Geschichte der Volkswirtschaftslehre - Günter Schmölders - E-Book

Geschichte der Volkswirtschaftslehre E-Book

Günter Schmölders

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

■Überblick Kameralwissenschaft / Die Physiokraten / Der klassische Liberalismus / National-Ökonomie / Wissenschaftlicher Sozialismus / Kathedersozialismus / Methodenstreit und Grenznutzenschule / Neo-Klassik / Geld- und Konjunkturtheorie / Entwicklungs- und Wachstumstheorie / Heutige Forschungseinrichtungen u. a. ■Leseproben aus den behandelten Werken: v. Justi, Ausführliche Abhandlung von denen Steuern und Abgaben / Quesnay, Tableau Economique / A. Smith, Wealth of Nations / v. Thünen, Der isolierte Staat / List, Das nationale System der Politischen Ökonomie / Marx, Kapital / A. Wagner, Finanzwissenschaft / Schmoller, Volkswirtschaftslehre / Menger, Methode der Socialwissenschaften / Pareto, Allgemeine Soziologie / Wicksell, Vorlesungen über Nationalökonomie / Veblen, Theory of the Leisure Class / Keynes, General Theory of Employment ... / Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie u. a. ■Enzyklopädisches Stichwort: Geistige Wurzeln des sozialökonomischen Denkens ■Literaturhinweise ■Personen- und Sachregister

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 628

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



rowohlt repertoire macht Bücher wieder zugänglich, die bislang vergriffen waren.

 

Freuen Sie sich auf besondere Entdeckungen und das Wiedersehen mit Lieblingsbüchern. Rechtschreibung und Redaktionsstand dieses E-Books entsprechen einer früher lieferbaren Ausgabe.

 

Alle rowohlt repertoire Titel finden Sie auf www.rowohlt.de/repertoire

Günter Schmölders

Geschichte der Volkswirtschaftslehre

Überblick und Leseproben

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

■ Überblick

Kameralwissenschaft / Die Physiokraten / Der klassische Liberalismus / National-Ökonomie / Wissenschaftlicher Sozialismus / Kathedersozialismus / Methodenstreit und Grenznutzenschule / Neo-Klassik / Geld- und Konjunkturtheorie / Entwicklungs- und Wachstumstheorie / Heutige Forschungseinrichtungen u.a.

 

■ Leseproben aus den behandelten Werken:

v. Justi, Ausführliche Abhandlung von denen Steuern und Abgaben / Quesnay, Tableau Economique / A. Smith, Wealth of Nations / v.Thünen, Der isolierte Staat / List, Das nationale System der Politischen Ökonomie / Marx, Kapital / A. Wagner, Finanzwissenschaft / Schmoller, Volkswirtschaftslehre / Menger, Methode der Socialwissenschaften / Pareto, Allgemeine Soziologie / Wicksell, Vorlesungen über Nationalökonomie / Veblen, Theory of the Leisure Class / Keynes, General Theory of Employment ... / Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie u.a.

 

■ Enzyklopädisches Stichwort: Geistige Wurzeln des sozialökonomischen Denkens

 

■ Literaturhinweise

 

■ Personen- und Sachregister

Über Günter Schmölders

Günter Schmölders (1903–1991) war ein deutscher Wirtschaftswissenschaftler, Finanzwissenschaftler, Finanzsoziologe und Sozialökonom.

