Karl Marx - Franz Mehring - E-Book

Karl Marx E-Book

Franz Mehring

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Beschreibung

1918 zum ersten Mal veröffentlicht, zählt die Marx-Biografie von Franz Mehring, dem Mitstreiter von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, zum Besten, was über Karl Marx geschrieben wurde. Rosa Luxemburg, die den Abschnitt über Band zwei und drei des Kapitals für diese Biografie verfasst hat, gab der Bewunderung für Mehring in Ihrem Brief zu seinem siebzigsten Geburtstag vom 27. Februar 1916 Ausdruck: 'Sie sind der Vertreter der echten geistigen Kultur in all ihrem Glanz und Schimmer. Wenn nach Marx und Engels das deutsche Proletariat der historische Erbe der klassischen deutschen Philosophie ist, so sind Sie der Vollstrecker dieses Vermächtnisses gewesen. Sie haben aus dem Lager der Bourgeoisie gerettet und zu uns, ins Lager der sozial Enterbten, gebracht, was noch an goldenen Schätzen der einstigen geistigen Kultur der Bourgeoisie übriggeblieben war. Durch Ihre Bücher wie durch Ihre Artikel haben Sie das deutsche Proletariat nicht bloß mit der klassischen deutschen Philosophie, sondern auch mit der klassischen Dichtung, nicht nur mit Kant und Hegel, sondern mit Lessing, Schiller und Goethe durch unzerreißbare Bande verknüpft. Sie lehrten unsere Arbeiter durch jede Zeile aus Ihrer wunderbaren Feder, dass der Sozialismus nicht eine Messer-und-Gabel-Frage, sondern eine Kulturbewegung, eine große und stolze Weltanschauung sei.'

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Seitenzahl: 1018

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Agenten

Agenten

Der Mord an Leo Trotzki durch die stalinistische Geheimpolizei (GPU) 1940 ging auf ein Netz von Agenten zurück, die in die Vierte Internationale eingedrungen waren. Ein Heer von Spitzeln des FBI und der GPU reichte in den USA vertrauliche Parteidokumente an sowjetische und US-Regierungsstellen weiter. In diesem Buch wird aufgezeigt, wie diese Unterwanderung bewerkstelligt wurde, wie die Agenten ihre wahre Identität verbargen und auf wie es dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale gelang, sie zu enttarnen.

Franz Mehring

Karl Marx – Geschichte seines Lebens

Mehring Verlag

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

Vorwort des Verfassers

Erstes Kapitel: Junge Jahre

1. Haus und Schule

2. Jenny von Westphalen

Zweites Kapitel: Der Schüler Hegels

1. Das erste Jahr in Berlin

2. Die Junghegelianer

3. Die Philosophie des Selbstbewusstseins

4. Die Doktordissertation

5. »Anekdota« und »Rheinische Zeitung«

6. Der rheinische Landtag

7. Fünf Kampfmonate

8. Ludwig Feuerbach

9. Hochzeit und Verbannung

Drittes Kapitel: Das Pariser Exil

1. Die »Deutsch-Französischen Jahrbücher«

2. Eine philosophische Fernsicht

3. Zur Judenfrage

4. Französische Zivilisation

5. Der »Vorwärts!« und die Ausweisung

Viertes Kapitel: Friedrich Engels

1. Kontor und Kaserne

2. Englische Zivilisation

3. »Die heilige Familie«

4. Eine sozialistische Grundlegung

Fünftes Kapitel: Das Brüsseler Exil

1. »Die deutsche Ideologie«

2. Der »wahre« Sozialismus

3. Weitling und Proud­hon

4. Der historische Materialismus

5. »Deutsche-Brüsseler-Zeitung«

6. Der Bund der Kommunisten

7. Propaganda in Brüssel

8. »Das Kommunistische Manifest«

Sechstes Kapitel: Revolution und Gegenrevolution

1. Februar- und Märztage

2. Junitage

3. Der Krieg gegen Russland

4. Septembertage

5. Die Kölner Demokratie

6. Freiligrath und Lassalle

7. Oktober- und Novembertage

8. Ein Streich aus dem Hinterhalte

9. Noch ein feiger Streich

Siebentes Kapitel: Das Londoner Exil

1. »Neue Rheinische Revue«

2. Der Fall Kinkel

3. Die Spaltung des Kommunistenbundes

4. Flüchtlingsleben

5. »Der achtzehnte Brumaire«

6. Der Kölner Kommunistenprozess

Achtes Kapitel: Engels – Marx

1. Genie und Gesellschaft

2. Ein Bund ohnegleichen

Neuntes Kapitel: Krimkrieg und Krise

1. Europäische Politik

2. David Urquhart, Harney und Jones

3. Familie und Freunde

4. Die Krise von 1857

5. »Zur Kritik der politischen Ökonomie«

Zehntes Kapitel: Dynastische Umwälzungen

1. Der italienische Krieg

2. Der Streit mit Lassalle

3. Neue Emigrantenkämpfe

4. Zwischenspiele

5. »Herr Vogt«

6. Häusliches und Persönliches

7. Die Agitation Lassalles

Elftes Kapitel: Die Anfänge der Internationalen

1. Die Gründung

2. »Inauguraladresse« und »Statuten«

3. Die Absage an Schweitzer

4. Die erste Konferenz in London

5. Der deutsche Krieg

6. Der Genfer Kongress

Zwölftes Kapitel: »Das Kapital«

1. Die Geburtswehen

2. Der erste Band

3. Der zweite und dritte Band

4. Die Aufnahme des Werks

Dreizehntes Kapitel: Die Internationale auf der Höhe

1. England, Frankreich, Belgien

2. Die Schweiz und Deutschland

3. Die Agitation Bakunins

4. Die Allianz der sozialistischen Demokratie

5. Der Baseler Kongress

6. Genfer Wirren

7. Die Konfidentielle Mitteilung

8. Irische Amnestie und französisches Plebiszit

Vierzehntes Kapitel: Der Niedergang der Internationalen

1. Bis Sedan

2. Nach Sedan

3. Der Bürgerkrieg in Frankreich

4. Die Internationale und die Kommune

5. Die bakunistische Opposition

6. Die zweite Konferenz in London

7. Der Spaltpilz der Internationalen

8. Der Haager Kongress

9. Nachwehen

Fünfzehntes Kapitel: Das letzte Jahrzehnt

1. Marx in seinem Heim

2. Die deutsche Sozialdemokratie

3. Anarchismus und Orientkrieg

4. Morgenröte

5. Abendschatten

6. Das letzte Jahr

Anmerkungen

Zeittafel zur Lebensgeschichte

Impressum

Vorwort des Herausgebers

Im Jahr 1918, kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs, wurde »Karl Marx – Geschichte seines Lebens« zum ersten Mal veröffentlicht. Es ist neben der »Lessing-Legende« und der »Geschichte der deutschen Sozialdemokratie« das Hauptwerk aus der Feder des marxistischen Schriftstellers und Historikers Franz Mehring.

Monatelang hatte die wilhelminische Militärzensur die Herausgabe der Biographie zu verhindern gesucht. Allein in der ersten Hälfte des Buchs nahm der Zensor an etwa 70 Stellen Anstoß. Nachdem die Proteste bei den Zensurbehörden wirkungslos blieben, auch Debatten im Reichstag und im Preußischen Landtag keine Freigabe erwirkten, schrieb Mehring einen eindringlichen Brief an den Reichskanzler. Einige Zeit später konnte das Werk endlich ohne textliche Konzessionen erscheinen.

Rosa Luxemburg, die den Abschnitt über Band zwei und drei des »Kapitals« für diese Biographie verfasst hatte, äußerte sich begeistert: »Sehr verehrter Freund, haben Sie tausend Dank für Ihr Werk und Ihren Brief, auf den ich schon in großer Unruhe wartete. Ich stürzte mich natürlich gleich auf die Lektüre und kann Ihnen gar nicht sagen, wie erquickend und anregend sie auf mich gewirkt hat. Den Eindruck, den mir die ersten Kapitel schon früher einmal gemacht hatten, fand ich durch das Ganze bestätigt: Es ist entschieden Ihr bestes Werk, was das edle Ebenmaß der Komposition, die ruhige Schönheit der Sprache und vor allem den starken Geist und die Frische betrifft, die aus der Arbeit wehen. Ich verspreche mir eine tiefe, aufrüttelnde Wirkung von dem Buche. Man konnte den Massen in diesem Moment nichts Schöneres schenken, um sie an die besten Traditionen zu erinnern.«[1]

Franz Mehring war erst spät zum Marxismus gestoßen. Er wurde 1846 in Schlawe in Pommern geboren. Sein Vater war ein höherer Steuerbeamter und zuvor preußischer Offizier. Nach dem Studium der Philologie und Geschichte begann Mehring seine journalistische Tätigkeit bei der Berliner radikal-demokratischen Tageszeitung »Die Zukunft«, die von Guido Weiß und Johann Jacoby herausgegeben wurde. 1870 lehnte er Seite an Seite mit der ein Jahr zuvor gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei die Annexion Elsass-Lothringens durch die preußische Armee ab.

Mehring veröffentlichte 1875 eine Polemik gegen den nationalliberalen Historiker Heinrich Gotthard von Treitschke, in der er versuchte, den Liberalismus gegen die preußische Reaktion zu verteidigen. Dies erwies sich jedoch als aussichtslos, da die deutsche Mittelklasse sich unter dem Eindruck der aufstrebenden Arbeiterklasse Bismarck und dem Junkertum in die Arme warf.

Die nächsten Jahre wandte er sich den Nationalliberalen zu und verfasste anti-sozialistische Artikel. 1882 erhielt er die Doktorwürde an der Universität Leipzig. Unter dem Eindruck der Sozialistengesetze, mit denen Bismarck 1878 die sozialdemokratischen Organisationen und Zeitungen verboten hatte, wandte Mehring sich der Sozialdemokratie wieder zu und begann ein intensives Studium der Werke von Karl Marx und Friedrich Engels.

