Gesammelte historiografische Beiträge & politische Aufsätze von Franz Mehring - Franz Mehring - E-Book

Gesammelte historiografische Beiträge & politische Aufsätze von Franz Mehring E-Book

Franz Mehring

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Beschreibung

Diese Ausgabe der Werke von Franz Mehring wurde mit einem funktionalen Layout erstellt und sorgfältig formatiert. Dieses eBook ist mit interaktiven Inhalt und Begleitinformationen versehen, einfach zu navigieren und gut gegliedert. Franz Mehring (1846-1919) war ein deutscher Publizist und Politiker. Er war einer der bedeutendsten marxistischen Historiker seiner Zeit und verfasste eine der bekanntesten frühen Biographien zu Karl Marx. Mehrings Bedeutung liegt weniger in seinem konkreten politischen Handeln, sondern in seinen zahlreichen Schriften, insbesondere zur Geschichte der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie. Dazu zählt etwa die zweibändige Geschichte der deutschen Sozialdemokratie (1898). Seine 1910/11 erschienene Deutsche Geschichte vom Ausgang des Mittelalters bediente sich der von Marx und Engels begründeten Methode des historischen Materialismus. Mehring war einer der ersten Historiker, der die marxistische Theorie konsequent auf die Geschichtswissenschaft anwandte. Kurz vor seinem Tode veröffentlichte er im Jahr 1918 die erste und bis heute einflussreiche Biographie über Karl Marx. Inhalt: Zur Geschichte der Socialdemokratie Die Lessing-Legende Kunst und Proletariat Karl Marx - Geschichte seines Lebens Bahnbrecher des socialen Friedens Das Satyrspiel von 1878 Die Trunksucht und ihre Bekämpfung Die polnische Frage Anti- und Philosemitisches Die Vernunft der Unvernunft Politik und Sozialismus Stein, Heß, Marx Die Unruhen in China Der Russisch-Japanische Krieg Kant, Dietzgen, Mach und der historische Materialismus Die Arbeiterklasse und der Weltkrieg Partei und Vaterland Vom Wesen des Krieges Die Bolschewiki und Wir

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Franz Mehring

Gesammelte historiografische Beiträge & politische Aufsätze von Franz Mehring

Karl Marx: Geschichte seines Lebens + Zur Geschichte der Socialdemokratie + Die Lessing-Legende + Das Satyrspiel von 1878 + Die Trunksucht und ihre Bekämpfung und mehr

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-0782-4

Inhaltsverzeichnis

Zur Geschichte der Socialdemokratie
Die Lessing-Legende
Kunst und Proletariat
Karl Marx - Geschichte seines Lebens
Bahnbrecher des socialen Friedens
Das Satyrspiel von 1878
Die Trunksucht und ihre Bekämpfung
Die polnische Frage
Anti- und Philosemitisches
Die Vernunft der Unvernunft
Politik und Sozialismus
Stein, Heß, Marx
Die Unruhen in China
Der Russisch-Japanische Krieg
Kant, Dietzgen, Mach und der historische Materialismus
Die Arbeiterklasse und der Weltkrieg
Partei und Vaterland
Vom Wesen des Krieges
Die Bolschewiki und Wir

Zur Geschichte der Socialdemokratie

Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung.
2. Ferdinand Lassalle und der allgemeine deutsche Arbeiterverein.
3. Lassalle’s Ende.
4. Friedrich Engels und Karl Marx. – Der internationale Arbeiterbund.
5. Die europäische Wirksamkeit der Internationale.
6. Der deutsche Zweig der Internationale und der allgemeine deutsche Arbeiterverein.
7. Der Gothaer Vereinigungscongreß.
8. Die höchste Blüthe der deutschen Socialdemokratie.
Anmerkungen der „Gartenlaube“-Redaktion

1. Einleitung.

Inhaltsverzeichnis

Die „Gartenlaube“ ertheilt mir einen ebenso ehrenden und verlockenden, wie schwierigen und verwickelten Auftrag, wenn sie mich auffordert, ihrem weiten Leserkreise auf dem Hintergrunde der europäischen ein durchsichtiges und klares Bild der deutschen Socialdemokratie zu entwerfen. Wer, dem Lärm des Tages sich verschließend, den tieferen Zusammenhang der modernen Arbeiterbewegung zu erfassen sucht, wird in ihr das große Räthsel des neunzehnten Jahrhunderts erkennen, das unheimliche Fragezeichen, welches über allen Gütern der modernen Cultur schwebt. Kein Jahrhundert der Weltgeschichte hat eine gewaltigere und tiefere Krise um Sein oder Nichtsein der lebenden Geschlechter hervorgerufen. Denn gegen alles, was menschlichem Denken und Fühlen heilig ist in Ehe und Familie, Kirche und Staat, Kunst und Wissenschaft, stürmen finstere Mächte der Tiefe zum erbarmungslosen Vernichtungskampfe empor, und noch kennen wir nicht den Zauberspruch, welcher die dunkeln Gewalten bändigt und bannt. Das innere Geflecht eines so verworrenen Problems in allen seinen Verzweigungen aufzudecken, reichen dicke Bände nicht hin; ein Versuch, in wenigen Spalten mit sichern und starken Strichen wenigstens die Grundzüge dieses Gemäldes zu zeichnen, muß deshalb von vornherein um die Nachsicht des Lesers bitten. –

Der Socialismus ist so alt, wie die bürgerliche Gesellschaft. Bei der natürlichen Ungleichheit der Menschen hat es noch keine gemeinsame Ordnung gegeben, deren einzelne Glieder und Schichten unter völlig gleichen Verhältnissen gelebt hätten. Immer gab es Unterschiede mehr oder minder schroffer Art, Unterschiede, welche anfangs wesentlich in der natürlichen Ungleichheit der einzelnen Individuen wurzelten, aber bei der weiteren Entwickelung der gesellschaftlichen Verhältnisse häufig dazu führten, den Guten und Starken schwerer zu treffen, als den Schlechten und Schwachen. Irdische Weisheit hat das Glück noch nicht zu zwingen vermocht, immer mit der Tugend, oder das Elend, niemals mit dem Verdienste zu wandeln.

Solche vermeintliche oder wirkliche Härten haben von jeher die Sehnsucht nach einer besseren Welt schon unter dieser Sonne erweckt, gleichermaßen in erhabenen Geistern, welche schmerzlich die Beschränktheit alles menschlichen Lebens empfanden, wie in niedrigen Naturen, die ihre begehrlichen Hände nach unverdienten Preisen erhoben. So erklärt sich die befremdliche Erscheinung, daß die reinste Tugend und die roheste Sinnlichkeit, die edelsten Herzen und die gemeinsten Seelen sich in socialistischen Träumen zu begegnen pflegen. Die socialistischen Bewegungen aller Zeiten gleichen jener sagenhaften Hunnenschlacht welche Kaulbach in seinem berühmte Gemälde verewigt hat; in den Wolkenhöhen der Gedankenwelt tost die Geisterfehde, während ein rasender Kampf den irdischen Boden mit Leichen und Trümmern bedeckt. Wenig gräuelvollere Scenen weisen die Blätter der Geschichte auf, als die Sclavenaufstände des Alterthums und die Bauernkriege des Mittelalters, aber ein größter, griechischer Denker, Platon in seinen Büchern über den Staat, erbaute den ersten socialistischen Idealstaat; aus dem versinkende Schutte der antiken Welt erhob sich der ideale Communismus der ersten Christengemeinden als froher Bote einer weltweite Zukunft, und in den Tagen des „Armen Conrad“ veröffentlichte Thomas Morus, der edle Kanzler Heinrich’s des Achten von England, sein „Nirgendheim“, seine „Utopia“, deren Name seitdem sprüchwörtlich geworden ist für alle Träume von unerreichbarem Menschenglück. –

Naturgemäß werden socialistische Regungen am nachhaltigsten und stärksten hervortreten, wenn einerseits ein hoher Begriff von der rechtlichen Gleichheit aller Menschen in den Gemüthern lebt, während in den gesellschaftlichen Zuständen schroff die thatsächliche Ungleichheit hervortritt. Mit einer Schärfe, wie nie zuvor, trafen beide Momente in der großen Revolution von 1789 zusammen, und seitdem wurde der Socialismus eine Weltmacht. Die politischen Gedanken der Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, einen echten und wahren Kern tragend unter einer dichten Hülle von phrasenhaftem Wust, erweckten in den Massen überschwängliche Hoffnungen, während ihre socialen Gedanken, die freie Entfesselung der wirthschaftlichen Kräfte, die Befreiung der Arbeit und des Besitzes von allen mittelalterlichen Fesseln, vielfach ein Massenelend hervorriefen. Nicht zwar, als ob diese Gedanken nicht einen ungeheuren Fortschritt in der menschheitlichen Entwickelung darstellten, aber die uralte, weltgeschichtliche Erfahrung, daß der Eintritt in neue Culturepochen regelmäßig mit endlosen Wirren eines langen Uebergangsstadiums erkauft werden muß, bewährte sich auch diesmal, und zwar in um so höherem Grade, je gewaltiger der eingetretene Umschwung war.

Nichts thörichter, als die eherne Nothwendigkeit von 1789 zu verkennen um der Gräuel von 1793 willen. Es wäre dasselbe, wie wenn man die deutsche Reformation wegen der Wiedertäuferwirthschaft in Münster verleugnen wollte. Unsere conservativen Parteien stehen ebenso ganz und voll auf dem Boden der großen Revolution, wie die liberale, ja in gewissem Sinne hat sie jenen größere Segnungen gebracht, als diese. Sie schuf den freien Bauernstand, eine ebenso conservative wie gesunde Schicht der heutigen Gesellschaft, während sie aus industriellem Gebiete zwar eine ungeheure Entwickelung hervorrief, aber zugleich auflösend und zersetzend wirkte. Erst von nun ab vermochte sich die große Industrie, welche seit dem beginnenden Welthandel im Anfange des sechszehnten Jahrhunderts langsam entstanden war, frei zu entwickeln; sie überschüttete das menschliche Geschlecht mit unendlichen Schätzen, aber sie gestaltete auch härter, schroffer, verletzender denn je zuvor den Gegensatz in den Eigenthumsverhältnissen, indem sie den Stand der besitzlosen Lohnarbeiter hervorrief. Er wuchs empor aus hörigen Leuten, aus Gesellen und Lehrlingen, zu einem nicht unerhebliche Theile auch aus kleinen Besitzern und Handwerkern, die in dem wirtschaftlichen Wettkampfe mit der großen Industrie unterlagen. Er entbehrte allen Zwanges, aber auch aller Wohlthaten der mittelalterlichen Rechtsordnungen. Ihn fest und sicher einzufügen in die organische Gestaltung des modernen Culturstaats, ist der innerste Kern der socialen Frage, welche das neunzehnte Jahrhundert zu lösen hat, auf dem Wege allmählicher und schrittweiser Bahnen, in Zeiträumen, welche sich heute noch nicht absehen lassen, denn in solcher Weltwende zähle Jahrzehnte kaum wie Tage.