Inhaltsübersicht

Erster Teil: Überblick1. Einige Vorläufer2. Kameralwissenschaft: Johann Heinrich Gottlob v.Justi (1717–1771)3. Die Physiokraten: François Quesnay (1694–1774)4. Der klassische Liberalismus: Adam Smith (1723–1790)5. Theorie am Modell: Johann Heinrich v.Thünen (1783–1850)6. National-Ökonomie: Friedrich List (1789–1846)7. ‹Wissenschaftlicher› Sozialismus: Karl Marx (1818–1883)8. Kathedersozialismus: Adolph Wagner (1835–1917)9. Historismus: Gustav Schmoller (1838–1917)10. Methodenstreit und Grenznutzenschule: Carl Menger (1840–1921)11. ‹Logische› und ‹soziologische› Theorie: Vilfredo Pareto (1848–1923)12. Neo-Klassik: Alfred Marshall (1842–1924)13. Geld- und Konjunkturtheorie: Knut Wicksell (1851–1926)14. Institutionalismus: Thorstein Veblen (1857–1929)15. Makro-Ökonomik: John Maynard Keynes (1883–1946)16. Entwicklungs- und Wachstumstheorie: Joseph Alois Schumpeter (1883–1950)17. Heutige ForschungsrichtungenZweiter Teil: LeseprobenZum 1. Kapitel: Hesiod, Xenophon, AristotelesZum 2. Kapitel: J. H. G. v.Justi (1717–1774)Zum 3. Kapitel: F. Quesnay (1694–1774)Zum 4. Kapitel: A. Smith (1723–1790)Zum 5. Kapitel: Johann Heinrich v.Thünen (1783–1850)Zum 6. Kapitel: Friedrich List (1789–1846)Zum 7. Kapitel: Karl Marx (1818–1883)Zum 8. Kapitel: Adolph Wagner (1835–1917)Zum 9. Kapitel: Gustav Schmoller (1838–1917)Zum 10. Kapitel: Carl Menger (1840–1921)Zum 11. Kapitel: Vilfredo Pareto (1848–1923)Zum 12. Kapitel: Alfred Marshall (1842–1924)Zum 13. Kapitel: Knut Wickseil (1851–1926)Zum 14. Kapitel: Thorstein Veblen (1857–1929)Zum 15. Kapitel: John Maynard Keynes (1883–1946)Zum 16. Kapitel: Joseph Alois Schumpeter (1883–1950)Enzyklopädisches Stichwort: Geistige Wurzeln des Sozialökonomischen DenkensÜber den VerfasserLiteraturhinweisePersonen- und SachregisterPersonenregisterSachregisterQuellennachweis

Erster Teil: Überblick

Die Fortschritte der Erkenntnis sind Taten des Willens und entspringen teils dem Genius großer Männer, teils den inneren und äußeren Völkergeschicken: die Höhepunkte der gesellschaftlichen Gärung und der staatlichen Neubildung haben stets auch befruchtend auf die Wissenschaft von Staat und Volkswirtschaft zurückgewirkt.

G.Schmoller

1. Einige Vorläufer

Eine Wissenschaft vom Wirtschaftsleben konnte nicht vor der großen Wende des Abendlandes entstehen, die mit Aufklärung und Rationalismus, Individualismus und Nationalismus die Grundlagen eines abstrakten, aus den Bindungen und Normen des Mittelalters heraustretenden Denkens über den Menschen und sein Verhalten schuf; nicht mehr die Deutung eines göttlichen Willens oder des kirchlichen Dogmas, sondern die Erforschung der Gesetze von Ursache und Wirkung in der Natur und im sozialen Zusammenleben war von nun an das Anliegen. Antike und Mittelalter können daher für eine Geschichte der Volkswirtschaftslehre nur Vorgeschichte bieten; ihre großen Denker, soweit sie zu Fragen Stellung nahmen, die wir heute als Wirtschaftsfragen bezeichnen, sind lediglich Vorläufer der späteren Volkswirtschaftslehre.