Im Jahr 1891 trat er der wieder legalisierten SPD bei und wurde Mitglied der Redaktion der »Neuen Zeit«, des theoretischen Organs der Partei. Schon sehr bald stellte er sich auf die Seite des marxistischen Flügels der Sozialdemokratie gegen den Teil, der unter Eduard Bernstein die Orientierung auf die Arbeiterklasse durch eine versöhnlerische Haltung gegenüber der Bourgeoisie ersetzen wollte. 1902 veröffentlichte Mehring erstmals die Frühschriften von Marx und Engels. Im gleichen Jahr übernahm er den Posten des Chefredakteurs der sozialdemokratischen »Leipziger Volkszeitung«. Zwischen 1906 und 1911 lehrte er an der Parteischule in Berlin. Gegen die Position der »Praktiker« schrieb er 1902 in der »Neuen Zeit«: »Der Emanzipationskampf des modernen Proletariats kann nicht wie ein Guerillakrieg geführt werden, von Tag zu Tag und von Ort zu Ort, ohne einen Generalstab; die Arbeiterklasse wird niemals siegen, wenn sie sich nicht auch geistig überlegen zeigt der alten und trotz aller kapitalistischen Zerrüttung noch immer mächtigen Kultur, die sie überwinden muss, um eine höhere Kultur zu schaffen.«[2]

Die Jahre vor Ausbruch des 1. Weltkriegs waren durch einen immer schärfer werdenden Fraktionskampf in der SPD gekennzeichnet. Mehrings früherer Freund Karl Kautsky zwang ihn 1913, die Redaktion der »Neuen Zeit« zu verlassen. Am Beginn des Kriegs stellte Mehring sich gemeinsam mit Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und wenigen anderen gegen die Kriegsunterstützung durch die Mehrheit der SPD-Führung. 1915 gründete er mit Rosa Luxemburg die Zeitschrift »Die Internationale« und übernahm die führende Rolle in ihrer Herausgabe, als Luxemburg ins Gefängnis geworfen wurde. Im Alter von 70 Jahren wurde Mehring 1916 für einige Monate inhaftiert, ein Jahr später mit großer Mehrheit in einem Berliner Wahlkreis in das preußische Parlament gewählt.

Nach der Novemberrevolution 1918, der Abdankung des Kaisers und dem Ende des Kriegs setzte er seine Kraft für die Gründung der Kommunistischen Partei ein. Als die sozialdemokratische Regierung Ebert-Scheidemann-Noske durch ihre Freikorps Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1919 ermorden ließ, erholte sich Franz Mehring von diesem Schlag gegen seine engsten Freunde nicht mehr; er starb am 29. Januar.

Die kurz vor seinem Tod veröffentlichte Marx-Biographie besticht durch die anschauliche Art und Weise, in der er nicht nur das Leben von Karl Marx sondern auch die großen Ideen und Werke darzulegen versteht. Die scharfen Proteste, die Kautsky und Rjasanow schon bei der Ankündigung, diese Biographie zu schreiben, 1913 erhoben und auf die Mehring in seinem Vorwort Bezug nimmt, sind nur durch deren politische Haltung kurz vor dem Weltkrieg zu erklären, wo sie jede tiefgehende Diskussion in der Partei über revolutionäre Perspektiven und die Traditionen der Sozialdemokratie verhindern wollten. In einem Brief vom 23. November 1913 unterstützte Rosa Luxemburg Franz Mehring: »Jetzt warte ich auf Ihre Lektion an Rjasanow; ich bringe es kaum fertig, dieses Gewebe von Kleinlichkeit, Gehässigkeit und Bedienteneifer zu lesen.«[3]

Bereits ein Jahr zuvor schrieb sie an Kostja Zetkin: »Von Mehring habe ich Nachrichten, dass er sich mit K.K. (Karl Kautsky) brieflich wegen der Artikel über mich scharf gezankt hat, dass Bebel gegen ihn in der ›Neuen Zeit‹ auftritt, dass er gegen den Vorstand zum Platzen geladen ist und dass er jetzt den K.K. zum ›Sumpf‹ rechnet und eine ›neue Linke‹ aufsteigen sieht unter seiner und ›Röschens‹ Führung. Das hat mir Spaß gemacht. Jedenfalls ist es für die Sache sehr nützlich, dass M. sich von K.K. ganz getrennt hat.«[4]

Nichtsdestotrotz gibt es Schwächen in den Ausführungen Mehrings, die, besonders vom heutigen Standpunkt aus, kritisch betrachtet werden müssen. Die Abschnitte, die in der Marx-Biographie Ferdinand Lassalle und Michail A. Bakunin gewidmet sind, zeichnen ein zu überhöhtes Bild der beiden Revolutionäre. Es handelt sich um einen Versuch der »Ehrenrettung« der Persönlichkeiten Lassalles und Bakunins vor der scharfen und zuweilen bissigen Kritik von Marx.

Ferdinand Lassalle war einer der widersprüchlichsten Charaktere in der jungen deutschen Arbeiterbewegung. Herausragend in seiner revolutionären Agitation war er der Gründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV), der ersten politischen Partei der Arbeiterbewegung. Gleichzeitig waren seine politischen Mittel oft von größtem Opportunismus gekennzeichnet. 1928 wurde der Briefwechsel zwischen Bismarck und Lassalle entdeckt, der alles Misstrauen, das Marx immer gehegt hatte, bestätigte. Bereits im Mai 1863, noch vor der Gründung des ADAV, lud Bismarck Lassalle zu einer Unterredung über die »Arbeiterfrage« ein. Lassalle schrieb am 8. Juni 1863:

»Aber es wird Ihnen aus diesem Miniaturgemälde (dem Statut des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins) deutlich die Überzeugung hervorgehen, wie wahr es ist, dass sich der Arbeiterstand instinktmäßig zur Diktatur geneigt fühlt, wenn er erst mit Recht überzeugt sein kann, dass dieselbe in seinem Interesse ausgeübt wird, und wie sehr er daher, wie ich Ihnen schon neulich sagte, geneigt sein würde, trotz aller republikanischen Gesinnungen – oder vielleicht gerade auf Grund derselben – in der Krone den natürlichen Träger der sozialen Diktatur im Gegensatz zu dem Egoismus der bürgerlichen Klassen zu sehen, wenn die Krone ihrerseits sich jemals zu dem – freilich sehr unwahrscheinlichen – Schritt entschließen könnte, eine wahrhaft revolutionäre und nationale Richtung einzuschlagen und sich aus einem Königtum der bevorrechteten Stände in ein soziales und revolutionäres Volkskönigtum umzuwandeln.«[5]

Diese Unterordnung unter den Staat blieb ein Problem in der deutschen Arbeiterbewegung, wie es sich am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts in den Positionen Eduard Bernsteins deutlich zeigte.

Auch die Haltung Mehrings, den »ehrlichen Revolutionär« in Michail Bakunin zu verteidigen, kann vom heutigen Standpunkt nicht mehr geteilt werden. Dessen moralische Integrität ist durch die Dokumente aus den zaristischen Archiven, in denen er sich gegenüber dem Zaren vollständig von seinen revolutionären Ansichten distanziert und sie widerruft, um aus der Verbannung gerettet zu werden, zerstört.

Diese Dokumente lagen Franz Mehring zu seiner Zeit natürlich noch nicht vor. Die Größe und die Schönheit dieser Biographie werden durch diese Punkte auch in keiner Weise berührt. Gerade in der heutigen Zeit, in der der Marxismus immer wieder totgesagt worden ist, kann dieses Buch eine wichtige Aufgabe dabei spielen, den Gedanken und die großen Ideen von Karl Marx wieder zu beleben.

Den Schriften Franz Mehrings kann man nur die größtmögliche Verbreitung wünschen. Rosa Luxemburg gab der Bewunderung für dessen Lebenswerk in ihrem Brief zu seinem siebzigsten Geburtstag vom 27. Februar 1916 Ausdruck:

»Sie sind der Vertreter der echten geistigen Kultur in all ihrem Glanz und Schimmer. Wenn nach Marx und Engels das deutsche Proletariat der historische Erbe der klassischen deutschen Philosophie ist, so sind Sie der Vollstrecker dieses Vermächtnisses gewesen. Sie haben aus dem Lager der Bourgeoisie gerettet und zu uns, ins Lager der sozial Enterbten, gebracht, was noch an goldenen Schätzen der einstigen geistigen Kultur der Bourgeoisie übrig geblieben war. Durch Ihre Bücher wie durch Ihre Artikel haben Sie das deutsche Proletariat nicht bloß mit der klassischen deutschen Philosophie, sondern auch mit der klassischen Dichtung, nicht nur mit Kant und Hegel, sondern mit Lessing, Schiller und Goethe durch unzerreißbare Bande verknüpft. Sie lehrten unsere Arbeiter durch jede Zeile aus Ihrer wunderbaren Feder, dass der Sozialismus nicht eine Messer-und-Gabel-Frage, sondern eine Kulturbewegung, eine große und stolze Weltanschauung sei. … Jetzt sehen freilich die Erben der klassischen Philosophie – seit dem furchtbaren Zusammenbruch im Weltkriege – wie elende Bettler aus, die von Ungeziefer gefressen werden. Aber die ehernen Gesetze der geschichtlichen Dialektik, die Sie so meisterhaft dem Proletariat tagaus, tagein zu erklären wussten, werden es mit sich bringen, dass sich die Bettler, die ›Geusen‹ von heute, wieder aufraffen und morgen zu stolzen und schroffen Kämpfern werden. Und sobald der Geist des Sozialismus in die Reihen des deutschen Proletariats wieder einzieht, wird seine erste Gebärde sein – nach Ihren Schriften, nach den Früchten Ihrer Lebensarbeit zu greifen, deren Wert unvergänglich ist und aus denen immer derselbe Odem einer edlen und starken Weltanschauung weht. Heute, wo uns Intelligenzen bürgerlicher Herkunft rudelweis verraten und verlassen, um zu den Fleischtöpfen der Herrschenden zurückzukehren, können wir ihnen mit verächtlichem Lächeln nachblicken: Geht nur! Wir haben der deutschen Bourgeoisie doch das Letzte und Beste weggenommen, was sie noch an Geist, Talent und Charakter hatte: Franz Mehring.«[6]

Essen, 19. Februar 2001

Wolfgang Zimmermann

[1] Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Band 5, Berlin 1987, S. 395.