Kein ehrlicher Geschichtsforscher kann und wird die entsetzlichen Uebelstände leugnen, welche die Entwickelung der großen Industrie häufig über breite Schichten des Arbeiterstandes gebracht hat. Sie traten am ersten und heftigsten in den Ländern auf, in denen jene Entwickelung sich am schnellsten und umfassendsten vollzog, in Frankreich und in England. Und naturgemäß wurden diese Länder die Geburtsstätte des modernen Socialismus. Er ähnelte früheren Bewegungen gleicher Tendenz zunächst darin, daß er in phantastische Einbildungen schwelgte und daß er in zwiespältiger Form auftrat: edle Geister und schwärmerische Menschenfreunde erbarmte sich des große Elends, und in den leidenden Masse regte sich wilde Gedanken des Umsturzes. Aber er unterschied sich mehr und mehr grundtief von seinen Vorläufern dadurch, daß er die utopische Form abzustreifen, mit allem Rüstzeug der modernen Wissenschaft eine neue Welt zu erbauen suchte, und daß er die Bewegung der Geister und der Massen zu einheitlicher Wirksamkeit verschmolz. Dieser Umwandelungs- und Verjüngungsproceß erweckte ihm neue und nie geahnte Kräfte.

Der erste namhafte Socialist unseres Jahrhunderts war einem der älteste Adelsgeschlechte entsprossen. Henri de Saint-Simon warf 1819 die Frage auf, ob es für Frankreich nachtheiliger sein würde, wenn das Land plötzlich die ganze königliche Familie, den ganzen Hofstaat, den ganzen höheren Clerus, die ganze höhere Beamtenwelt, kurzum seine dreitausend hochgestellten Personen, oder aber seine dreitausend größten Gelehrten und Arbeiter verlieren würde. Er entschied sich dafür, daß der letztgedachte Verlust unendlich schwerer wiegen würde, da zwar jene, aber nicht diese Stellen sehr leicht auszufüllen wären, und er folgerte, daß der Arbeit nicht die letzte, sondern die erste Stelle in der Gesellschaft gebühre. In dem bizarren Vergleiche, der an sich mehr scherz- als ernsthaft genommen werden muß, lag ein bewußter Zweifel an der Gerechtigkeit der bestehenden Eigentumsordnung, der sich nach und nach klarer entwickelte. An dieser Stelle würde es natürlich zu weit führen, alle socialistischen Schulen in Frankreich auch nur in den schattenhaftesten Strichen zu zeichnen; in dieser bunten und mannigfaltigen Gesellschaft bewegten sich phantastische Schwärmer, wieCabet und Fourier, zuchtlose Poeten, wie Sue, kritisch-zersetzende Naturen, wie Proudhon, durch und neben einander. Es kann sich nur darum handeln, zu zeigen, wie die dunkle Vorstellung Saint Simon’s, der niemals die bestehende Einrichtung angegriffen oder einen Versuch zu praktischer Agitation gemacht, oder auch nur ein Mittel zur Verwirklichung seiner Schlußfolgerung angegeben hat, eine politische Macht wurde.

Seine Schüler, namentlich Bazard, thaten eine großen Schritt über ihn hinaus, indem sie als die eigentliche Quelle der ungerechten Gütervertheilung das Erbrecht der Blutsverwandtschaft bezeichneten und demgemäß ein Erbrecht des Verdienstes forderten, das will sagen, den Heimfall der Hinterlassenschaften an den Staat, dessen Rechtsschutz überhaupt erst ein Eigenthum ermögliche, wie er es auch erwerben und erhalten helfe. Damit hatte der socialistische Gedanke politische Form angenommen; die Staatsgewalt wurde als Retterin und Richterin in den socialen Wirren ausgerufen. Allein noch fehlte die praktische Handhabe; die Saint-Simonisten erörterten ihr sociales Heilmittel rein philosophisch, und indem ihre gemäßigte Mitglieder sich auf die Forderung progressiver Erbschaftssteuern und die Aufhebung des Erbrechts nur in den entfernteren Verwandtschaftsgraden beschränkte, verließen sie sogar den streng socialistischen Boden, denn eine Reform des Erbrechts in dem angedeuteten Sinne kann sehr wohl auch von Vertretern der bürgerlichen Oekonomie erwogen werden.

Erst Louis Blanc fand jene praktische Handhabe, welche den modernen Socialismus zu einer treibenden Kraft der Weltpolitik machte. Anknüpfend an den Gedanken, daß die Staatsgewalt allein die sociale Ungleichheit beseitigen könne, forderte er 1839 in seiner berühmten Schrift über die „Organisation der Arbeit“, daß der Staat die besitzlosen Arbeiter mit den Mitteln ausrüsten müsse, um den wirthschaftlichen Wettkampf mit den besitzenden Classen zu bestehen, und hieraus ergab sich von selbst, daß behufs dieses Zwecks die Arbeiter sich in den Besitz der Staatsgewalt setzen müßten. Damit war die erste Berührung zwischen der geistigen und materiellen Bewegung des Socialismus in einem politischen Agitationsprogramm vollzogen, oder mit anderen Worten: die moderne Socialdemokratie war geschaffen.

Noch nicht zehn Jahre später stürzten die Arbeiter von Paris den Thron Louis Philipp’s; in der provisorischen Regierung der Republik saßen unter einer Mehrheit von bürgerlichen Republikanern die Socialisten Louis Blanc, Flocon und Albert, ein Arbeiter. Die schamlose Classenherrschaft einer entarteten Bourgeoisie, die entsetzliche Corruption des Bürgerkönigthums hatten der socialdemokratischen Bewegung in Frankreich eine furchtbare Kraft gegeben. Aber als nun die Arbeiter ihren Lohn von der Regierung forderten, zeigte sich schon bei der Probe die vollkommene Unfähigkeit des Socialismus, neue Organismen des gesellschaftlichen und staatliche Lebens zu schaffen. Louis Blanc setzte zwar durch, daß die provisorische Regierung in einem amtlichen Erlasse den Arbeitern ihren Unterhalt durch die Arbeit verbürgte; auch richtete er ein Arbeiterparlament im Luxembourg ein, in welchem viel kostbare Zeit verschwatzt und vertrödelt wurde, allein tatsächlich hat er nichts geleistet. Allerdings hatte er hartnäckig mit der Mehrheit der Regierung zu kämpfen; die berüchtigte Nationalwerkstätten waren nicht sein Werk, waren nicht die in seinen Schriften geforderten socialen Ateliers, sondern sie wurden, gerade um ihn zu discreditiren, von jener Mehrheit in einer Weise errichtet, welche sie binnen kurzer Frist bankerott werden lassen mußte. Das gräßliche Ende von alledem ist bekannt; im Juni erhoben sich die enttäuschten Arbeiter; zum ersten Mal wehte die rothe Fahne von den Barricaden. Eine dreitägige Straßenschlacht voll unnennbarer Gräuel bedeckte das Pflaster mit 10,000 Leichen; in diesem Blutstrome erlosch das Feuer der socialistischen Idee für viele Jahre.

Schneller und unaufhaltsamer noch, als in Frankreich, entwickelte sich die große Industrie in England, dessen meer- und weltbeherrschende Stellung ihr die günstigsten Vorbedingungen sicherte. Und in gleichem Grade schrecklicher traten dort ihre unheilspendenden Schattenseiten an’s Tageslicht. Kein Zweifel, daß die industriellen Arbeiterkreise des Inselreiches während der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts die grauenvollsten Bilder der neuesten Culturgeschichte bieten. Inmitten so unsagbaren Elends erstand in dem Millionär Robert Owen die edelste und reinste Gestalt des modernen Socialismus. In seiner Fabrik zu New-Lanark in Schottland hatte er erfahren, daß seine hingebende Fürsorge ebensowohl für die materielle Hebung, wie für die geistige und sittliche Bildung seiner Arbeiter nicht nur auf diese selbst die günstigsten Wirkungen hervorbrachte, sondern auch von einer überraschenden Steigerung des Reinertrages begleitet war. Ganz England sah staunend auf diese wunderbaren Erfolge; gekrönte Häupter des Continents begrüßten in Owen einen Wohlthäter der Menschheit. Auf solche Erfahrungen gestützt, verlangte er die allmähliche Einführung von „Heimathscolonien“, die je 2- bis 3000 Menschen umfassen und in völliger Gütergemeinschaft mit gleichen Rechten aller Theilnehmer leben sollten. Der reiche Mann hat keine Kosten und Mühen gescheut, diesen communistischen Gedanken in der Gründung einzelner Colonien durchzuführen, aber alle diese Versuche sind kläglich gescheitert. Es zeigte sich schon in diesen verhältnißmäßig einfachen und kleinen Verhältnissen, daß ein Leben in Gütergemeinschaft bei allen Teilnehmern ein so ausgezeichnetes moralisches Pflichtgefühl voraussetzt, wie es sich in der großen Masse der Menschen niemals findet und finden kann, so lange Menschen eben Menschen sind. Aber die friedliche und vom lautersten Willen getragene Propaganda Owen’s ist deshalb nicht spurlos im Sande verlaufen. Das selbstlose und reine Wirken eines edlen Menschen trägt, auch wo es in die Irre geht, noch tausendfältige Frucht; Owen ist durch die idealere Richtung, welche er dem Leben und Treiben gerade der besten Arbeiter gab, ihr einflußreichster Erzieher geworden; von ihm rührt das ganze Genossenschaftswesen her, welches den arbeitenden Classen in England so reichen Segen gebracht hat.