Die antike Wirtschaftslehre ist demgemäß nicht eine naive, primitive oder irgendwie unvollkommene, sondern überhaupt keine Volkswirtschaftslehre in unserem Sinne; sie bezweckt keine Erklärung des gesamtwirtschaftlichen Ablaufs, sondern erwähnt wirtschaftliche Dinge nur im Rahmen politischer (auf die polis bezüglicher) oder religiöser Fragen. Das Fehlen einer autochthonen Wirtschaftstheorie läßt andererseits keineswegs einen Rückschluß darauf zu, daß es das Objekt der Volkswirtschaftslehre, ein entwickeltes Wirtschaftsleben mit Handel und Wandel, Fabrikation und Export, Geld und Kredit etwa nicht gegeben habe; im Lande der Sumerer, in Babylonien und Ägypten, in Persien, Griechenland und Rom gab es einen zum Teil bereits zum Welthandel der damaligen Ökumene entfalteten Güteraustausch mit Preisen und Märkten, Produktion und Absatz, Geld und Kredit sowie soziale Bewegungen und Ideen, die sicherlich nicht ‹schlechter›, ethisch sogar oft ‹besser› waren als manches moderne Ideengut. Sogar die Vorgeschichte meldet sich zum Wort, um ‹den Nationalökonomen und Wirtschaftshistorikern eine Ahnung von dem Unrecht beizubringen, das sie dadurch begehen, daß sie in ihren Werken überhaupt nichts von der vorgeschichtlichen Zeit erwähnen oder diese höchstens in der Einleitung mit einigen hilflosen Sätzen abtun›[*]; vorgeschichtliche Funde aus der Bronze- und Eisenzeit bezeugen bereits das Vorhandensein einer arbeitsteiligen Wirtschaft und einer Art von Berufsbildung. ‹Die ehrfürchtige Scheu vor dem Schmied, die uns in alten Sagen, z.B. denen des Wieland-Typus, entgegenklingt, und die Tatsache, daß die Griechen einem Schmied, dem Hephästus, sogar einen Platz im Götterhimmel eingeräumt hatten, ist vermutlich ein Nachklang aus jenen Zeiten, in welchen dem Metallerzeuger durch seine hochgeschätzten, nicht jedermann zugänglichen Spezialkenntnisse eine eigene Stellung in der Gemeinschaft zugebilligt war›[*]. Das Ausmaß der Arbeitsteilung, die bereits in vorgeschichtlicher Zeit verwirklicht gewesen sein muß, ergibt sich aus der seit 1952 gelungenen Entzifferung von Tontäfelchen aus der Zeit von 1450 v.Christi Geburt, die im Palast des Minos in Knossos auf Kreta gefunden worden sind: dabei werden neben Schaf- und Ziegenhirten, Jägern und Schiffbauern Bronzeschmiede, Schwertzieher, Bogenmacher, Tischler, Töpfer, Walker und Bäcker erwähnt, aber auch Salbenkocher, die offenbar Parfüm herstellten, und Goldschmiede.

Diese Arbeitsteilung, die eine entsprechende soziale Gliederung der Bevölkerung voraussetzt und mit sich bringt, läßt auf eine lange kulturelle Entwicklung schließen, die sie hervorgebracht hat; von einer sie begleitenden schriftlichen Überlieferung oder ‹Literatur› ist uns jedoch nichts bekannt geworden. Das, was wir heute als Wirtschaft bezeichnen, spiegelt sich in vorgeschichtlicher Zeit vielmehr lediglich in der Mythologie, z.T. auch in der Sprache, in der Sozialordnung und im Recht wider: der ‹Codex Hammurabi› (2000 v. Chr.) enthielt strenge Lohn- und Preistaxen, und das ‹Avesta›, die Bibel der ZARATHUSTRA-Anhänger, erwähnt die In-Pfand-Gabe von Grund und Boden, die als stärkste Bekräftigung eines abgeschlossenen Vertrags offenbar schon seit unvordenklichen Zeiten üblich war.

Auch in der uns bekannt gewordenen Geschichte wird das Vorhandensein eines durchaus entwickelten Wirtschaftslebens, von dem freilich literarisch nicht besonders Notiz genommen wird, stillschweigend vorausgesetzt. Der große Staatsmann der Athener, SOLON (640–560), hat sein Verständnis für die wirtschaftlichen Zusammenhänge durch seine weise Gesetzgebung bewiesen; keine Grenze des Reichtums sei, so sagte er, den Menschen sichtbar gesetzt, und er zog daraus die politische Folgerung, dem zu rasch gewachsenen Reichtum der feudalen Landherren durch die Seisachtheia, die Währungsreform mit Entschuldung der Kleinpächter, eine ‹künstliche Grenze› zu setzen. Die Historiker HERODOT und THUKYDIDES beschrieben unter den Merkwürdigkeiten Kleinasiens den Ursprung des Geldes und die zersetzende Wirkung des Reichtums. XENOPHON schildert in seinem Dialog ‹Oikonomikos› das Idealbild der kleinbäuerlichen Familie auf eigenem Grund und Boden mit vielen Anweisungen für Feldbestellung und Viehzucht, Bodenmeliorationen und Grundstückskauf; er verglich die Bodenspekulation mit dem Getreidehandel und sah die Arbeitsteilung als Mittel zur Qualitätssteigerung der Produktion.