[2] Franz Mehring, Zwanzig Jahre, in Gesammelte Schriften, Bd. 14, Berlin 1978, S. 503.

[3] Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Band 4, Berlin 1987, S. 324.

[4] Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Band 4, Berlin 1987, S. 200.

[5] G. Mayer, Bismarck und Lassalle, ihr Briefwechsel und ihre Gespräche, Berlin 1928.

[6] Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Band 5, Berlin 1987, S. 104.

Clara Zetkin-Zundel, der Erbin marxistischen Geistes

Vorwort des Verfassers

Dieses Buch hat seine kleine Geschichte. Als es sich darum handelte, den Briefwechsel zwischen Marx und Engels herauszugeben, machte Frau Laura Lafargue ihre Zustimmung, soweit sie notwendig war, davon abhängig, dass ich als ihr Vertrauensmann an der Redaktion teilnähme; in einer, aus Draveil vom 10. November 1910 datierten Vollmacht beauftragte sie mich, die Bemerkungen, Erläuterungen und Streichungen vorzunehmen, die ich für unerlässlich hielte.

Von dieser Vollmacht habe ich jedoch keinen praktischen Gebrauch gemacht. Zwischen den Herausgebern oder vielmehr dem Herausgeber Bernstein – denn Bebel gab nur den Namen dazu her – und mir ergaben sich keine wesentlichen Meinungsverschiedenheiten, und ihm ohne zwingenden oder mindestens dringenden Grund ins Handwerk zu pfuschen, hatte ich, im Sinne meiner Auftraggeberin, keinen Anlass, kein Recht und selbstverständlich auch keine Neigung.

Dagegen rundete sich mir in der langen Arbeit an diesem Briefwechsel das Bild ab, das ich aus jahrzehntelangen Studien von Karl Marx gewonnen hatte, und so erwuchs mir unwillkürlich der Wunsch, diesem Bilde einen biographischen Rahmen zu geben, zumal da ich wusste, dass Frau Lafargue daran ihre große Freude haben würde. Ich hatte mir ihre Freundschaft und ihr Vertrauen erworben, nicht etwa weil sie mich unter den Schülern ihres Vaters für den gelehrtesten oder scharfsinnigsten, sondern nur für denjenigen hielt, der in sein menschliches Wesen am tiefsten eingedrungen sei und es am treffendsten darzustellen wisse. Brieflich wie mündlich hat sie mir oft versichert, wie so manche halbverklungene Erinnerung aus ihrem elterlichen Hause durch die Schilderung in meiner Parteigeschichte und namentlich in meiner Nachlassausgabe ihr wieder frisch und lebendig, wie mancher, von ihren Eltern oft gehörter Name ihr erst durch mich aus einem bloßen Schatten zu einer greifbaren Gestalt geworden sei.

Leider starb die edle Frau, lange ehe der Briefwechsel ihres Vaters mit Engels herausgegeben werden konnte. Wenige Stunden, ehe sie in den Freitod ging, sandte sie mir noch ein herzliches Wort des Grußes. Sie hatte den großen Sinn ihres Vaters geerbt, und ich danke es ihr noch im Grabe, dass sie mir manchen Schatz aus seinem Nachlass zur Herausgabe anvertraut hat, ohne auch nur den leisesten Versuch, mein kritisches Urteil darüber zu beeinflussen. So erhielt ich von ihr die Briefe Lassalles an ihren Vater, obgleich sie aus meiner Parteigeschichte wusste, wie entschieden nd wie oft ich das Recht Lassalles gegen ihren Vater vertreten hatte. Nicht ein Äderchen von dem Wesen dieser großherzigen Frau verrieten dagegen zwei Zionswächter des Marxismus, die, als ich nunmehr zur Ausführung meines biographischen Vorhabens schritt, in das Horn der sittlichen Entrüstung stießen, weil ich in der »Neuen Zeit« einige Bemerkungen über Lassalles und Bakunins Beziehungen zu Marx geäußert hatte, ohne dabei den gebührenden Kotau vor der offiziellen Parteilegende zu machen. Zuerst zieh mich K. Kautsky der »Marxfeindschaft« im Allgemeinen und eines angeblich an Frau Lafargue begangenen »Vertrauensbruchs« im Besonderen, und als ich gleichwohl auf meiner Absicht beharrte, die Biographie von Marx zu schreiben, opferte er von dem bekanntlich sehr kostbaren Raum der »Neuen Zeit« nicht weniger als einige sechzig Seiten einem Pamphlet, worin mich N. Rjasanow – unter einer Flut von Beschuldigungen, deren Gewissenlosigkeit etwa auf gleicher Höhe mit ihrer Sinnlosigkeit stand – des schnödesten Verrats an Marx überführen wollte. Ich habe diesen Leuten das letzte Wort gegönnt, aus einer Empfindung heraus, die ich aus Gründen der Höflichkeit nicht beim richtigen Namen nennen will, schulde aber mir selbst festzustellen, dass ich ihrem Gesinnungsterrorismus nicht um Haaresbreite nachgegeben, sondern auf den nachfolgenden Blättern die Beziehungen Lassalles und Bakunins zu Marx, unter gänzlicher Missachtung der Parteilegende, nach den Geboten der geschichtlichen Wahrheit dargestellt habe. Natürlich habe ich dabei wieder von jeder Polemik abgesehen, jedoch in den Anmerkungen einige Hauptanklagen der Kautsky und Rjasanow gegen mich ein wenig niedriger gehängt, zu Nutz und Frommen jüngerer Arbeiter auf diesem Gebiet, denen das Gefühl absoluter Wurstigkeit gegen die Anfälle des Marxpfaffentums nicht früh genug eingeimpft werden kann. Wäre Marx in der Tat der langweilige Musterknabe gewesen, den die Marxpfaffen in ihm bewundern, so hätte es mich nie gereizt, seine Biographie zu schreiben. Meine Bewunderung wie meine Kritik – und zu einer guten Biographie gehört die eine wie die andere in gleichem Maße – gilt dem großen Menschen, der nichts häufiger und nichts lieber von sich bekannte, als dass ihm nichts Menschliches fremd sei. Ihn in seiner mächtig-rauen Größe nachzuschaffen, war die Aufgabe, die ich mir gestellt hatte.

Das Ziel bestimmte dann auch schon den Weg zum Ziel. Alle Geschichtsschreibung ist zugleich Kunst und Wissenschaft, und zumal die biographische Darstellung. Ich weiß im Augenblick nicht, welcher trockene Hecht den famosen Gedanken geboren hat, dass ästhetische Gesichtspunkte in den Hallen der historischen Wissenschaft nichts zu suchen hätten. Aber ich muss, vielleicht zu meiner Schande, offen gestehen, dass ich die bürgerliche Gesellschaft nicht so gründlich hasse wie jene strengeren Denker, die, um dem guten Voltaire eins auszuwischen, die langweilige Schreibweise für die einzig erlaubte erklären. Marx selbst war in diesem Punkte auch des Verdachts verdächtig: mit seinen alten Griechen rechnete er Klio zu den neun Musen. In der Tat, die Musen schmäht nur, wer von ihnen verschmäht worden ist.

Wenn ich danach die Zustimmung des Lesers zu der von mir gewählten Form voraussetzen darf, so muss ich um so mehr einige Nachsicht für den Inhalt erbitten. Ich stand hier von vornherein einer unerbittlichen Notwendigkeit gegenüber: der Notwendigkeit, den Band nicht zu sehr anschwellen zu lassen, wenn er, selbst für vorgeschrittene Arbeiter, noch erreichbar und verständlich bleiben sollte; ohnehin hat er schon das Anderthalbfache des ursprünglich geplanten Umfangs erreicht. Wie oft musste ich mich mit einem Worte begnügen, wo ich lieber eine Zeile, mit einer Zeile, wo ich lieber eine Seite, mit einer Seite, wo ich lieber einen Bogen geschrieben hätte! Besonders hat unter diesem äußeren Zwange die Analyse der wissenschaftlichen Schriften von Marx gelitten. Um darüber von vornherein keinen Zweifel zu lassen, habe ich den, bei der Biographie eines großen Schriftstellers herkömmlichen Untertitel: Geschichte seines Lebens und seiner Schriften, um die zweite Hälfte gekürzt.

Sicherlich beruht die unvergleichliche Größe von Marx nicht zuletzt darin, dass in ihm der Mann des Gedankens und der Mann der Tat unzertrennlich verbunden waren, dass sie sich gegenseitig ergänzten und unterstützten. Aber es ist doch nicht minder sicher, dass der Kämpfer in ihm allemal den Vortritt nahm vor dem Denker. Sie dachten darin alle gleich, unsere großen Bahnbrecher, wie Lassalle es einmal ausgedrückt hat: wie gerne wolle er ungeschrieben lassen, was er wisse, wenn nur endlich einmal die Stunde praktischen Handelns schlüge. Und wie recht sie damit hatten, haben wir schaudernd in unseren Zeitläuften erlebt, wo ernste Forscher, die drei oder sogar vier Jahrzehnte über jedem Komma in Marxens Werken gebrütet hatten, sich in einer geschichtlichen Stunde, wo sie einmal wie Marx handeln konnten und sollten, sich doch nur wie trillernde Wetterhähne um sich selbst zu drehen wussten.