Während dieser humane Communismus die reifsten und tüchtigsten Elemente unter den Arbeitern denken und mittelbar den richtigen Weg erkennen lehrte, tobte in den untersten Schichten die socialdemokratische Agitation. In diesem politisch geschulten Volke ließ ein schwerer Druck von selbst das Verlangen nach Vertretung im Parlamente entstehen. Als die Reformacte von 1832 zwar den Mittel-, aber nicht den Arbeiterclassen das Wahlrecht gab, bildete sich einige Jahre später in London ein Arbeiterverein, um den Arbeitern Vertretung im Parlamente zu verschaffen behufs einer neuen Ordnung der Gesellschaft in ihrem Interesse. Ans diesem Vereine ging die Volkscharte hervor, deren sechs berühmte Forderungen waren: Stimmrecht wie Wählbarkeit aller erwachsenen Männer, geheime Abstimmung, jährliche Parlamente, Diäten der Abgeordneten und gleichmäßige Wahlbezirke. Die Apostel des Vereins, welche die Arbeiterbezirke bereisten und in kürzester Frist eine ungeheure Zahl von Anhängern warben, ließen keinen Zweifel über den socialen Hintergrund dieses anscheinend rein politischen Programms. „Der Chartismus,“ predigten sie, „ist keine politische Frage, bei welcher es sich darum handelt, daß Ihr das Wahlrecht erlangt; der Chartismus ist eine Messer- und Gabelfrage, die Charte heißt gute Wohnung, gutes Essen und Trinken, gutes Auskommen und kurze Arbeitszeit.“

Im Laufe eines Jahrzehnts schwoll diese chartistische Bewegung zu außerordentlicher Macht und nicht minder außerordentlicher Gefährlichkeit an. Während anfangs über die Mittel, wie das allgemeine Stimmrecht zu erlangen sei, die Meinungen getheilt waren, eine Partei der moralischen Macht und eine Partei der physischen Gewalt sich gegenüber standen, siegte wie üblich die radicale über die gemäßigte Richtung. In Volksversammlungen, welche hundert-, selbst zweimalhunderttausend Menschen zählten, wurde in der wüthendsten Sprache zu Eroberung der Charte mittelst der Waffen aufgefordert. Es kam zu blutigen Aufständen, auch zum Versuch einer allgemeinen Arbeitseinstellung. Die besitzenden Classen wurden zuletzt von der größten Besorgniß erfaßt, aber, sehr ungleich der französischen Bourgeoisie, die in allen socialen Wirren eine nachgerade sprüchwörtliche Feigheit bewährt hat, traten sie selbst für ihr Recht ein und übten sich im Gebrauche der Waffen, um eine planmäßige Empörung niederwerfen zu können. Man glaubte diese Erhebung vor der Thür, als Feargus O’ Connor, der namhafteste Führer der Chartisten, am 10. April 1848 erklärte, an der Spitze von 150,000 Mann in’s Unterhaus einziehen zu wollen, um eine angeblich von nahe an sechs Millionen Personen unterschriebene Petition um die Charte in die Volksvertretung zu tragen. Die umfassendsten Vertheidigungsmaßregeln wurden getroffen, nicht weniger als 150,000 Bürger ließen sich freiwillig als Specialconstabler einschwören, allein nur 30,000 Arbeiter folgten dem Rufe O’Connor’s, und unter solches Umständen verzichtete er auf den Zug.

Diese moralisch-politische Niederlage brach die innere Kraft des Chartismus, aber erloschen ist er nicht eher, als bis derselbe tapfere Rechtssinn, welchen das englische Bürgerthum sich als unerschütterlichen Damm den heranstürmenden Wogen des Aufruhrs entgegen stemmen ließ, auch den gerechten Beschwerden der Arbeiter abhalf. Die Schaffung einer humanen Fabrik- und Werkstätten-Gesetzgebung, die Förderung der Gewerkvereine mit ihrem System der Einigungskammern und Schiedsgerichte, die Parlamentsreform von 1867, welche den industriellen Arbeitern das Stimmrecht gab, haben den arbeitenden Classen die Möglichkeit und namentlich auch die Ueberzeugung gegeben, daß sie eine nachhaltige Hebung ihrer Lage auch auf dem Boden der heutige Gesellschaftsordnung erreichen können. So bietet England das merkwürdige und trostreiche Schauspiel, daß das classische Land der großen Industrie und der schroff gestalteten Eigenthumsverhältnisse zugleich der unfruchtbarste Boden für die socialdemokratischen Bestrebungen ist.

Weit hinter England und Frankreich war in dem dritten maßgebenden Culturstaate der modernen Welt, war in Deutschland die politische und wirtschaftliche Entwickelung zurückgeblieben. Während die Bewegung von 1848 in jenen Ländern schon einen mehr oder minder ausgesprochen socialen Charakter trug, richtete sie sich in Deutschland wesentlich noch gegen die letzte Reste des mittelalterlichen Feudalismus. Nur in dem Rheinlande regten sich schon, begünstigt durch die hohe Entwickelung der dortigen Industrie und die französische Nachbarschaft, socialdemokratische Tendenzen, die namentlich in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ zu Köln vertreten wurden. In diesem Blatte wirkteEngels und Marx, zwei hervorragende Gelehrte; mehr in den Hintergrund trat der junge, aber nicht minder bedeutende Lassalle, der damals tief in den unsaubern Prozeß Hatzfeldt verwickelt war. Aber um wie viel die deutsche hinter der englischen und französischen Arbeiterbewegung zurückblieb, um so viel zeigten sich die deutschen Socialdemokraten ihren englischen und französischen Gesinnungsgenossen überlegen. Engels und Marx waren zugleich Führer eines internationalen „Bundes der Communisten“; als solche erließen sie kurz vor der Februarrevolution ein communistisches Manifest, in welchem die europäische Socialdemokratie des neunzehnten Jahrhunderts ihre typische Form und Gestalt gewann. Denn indem die Verfasser dieses Schriftstückes die besitzlosen Massen aufriefen nicht zur Bekämpfung einzelner, verwerflicher Einrichtungen der heutiger Zustände, sondern zum schonungslosen Vernichtungskriege gegen alle die politischen und religiösen ebenso wie die wirtschaftliche Grundlagen der modernen Gesellschaft, indem sie ferner erklärten, daß dieser Krieg nur durch Gewalt und nur durch das internationale Zusammenwirken der arbeitenden Classen aller Länder siegreich zu führen sei, und indem sie endlich als Siegespreis das Gemeineigenthum an Grund und Boden und allen Arbeitswerkzeugen hinstellten, zeigten sie sich gleichermaßen als die consequentesten und wissenschaftlich klarsten Köpfe, wie als die gefährlichsten und rücksichtslosesten Demagogen, welche die communistisch-socialistische Bewegung hervorgebracht hat. Bis auf den letzten Schatten und die letzte Spur hatte der socialistische Gedanke die phantastischen und utopistischen Nebelhüllen, die sentimentale Maske der schwärmerischen Menschenliebe abgestreift; entschlossen, fertig, klar, in der einen Hand die Brandfackel des Aufruhrs und in der andern den blanken Stahl der Wissenschaft, stellte er sich dem gesitteten Völkerleben zum Kampfe auf Leben und Tod gegenüber.

Seit Erlaß des communistischen Manifestes konnte kein Zweifel mehr herrschen, daß die Leitung der internationalen Socialdemokratie in diese deutschen Hände gefallen war. Nur der völlige Niedergang aller socialistischen Bestrebungen, der bald nach seiner Veröffentlichung erfolgte, mochte die Thatsache verbergen. Aber als im Beginn der sechsziger Jahre das Wiedererwachen der Geister nach dem Todesschlafe der Reactionsepoche und die schwere Krisis des amerikanischen Secessionskrieges eine mächtige Bewegung durch die europäische Arbeiterwelt zittern ließen, ward alsbald offenbar, daß es die deutsche Erde ist, auf welcher dieser gewaltige Kampf um die höchsten Güter der Menschheit seine entscheidenden Schlachten schlagen wird.

2. Ferdinand Lassalle und der allgemeine deutsche Arbeiterverein.[1]

Inhaltsverzeichnis

In der einleitenden Skizze dieser Darstellung ergab sich, daß der moderne Socialismus, an sich ein zwiespältiges Wesen voll innerlich widerstrebender Eigenschaften, in deutschen Köpfen zur höchsten Vollendung reifte und, indem er die reinsten und die unreinsten Triebe der menschlichen Natur zu einheitlicher Wirksamkeit verschmolz, gewissermaßen seinen innern Widerspruch überwunden zu haben schien. Aber gerade auf dieser gipfelnden Höhe schlug er sofort wieder in seinen genauen Gegensatz um. Während sich die revolutionäre Arbeiterbewegung in England und Frankreich aus verkehrten Zuständen, also immerhin mit einer gewissen Naturnotwendigkeit entwickelte, entstand sie bei uns im Mutterlande der größten Denker unter den Demagogen, welche der Socialismus hervorgebracht hat, zunächst als ein politisches Abenteuer. Es wäre thöricht zu glauben, daß es heute keine deutsche Sozialdemokratie gäbe, wenn es keinen Ferdinand Lassallegegeben hätte, aber gewiß ist, daß, als er im Frühjahre 1863 seine Agitation aus mehr oder minder frivolen Beweggründen begann, unsere Arbeiter noch nicht entfernt daran dachten, sich aus freien Stücken gegen die bestehende Ordnung in Gesellschaft und Staat aufzulehnen, denn sie lebten in nichts weniger als unmenschlichen Verhältnissen.