Sogar die Dichtkunst der Antike beschäftigte sich mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorgängen; aus den homerischen Gesängen erfahren wir vielerlei über Ackerbau und Viehzucht, über die Handelsbräuche und das Geld in einer Zeit, in der das Rind als Wertmaßstab und Tauscheinheit galt, und der erste griechische Dichter, dessen Name überliefert ist, HESIOD, schilderte Mühsal und Arbeit des Fischers und des Bauern in einer arbeitsteiligen Wirtschaftsordnung mit Wettbewerb und in einer Sozialordnung, die noch nicht wie die spätere Feudalaristokratie die Arbeit verachtete und nur den Preis des Ruhms sang (PINDAR). Der Komödiendichter ARISTOPHANES ließ Armut und Reichtum, die sich als Gegensätze gegenseitig bedingen, als handelnde Personen auftreten, und erwähnte als bekannte Tatsache, daß mit dem Umlaufen der neuen, unterwertig ausgeprägten Münzen aus Gold die schönen vollwertigen Silbermünzen der früheren Zeit aus dem Verkehr verschwunden waren; er kannte also bereits das ‹Greshamsche Gesetz› der Geldtheorie (vgl. unten S. 92), ohne es so mechanistisch zu formulieren, wie das heute gern geschieht.

Vollends die Philosophen kannten und würdigten die wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge ihrer Umwelt: SOKRATES, Sohn eines Steinmetzen und einer Hebamme, ging in seinen Dialogen mit Vorliebe von Handwerksproblemen aus, und sein Schüler PLATON, der einer angesehenen Familie Athens entstammte, wollte die Berufs- und Sozialordnung nach den individuellen Anlagen der einzelnen Bürger, daneben allerdings auch nach den staatlichen Notwendigkeiten ausgerichtet wissen. ‹Eine Art wirtschaftstheoretischen Denkens› findet EDGAR SALIN auch schon bei ARISTOTELES[*]; auf seine Wirtschaftsethik (Zinsverbot, gerechter Preis) geht ein großer Teil der späteren scholastischen Wirtschaftslehre zurück. Das strenge Verdikt über die ‹Chrematistik›, über jeglichen Tauschgewinn und das Erwerbsstreben überhaupt, das ARISTOTELES ausgesprochen hatte, machte andererseits die Entstehung einer entsprechenden ‹Wissenschaft der Chrematistik› unmöglich; vollends bei den Kirchenvätern, deren Sinn gänzlich auf das Jenseits gerichtet war, für das die diesseitige Welt nur als Vorstufe galt, gab es keinen Ansatz zu einer beschreibenden oder betrachtenden Wirtschaftslehre. ALBERTUS MAGNUS, der des ARISTOTELES Philosophie kommentierte und reproduzierte, und sein Schüler THOMAS VON AQUINO fußten beide auf dieser ethischen, nun ins Moraltheologische gewendeten Grundlage; erst ORESMIUS (1323–1382), nach ROSCHER ‹der größte scholastische Volkswirt›, tat den ersten Schritt zur Loslösung der Ökonomik aus der Theologie, Ethik und Politik, indem er in einem eigenen Werk über Geld- und Münzwesen energisch gegen die Praxis der Münzverschlechterung zu Felde zog.

Von einer geschlossenen Volkswirtschaftslehre war auch der Frühmerkantilismus des 16. und 17. Jahrhunderts noch weit entfernt. Den merkantilistischen Schriftstellern standen vielmehr im allgemeinen vorwiegend die Angelegenheiten einzelner Wirtschaftszweige und einzelne Aufgaben der Wirtschaftspolitik vor Augen, in England die Fragen der Handelsbilanz (THOMAS MUN), in Italien das Geldwesen (DAVANZATI) und in Frankreich die Zölle (COLBERT). Den Schritt zu einer mehr oder weniger geschlossenen Gesamtvorstellung von den volkswirtschaftlichen Zusammenhängen taten erst die Kameralisten, Schriftsteller und Berater an Fürstenhöfen, die im Hinblick auf die Füllung und Sicherung der fürstlichen Schatzkammer (camera) alle Zweige beruflicher und gewerblicher Betätigung, darüber hinaus die Probleme der Bevölkerung, des Geldes und der öffentlichen Finanzen in den Kreis ihrer Betrachtungen zogen; mit dem Kameralismus beginnt die eigentliche Volkswirtschaftslehre.