Verhehlen will ich deshalb aber doch nicht, dass ich mich nicht vor anderen berufen gefühlt hätte, alle Grenzen des ungeheuren Wissensgebiets zu umschreiten, das Marx beherrscht hat. Schon für die Aufgabe, im engen Rahmen meiner Darstellung ein durchsichtig klares Bild vom zweiten und dritten Bande des »Kapitals« zu geben, habe ich die Hilfe meiner Freundin Rosa Luxemburg angerufen. Die Leser werden es ihr ebenso danken wie ich selbst, dass sie meinem Wunsche bereitwillig entsprochen hat; der dritte Abschnitt des zwölften Kapitels ist von ihr verfasst worden.

Es macht mich glücklich, dieser Schrift ein Schmuckstück ihrer Feder einzuverleiben, wie es mich nicht minder glücklich macht, dass unsere gemeinsame Freundin Clara Zetkin-Zundel mir gestattet hat, mein Schifflein unter ihrem Wimpel auf die hohe See zu senden. Die Freundschaft dieser Frauen ist mir ein unschätzbarer Trost gewesen, in einer Zeit, in deren Stürmen so viele »mannhafte und unentwegte Vorkämpfer« des Sozialismus davongewirbelt sind wie dürre Blätter im Herbstwind.

Berlin, im März 1918

Franz Mehring

Erstes Kapitel: Junge Jahre

1. Haus und Schule

Karl Heinrich Marx wurde am 5. Mai 1818 in Trier geboren. Über seine Abstammung ist wenig bekannt, dank der Verwirrung und Verwüstung, die die kriegerischen Zeitläufte um die Wende des Jahrhunderts in den rheinischen Standesregistern angerichtet haben. Wird doch heute noch um das Geburtsjahr Heinrich Heines gestritten!

Ganz so schlimm steht es nun freilich mit Karl Marx nicht, der in ruhigeren Zeiten geboren wurde. Aber als vor fünfzig Jahren eine Schwester seines Vaters gestorben war, mit Hinterlassung eines ungültigen Testaments, gelang es allen gerichtlichen Nachforschungen nach den Intestaterben doch nicht mehr, die Geburts- und Todestage ihrer Eltern festzustellen, also der Großeltern von Karl Marx. Der Großvater hieß Marx Levi, nannte sich später aber nur Marx und war Rabbiner in Trier; er soll 1798 gestorben sein und war 1810 jedenfalls nicht mehr am Leben. Seine Ehefrau Eva, geborene Moses, war 1810 noch am Leben und soll 1825 gestorben sein.

Von den zahlreichen Kindern dieses Paares widmeten sich zwei gelehrten Berufen: Samuel und Hirschel. Samuel wurde als Rabbiner in Trier der Nachfolger seines Vaters, während sein Sohn Moses als Rabbinatskandidat nach Gleiwitz in Schlesien verschlagen wurde. Samuel war 1781 geboren und starb 1829. Hirschel, der Vater von Karl Marx, war 1782 geboren. Er wandte sich der Jurisprudenz zu, wurde Advokatanwalt und später Justizrat in Trier, ließ sich 1824 als Heinrich Marx taufen und starb 1838. Er war mit Henriette Preßburg verheiratet, einer holländischen Jüdin, deren Ahnen nach Angabe ihrer Enkelin Eleanor Marx eine jahrhundertlange Reihe von Rabbinern aufweisen. Sie starb 1863. Beide hinterließen ebenfalls eine zahlreiche Familie, doch lebten zur Zeit jener Erbschaftsregulierung, deren Akten diese genealogischen Notizen verdankt sind, nur noch vier von ihren Kindern: Karl Marx und drei Töchter, Sophie als Witwe des Anwalts Schmalhausen in Maastricht, Emilie als Ehefrau des Ingenieurs Conrady in Trier und Luise als Ehefrau des Kaufmanns Juta in der Kapstadt.

Seinen Eltern, deren Ehe überaus glücklich war, verdankte Karl Marx, nächst der Schwester Sophie ihr ältestes Kind, eine heitere und sorgenfreie Jugend. Wenn seine »herrlichen Naturgaben« in dem Vater die Hoffnung weckten, dass sie dereinst zum Wohle der Menschheit dienen würden, so hieß ihn die Mutter ein Glückskind, dem alles wohl unter den Händen gerate. Doch ist Karl Marx weder, wie Goethe, der Sohn seiner Mutter, noch, wie Lessing und Schiller, der Sohn seines Vaters gewesen. Die Mutter ging, bei all ihrer zärtlichen Sorge für ihren Gatten und ihre Kinder, ganz in dem Frieden des Hauses auf; sie hat all ihr Lebtag nur ein mangelhaftes Deutsch gesprochen und an den geistigen Kämpfen ihres Sohnes keinen Anteil genommen, es sei denn mit der mütterlichen Bekümmernis, was aus ihrem Karl wohl hätte werden können, wenn er den rechten Weg eingeschlagen hätte. In späteren Jahren scheint Karl Marx seinen mütterlichen Verwandten in Holland näher gestanden zu haben, namentlich einem »Onkel« Philips; er spricht von diesem »famosen alten Jungen«, der sich ihm auch in den Nöten des Lebens hilfreich erwies, wiederholt mit großer Sympathie.

Jedoch auch der Vater blickte manches Mal mit geheimer Angst auf den »Dämon« in dem Lieblingssohne, obgleich er schon wenige Tage nach Karls zwanzigstem Geburtstage starb. Nicht die kleinliche und peinliche Sorge des Hausmütterchens um das gedeihliche Fortkommen des Sohnes quälte ihn, sondern die dumpfe Ahnung von der granitenen Härte eines Charakters, die seinem weichen Wesen völlig fremd war. Jude, Rheinländer, Rechtsgelehrter, so dass er gegen alle Liebreize des ostelbischen Junkertums dreifach hätte gepanzert sein müssen, war Heinrich Marx doch preußischer Patriot, nicht in dem faden Sinne, den dies Wort heute hat, sondern preußischer Patriot etwa von dem Schlage, wie ihn die älteren von uns noch in den Waldeck und Ziegler gekannt haben: mit bürgerlicher Bildung gesättigt, in gutem Glauben an die altfritzige Aufklärung, ein »Ideologe«, wie sie Napoleon nicht ohne Grund hasste. Was dieser unter »dem tollen Ausdruck von Ideologie« verstand, schürte zumal den Hass des Vaters Marx gegen den Eroberer, der den rheinischen Juden die bürgerliche Gleichberechtigung und den rheinischen Landen den Code Napoléon geschenkt hatte, ihr eifersüchtig behütetes, aber von der altpreußischen Reaktion unablässig angefeindetes Kleinod.

Sein Glaube an den »Genius« der preußischen Monarchie ist auch nicht dadurch erschüttert worden, dass ihn die preußische Regierung gezwungen hätte, um seines Amtes willen seine Religion zu wechseln. Das ist wiederholt behauptet worden und auch von sonst unterrichteter Seite, anscheinend um zu rechtfertigen oder doch zu entschuldigen, was weder einer Rechtfertigung noch auch nur einer Entschuldigung bedarf. Selbst vom rein religiösen Standpunkt hatte ein Mann, der mit Locke und Leibniz und Lessing seinen »reinen Glauben an Gott« bekannte, nichts mehr in der Synagoge zu suchen und fand noch am ehesten einen Unterschlupf in der preußischen Landeskirche, in der damals ein duldsamer Rationalismus herrschte, eine sogenannte Vernunftreligion, die selbst auf das preußische Zensuredikt von 1819 abgefärbt hatte.

Aber die Lossagung vom Judentum war unter den damaligen Zeitläuften nicht nur ein Akt religiöser, sondern auch – und vornehmlich – ein Akt sozialer Emanzipation. An der ruhmvollen Geistesarbeit unserer großen Denker und Dichter war das Judentum nicht beteiligt gewesen; das bescheidene Licht eines Moses Mendelssohn hatte seiner »Nation« vergebens den Weg in das deutsche Geistesleben zu erhellen gesucht. Und als just in den Jahren, wo Heinrich Marx zum Christentum übertrat, ein Kreis junger Juden in Berlin die Bestrebungen Mendelssohns wieder aufnahm, geschah es mit dem gleichen Misserfolge, obgleich sich Männer wie Eduard Gans und Heinrich Heine unter ihnen befanden. Gans, der dies Schifflein steuerte, strich sogar zuerst die Flagge und ging zum Christentum über, und wenngleich Heine ihm zunächst einen derben Fluch nachsandte – »Gestern noch ein Held gewesen, Ist man heute schon ein Schurke« –, so war er doch bald darauf selbst gezwungen, den »Eintrittsschein zur europäischen Kultur« zu lösen. Beide haben ihren historischen Anteil an der deutschen Geistesarbeit des Jahrhunderts erworben, während die Namen ihrer Gefährten, die treuer als sie an der Kultivierung des Judentums arbeiteten, vergessen und verschollen sind.

So ist manches lange Jahrzehnt hindurch der Übertritt zum Christentum für die freien Köpfe des Judentums ein zivilisatorischer Fortschritt gewesen. Und nicht anders ist der Religionswechsel zu verstehen, den Heinrich Marx im Jahre 1824 mit seiner Familie vollzog. Möglich, dass auch äußere Umstände nicht die Tat selbst, aber den Zeitpunkt der Tat bestimmt haben. Die jüdische Güterschlächterei, die in der landwirtschaftlichen Krisis der zwanziger Jahre einen heftigen Aufschwung nahm, hatte einen ebenso heftigen Judenhass auch in den Rheinlanden erregt, und diesen Hass mitzutragen hatte ein Mann von der unantastbaren Redlichkeit des alten Marx weder die Pflicht, noch auch nur – im Hinblick auf seine Kinder – das Recht. Oder der Tod seiner Mutter, der in diese Zeit gefallen sein muss, hat ihn von einer Rücksicht der Pietät befreit, die ganz seinem Charakter entsprochen hätte, oder es mag auch mitgesprochen haben, dass im Jahre des Übertritts sein ältester Sohn das schulpflichtige Alter erreicht hatte.