Unter diesen Umständen ist es nicht möglich, die Person Lassalle’s zu umgehen, wenn man seine Schöpfung schildern will, so wenig es sonst gerade in sozialen Fragen gerathen sein mag, den Werth der Dinge nach den Schwächen oder Vorzügen der Personen zu beurtheilen und sie in dieser Weise sei es zu über- oder zu unterschätzen. Lassalle war eine edel und groß angelegte Natur; eine eiserne Kraft, ein mächtiger Wille, eine geniale Fähigkeit, mit glänzender Schärfe den innersten Kern der Dinge zu erfassen, hoben ihn hoch über das Maß selbst begabter Menschen empor. Sein Wesen hat die ersten Männer unseres Jahrhunderts bezaubert, darunter so durchaus verschiedene Charaktere wie einen Fürsten Bismarck, einen Böckh, Heine, Humboldt, Savigny. Alles war ihm gegeben, wonach höchster Ehrgeiz ringen mag, nur das Eine nicht, was die historische Größe von dem historischen Abenteurer scheidet, die selbstlose Hingabe an den Gedanken. Nichts lächerlicher zwar, als Lassalle zu betrachten wie einen verlaufenen Aufwiegler, der die Arbeiter für eigensüchtige Zwecke ausbeuten wollte, aber wohl kann auch der größte Eifer seiner glühendsten Bewunderer ihn nicht vor dem Vorwurfe retten, mit welchem Alles gesagt ist, vor dem Vorwurfe nämlich, daß ihm seine Person immer und überall höher stand als seine Sache. Gewiß hat er Werke geschaffen, die als eherne Denkmale menschlichen Fleißes und Geistes noch dauern werden, wenn die deutsche Sozialdemokratie bis auf den Namen erloschen sein wird, aber es lag doch ein tieferer Sinn darin, daß er die öffentliche Bühne zuerst in einem unsaubern Skandale betrat und in einem unsaubern Skandale zuletzt auch von ihr verschwand.

Noch ein Jüngling, kaum zwanzigjährig, warf sich Lassalle zum Ritter der Gräfin Hatzfeldt auf in jenem vielberufenen Ehescheidungsprozesse, welcher eine der merkwürdigsten Seiten deutscher Rechtspflege füllt. Er selbst nannte sein Dazwischentreten eine „religiöse Insurrection“, und er vergaß auch nicht den Opferstock aufzustellen, in welchen die Gräfin für den Fall des Sieges eine namhafte Spende niederlegte. Ringend und watend in diesem uferlosen Sumpfe, wuchs Lassalle zum Manne empor, und riesengroß wuchs mit ihm der eitle und gauklerische Zug seiner Natur. Man muß ihn beispielsweise nur hören, wie er vor den Kölner Geschworenen mit einer zitternden Thräne an der Wimper das schreckliche Loos seiner Clientin beklagt, die während der Dauer des Prozesses nur ein Jahreseinkommen von achttausend Thalern bezöge. Und als nach fast zehnjährigem Kampfe endlich ein günstiger Vergleich erzielt war, galt dieser zweifelhafte Gewinn dem Verfasser des „Heraklit“ und der „Erworbenen Rechte“ bis an sein Ende als der „größte Triumph“ seines Lebens.

Zweifellos haben auch in diesem ersten Abenteuer Lassalle’s ideale Momente gewaltet. Die Macht des Geistes als einen unübersteiglichen Damm entgegen zu setzen der Macht des Geldes und des Ranges, als ein jüdischer Knabe ohne Anhang und Namen einen der ersten Magnaten des Landes in den Staub zu werfen – wer mag leugnen, daß auch hier ein leiser Schimmer socialen Freiheitsdranges hineinspielt? Aber es war eben nur ein leiser Schimmer; in der Hauptsache hat Lassalle den furchtbaren Mißbrauch seiner herrlichen Gaben nie verwunden. Seitdem prahlte er wie ein Falstaff von seinen Heldentaten, und die Macht des Geldes wurde ihm bald eine werthvollere Waffe, als die Macht des Geistes. Niemals hat das schnödeste Geldprotzenthum sich nackter und roher geäußert, als da Lassalle sich feierlich in seinen jüngst veröffentlichen Briefen an eine russische Dame vermaß, niemals von dem Ertrage seiner Arbeiten leben zu wollen, und da er bei diesem Anlasse den Gelderwerb durch Geistesarbeit eine „geistige Prostitution“ nannte. Niemals ist eine gröbere Beleidigung dem Andenken unserer geistigen Heroen, einem Lessing und einem Schiller widerfahren, die freilich keine hohen Renten aus dem Gewinn von Skandalprocessen bezogen, wie Lassalle aus dem Processe Hatzfeldt, sondern schlecht und recht von dem Ertrage ihrer geistigen Thätigkeit lebten.

In der Mitte der fünfziger Jahre hatte Lassalle die Sache der Gräfin zu glücklichem Ende geführt; darauf siedelte er, noch in der ersten Blüte des Mannesalters, aus den Rheinlanden nach Berlin über, wo ein großer Schauplatz seiner großen Kraft harrte. Mit der Sicherheit der Magnetnadel wies sein gewaltiger Wille auf praktische Betätigung im öffentlichen Leben, allein die dumpfe Stickluft der traurigen Reactionszeit lähmte alle politische Thatkraft, und lange Jahre konnte sich diese faustische Natur nur gleichermaßen in dem bunten Wirbel des großstädtischen Lebens, wie in der verzehrenden Arbeit der Gedankenwelt erschöpfen. Aber auch als wieder ein freierer Luftzug durch Deutschland zu wehen begann, vermochte Lassalle nicht an die Kränze zu rühren, nach denen seine glühende Seele trachtete; die parlamentarische Bühne blieb ihm verschlossen, obgleich er mit mehr als einem Führer der allmächtigen Fortschrittspartei nahe befreundet war. Scheute man sein herrisches Wesen oder stieß man sich an seinem Verhältnisse zur Gräfin Hatzfeldt, genug, man gab ihm kein Mandat für das Abgeordnetenhaus und fügte ihm dadurch eine Kränkung zu, welche der ehrgeizige und leidenschaftliche Demagoge um so weniger vergaß, als er die Fortschrittspartei in der Frage des Militärconflicts auf falschen Bahnen zu sehen glaubte.

Er zögerte nicht, sich zu rächen. Zunächst suchte er die Berliner Bezirksvereine für sich zu gewinnen, allein diese Burgen der Fortschrittspartei erwiesen sich als uneinnehmbar. Seine glänzenden Reden rührten nicht die Herzen der Hörer, aber wohl erregten sie die Aufmerksamkeit des Staatsanwaltes, der ihm einen Proceß wegen Gefährdung des öffentlichen Friedens anhing. Das gerichtliche Verfahren erregte einiges Aufsehen namentlich durch die in ihrer Art großartige Verteidigung Lassalle’s; es lenkte auf ihn den Blick einiger Leipziger Arbeiter, die mit der Fortschrittspartei gleichfalls in Zwist gerathen waren. Dabei handelte es sich nicht eigentlich um sociale Beschwerden, sondern man stritt über das größere oder geringere Maß von politischem Radicalismus, das unter den obwaltenden Umständen zu bewähren sei. Jene Arbeiter, der Cigarrenmacher Fritzsche, der Schuhmacher Vahlteich und Andere, hatten ein Centralcomité gebildet, welches einen allgemeinen Arbeitercongreß berufen sollte, aber da kein Mensch wußte, was er eigentlich wollte, so war die Sache eben daran, im Sande zu verlaufen,. als ihr das Auftreten Lassalle’s eine andere Wendung gab. Das Centralcomité bat ihn um Hülfe und Rath; schnell entschlossen lieferte er in seinem „Offenen Antwortschreiben“ den systematischen Plan einer umfassenden Arbeiteragitation.

Ausgehend von dem „ehernen Lohngesetze“, wonach unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage das Einkommen des Arbeiters immer auf den notwendigen Lebensunterhalt beschränkt bleiben muß, welcher gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderlich ist, entwickelte Lassalle, daß die Arbeiter demgemäß nie aus eigener Kraft ihre Lage zu heben vermöchten. Nur der Staat könne ihnen helfen, indem er ihnen durch Ueberweisung von Geldmitteln die Bildung von Erwerbsgenossenschaften ermögliche, in welchen sie ihre eigenen Unternehmer seien. Um dieses Ziel zu erreichen, müßten sie sich in den Besitz der Staatsgewalt setzen, das heißt, da sie die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung bildeten, das allgemeine Stimmrecht zu erwerben suchen und behufs dieses Zweckes einen großen Agitationsverein gründen, der sehr bald bei nur einigermaßen reger Betheiligung eine gewaltige Macht werden würde.

Es ist heute überflüssig, tiefer die Unhaltbarkeit dieses Vorschlags zu zergliedern. Das „eherne Lohngesetz“, ein Satz, den Lassalle allerdings nicht erfand, sondern den die ältere englische Nationalökonomie ganz einseitig aus dem furchtbaren Elende folgerte, welches ehedem in den industriellen Arbeiterkreisen des Inselreichs herrschte, hat sich praktisch und theoretisch längst als hinfällig gezeigt. Die Erwerbsgenossenschaften mit Staatshülfe sind nicht nur von Gegnern der neuen Weltanschauung, sondern auch von wissenschaftlichen Socialisten, wie Lange und Rodbertus, so sogar von socialdemokratische Agitatoren, wie Bracke, als ein Gedanke nachgewiesen, der unmöglich durchzuführen ist und, selbst wenn er praktisch möglich wäre, doch den beabsichtigten Zweck nicht erreichen würde. Endlich hat auch das allgemeine Stimmrecht, welches nicht durch eine Agitation der Arbeiter erobert, sondern durch einen hochherzigen Entschluß des modernen Staats selbst den arbeitenden Classen gespendet wurde, nicht die goldenen Früchte gereift, die sich Lassalle von ihm versprach.

Und auch schon darum verdient dieser Vorschlag keine ernstere Würdigung, weil sein Urheber selbst gar nicht an ihn glaubte. Lassalle’s wissenschaftliche Verdienste liegen nicht auf volkswirthschaftlichem, sondern auf philosophischem und rechtswissenschaftlichem Gebiete; nur in diesen Zweigen menschlicher Erkenntniß hat er neue und ursprüngliche Gedanken zu Tage gefördert. Volkswirthschaftlich ist er vollkommen abhängig von Marx, mit dem er schon 1848 in den Rheinlanden zusammen wirkte; auch er steht in dem Gemeineigenthum am Grund und Boden und allen Arbeitswerkzeugen das einzige Heil der Menschheit. Offen spricht er diese Ueberzeugung aus in den vertrauten Briefen, welche er während seiner Agitation an Rodbertus richtete; so lange er zu denken vermöge, bilde es, schreibt er, den innersten Kern seiner Weltanschauung, daß Boden, Capital und Arbeitsproduct den Arbeitern gehören solle. Doch das, fügt er hinzu, dürfe man dem Mob noch nicht sagen; er habe seine Erwerbsgenossenschaften nur vorgeschlagen, um die Arbeiter zu „interessiren“, sei aber gern bereit, diesen Vorschlag fallen zu lassen, sobald ein anderer „ausspintisirt“ werde, der den gleiche Zweck besser erfülle. Hält man diese vertrauliche Aeußerungen Lassalle’s neben sein „Offenes Antwortschreiben“, in welchem er feierlich allen Communismus und Socialismus verleugnet, in welchem er mit den pathetischen Worten schließt: „Dies ist das Zeichen, das Sie aufpflanzen müssen. Es giebt kein anderes für Sie,“ so ist das verwegene Abenteuer des Agitators gebührend gekennzeichnet und durch ihn selbst gerichtet.