2. Kameralwissenschaft: Johann Heinrich Gottlob v.Justi (1717–1771)

Die geistigen Kräfte, die das Aufkommen des ‹Merkantilsystems› der Wirtschaftspolitik und die kameralistische Wissenschaft möglich machten, sind durch den Wandel der christlichen Wirtschaftsethik unter der Nachwirkung von Reformation und Gegenreformation, durch Rationalismus und Aufklärung und durch die Fortschritte der Naturwissenschaften im Zeitalter der Entdeckungen und Erfindungen gekennzeichnet. Die Staatslehre JEAN BODINs (1530–1596) betonte im Gegensatz zur Theorie MACHIAVELLIs die Übereinstimmung des allgemeinen Wohls mit dem der einzelnen; wenn BODIN als Vater des Absolutismus bezeichnet wird, so gilt dies doch nur mit der Einschränkung, daß er keineswegs, wie später HOBBEs (1588–1679), für eine schrankenlose Allgewalt des Staates eintrat, sondern den Staat naturrechtlichen und religiösen Bindungen unterstellt wissen wollte.

Die Territorial- und Nationalstaaten, die nach dem Dreißigjährigen Krieg und durch ihn in Europa entstanden, waren im Zeichen der Söldnerheere und der sich mehr und mehr durchsetzenden Geldwirtschaft gezwungen, ihre Finanzwirtschaft vorsorgend auf gesunde Grundlagen zu stellen, wenn sie sich gegenüber einer meist feindlichen Umwelt behaupten wollten. Die fürstliche Schatzkammer zu füllen und gefüllt zu erhalten, war das zentrale Anliegen der merkantilistischen Wirtschaftspolitik und der kameralistischen Staatswissenschaft, die ihr zugrunde lag. Der Zustrom von Geld, sei es durch Außenhandel mit anderen Ländern, sei es durch Erschließung heimischer Silbererze, Steuern und Zölle, stand im Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik; daneben spielte die Bevölkerungspolitik, die zugleich Bauernwohlstands- und langfristig geplante Rekrutierungspolitik war, eine beträchtliche Rolle. Staatseinnahmen und Überschüsse der Handelsbilanz bedeuteten die Möglichkeit, Söldner anzuwerben, Waffen zu kaufen, Land urbar zu machen und Siedler anzulocken, kurz den Staat noch reicher und mächtiger zu machen; THOMAS MUN (1571 bis 1641) erkannte als erster, daß selbst die verpönte Ausfuhr von Geld dem eigenen Lande nützlich sein könne, indem sie den Außenhandel stärkt und so wiederum Geld ins Land bringt.

In Deutschland und Österreich standen Bevölkerungsprobleme, vor allem aber die Staatsfinanzen im Vordergrund der merkantilistischen Wirtschaftspolitik und ihrer kameralistischen Befürworter; ‹wer Geld hat, dem stehen alle anderen Güter zu Gebote›, schrieb KASPAR KLOCK (1583–1655). Diese ‹Fürstenwohlstandslehre›, wie ONCKEN sie genannt hat, litt lange Zeit unter einem prominenten Fehlurteil: ADAM SMITH belegte sie mit dem Namen Merkantilismus und geißelte sie als das Zerrbild einer Vielregiererei, der er das Walten des freien Wettbewerbs, jener ‹invisible hand›, entgegenstellen konnte, die das Wohl aller bewirkt, obwohl jeder einzelne nur um sein eigenes Wohl besorgt ist. Die Geldtheorie der Kameralisten tat SMITH kurzerhand als Irrlehre ab, eine Meinung, die über hundert Jahre Bestand haben sollte; heute verfällt man zuweilen in den gegenteiligen Irrtum und stellt unter dem Einfluß spätromantischer Gedanken den Merkantilismus als die Wirtschaftstheorie schlechthin dar, in der alle späteren Gedanken bereits enthalten sind.