Mag dem so oder anders sein, so besteht daran kein Zweifel, dass Heinrich Marx sich die freimenschliche Bildung erarbeitet hatte, die ihn von aller jüdischen Befangenheit befreite, und diese Freiheit hat er seinem Karl als wertvolles Erbe hinterlassen. Nichts in den immerhin zahlreichen Briefen, die er an den jungen Studenten gerichtet hat, verrät eine Spur von jüdischer Art oder Unart, sie sind in einem altväterischen, sentimental-weitläufigen Tone gehalten, im Briefstil noch des achtzehnten Jahrhunderts, wo der echte deutsche Mann schwärmte, wenn er liebte, und polterte, wenn er zürnte. Ohne jede spießbürgerliche Beschränktheit gehen sie willig auf die geistigen Interessen des Sohnes ein, nur mit entschiedener und durchaus berechtigter Abneigung gegen dessen Gelüste, sich als »gemeines Poetlein« aufzutun. Bei allem Schwelgen in den Gedanken an die Zukunft seines Karl kann sich freilich der alte Herr mit »seinen gebleichten Haaren und ein wenig gebeugtem Gemüt« doch nicht ganz des Gedankens entschlagen, ob das Herz dem Kopfe des Sohnes entspreche, ob es Raum für die irdischen, aber sanfteren Gefühle habe, die in diesem Jammertale den Menschen so wesentlich trostreich seien.

In seinem Sinne waren seine Zweifel wohl berechtigt; die echte Liebe, womit er den Sohn »im Innersten seines Herzens« trug, machte ihn nicht blind, sondern hellseherisch. Aber wie der Mensch niemals die letzten Folgen seines Tuns zu überblicken vermag, so hat Heinrich Marx nicht daran gedacht und nicht daran denken können, wie er durch das reiche Maß bürgerlicher Bildung, das er dem Sohne als kostbare Mitgift fürs Leben gab, doch nur den gefürchteten »Dämon« entbinden half, von dem er zweifelte, ob er »himmlischer« oder »faustischer« Natur sei. Wieviel hat Karl Marx im Elternhause schon spielend überwunden, was einem Heine oder einem Lassalle die ersten und schwersten Lebenskämpfe gekostet hat, Kämpfe, deren Wunden bei beiden niemals völlig verharscht sind!

Was die Schule dem heranwachsenden Knaben mitgegeben hat, lässt sich weniger klar erkennen. Karl Marx hat niemals von einem seiner Schulkameraden gesprochen, und so liegt auch von keinem dieser Kameraden eine Kunde über ihn vor. Früh genug hat er das Gymnasium seiner Vaterstadt durchlaufen; sein Abiturientenzeugnis ist vom 25. August 1835 datiert. Es begleitet den hoffnungsvollen Jüngling in üblicher Weise mit seinen Segenswünschen, mit schablonenhaften Urteilen über die Leistungen in den einzelnen Fächern. Jedoch hebt es besonders hervor, dass Karl Marx häufig auch die schwierigeren Stellen der alten Klassiker zu übersetzen und zu erklären gewusst habe, besonders solche, wo die Schwierigkeit nicht so sehr in der Eigentümlichkeit der Sprache, als in der Sache und dem Gedankenzusammenhange bestehe; sein lateinischer Aufsatz zeige in sachlicher Hinsicht Reichtum an Gedanken und tieferes Eindringen in den Gegenstand, sei aber häufig mit Ungehörigem überladen.

In der eigentlichen Prüfung wollte es mit der Religion nicht gehen, aber auch mit der Geschichte nicht. Im deutschen Aufsatze jedoch fand sich ein Gedanke, der den prüfenden Lehrern schon als »interessant« erschien und uns noch viel interessanter erscheinen muss. Als Thema war gestellt »Betrachtung eines Jünglings bei der Wahl eines Berufs«. Das Urteil lautete, die Arbeit empfehle sich durch Gedankenreichtum und gute planmäßige Anordnung, sonst verfalle der Verfasser auch hier in den ihm gewöhnlichen Fehler, ein übertriebenes Suchen nach einem seltenen, bilderreichen Ausdruck. Dann aber wird wörtlich der Satz hervorgehoben: »Wir können nicht immer den Stand ergreifen, zu dem wir uns berufen glauben; unsere Verhältnisse in der Gesellschaft haben einigermaßen schon begonnen, ehe wir sie zu bestimmen imstande sind.« So kündigte sich in dem Knaben das erste Wetterleuchten des Gedankens an, den allseitig zu entwickeln das unsterbliche Verdienst des Mannes werden sollte.

2. Jenny von Westphalen

Im Herbste 1835 bezog Karl Marx die Universität Bonn, wo er ein Jahr lang vielleicht weniger Rechtswissenschaft studiert, als sich »Studierens halber« aufgehalten hat.

Unmittelbare Kunde liegt auch über diese Zeit nicht vor, aber so wie sie sich in den Briefen des Vaters spiegelt, scheint sich das junge Blut ein wenig ausgeschäumt zu haben. Von einem »wilden Toben« schrieb der Alte erst später in einer sehr ärgerlichen Stunde; zur Zeit klagte er nur über die »Rechnungen à la Karl, ohne Zusammenhang, ohne Resultat«, und mit diesen Rechnungen hat es auch später bei dem klassischen Theoretiker des Geldes nie recht stimmen wollen.

Nach dem lustigen Jahre in Bonn sah es vollends einem studentischen Geniestreiche gleich, als sich Karl Marx, in dem gesegneten Alter von achtzehn Jahren, mit einer Gespielin seiner Kinderjahre verlobte, einer vertrauten Freundin seiner älteren Schwester Sophie, die dem Bunde der jungen Herzen die Wege ebnen half. In der Tat aber war es der erste und schönste Sieg, den dieser geborene Herrscher über Menschen davontrug; ein Sieg, der dem eigenen Vater ganz »unbegreiflich« erschien, bis er ihm erklärlicher wurde durch die Entdeckung, dass die Braut auch »etwas Genialisches« hätte und Opfer zu bringen verstünde, deren gewöhnliche Mädchen nicht fähig wären.

Wirklich war Jenny von Westphalen ein Mädchen nicht nur von ungewöhnlicher Schönheit, sondern auch von ungewöhnlichem Geist und ungewöhnlichem Charakter. Vier Jahre älter als Karl Marx, stand sie doch erst im Anfange der zwanziger Jahre; im vollen Schmelz ihre jungen Schönheit war sie viel gefeiert und viel umworben, und als die Tochter eines hochgestellten Beamten einer glänzenden Zukunft sicher. Alle diese Aussichten opferte sie, wie der alte Marx meinte, einer »gefahrvollen und unsicheren Zukunft«, und er glaubte mitunter auch an ihr die ahnungsschwere Furcht zu beobachten, die ihn beunruhigte. Aber er war des »Engelsmädchens«, der »Zauberin« so sicher, dass er dem Sohne zuschwor, kein Fürst werde sie ihm abwenden.

Die Zukunft gestaltete sich viel gefahrvoller und unsicherer, als Heinrich Marx in seinen bängsten Träumen vorhergesehen hatte, jedoch Jenny von Westphalen, deren Jugendbildnis von kindlicher Anmut strahlt, hat mit dem unbeugsamen Mut einer Heldin zu dem Mann ihrer Wahl gehalten, mitten in den furchtbarsten Leiden und Qualen. Nicht vielleicht im hausbackenen Sinne des Wortes hat sie ihm die schwere Last seines Lebens erleichtert, denn, ein verwöhntes Kind des Glückes, war sie den kleinen Miseren des täglichen Lebens nicht immer so gewachsen, wie es eine wetterfeste Proletarierin gewesen sein würde, aber in dem hohen Sinne, womit sie das Werk seines Lebens erfasste, ist sie ihm eine ebenbürtige Gefährtin geworden. In allen ihren Briefen, so viel ihrer erhalten sind, weht ein Hauch echter Weiblichkeit; sie war eine Natur im Sinne Goethes, gleich wahr in jeder Stimmung ihres Gemüts, in dem entzückenden Plauderton heiterer Tage wie in dem tragischen Schmerz der Niobe, der das Elend ein Kind entriss, ohne dass sie ihm auch nur ein bescheidenes Grab betten konnte. Ihre Schönheit war der Stolz ihres Mannes, und als ihre Geschicke nahezu schon ein Menschenalter verkettet waren, schrieb er ihr 1863 aus Trier, wo er zum Begräbnis seiner Mutter weilte: »Ich bin täglich zum alten Westphalenhause gewallfahrtet (in der Römerstraße), das mich mehr interessiert hat als alle römischen Altertümer, weil es mich an die glückliche Jugendzeit erinnert und meinen besten Schatz barg. Außerdem fragt man mich täglich, links und rechts, nach dem quondam ›schönsten Mädchen von Trier‹ und der ›Ballkönigin‹. Es ist verdammt angenehm für einen Mann, wenn seine Frau in der Phantasie einer ganzen Stadt so als ›verwunschene Prinzessin‹ fortlebt.« So auch hat der sterbende Mann, wie fremd ihm immer alle Sentimentalität geblieben ist, in wehmütig erschütterndem Ton von dem schönsten Teil seines Lebens gesprochen, der ihm in dieser Frau beschlossen gewesen sei.