Vergebens fielen ihm seine beste Freunde in den erhobenen Arm, fruchtlos warnten Bucher, Rodbertus, Ziegler. Vergebens erhob die öffentliche Meinung in ganz Deutschland einmüthigen Widerspruch gegen die Lehre des neue Propheten; nur wenige Arbeiter in wenigen Städte ließen eine verworrene und weit eher entmuthigende, als ermunternde Zustimmung hören. Und mochte immerhin ein verächtliches Lächeln um die Lippen des hochmüthigen Mannes spielen, wenn der laute Lärm der Tagespresse und der Volksversammlungen um ihn toste, vergebens sah er sich doch auch im Reiche der Wissenschaft nach einem einzigen Bundesgenossen um. Aber selbst dieser Schlag, von allen der schmerzlichste, brach nicht den starren Sinn, der seinen Willen gegen eine Welt von Feinden durchsetzen, der eher untergehen, als nachgeben wollte. Lassalle blickte stolzen Auges über den dichten Schwarm der Jäger und schüttelte seine „revolutionäre Mähne“; mochte er tausendmal verloren sein, wehe doch dem, auf den er sich in jähem Sprunge warf; niemals verharschten die Wunden, welche die Klaue dieses Löwe riß.

Ein seltsamer Zauber waltete um den merkwürdigen Mann; wie eine große Zahl der ersten Geister der fesselnden Eigenthümlichkeit seiner Unterhaltung sich gern hingab, so riß der feurige Sturm seiner Beredsamkeit die Heere willenlos mit sich fort, die gekommen waren, gegen ihn zu kämpfen. Massenversammlungen in Frankfurt und Leipzig, welche seine Gegner geworben hatten, ihn niederzustimmen, erklärten sich begeistert für ihn, sobald er vor sie trat und eine jener blendenden Reden hielt, denen unsere politische Literatur in ihrer Art nichts Aehnliches an die Seite zu stellen hat. Im Vertrauen auf diese Erfolge gründete Lassalle am 23. Mai 1863 zu Leipzig den „Allgemeinen deutschen Arbeiterverein“ behufs friedlicher Erkämpfung des allgemeinen Stimmrechts. Elf Städte waren vertreten, sechshundert Arbeiter zugegen. Die Statuten legte eine dictatorische Gewalt in die Hand des Präsidenten. Wer dieser Präsident sein mußte, konnte nicht dem Schatte eines Zweifels unterliegen. Finster schweigend nahm Lassalle die Wahl an. Nicht der jubelnde Zuruf eines begeisterten Volkes hob eine Tribunen empor; wie mußte es den eitle Agitator kränken, daß wenige Arbeiter, querköpfig, unbekannt, nach widerlichem Gezänk über die Paragraphen der Statuten, deren Geist sie nicht zu fassen vermochten, um sein Leben würfelten!

Und Schlag auf Schlag folgten neue Demüthigungen. Die deutsche Socialdemokratie war geschaffen, aber noch fehlten die Socialdemokraten. Schon in den erste Woche der Agitation begann eine harte Remesis das frevle Beginnen zu sühnen; die deutschen Arbeiter litten nicht unter Uebelständen, wie solche ihre englischen und französische Cameraden vor Jahrzehnten den socialistischen Lockungen zugänglich gemacht hatte; ruhig und still blieben die Massen, in welche diese aufregende Agitation geschleudert wurde. Lassalle war unermüdlich thätig; auch seine heftigsten Gegner müssen bewundernd auf die gewaltige Fülle der Arbeit blicken, die er in anderthalb Jahren zu bewältigen vermochte, aber es war keine erlesene Schaar, welche seine lärmende Trommel zu werben verstand. Nur wenige tüchtige Arbeiter darunter mit hellen Augen und starken Fäusten, sonst ein tragikomisches Völkchen, leichtfertige Gesellen, gedankenlose Schwätzer, viel schrullenhafte Köpfe, die heute diesem, morgen jenem Marktschreier nachlaufen. Der beste Stamm fand sich noch in den Rheingegenden zusammen; in Berlin war gar nichts zu erreichen.

Nur wenige Wochen, und es zeigte sich, daß das Unternehmen, so wie es Lassalle geplant hatte, nicht durchzuführen sei. Er hatte auf Zehn-, auf Hunderttausende von Rekruten gehofft; nur bei so großartiger Betheiligung hatte sein Vorgehen eine Sinn. Er war gerade der letzte Mann, ein stilles Conventikel zu gründen, in welchem verschrobene Ideen in gegenseitiger Duldsamkeit erörtert wurden. Nach dem ersten Vierteljahre zählte der Verein etwa tausend Mitglieder, verstreut über ganz Deutschland, darunter vielleicht nicht zehn, die Lassalle verstanden. Selbst der Vereinssecretär Vahlteich, der täglich um ihn war, wußte sich so wenig in die leitenden Gedanken des Unternehmens einzuleben, daß er den Verein in lauter örtliche Gruppen auflösen, das heißt einfach vernichten wollte. Dazu fehlte es fortwährend an Geld; die geringen Beiträge der spärliche Mitglieder sickerte nur langsam in die Casse oder versiechten ganz.

Schon nach einem Monat hatte Lassalle vorläufig genug von diesem Elende. Unter dem Hohngelächter seiner Gegner, dem Murren seiner kleinen Schaar reiste er auf drei Monate in die Bäder. Nicht als ob er schon am Erfolg völlig verzweifelt wäre; hochmüthig wies er die Aufforderung kleinmüthiger Anhänger zurück, den Verein lieber zeitig aufzulösen, ehe er ganz verkam; vielmehr sann er auf eine neue Taktik, von welcher er sich bessere Erfolge versprach. Aber es war ihm nun einmal unmöglich, seinem persönliche Behagen Opfer aufzuerlegen, sei es auch um einer guten Sache willen, und wie oft hatte er in seinen Aufrufen und Reden versichert, daß nichts besser sei, als die Sache, welche er mit seiner Agitation verfechte!

Erst im October 1863 kehrte Lassalle nach Berlin zurück, um nochmals mit neuen, aber nicht reineren Waffen den ungleichen Kampf aufzunehmen, in dem bewegtesten und letzten Jahre seines Lebens.

3. Lassalle’s Ende.

Inhaltsverzeichnis

Die neue Taktik Lassalle’s offenbarte sich zuerst in einer großen Rede, mit welcher er im Herbste 1863 die zweite Epoche seiner Agitation eröffnete; als er ihren Entwurf noch in Ostende niederschrieb, sagte er zu seinen Vertrauten: „Was ich da schreibe, schreibe ich nur für ein paar Leute in Berlin.“ Diese Rede handelte über die Parteifeste der liberalen Opposition in der Conflictszeit, über die Presse der Fortschrittspartei, endlich über den Frankfurter Abgeordnetentag von 1863, der sich mit dem österreichischen Bundesreformplane beschäftigt und ihn nicht völlig zurückgewiesen hatte. Nach allen diesen Richtungen eröffnete Lassalle ein heftiges Kreuzfeuer von Angriffen; von links her stürmte er gegen die Schanzen des festen Lagers, welches von rechts der preußische Ministerpräsident von Bismarck zu erobern suchte; eine Fülle des bittersten Hohnes schüttete der revolutionäre Agitator über das preußische Abgeordnetenhaus, welches standhaft das verfassungsmäßige Recht des Landes vertheidigte.

Der Sinn dieser Taktik lag auf der Hand. Lassalle erkannte die Unmöglichkeit, durch eigene Kraft in dem deutsche Arbeiterstande eine nachhaltige Bewegung zu erwecken; so versuchte er in dem Kampfe zwischen der Krone und dem Parlamente eine Einmischung, welche den mächtigeren Theil, indem sie ihn unterstützte, dadurch für den Fall des Sieges zu Gegenleistungen für den unerwarteten Bundesgenossen verpflichten sollte. Es war eine harte Ungerechtigkeit, Lassalle deshalb einen Ueberläufer zur Reaction zu nennen. Er opferte nicht seine Ueberzeugungen, um dem preußischen Ministerpräsidenten zum Siege zu verhelfen, sondern er wollte ihm zum Siege verhelfen, um ihn seinen eigenen Ueberzeugungen dienstbar zu machen. Die tiefe Unwahrhaftigkeit dieses abenteuerlich-phantastischen Planes lag vielmehr darin, daß Lassalle, um ihn durchzuführen, seinen Einfluß auf die Volksmassen in schwindelhaftester Weise übertreiben und sich in ein Netz von Lügen verstricken mußte, das gleichmäßig aus den verwerflichsten Kniffen des Diplomaten- wie des Demagogenthums gewoben war.

Freilich, so weit es überhaupt möglich war, durch diese verwickelten Schlingen mit freiem Fuße zu schreiten, hat er es vermocht; in jener Herbstrede von 1863 verstand er meisterhaft, noch seinen Ueberzeugungen vollkommen treu zu bleiben und schon der preußischen Regierung weit die Hand entgegenzustrecken, sich gleich gerüstet zu zeigen, ob nun der Blitz der deutschen Revolution, wie er sich ausdrückte, „aus diesem oder jenem Wege“ herniederfuhr. Indem er das ewige Poculiren und Toastiren mitten in einer schweren Krisis des Vaterlandes verhöhnte, geißelte er nur ein Treiben, das seiner energischen Thatkraft in tiefster Seele zuwider war; indem er eine erbarmungslose Kritik an der deutschen Presse übte, vergalt er nur Gleiches mit Gleichem, und indem er endlich die anfänglich schwankende Haltung der Fortschrittspartei gegenüber den bundesstaatlichen Reformkünsteleien der österreichischen Regierung als eine Art Verrath am Vaterlande schilderte, verfocht er den deutschen Beruf des preußische Staates, wie er ihn schon 1859 in seiner Broschüre über den italienischen Krieg verfochten hatte. In allen diesen Fragen stand er aus gleichem Boden mit dem preußischen Ministerpräsidenten, wenngleich diese Berührung nur die sprüchwörtliche Berührung der Gegensätze war.

