß an Sozialdemokratie unterstützen. Wenn die Ungleichheit ein bestimmtes Ausmaß überschreitet, werden die Menschen rebellieren. Die mildeste Form wäre, dass sie für eine populistische Partei stimmen, aber es könnte auch zu einer Revolution kommen. Ich war immer der Ansicht, dass ein Sozialstaat entscheidend für die Stabilität der modernen Demokratie und einer der Gründe ist, dass die liberale Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg so lange dominant war. Es handelte sich nicht nur um ein liberales System, sondern es ging auch darum, die Menschen vor den Kräften des Marktes zu schützen, Einkommen bis zu einem gewissen Grad anzugleichen und in verschiedene Maßnahmen zu investieren, die zu mehr Gerechtigkeit führen. Aber auch hier stellt sich die Frage, wie weit man gehen möchte.
In Deutschland spricht man von Sozialer Marktwirtschaft.
Sie hat ja auch ziemlich gut funktioniert. Zumindest bis vor kurzem.
Es lässt sich empirisch nachweisen, dass ein hohes Maß an sozialem Zusammenhalt und eine gute Wirtschaftsleistung korrelieren. Dabei ist nicht klar, wie die Kausalität genau aussieht, aber es spricht viel dafür, dass wir – auch aus wirtschaftlichen Gründen – stärker in den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft investieren müssen. Sehen Sie das auch so?
Ja. Das habe ich bereits in den 1990er Jahren in meinem Buch „Konfuzius und Marktwirtschaft: Der Konflikt der Kulturen“ beschrieben. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie man sozialen Zusammenhalt erreichen kann. Ich denke, in Europa bezieht sich der Begriff tatsächlich meist auf einen Wohlfahrtsstaat, in dem soziale Solidarität durch die Bereitschaft des Staates zum Ausdruck kommt, in die Wirtschaft einzugreifen und weniger gut gestellte Menschen zu unterstützen.
Damals haben wir den Begriff „soziales Kapital“ verwendet, und dabei ging es nicht so sehr um staatliche Maßnahmen, sondern um die Fähigkeit der Menschen, zusammenzuarbeiten. Es gibt Gesellschaften, in denen informelle Absprachen möglich sind und in denen die Menschen einander viel mehr vertrauen, weil sie bestimmte soziale Tugenden besitzen. Sie sind ehrlich. Sie halten ihre Verpflichtungen ein. Sie sind zuverlässig. Sie versuchen nicht, andere bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu übervorteilen.
Dazu gibt es klassische Studien wie die von Robert Putnam, der ein ganzes Buch über den Unterschied zwischen Nord- und Süditalien schrieb. In Norditalien gibt es auf der Ebene der einfachen Bürger großen sozialen Zusammenhalt – die Menschen schließen sich Fußballvereinen, Zeitungsclubs oder Gewerkschaften an. Dagegen hat man im Süden Italiens nur den Staat und die katholische Kirche, und ansonsten misstraut jeder jedem. Man könnte sogar sagen, dass die Mafia darauf zurückzuführen ist, weil sie eine Form von sozialem Kapital darstellt – in einer Region, in der der Staat den Menschen keine ausreichende Grundlage für gegenseitiges Vertrauen bieten kann.
Was sind die ökonomischen Konsequenzen?
Süditalien hinkt Norditalien seit Jahrhunderten hinterher, obwohl viele Regierungen Geld in den Süden gepumpt haben, um die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben. Der Erfolg blieb jedoch aus, weil das grundlegende soziale Misstrauen bestehen blieb. In meinem Buch habe ich diese Art von sozialem Kapital als Schmiermittel bezeichnet. Alle modernen Gesellschaften verfügen über Mechanismen, um wirtschaftliche Kooperation zu fördern. Es gibt Unternehmen und Gesetze zu Eigentumsrechten und ein Gerichtssystem, das diese unterstützt. Aber das ganze System würde besser funktionieren, wenn die Menschen ehrlich wären, ihre Verpflichtungen einhielten und zusammenarbeiten würden.
Was kann Ihrer Meinung nach getan werden, um die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung zu überwinden? Was können wir tun, um neue Räume zu schaffen, in denen Menschen miteinander ins Gespräch kommen und das Gefühl der Zugehörigkeit einer Gemeinschaft und einer res publica entwickeln?
Wüsste ich die Antwort, wäre ich der König der Politik, denn diese Frage stellt sich jedem. Offen gestanden habe ich keine klare Vorstellung davon, wie wir in dieser Richtung vorankommen könnten. Respekt wäre aber auf jeden Fall ein guter Ausgangspunkt.