Die jungen Leute verlobten sich zunächst, ohne die Eltern der Braut zu fragen, was seinem gewissenhaften Vater nicht geringe Bedenken erregte. Aber nicht lange danach gaben auch sie ihre Zustimmung. Der Geheime Regierungsrat Ludwig von Westphalen gehörte trotz seines Namens und Titels weder zum ostelbischen Junkertum noch zur altpreußischen Bürokratie. Sein Vater war jener Philipp Westphalen, der zu den merkwürdigsten Gestalten der Kriegsgeschichte zählt. Bürgerlicher Geheimsekretär des Herzogs Ferdinand von Braunschweig, der im siebenjährigen Kriege an der Spitze eines bunt zusammengewürfelten, von englischem Gelde besoldeten Heeres das westliche Deutschland erfolgreich vor den Eroberungsgelüsten Ludwigs XV. und seiner Pompadour schützte, hatte sich Philipp Westphalen zum tatsächlichen Generalstabschef des Herzogs zu machen verstanden, allen deutschen und englischen Generalen des Heeres zum Trotz. Seine Verdienste waren so anerkannt, dass ihn der König von England zum Generaladjutanten von der Armee ernennen wollte, was Philipp Westphalen jedoch ablehnte. Nur soweit musste er seinen bürgerlichen Sinn zähmen, dass er den Adel »genehmigte«: aus ähnlichen Gründen, wie sich ein Herder oder Schiller zu dieser Erniedrigung bequemen musste: um die Tochter einer schottischen Baronsfamilie heiraten zu können, die im Feldlager des Herzogs Ferdinand erschienen war, zum Besuch ihrer mit einem General der englischen Hilfstruppen vermählten Schwester.

Ein Sohn dieses Paares war Ludwig von Westphalen. Hatte er von seinem Vater einen historischen Namen geerbt, so reichte auch die Ahnenreihe der Mutter zu großen historischen Erinnerungen herauf; einer ihrer Vorfahren in gerade aufsteigender Linie hatte im Kampfe für die Einführung der Reformation in Schottland den Scheiterhaufen bestiegen, ein anderer, der Earl Archibald Argyle, war als Rebeller im Freiheitskampfe gegen Jakob II. auf dem Marktplatze in Edinburgh enthauptet worden. Mit solchen Familienüberlieferungen entwuchs Ludwig von Westphalen von vornherein den Dunstkreisen des bettelstolzen Junkertums und der dünkelhaften Bürokratie. Ursprünglich in braunschweigischen Diensten, hatte er sich nicht bedacht, diese Dienste fortzusetzen, als das kleine Herzogtum von Napoleon zum Königreich Westfalen geschlagen worden war, da ihm offenbar weniger an dem angestammten Welfen lag als an den Reformen, mit denen die französische Eroberung die verrotteten Zustände seines Heimatländchens heilte. Der Fremdherrschaft selbst blieb er deshalb nicht weniger abgeneigt und hatte im Jahre 1813 die harte Hand des Marschalls Davoust zu spüren. Vor Landrat in Salzwedel, wo ihm seine Tochter Jenny am 12. Februar 1814 geboren wurde, war er dann zwei Jahre später als Rat an die Regierung in Trier versetzt worden; im ersten Eifer besaß der preußische Staatskanzler Hardenberg noch die Erkenntnis, dass die tüchtigsten, von junkerlichen Schrullen freiesten Köpfe in die neugewonnenen Rheinlande geworfen werden müssten, die mit ihrem Herzen immer noch an Frankreich hingen.

Karl Marx hat Zeit seines Lebens von diesem Manne mit größter Anhänglichkeit und Dankbarkeit gesprochen. Nicht nur als sein Schwiegersohn, hat er ihn seinen »teuren, väterlichen Freund« genannt und ihn seiner »kindlichen Liebe« versichert. Westphalen konnte ganze Gesänge Homers vom Anfang bis zum Ende hersagen; er kannte die meisten Dramen Shakespeares englisch wie deutsch auswendig; aus dem »alten Westphalenhause« holte sich Karl Marx viele Anregungen, die ihm das eigne Haus nicht bieten konnte und noch viel weniger die Schule. Er selbst ist schon von früh auf ein Liebling Westphalens gewesen, der seine Einwilligung in die Verlobung auch in der Erinnerung an die glücklich Ehe der eignen Eltern gegeben haben mag; im Sinne der Welt hatte die Tochter der altadeligen Baronsfamilie ebenfalls eine schlechte Partie gemacht, als sie sich mit dem armen bürgerlichen Geheimsekretär verband.

In dem ältesten Sohne Ludwig von Westphalens ist die Gesinnung des Vaters nicht lebendig geblieben. Er war ein bürokratischer Streber und Schlimmeres als das; in der Reaktionszeit der fünfziger Jahre hat er als preußischer Minister des Innern die feudalen Ansprüche des verstocktesten Zaunjunkertums sogar gegen den Ministerpräsidenten Manteuffel vertreten, der immerhin ein gewitzter Bürokrat war. Mit seiner Schwester Jenny hat dieser Ferdinand von Westphalen in keinen engeren Beziehungen gestanden, zumal da er fünfzehn Jahre älter als sie und auch nur, als Sohn aus einer ersten Ehe des Vaters, ihr Halbbruder war.

Ihr echter Bruder war dagegen Edgar von Westphalen, der nach links von den Pfaden des Vaters abwich wie Ferdinand nach rechts. Er hat gelegentlich die kommunistischen Kundgebungen seines Schwagers Marx mitunterzeichnet. Ein steter Gefährte ist er ihm freilich nicht geworden; er ging über das Große Wasser, hatte dort wechselnde Schicksale, kehrte zurück, tauchte bald hier, bald dort auf, ein rechter Wildling, wo man von ihm hört. Aber ein treues Herz hat er immer für Jenny und Karl Marx gehabt, und sie haben ihren ersten Sohn nach ihm genannt.

Zweites Kapitel: Der Schüler Hegels

1. Das erste Jahr in Berlin

Schon ehe Karl Marx sich verlobte, hatte sein Vater bestimmt, dass er seine Studien in Berlin fortsetzen solle; vom 1. Juli 1836 ist der noch erhaltene Schein datiert, worin Heinrich Marx nicht nur die Erlaubnis erteilt, sondern es auch für seinen Willen erklärt, dass sein Sohn Karl im nächsten Semester die Universität Berlin beziehe, um die in Bonn angefangenen Studien der Rechts- und Kameralwissenschaft fortzusetzen.

Die Verlobung selbst wird diesen Entschluss des Vaters eher bestärkt als geschwächt haben; bei ihren langen Aussichten hat sein bedächtiges Wesen vorläufig wohl eine weite Trennung der Liebenden als ratsam erwogen. Sonst mag er bei der Wahl Berlins durch seinen preußischen Patriotismus bestimmt worden sein und auch dadurch, dass die Berliner Universität die alte Burschenherrlichkeit nicht kannte, die Karl Marx nach der vorsorglichen Meinung des Alten genügend in Bonn ausgekostet hatte; »wahre Kneipen sind andere Universitäten gegen das hiesige Arbeitshaus«, meinte Ludwig Feuerbach.

Keinesfalls hat der junge Student selbst sich für Berlin entschieden. Karl Marx liebte seine sonnige Heimat, und die preußische Hauptstadt ist ihm all sein Lebtag widrig gewesen. Am wenigsten konnte ihn die Philosophie Hegels anziehen, die nach dem Tode ihres Stifters die Berliner Universität noch unumschränkter beherrschte als schon bei dessen Lebzeiten, denn sie war ihm vollkommen fremd. Dazu kam die weite Entfernung von der Geliebten. Er hatte zwar versprochen, sich mit ihrem Jawort für die Zukunft zu begnügen und allen äußeren Liebeszeichen für die Gegenwart zu entsagen. Aber selbst unter ihresgleichen genießen solche Schwüre der Liebenden den besonderen Vorzug, ins Wasser geschrieben zu sein; seinen Kindern hat Karl Marx später erzählt, er sei damals in der Liebe zu ihrer Mutter ein wahrer rasender Roland gewesen, und so ruhte das junge glühende Herz nicht eher, bis ihm gestattet wurde, Briefe mit seiner Braut zu wechseln.

Allein den ersten Brief von ihr erhielt er doch erst, als er bereits ein Jahr in Berlin geweilt hatte, und über dies Jahr sind wir in gewisser Beziehung genauer unterrichtet, als über irgendeines seiner früheren oder späteren Lebensjahre: durch einen umfangreichen Brief, den er am 10. November 1837 an seine Eltern richtete, um ihnen »am Schlusse eines hier verlebten Jahres einen Blick auf die Zustände desselben« zu gewähren. Die merkwürdige Urkunde zeigt uns im Jüngling schon den ganzen Mann, der bis zur völligen Erschöpfung seiner geistigen und körperlichen Kräfte um die Wahrheit ringt: seinen unersättlichen Wissensdurst, seine unerschöpfliche Arbeitskraft, seine unerbittliche Selbstkritik und jenen kämpfenden Geist, der das Herz, wo es geirrt zu haben schien, doch nur übertäubte.

Am22. Oktober 1836 war Karl Marx immatrikuliert worden. Um die akademischen Vorlesungen hat er sich nicht viel gekümmert; in neun Semestern hat er ihrer nicht mehr als zwölf belegt, hauptsächlich juristische Pflichtkollegien, und selbst von ihnen vermutlich wenige gehört. Von den offiziellen Universitätslehrern hat wohl nur Eduard Gans einigen Einfluss auf seine geistige Entwicklung gehabt. Er hörte bei Gans Kriminalrecht und Preußisches Landrecht, und Gans selbst hat den »ausgezeichneten Fleiß« bezeugt, womit Karl Marx die beiden Vorlesungen besucht habe. Beweiskräftiger als solche Zeugnisse, bei denen es sehr menschlich herzugehen pflegt, ist die schonungslose Polemik, die Marx in seinen ersten Schriften gegen die historische Rechtsschule führte, gegen deren Enge und Dumpfheit, gegen deren schädlichen Einfluss auf Gesetzgebung und Rechtsentwicklung der philosophisch gebildete Jurist Gans seine beredte Stimme erhoben hatte.

Jedoch betrieb Marx nach seiner eigenen Angabe das Fachstudium der Jurisprudenz nur als untergeordnete Disziplin neben Geschichte und Philosophie, und in diesen beiden Fächern hat sich Marx überhaupt um keine Vorlesungen gekümmert, sondern nur das übliche Pflichtkolleg über Logik wenigstens belegt, bei Gabler, dem offiziellen Nachfolger Hegels, aber dem mittelmäßigsten unter dessen mittelmäßigen Nachbetern. Als denkender Kopf hat Marx schon auf der Universität selbstständig gearbeitet, und in zwei Semestern einen Wissensstoff bewältigt, den in der langsamen Stallfütterung der akademischen Vorlesungen zu verarbeiten nicht zwanzig Semester genügt haben würden.