Auf der Rückreise von Ostende nach Berlin hielt Lassalle die mehrgedachte Rede in großen Massenversammlungen am Rhein, an dessen Ufern er einzig und allein einen wenigstens halbwegs nennenswerten Anhang hatte, in Barmen, Düsseldorf, Solingen. Um den verhältnißmäßig immer noch kleinen Kern seiner Parteigänger sammelte sich schnell die heiß- und leichtblütige Bevölkerung jener Gegenden, in welcher die große Industrie schon 1848 sociale Uebelstände hervorgerufen hatte, in welcher die berauschenden Erinnerungen des tollen Jahres niemals völlig verklungen waren. Glänzend bewährte sich wiederum die Fähigkeit des großen Demagogen, die Massen willenlos dem Winke seiner Wimper zu unterwerfen sobald er ihnen selbst Aug’ in Auge gegenüber stand. In Solingen, wo der allgemeine deutsche Arbeiterverein nur 92 Mitglieder zählte, hingen einige Tausende von Arbeitern athemlos an seinen Lippen; als einige Gegner eine Störung verursachte, wurden sie blitzschnell entfernt, nicht ohne blutige Gewalttätigkeit. Darauf hin löste der Bürgermeister die Versammlung auf, und Lassalle richtete jenes bekannte Beschwerdetelegramm an den preußischen Ministerpräsidenten, das damals wie ein fahler Blitz über seine geheimen Pläne zuckte, von seine Gegnern triumphirend ausgebeutet, von seinen Anhängern mit fassungslosem Staunen betrachtet wurde.

Für Lassalle selbst war die Depesche nach seinem Wiedereintreffen in Berlin vermuthlich der Anknüpfungspunkt zu mehrfachen persönlichen Zusammenkünften mit Herrn von Bismarck. Lange hat über diesen Unterredungen ein mehr oder minder undurchdringlicher Schleier gelegen; erst in der vorjährigen Herbstsession des Reichstages hat ihn bekanntlich der Reichskanzler selbst gehoben. Die Worte, in denen er es that, sind für beide Theile und namentlich für die Kennzeichnung des gegenseitigen Verhältnisses zu bezeichnend, als daß sie hier nicht nach ihrem wesentlichen Inhalt wiedergegeben werden sollten.

Fürst Bismarck sagt: „Unsere Beziehung konnte gar nicht die Natur einer politische Verhandlung haben. Was hätte mir Lassalle bieten und gebe können? Er hatte nichts hinter sich. In allen politische Verhandlungen ist das do ut des (ich gebe, damit Du giebst) eine Sache, die im Hintergrunde steht, auch wen man anstandshalber einstweilen nicht davon spricht. Wenn man sich aber sagen muß: was kannst Du armer Teufel geben? – er hatte nichts, was er mir als Minister hätte geben können. Was er hatte, war etwas, was mich als Privatmann außerordentlich anzog; er war einer der geistreichsten und liebenswürdigsten Menschen, mit denen ich je verkehrt habe, ein Mann, der ehrgeizig im großen Stile war, durchaus nicht Republikaner; er hatte eine sehr ausgeprägte nationale und monarchische Gesinnung; seine Idee, der er zustrebte, war das deutsche Kaiserthum, und darin hatten wir einen Berührungspunkt.“ Bekanntlich ist diese Charakteristik viel angefochten worden, und sie läßt sich auch erheblich anfechten, wenn man nur ihre äußere Schule betrachtet; erfaßt man ihre tieferen Sinn, so taucht sie das Wesen des Agitators in grelles Licht. Beispielsweise läßt sich der Behauptung, daß Lassalle durchaus kein Republikaner gewesen sei, eine lange Reihe öffentlicher Aeußerungen von ihm entgegenstellen, in denen er pathetisch betheuert, von Kindesbeinen an denke er republikanisch, aber wer seine vertrauliche Briefe auch nur flüchtig durchblättert hat, wird überzeugt sein, daß vielleicht niemals ein moderner Mensch so wenig von einer demokratischen Ader hatte, wie dieser sozialistische Agitator.

Während so der preußische Ministerpräsident auf den erste Blick den großen Rechenfehler in Lassalle’s Plänen erkannte und durchaus keine Neigung zu einem Bündniß mit „wilden Völkerschaften“ bezeigte, scheint Lassalle durch seine grenzenlose Eitelkeit völlig über den Eindruck getäuscht worden zu sein, den er in diese Unterredungen machte, scheint er für politisches Entgegenkommen gehalten zu haben, was nur persönliches Interesse war. Authentische Aeußerungen, welche er in Schrift oder Wort über diesen Verkehr gemacht hätte, sind allerdings bisher nicht bekannt geworden, aber aus seinem ganzen Verhalten läßt sich erkennen, daß sein Denken und Sinnen sich hinfort nur um die Politik Bismarck’s drehte, namentlich seitdem der Tod des Königs von Dänemark die schleswig-holsteinische Bewegung in Fluß brachte, in welcher auch er von jeher den Hebel zur deutschen Einheit erkannt hatte. Sein Plan, den allgemeinen deutschen Arbeiterverein für die Einverleibung der Elbherzogthümer in den preußischen Staat sich aussprechen zu lassen, wurde nur durch seinen unerwarteten Tod vereitelt; bis in die letzten Tage seines Lebens sorgte er mit fast ängstlicher Peinlichkeit dafür, daß alle seine Reden und Schriften in die Hände des preußischen Ministerpräsidenten gelangten.

Die Einbildungen Lassalle’s in dieser Beziehung waren um so verwunderlicher, als ihn ein unaufhörlicher Pfeilregen von polizeiliche und staatsanwaltlichen Verfolgungen billig über das Maß von Wohlwollen hätte belehren können, mit welchem sein keckes Treiben in maßgebende Regionen betrachtet wurde. Etwa ein halbes Dutzend schwerer Criminalprocesse, bei deren einem es sich sogar um eine mehrjährige Zuchthausstrafe handelte, hatte er im Winter von 1863 auf 1864 zu bewältigen; daneben lies eine lange Reihe kleinerer Widerwärtigkeiten, die an sich eben nicht bedeutend waren, aber doch die kostbare Zeit des Agitators stark beanspruchten; auch an gelegentlichen Verhaftungen fehlte es nicht. Namentlich als Lassalle unter dem prahlerische Feldgeschrei: „Mit Berlin wird die Bewegung unwiderstehlich“ die Hauptstadt „erobern“ wollte, setzte sich die Polizei energisch diesem Beginnen entgegen; trotz aller Mühen konnte er an seinem eigenen Wohnsitze seine Anhänger kaum nach Dutzenden zählen.

Eines etwas größere Erfolges durfte er sich allmählich in de Provinzen rühmen; wenn auch weit entfernt nicht einer freiwilligen und massenhaften Erhebung des Arbeiterstandes, so doch in Folge seiner gewaltige Kraftanstrengungen eines langsamen Wachsthums des Vereins. Seine rheinische Agitationsreise hatte etwa 500 neue Mitglieder geworben; nach und nach siedelte sich der Verein in 52 Städten an, aber wie viel mehr letzterer nur ein flackerndes Strohfeuer, als die nachhaltige Gluth politischer Leidenschaft zu entfachen wußte, beweist am schlagendsten die Thatsache, daß er in fast der Hälfte jener Orte noch zu Lebzeiten Lassalle’s wieder einging. Trotz aller großen Worte vermochte die Bewegung niemals ihre künstliche Mache zu verleugnen, niemals das volle Leben eines ursprünglichen Organismus zu entfalten. Wirr liefen die Anschauungen, Gedanken, Gefühle in den einzelnen Gemeinden durcheinander; ein ewiger Zank herrschte vor, und er war um so unsterblicher, als Niemand recht wußte, was denn nun eigentlich geschehen und werden solle; die Häuptlinge zweite und dritten Ranges verketzerten und verklagten sich gegenseitig; einzig noch die sclavische Anbetung des genialen Führers hielt die bunt gemischten Schaaren beisammen.

Und auch sie fing zuletzt an zu wanken. Der zweite Beamte des Vereins, Herr Vahlteich als Vereinssecretär, empörte sich gegen den Präsidenten, der den Unruhestifter zwar aus der Mitgliedschaft entfernte, aber bei diesem Anlasse bekannte, von Ekel über die innere Zwistigkeiten nahezu überwältigt zu sein.

Das hinderte ihn natürlich nicht, öffentlich den „geschlossenen Geist strengster Einheit und Disziplin“ zu preisen, der den Verein zu einer „ganz neuen Erscheinung in der Geschichte“ mache. Mit gleicher Mißachtung der Wahrheit pflegte er über die Höhe der Mitgliederzahl sich auszulassen; aus seinen vertrauten Briefen ist dagegen wohl erkennbar, wie scharf er die Achillesferse des Vereins erkannte. Er wurde nicht müde zu schreiben: „Wir können nur durch große Massen marschiren. Wenn wir nicht spätestens nach Ablauf eines Jahres große Zahlen auslegen können, sind wir ganz ohnmächtig.“ Er hat niemals große Zahlen auflegen können; bei seinem Tode mochte er drei- bis viertausend Anhänger zählen, eine Ziffer von lächerlicher Geringfügigkeit gegenüber den Hunderttausenden, mit denen er in seinen begehrlichen Träumen rechnete.