Nach seiner Ankunft in Berlin verlangte zunächst die »neue Welt der Liebe« ihr Recht. »Sehnsuchtstrunken und hoffnungsleer« entlud sie sich in drei Heften Gedichte, die alle »meiner teuren, ewig geliebten Jenny von Westphalen« gewidmet wurden. In deren Händen waren sie schon im Dezember 1836, mit »Tränen der Wonne und des Schmerzes begrüßt«, wie Schwester Sophie nach Berlin meldete. Der Dichter selbst urteilte ein Jahr später, in dem großen Briefe an die Eltern, sehr respektlos über diese Kinder seiner Muse. »Breit und formlos geschlagenes Gefühl, nichts Naturhaftes, alles aus dem Mond konstruiert, der völlige Gegensatz von dem, was da ist und dem, was sein soll, rhetorische Reflexionen statt poetischer Gedanken«: dies ganze Sündenregister entrollte der junge Dichter selbst, und wenn er »vielleicht auch eine gewisse Wärme der Empfindung und Ringen nach Schwung« als mildernden Umstand geltend machen möchte, so trafen diese löblicheren Eigenschaften doch nur etwa in dem Sinn und Umfange zu wie bei den Lauraliedern Schillers.

Im Allgemeinen atmen seine jugendlichen Gedichte eine triviale Romantik, durch die selten ein echter Ton klingt. Dabei ist die Technik des Verses so unbeholfen und ungelenk, wie sie eigentlich nicht mehr sein durfte, nachdem Heine und Platen gesungen hatten. Auf so seltsamen Irrwegen begann sich das künstlerische Vermögen zu entwickeln, das Marx in reichem Maße besaß und gerade auch in seinen wissenschaftlichen Werken bekundete. Wie er in der Bildkraft seiner Sprache an die ersten Meister der deutschen Literatur heranreichte, so legte er hohen Wert auf das ästhetische Gleichmaß seiner Schriften, ungleich den dürftigen Geistern, denen lederne Langeweile die erste Bürgschaft gelehrten Schaffens ist. Aber unter den mannigfachen Spenden, die ihm die Musen in seine Wiege gelegt hatten, befand sich doch nicht die Gabe der gebundenen Rede.

Allein, wie er seinen Eltern in dem großen Briefe vom 10. November 1837 schrieb: die Poesie durfte nur Begleitung sein; er musste Jurisprudenz studieren und fühlte vor allem Drang, mit der Philosophie zu ringen. Er nahm Heineccius, Thibaut und die Quellen durch, übersetzte die beiden ersten Pandektenbücher ins Deutsche und suchte eine Rechtsphilosophie auf dem Gebiete des Rechts zu begründen. Dies »unglückliche Opus« wollte er bis auf beinahe dreihundert Bogen geführt haben, was vielleicht doch nur auf einem Schreibfehler beruht. Am Schlusse sah er die »Falschheit des Ganzen« ein und warf sich der Philosophie in die Arme, um ein neues metaphysisches System zu entwerfen, an dessen Schlusse er abermals seiner bisherigen Bestrebungen Verkehrtheit einzusehen gezwungen war. Daneben hatte er die Gewohnheit, sich Auszüge aus allen Büchern zu machen, die er las, so aus Lessings »Laokoon«, Solgers »Erwin«, Winckelmanns »Kunstgeschichte«, Ludens »Deutscher Geschichte«, und so nebenbei Reflexionen niederzukritzeln. Zugleich übersetzte er die »Germania« des Tacitus, die »Trauergesänge« des Ovid und fing privatim, das heißt aus Grammatiken, Englisch und Italienisch zu lernen an, worin er noch nichts erreichte, las Kleins »Kriminalrecht« und seine Annalen und alles Neueste der Literatur, doch dies nur nebenhin. Den Schluss des Semesters bildeten dann wieder »Musentänze und Satyrmusik«, wobei ihm plötzlich das Reich der wahren Poesie wie ein ferner Feenpalast entgegenblitzte und alle seine Schöpfungen in nichts zerfielen.

Danach war das Ergebnis dieses ersten Semesters, dass »viele Nächte durchwacht, viele Kämpfe durchstritten, viele innere und äußere Anregung erduldet«, aber doch nicht viel gewonnen, Natur, Kunst, Welt vernachlässigt und Freunde abgestoßen worden waren. Auch litt der jugendliche Körper unter der Überanstrengung, und auf ärztlichen Rat siedelte Marx nach Stralau über, das damals noch ein ruhiges Fischerdorf war. Hier erholte er sich schnell, und nun begann das geistige Ringen von neuem. Auch im zweiten Semester wurden Massen des verschiedenartigsten Wissensstoffes durchgenommen, jedoch immer deutlicher zeichnete sich Hegels Philosophie als der ruhende Pol in der Flucht der Erscheinungen ab. Als Marx sie zuerst in Fragmenten kennenlernte, wollte ihm ihre »groteske Felsenmelodie« nicht behagen, aber während einer neuen Erkrankung studierte er sie von Anfang bis zu Ende und geriet zudem in einen »Doktorklub« von jungen Hegelianern, wo er sich im Streite der Meinungen immer fester »an die jetzige Weltphilosophie« kettete, freilich nicht ohne dass alles Klangreiche in ihm verstummte und ihn »eine wahre Ironiewut nach so viel Negiertem« befiel.

Alles das offenbarte Karl Marx seinen Eltern und schloss mit der Bitte, sofort – und nicht erst zu Ostern des nächsten Jahres, wie ihm der Vater schon erlaubt hatte – nach Hause kommen zu dürfen. Er wollte sich mit dem Vater aussprechen über die »vielfach hin- und hergeworfene Gestaltung« seines Gemüts; nur in der »lieben Nähe« der Eltern würde er die »aufgeregten Gespenster« besänftigen können.

So wertvoll uns heute dieser Brief ist als ein Spiegel, worin wir den jungen Marx leibhaftig erblicken, so schlecht wurde er in dem elterlichen Hause empfangen. Der schon kränkelnde Vater sah den »Dämon« vor sich, den er immer in dem Sohne gefürchtet hatte, den er doppelt fürchtete, seitdem er eine »gewisse Person« wie sein eigenes Kind liebte, seitdem eine sehr ehrwürdige Familie veranlasst war, ein Verhältnis gutzuheißen, das anscheinend und nach dem gewöhnlichen Weltenlauf für dieses geliebte Kind voller Gefahren und trüber Aussichten war. Er war nie so eigensinnig gewesen, dem Sohne den Lebensweg vorzuschreiben, wenn es anders nur ein Weg war, der dazu führen konnte, »heilige Verpflichtungen« zu erfüllen; aber was er nun vor sich sah, war eine stürmisch bewegte See ohne jeden sicheren Ankergrund.

So entschloss er sich, trotz seiner »Schwäche«, die er selbst am besten kannte, »einmal hart« zu sein, und wurde in seiner Antwort vom 1. Dezember »hart« nach seiner Weise, maßlos übertreibend und dazwischen wehmütig seufzend. Er fragte, wie der Sohn seine Aufgabe gelöst habe, und antwortete selbst: »Das sei Gott geklagt!!! Ordnungslosigkeit, dumpfes Herumschweben in allen Teilen des Wissens, dumpfes Brüten bei der düsteren Öllampe; Verwilderung im gelehrten Schlafrock und ungekämmten Haaren statt der Verwilderung bei dem Bierglase; zurückscheuchende Ungeselligkeit mit Hintansetzung alles Anstandes und selbst aller Rücksicht gegen den Vater – die Kunst, mit der Welt zu verkehren, auf die schmutzige Stube beschränkt, wo vielleicht in der klassischen Unordnung die Liebesbriefe einer Jenny und die wohlgemeinten, und vielleicht mit Tränen geschriebenen Ermahnungen des Vaters zum Fidibus verwandt werden, was übrigens besser wäre, als wenn sie durch noch unverantwortlichere Unordnung in die Hände Dritter kämen.« Dann übermannt ihn die Wehmut, und er stärkt sich durch die Pillen, die ihm der Arzt verschrieben hat, um unbarmherzig zu bleiben. Die schlechte Wirtschaft Karls wird schwer getadelt. »Als wären wir Goldmännchen, verfügt der Herr Sohn in einem Jahre für beinahe 700 Taler, gegen alle Abrede, gegen alle Gebräuche, während die Reichsten keine 500 ausgeben.« Gewiss sei Karl kein Prasser und kein Verschwender, aber wie könne ein Mann, der alle acht oder vierzehn Tage neue Systeme erfinden und die alten zerreißen müsse, sich mit solchen Kleinigkeiten abgeben? Jeder habe die Hand in seiner Tasche und jeder hintergehe ihn.

In dieser Art ging es noch eine gute Strecke weiter, und zuletzt lehnte der Vater unerbittlich den Besuch Karls ab. »In diesem Augenblick hierher zu kommen, wäre Unsinn. Ich weiß zwar, dass Du Dir wenig aus Vorlesungen machst – wahrscheinlich doch bezahlst –, aber ich will wenigstens das Dekorum beobachten. Ich bin gewiss kein Sklave der Meinung, aber ich liebe auch nicht, dass auf meine Kosten geklatscht werde.« Zu den Osterferien dürfe Karl kommen, oder auch zehn Tage früher, denn so pedantisch wolle der Vater nicht sein.