Die geringe Unterstützung der Arbeiter selbst machte die Werbung gebildeter Anhänger für Lassalle nach wie vor zu einem „Ziel, auf’s Innigste zu wünschen“. Aber auch hier kämpfte er wesentlich einen vergeblichen Kampf. Die theoretische Halbheit seiner Agitation trennte ihn gleich anfangs von Engels und Marx; vollends seitdem er seine neue Taktik begonnen hatte, folgten diese eingefleischten Revolutionäre von ihrem englischen Exile aus seinen Wegen nur mit misstrauischen Blicken; wo er selbst die alten Genossen erwähnt, hört man aus seinen Worten das böse Gewissen reden. Von seinen Freunden in Deutschland theilten Bucher und Rodbertus seine Ansicht über die falschen Wege, welche die Fortschrittspartei auf dem Gebiete der Arbeiterfrage eingeschlagen hatte, aber nicht minder entschieden verwarfen sie sein Vorgehen, und vergebens bemühte er sich, sie mit sich fortzureißen. Auch der alte Ziegler sagte sich schweren Herzens von dem bewunderten Freunde los. Herwegh blieb ihm zwar treu, aber er that nichts für ihn, als daß er das Bundeslied des Vereins dichtete. Wenig sangbar, wurde dieses Gedicht noch dazu von Hans von Bülow in den dunklen und schweren Weisen der Zukunftsmusik componirt, sodaß es niemals populär war und fast ganz unbekannt geblieben ist. Deshalb mögen hier wenigstens die Anfangs- und Schlußstrophen einen Platz finden:

Bet’ und arbeit’! ruft die Welt, Bete kurz! denn Zeit ist Geld. An die Thüre pocht die Noth – Bete kurz! denn Zeit ist Brod. und du ackerst und du säst, Und du nietest und du nähst, Und du hämmerst und du spinnst – Sag’, o Volk, was Du gewinnst? – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Mann der Arbeit, aufgewacht! Und erkenne deine Macht! Alle Räder stehen still, Wenn dein starker Arm es will. Deiner Dränger Schaar erblaßt, Wenn du, müde deiner Last, In die Ecke lehnst den Pflug, Wenn du rufst: Es ist genug! Brecht das Doppeljoch entzwei! Brecht die Noth der Sclaverei! Brecht die Sclaverei der Noth! Brod ist Freiheit, Freiheit Brod!

Wenn darnach Lassalle viel alte Freunde aus den gebildeten Schichte durch seine Agitation verlor, so gewann sie ihm wenig neue aus de gleichen Kreisen. Einiges junge Volk schloß sich ihm flüchtig an, ein Advocat, ein oder zwei Aerzte, ein Buchhändler, ein Candidat, auch ein baierischer Exlieutenant, aber von politischem Werthe waren diese vergänglichen und meist nur durch persönliche Bewunderung geschlossenen Verbindungen nicht. Nur aus zwei seiner Anhänger durfte er mit einiger Genugthuung als auf Demagoge blicken, die seiner agitatorische Kraft nicht völlig unwürdig waren, aus Liebknecht und Schweitzer, aber sein Unstern wollte, daß auch sie ihm keine werthvollen Stützen wurde. Schweitzer war ein begabter und thatkräftiger Mann, aber bekannt als Wüstling, der nur zu reichlich alle Genüsse des menschlichen Lebens erschöpft hatte: so betrachtete ihn gerade die besseren Mitglieder des Vereins mit unverhohlenem Widerwillen, und Lassalle mußte sein ganzes Ansehen einsetzen, um seine Aufnahme überhaupt bewerkstelligen zu können. Liebknecht wieder war persönlich ein unantastbarer Charakter, aber politisch ein fanatischer Republikaner aus der Schule von Engels und Marx; er gewann zu Lassalle und Lassalle wieder zu ihm kein rechtes Vertrauen.

Bei solcher Bewandtniß der Dinge mußte Lassalle die geistige Kosten seiner Agitation so gut wie ganz allein bestreiten, und er hat diese Aufgabe in geradezu einziger Weise gelöst. Vor dem anderthalb Dutzend mehr oder minder umfangreicher Schriften, die er in anderthalb Jahren mitten in den ungeheuren Anstrengungen und Aufregungen seiner Agitation geschrieben hat, kann ein unbefangener Urtheiler nur mit staunender Bewunderung stehen. In unserer nationalen Literatur haben diese glühenden Ergüsse einer Beredsamkeit, welche aus den schwersten und verworrensten Fragen der Wissenschaft blitzende Waffen auch für die ungefüge Faust der unwissenden Masse zu schmieden weiß, kaum ein Vor- oder auch nur ein Nachbild. In ihrem großartigen Wurfe stehen sie einzig da, ein Denkmal, nicht aus reinem und volltönendem Erze, vielmehr in wunderbarer Mischung aus Gold und Schlacken gegossen, aber strahlend von dem bestrickenden Glanze einer gewaltigen Geisteskraft. Wer diese Schriften liest, wird oft von aufrichtigem Abscheu ergriffen werden angesichts der wüthenden Schmähungen, mit denen sie verdiente Männer, wie beispielsweise einen Schulze-Delitzsch, überschütten, aber durch diese trüben Sümpfe windet sich der Gedankenpfad dann wieder in so kühnem Schwunge zu den lichten Höhen der Wissenschaft empor, daß der Widerwille immer wieder in der Seele des Lesers erlischt vor athemloser Spannung. Trotz alledem und alledem weht ein Hauch unsterblichen Schaffens durch diese Blätter; ein nicht geringer Theil ihres Inhalts ist schon heute ein bleibender Gewinn der Socialwissenschaft geworden.

Im Frühjahre von 1864 konnte Lassalle auf einen Winter zurückblicken, den er ganz und von seiner Sache gewidmet hatte; mit größerem Rechte, als im Vorjahre, durfte er seiner Reiselust nachgeben. In den rheinischen Gemeinden gedachte er zunächst das Stiftungsfest des Vereins zu feiern, die Triumphe des vergangenen Herbstes zu erneuern, eine neue Heerschau über die erlesene Garde seiner Anhänger zu halten. Und als er nun in Düsseldorf, Ronsdorf, Wermelskirchen erschien, da war es, als wollte ein barmherziges Schicksal ihm wenigstens einen tiefen Trunk aus dem Taumelkelche gönnen, nach dem seine Lippen in den aufreibenden Sorgen des Winters fast verdurstet waren.

Er war gekommen, abgespannt, übermüdet, auch körperlich krank; seine Aerzte gaben ihm nur noch eine kurze Lebensfrist. Todesgedanken quälten ihn; als er die Arbeiter in Düsseldorf um sich versammelte, sagte er von düsterer Ahnung: „Im nächsten Jahre werdet Ihr diesen Saal schwarz ausschlagen,“ und gleich melancholisch schloß die Rede, welche er auf dieser Rundreise in den einzelnen Gemeinden hielt, mit den Worten„Exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor!“ (Möge ein Rächer aus unsern Gebeinen erstehen!) Aber als nun zu dem eigentlichen Stiftungsfeste in Ronsdorf die Arbeiter der Umgegend in dichten Schaaren herbeiströmten , als sich Tausende und aber Tausende um ihn drängten mit jubelndem Zurufe, ihn unter Blumen erstickten und ihn priesen als ihren Heiland und Retter, da schnellte seine Seele mächtig empor aus der Tiefe der Verzagniß, und wieder leuchtenden Auges blickte er in die dunklen Schatten der Zukunft. „So,“ rief er triumphirend aus, „sehe es aus bei der Stiftung neuer Religionen,“ und als die Arbeiter ihn besangen:

„Wir grüßen Dich, Herr Präsident, In unserm Deutsch-Verein, Denn Dir gebührt die Ehre Zu unserm Groß-Verein; Und wenn wir nun gesieget, Dann wollen wir uns freu’n, Du bist uns hoch erkoren In diesem Deutsch-Verein!“

da rühmt er freudig dies Lied „in seiner tiefen Innigkeit und Naivetät“ und brachte es glücklich fertig zu schreiben „Wer sich auf alten Volksgesang versteht, wird nicht wenig überrascht sein, seine unversiechliche Spur in vollster Schönheit hier wiederzufinden.“

Der Tag in Ronsdorf war der letzte Sonnenblick, welcher das verlorene Leben des Agitators streifte. Von nun an kam unaufhaltsam die Dämmerung: sie spann ihn tiefer und tiefer in ihre grauen Nebel, bis endlich der letzte Schimmer der glänzenden Gestalt in der finstern Wirrniß eines unwürdigen Abenteuers erlosch. Vom Mai bis Juli war Lassalle auf seinen Sommerfahrten noch mannigfach thätig für seinen Verein; sein letzter Brief an den Secretär datirt vom 28. Juli 1864, dem Tage, an welchem ihn Helene von Dönniges auf Rigi-Kaltbad aufgesucht hatte. Von da ab lebte Lassalle nur noch in der Liebesintrigue mit dieser Dame; die besorgten Anfragen des Secretärs blieben unbeantwortet; nicht mit dem Schatten eines Gedankens hat er mehr an das gedacht, was er die große Aufgabe seines Lebens nannte. Am 31. August starb er dann jenes blutigen Todes, der so sehr jeder echten Tragik entbehrt, wie ihrer vielleicht noch niemals das gewaltsame und selbstverschuldete Ende eines bedeutenden Menschen entbehrt hat.

Ein widerlicher Versuch, den Leichnam Lassalle’s für agitatorische Zwecke zu benutzen, scheiterte glücklicher Weise an dem Widerstande der Polizei. Dieselbe nahm den Sarg zu Köln in Beschlag, als die Gräfin Hatzfeldt ihn auf einem Rheindampfer nach Düsseldorf führen wollte, um daselbst eine große Todtenfeier der rheinischen Gemeinden zu veranstalten. Die Leiche wurde nach Breslau gebracht, der Vaterstadt Lassalle’s, dort unter polizeilicher Begleitung in einem Planwagen auf den jüdischen Kirchhof geführt und ohne jede Feierlichkeit beigesetzt. So seltsam erfüllte sich der Traum Lassalle’s, am Schlusse seiner demagogischen Laufbahn auf dem Wagen des Triumphators einzuziehen in die freiheits- und siegestrunkene Hauptstadt eines großen Volks!

Im socialdemokratischen Lager erscholl wilde Klage um den Tod des Führers; man feierte sein Andenken in den widerlichsten Formen des Götzendienstes. Stiller, aber tiefer und wahrer trauerten Alle, welche im Auf- und Niedergang dieses Leben verfolgt hatten, das mit allen reichsten Gaben begnadet war, um als ein erster Stern am Himmel der Menschheit zu glänzen, aber das durch eigene Schuld sich selbst gebannt hatte in jenes Zwischenreich geschichtlicher Größen, deren Namen im Gedächtnisse der Nachwelt nur dauern unter dem Fluche des Dichterwortes:

„Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, Schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.“

4. Friedrich Engels und Karl Marx. – Der internationale Arbeiterbund.

Inhaltsverzeichnis

Mit dem Tode Lassalle’s schloß das erste große Capitel in der Geschichte der deutschen Socialdemokratie. Es hat kein Gegenbild in der gesammten modernen Arbeiterbewegung. Erst als jener ebenso geniale wie gefährliche Agitator ruhmlos verblichen war, bildete sich eine europäische Socialdemokratie. Deutsche Hände pflanzten ihre Wurzel in englischen Boden, von wo aus sie nach und nach ihr wucherndes Geflecht um alle Glieder unseres Erdtheils und selbst überseeischer Welten gesponnen hat.