Durch alle seine Klagen klang der Vorwurf, dass es dem Sohne an Herz fehle, und wie dieser Vorwurf wieder und wieder gegen Karl Marx erhoben worden ist, so mag hier, wo er zum ersten Mal ertönt und noch am ehesten ertönen durfte, gleich das Wenige gesagt werden, was darüber gesagt werden kann. Mit dem modischen Schlagwort vom »Rechte des Auslebens«, das eine verzärtelte Kultur erfunden hat, um eine feige Eigenliebe zu beschönigen, ist natürlich nichts gesagt; und nicht viel mehr auch mit dem älteren Worte von dem »Rechte des Genius«, der sich mehr erlauben dürfe als gewöhnliche Menschenkinder. Bei Karl Marx entsprang das unablässige Ringen um die höchste Erkenntnis vielmehr der tiefsten Empfindung des Herzens; er war nicht, wie er sich einmal derb ausgedrückt hat, Ochse genug, um den »Menschheitsqualen« den Rücken zu kehren, oder wie schon Hutten den gleichen Gedanken ausgedrückt hat: Gott hatte ihn mit dem Gemüt beschwert, dass ihm gemeiner Schmerz weher tue und tiefer zu Herzen gehe als anderen. Kein einzelner hat je so viel geleistet, die Wurzeln der »Menschheitsqualen« zu zerstören als Karl Marx. Wie sein Lebensschiff auf hoher See kreuzte, im Sturm und Wetter und im ewigen Kugelregen der Feinde, so hat seine Fahne immer hoch am Maste geflattert, aber ein behagliches Leben an Bord ist es nicht gewesen, weder für den Kapitän, noch für die Mannschaft.

Deshalb war Marx nicht gefühllos gegen die Seinen. Der kämpfende Geist konnte die Empfindungen des Herzens wohl übertäuben, aber niemals ersticken, und oft hat noch der reife Mann schmerzlich beklagt, dass die ihm am nächsten standen, unter den ehernen Losen seines Lebens schwerer zu leiden hätten als er selbst. Auch der junge Student war nicht taub gegen die Notschreie seines Vaters; er verzichtete nicht nur auf den sofortigen Besuch in Trier, sondern auch auf die Osterreise, zum Kummer der Mutter, aber zur großen Genugtuung des Vaters, dessen Groll sich nun schnell zu besänftigen begann. Er hielt zwar an seinen Klagen fest, aber ihre Übertreibungen gab er preis; in der Kunst, abstrakt zu räsonieren, könne er es mit Karl doch nicht aufnehmen, und um die Terminologie zu studieren, bevor er nun gar ins Heiligtum eindringen könne, dazu sei er zu alt. Nur in einem Punkte wolle alles Transzendente nicht helfen, und da beobachte der Sohn klugerweise ein vornehmes Schweigen, nämlich über das lumpige Geld, dessen Wert für einen Familienvater er immer noch nicht zu kennen scheine. Aber aus Müdigkeit wollte der Vater die Waffen niederlegen, und das Wort hatte einen ernsteren Sinn, als es nach dem leisen Humor zu haben schien, der schon wieder durch die Zeilen dieses Briefes spielte.

Er ist vom 10. Februar 1838 datiert, als Heinrich Marx sich eben von einem fünfwöchigen Krankenlager erhoben hatte. Es war keine dauernde Besserung; die Krankheit, anscheinend ein Leberleiden, kehrte wieder und nahm zu, bis gerade ein Vierteljahr später, am 10. Mai 1838, der Tod eintrat. Er kam zur rechten Zeit, um diesem Vaterherzen die Enttäuschungen zu ersparen, an denen es Stück für Stück zerbrochen wäre.

Karl Marx aber hat immer dankbar empfunden, was ihm sein Vater gewesen war. Wie dieser ihn im Innersten des Herzens getragen hatte, so trug er ein Bild des Vaters auf seinem Herzen, bis er es mit ins eigene Grab nahm.

2. Die Junghegelianer

Vom Frühjahr 1838, wo er den Vater verlor, hat Karl Marx noch drei Jahre in Berlin verlebt, in dem Kreise des Doktorklubs, dessen geistiges Leben ihm die Geheimnisse der hegelschen Philosophie erschlossen hatte.

Diese Philosophie galt damals noch als preußische Staatsphilosophie. Der Kultusminister Altenstein und sein Geheimrat Johannes Schulze hatten sie unter ihren besonderen Schutz genommen. Hegel verherrlichte den Staat als die Wirklichkeit der sittlichen Idee, als das absolut Vernünftige und den absoluten Selbstzweck, daher als das höchste Recht gegen die einzelnen, deren höchste Pflicht es sei, Mitglieder des Staats zu sein. Diese Lehre vom Staat schmeichelte sich der preußischen Bürokratie ausnehmend ein; warf sie doch einen verklärenden Schein selbst auf die Sünden der Demagogenjagd!

Hegel beging mit ihr auch keineswegs eine Heuchelei, denn es erklärte sich aus seiner politischen Entwicklung, dass ihm die Monarchie, in der die Staatsdiener das Beste tun müssten, als die idealste Staatsform galt; allenfalls eine gewisse mittelbare Mitherrschaft der herrschenden Klassen hielt er daneben für notwendig, doch nur in ständischer Beschränkung; von einer allgemeinen Volksvertretung im modern-konstitutionellen Sinne wollte er so wenig wissen wie der preußische König und dessen Orakel Metternich.

Aber das System, das sich Hegel für seine Person zurechtgemacht hatte, stand in unversöhnlichem Widerspruch mit der dialektischen Methode, die er als Philosoph vertrat. Mit dem Begriffe des Seins ist auch der Begriff des Nichts gegeben, und aus dem Kampfe beider entsteht der höhere Begriff des Werdens. Alles ist und ist zugleich nicht, denn alles fließt, ist in steter Veränderung, in stetem Werden und Vergehen begriffen. So war die Geschichte ein in ewiger Umwälzung begriffener, von Niederem zu Höherem aufsteigender Entwicklungsprozess, den Hegel mit seiner universalen Bildung in den verschiedensten Fächern der historischen Wissenschaft nachzuweisen unternahm, wenn auch nur in der seiner idealistischen Anschauung entsprechenden Form, dass sich in allem geschichtlichen Geschehen die absolute Idee auswirke, die Hegel für die belebende Seele der ganzen Welt erklärte, ohne sonst etwas von ihr auszusagen.

Danach konnte das Bündnis zwischen der Philosophie Hegels und dem Staat der Friedrich Wilhelme nur eine Vernunftehe sein, die gerade so lange währte, wie sich beide Teile gegenseitig ihre Vernunft bescheinigten. Das ging etwa an in den Tagen der Karlsbader Beschlüsse und der Demagogenverfolgungen, aber schon die Julirevolution von 1830 gab der europäischen Entwicklung einen so starken Stoß nach vorwärts, dass Hegels Methode sich ungleich waschechter erwies als sein System. Sobald die immerhin noch schwachen Wirkungen der Julirevolution auf Deutschland erstickt worden waren und die Ruhe des Kirchhofs wieder über dem Volke der Dichter und Denker lag, beeilte sich das preußische Junkertum, den alten verschlissenen Kram der mittelalterlichen Romantik nochmals gegen die moderne Philosophie auszuspielen. Das wurde ihm um so leichter, als die Bewunderung Hegels weniger seine Sache, als die Sache der halbwegs aufgeklärten Bürokratie gewesen war, und Hegel, bei aller Verherrlichung des Beamtenstaats, doch gar nichts dazu getan hatte, dem Volke die Religion zu erhalten, was nun einmal das A und O der feudalen Überlieferung war und im letzten Grunde aller ausbeutenden Klassen ist.

Auf religiösem Gebiete erfolgte dann auch der erste Zusammenstoß. Hatte Hegel gemeint, die heiligen Geschichten der Bibel seien wie profane zu betrachten, den Glauben gehe das Wissen gemeiner, wirklicher Geschichten nichts an, so machte David Strauß, ein junger Schwabe, nun vollen Ernst mit dem Worte des Meisters. Er forderte, dass die evangelische Geschichte der historischen Kritik preiszugeben sei, und bewies die Berechtigung seiner Forderung durch sein »Leben Jesu«, das 1835 erschien und ungeheures Aufsehen erregte. Strauß knüpfte damit an die bürgerliche Aufklärung an, über deren »Aufkläricht« sich Hegel allzu verächtlich ausgesprochen hatte. Aber die Gabe des dialektischen Denkens gestattete ihm die Frage ungleich tiefer zu fassen als der alte Reimarus, der »Ungenannte« Lessings, sie gefasst hatte. Strauß sah nicht mehr in der christlichen Religion ein Produkt des Betruges oder in den Aposteln eine Rotte von Gaunern, sondern erklärte die mythischen Bestandteile der Evangelien aus dem bewusstlosen Schaffen der ersten christlichen Gemeinden. Vieles aber aus den Evangelien erkannte er noch als geschichtlichen Bericht über das Leben Jesu und Jesus selbst als geschichtliche Person an, wie er überhaupt in den wichtigsten Punkten immer noch einen geschichtlichen Kern voraussetzte.

Politisch war Strauß vollkommen harmlos und ist es all sein Lebtag geblieben. Ein wenig schärfer klang die politische Note in den »Hallischen Jahrbüchern« an, die Arnold Ruge und Theodor Echtermeyer im Jahre 1838 als Organ der Junghegelianer gründeten. Sie gingen zwar auch von der Literatur und Philosophie aus und wollten zunächst nicht mehr sein als ein Gegengewicht gegen die Berliner Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, das eingerostete Organ der Althegelianer. Aber Arnold Ruge, hinter den der früh verstorbene Echtermeyer bald zurücktrat, hatte doch schon in der Burschenschaft mitgetan und den Wahnsinn der Demagogenjagd mit sechsjährigem Gefängnis in Köpenick und Kolberg gebüßt. Er hatte dies Schicksal freilich nicht tragisch genommen und sich als Privatdozent in Halle durch glückliche Heirat eine behagliche Existenz geschaffen, die ihn das preußische Staatswesen trotz alledem für frei und gerecht erklären ließ. Er hätte nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn sich an ihm die boshafte Rede der altpreußischen Mandarinen erfüllt hätte, wonach im Preußischen niemand eine so schnelle Karriere mache wie ein bekehrter Demagoge. Jedoch eben hieran haperte es.