Man hat den großen Arbeiterbund aller Völker, welcher die „internationale Arbeiterassociation“ oder gemeinhin die „Internationale“ genannt wird, wohl als die jüngste und zukunftsreichste Großmacht gekennzeichnet. Und so, wie er gedacht ist, als eine millionen- und aber millionenköpfige Phalanx der Handarbeiter, die, beseelt von einem Herzschlage, mit der erbarmungslosen Unwiderstehlichkeit einer Naturgewalt alle Höhen und Tiefen der modernen Cultur zu einer gleichmäßigen Fläche einebnen soll, würde er allerdings eine furchtbare Kraft darstellen, welcher dauernd keine irdische Gewalt zu widerstehen vermöchte.

Es ist viel gestritten worden, wer diesen unstreitig stärksten aller revolutionären Gedanken des neunzehnten Jahrhunderts zuerst gedacht hat; Manche wollen behaupten, er sei aus einem weiblichen Kopfe entsprungen; die Französin Jeanne Derouin wird als seine Mutter genannt. In Wahrheit und Wirklichkeit ist er niemals, wie Athene aus dem Haupte des Zeus, fertig und klar aus einem menschlichen Gehirn getreten vielmehr erwuchs er, wie alle weltbewegenden Gedanken, allmählich aus den Dingen selbst, bis hochbegabte Demagogen seine Verwendbarkeit erkannten und seinen Gehalt in eine so blendend knappe Form prägten, daß er hinfort wie eine bekannte und vertraute Münze unter den Völkern aller Zungen umlaufen konnte.

Die geheimen politischen Gesellschaften, wie sie während der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts vorzugsweise im europäischen Süden und Westen bestanden, in Rußland noch heute bestehen, waren und sind die Zufluchtsstätten schon freiheitsdürstender, aber noch unfreier Völker. Sie erweisen sich gleichsam als die erste, aber lebensgefährliche Stufe, die zum Tempel der Freiheit emporführt. Jedem Volke, das nicht mit schnellen Schritten über sie hinwegkam, haben sie zu unverwindlichem Schaden gereicht. Das unheimliche Zwielicht, in welchem sie lebten, wandelte alle ihre Bestrebungen zu widerliche Zerrbildern um; wie edel häufig die Absichten ihrer Gründer und Stifter sein mochten, so wurden sie doch unausbleiblich Tummelplätze der lächerlichsten und schlechtesten Leidenschaften. Statt zu erheben und zu läutern, entnervten und entmannten sie; die feurigste Freiheitsliebe verpuffte in einem albern-verächtlichen Wirrwarr von Attentaten und Putschen; Niemandem wurden sie schließlich verächtlicher, als den gewerbsmäßigen Revolutionären selbst, soweit dieselben überhaupt Männer und nicht blos Kinder waren.

Dennoch haben diese Geheimbünde bis zum Jahre 1848 in allen gesitteten Ländern bestanden, wenngleich weit zahlreicher unter den romanischen als unter den germanischen Nationen. Es war natürlich unvermeidlich, daß die socialistischen Umsturzgedanken, als sie in der Arbeiterwelt auszutauchen begannen, zunächst gleichfalls das schützende Dunkel nächtlicher Verschwörungen aufsuchten Ebenso naturgemäß führte mannigfache Interessengemeinschaft zu gewissen Berührungspunkten unter den Geheimbünden verschiedener Länder und Völker, namentlich als sich die europäischen Regierungen zu gemeinsamem Vorgehen gegen sie verbanden. Allein diese internationalen Zusammenhänge entsprangen doch nur mehr einem unsichern Tasten, als einem bewußten Wollen Die strenge Grenzbewachung, die Mangelhaftigkeit der Verkehrsmittel erschwerten die Verbindung von Volk zu Volk; auch fehlte jene durchsichtige Klarheit der Ziele, welche allein über die hemmenden Schranken verschiedener Denk- und Sprechweise helfen konnte.

So gediehen die internationalen Beziehungen der Geheimbünde unter verschiedenen Völkern nur da, wo dieselben aus eng begrenztem Raume neben einander wohnten, und unter verschiedenen Ländern nur dann, wenn sie sich aus Genossen desselben Volkes beschränkten. In ersterem Betrachte mag als Beispiel die Schweiz genannt werden, wo ein „Junges Deutschland“, ein „Junges Frankreich“, ein „Junges Italien“ als verschiedene Zweige eines „Jungen Europa“ bestanden; in letzterer Beziehung der „Bund der Communisten“, welcher die deutschen Arbeiter über den ganzen Erdball hin revolutionär zu verbinden suchte und bei der deutschen Wanderlust starke Absenker nach Belgien England, Frankreich, der Schweiz treiben konnte und getrieben hatte. Sonst aber war diese Gesellschaft eben auch nur ein revolutionärer Geheimbund, wie andere ihres Gleichen, ohne ernstere Gedanken und Ziele, bestimmt, viele nützliche Kräfte zwecklos zu verzehren und dann klanglos zum Orkus zu wandeln.

Vor diesem Schicksale wurde sie gerettet durch den Anschluß zweier Gelehrter, die in langwierig mühsamen Arbeiten sich klar geworden waren über die Bedingungen, unter denen allein die von ihnen gewünschte Umwälzung der modernen Welt möglich ist oder möglich werden könnte. Es waren Friedrich Engels und Karl Marx, beide gleich Lassalle jüdischen Blutes, auf deutscher Erde geboren und genährt von deutschem Geiste, in der strengen Zucht deutscher Wissenschaft herangewachsen zu jener geschlossenen Denkkraft, die ihnen einen so großen und verhängnißvollen Einfluß auf die geschichtliche Entwickelung ihres Jahrhunderts zu üben gestattet hat.

Ueber die näheren Lebensumstände von Engels ist nur wenig bekannt. Er ist in Barmen geboren und lebt heute als reicher Fabrikbesitzer in Manchester. Schon 1844 versuchte er in den „Deutsch-französischen Jahrbüchern“ den Nachweis, daß die ganze bisherige Volkswirthschaftslehre nur eine Ableitung unsittlicher Vorstellungen aus einer völlig entsittlichten Wirklichkeit sei; im Jahre darauf bemühte er sich in seinem bekanntesten Werke. „Die Lage der arbeitenden Classen in England“, geschichtlich und statistisch an dem Beispiele der classischen Volkswirthschaft unserer Tage nachzuweisen, daß eben diese Volkswirthschaft mit ihren Fabriken und Maschinen, ihrem Freihandel und Geldverkehr unrettbar zum äußersten Massenelend führe, wenn nicht der – Communismus einen rettenden Ausweg schaffe.

Nach Roscher’s Urtheil ist das leider mehr genannte, als gekannte und augenblicklich auch äußerst selten gewordene Werk ein aus den Schattenseiten der neueren englischen Zustände unter Verschweigung ihrer Lichtseiten geschickt zusammengesetztes Nachtgemälde, das, in sehr vielen Einzelnheiten wahr, im Ganzen doch nur ein allerdings zur Aufreizung und Beunruhigung der Arbeiter höchst wirksames Zerrbild ist. Seitdem hat Engels nur eine längere Reihe kleinerer, meist agitatorischer, wenn auch äußerst geistreicher Schriften verfaßt, bis er in jüngster Zeit wiederum ein größeres Werk veröffentlichte, das äußerlich zwar auch nur als Polemik gegen einen wissenschaftlichen Gegner auftritt, aber in seinen fachlichen Ausführungen eine Fülle werthvoller Beiträge zur Lehre der modernen Socialwissenschaft enthält.

Bedeutender noch und jedenfalls bekannter, als Engels, ist Karl Marx. Auch er stammt aus dem Rheinlande, er ist als Sohn eines höheren preußischen Beamten in Trier geboren. Eben in das siebente Jahrzehnt seines Lebens tretend, vermag er schon aus fast vier Jahrzehnte politischer und publicistischer Arbeit in Deutschland und Frankreich, Belgien und England zurückzublicken Eine seltene Folgerichtigkeit der Weltanschauung zeichnet ihn aus; in vielfacher Beziehung darf er als der größte Revolutionär des neunzehnten Jahrhunderts gelten. Ein genialer, tiefsinniger, ursprünglicher Dealer und zugleich ein eitler, niedriger, zänkischer Demagoge – in der Geschichte findet sich keine zweite Gestalt, die so grelle Widersprüche zu einer in sich so vollkommenen Individualität zu verschmelzen gewußt hat, wie Marx.

„Er ist der Erste und Einzige unter uns Allen,“ schreibt ein schwärmerischer Anhänger der revolutionären Partei, „dem ich das Zeug zutraue, zu herrschen, das Zeug, auch unter großen Verhältnissen sich nicht in’s Kleine zu verlieren. Ich bedaure um unseres Zieles willen, daß dieser Mensch nicht neben seinem eminenten Geiste ein edles Herz zur Verfügung zu stellen hat. Aber ich habe die Ueberzeugung, daß der gefährlichste persönliche Ehrgeiz in ihm alles Gute zerfressen hat. Er lacht über die Narren, die ihm seinen Proletarierkatechismus nachbeten, so gut wie über die Bourgeois. Die einzigen, die er achtet, sind ihm die Aristokraten, die reinen, und die es mit Bewußtsein sind. Um sie von der Herrschaft zu verdrängen, braucht er eine Kraft, die er allein in den Proletariern findet. Deshalb hat er sein System auf sie zugeschnitten. Trotz aller seiner Versicherungen vom Gegentheil, habe ich den Eindruck mitgenommen, daß seine persönliche Herrschaft der Zweck all seines Treibens ist.“

So schrieb der preußische Exlieutenant von Techow vor nunmehr dreißig Jahren; seitdem ist seine Schilderung im Guten und Schlimmen so oft von kundigen Urteilen bestätigt worden, daß sie typischen Werth gewonnen hat.