Schon der Lebenslauf JUSTIs zeigt uns seine Weite und Weltaufgeschlossenheit. Der geborene Sachse, der in sieben Ländern gewirkt hatte[*], war ein wirklicher Kenner der damaligen Wirtschaft Europas, und seine Schriften spiegeln die Probleme wider, mit denen sich seine Zeit auseinanderzusetzen hatte. Im Jahre 1750 folgte er einem Ruf als Professor für Kameralistik und deutsche Beredsamkeit an das Theresianum in Wien; fünf Jahre darauf ging er als Polizeidirektor nach Göttingen, wo er an der Universität als erster Kameralwissenschaften lehrte. Später stand er der dänischen Regierung als Berater zur Seite, um die Landwirtschaft und das Gewerbe in Dänemark zu fördern, und 1765 berief ihn FRIEDRICH DER GROSSE als Berghauptmann und Oberaufseher der preußischen Bergwerke nach Berlin; hier wegen angeblicher Unterschlagungen zu Festungshaft verurteilt, starb er 1771 in Küstrin.

JUSTI veröffentlichte seit 1750 eine große Zahl von Büchern und Aufsätzen über Staatsverfassungs- und Verwaltungsrecht, Kriegswissenschaft und Bevölkerungspolitik, Landwirtschaft und Bergwesen, Gewerbe, Handel und Verkehr, Münzwesen und Finanzwissenschaft, Geschichte und allgemeine Philosophie; in seinen Schriften offenbart sich das ganze kameralistische System. Eine Zeit, in der die Verwaltungen sich vergrößerten, in der Heere unterhalten und Kriege geführt wurden, in der der Bedarf an Zahlungsmitteln wuchs, weil der internationale Wirtschaftsverkehr an die Stelle der mittelalterlichen Städtewirtschaft getreten war und die Geldwirtschaft immer weiter durchgebildet wurde, sah in der Geldvermehrung das erste Ziel der Politik. Diese Geld-, d.h. Edelmetallvermehrung, sollte durch eine ‹aktive› Handelsbilanz erreicht werden; durch Einfuhr billiger Rohstoffe und Ausfuhr wertvoller Fertigwaren entsteht ein Überschuß, der in der Form von Edelmetall ins Land strömt.

Selten ist ein wirtschaftspolitisches Ziel so sehr mißverstanden worden wie dieses; immer kehrt der schon von ADAM SMITH erhobene Vorwurf wieder, die Kameralisten hätten das Geld oder die Edelmetalle mit Reichtum verwechselt. SMITH spricht von jener ‹absurd notion that wealth consists in money› und geißelt das Bestreben des Landes, jene Zweige des auswärtigen Handels zu fördern, ‹where the balance is paid in money›. Immer wieder hebt er hervor: nicht in Gold und Silber, sondern in nutzbaren Gegenständen, die man dafür kaufen kann, besteht der Reichtum einer Nation. Im 4. Buch (Kap. 1) seines ‹Wealth of Nations› schreibt er polemisch: ‹Einige der besten englischen Schriftsteller über den Handel gingen von dem Satze aus, daß der Reichtum eines Landes nicht allein in seinem Gold und Silber, sondern in seinen Ländereien, Häusern und verbrauchbaren Gütern aller Art bestehe. Im weiteren Verlauf ihrer Entwicklung aber schien es, als ob Ländereien, Häuser samt allen verbrauchbaren Gütern ihrem Gedächtnis entschlüpften und nur noch Gold oder Silber übrig blieben, deren Vermehrung das große Ziel für den Gewerbefleiß und Handel des Volkes bilde.›

Diesem ‹Midaswahn› waren die Kameralisten in Wirklichkeit gewiß nicht verfallen; ONCKEN hat mit Recht hervorgehoben, daß es wenig historisches Verständnis verrät anzunehmen, ein ganzes blühendes Zeitalter habe auf diesem Irrtum aufbauen können. JUSTI und die Kameralisten stellten Geld und Reichtum keineswegs auf eine Stufe; im Gelde sahen sie ein Mittel, Waffen und Söldner, Rohstoffe und Produktionsverfahren zu bezahlen, nicht eine Methode, tote Schätze zu lagern oder sich am Besitze des Reichtums zu ergötzen. Natürlich bedeutete zu jener Zeit Geld stets so viel wie Edelmetall; das gescheiterte Banknoten-Experiment des Schotten JOHN LAW[*] in Frankreich konnte andere Länder nicht ermutigen, diesem Beispiel nachzueifern. In einer wachsenden Wirtschaft bedarf der Warenumsatz jedoch auch eines wachsenden Zahlungsmittelumlaufs; die Kameralisten hatten durchaus erkannt, daß keineswegs ‹jede Geldmenge jede Gütermenge umsetzen kann›, wie dies späterhin RICARDO theoretisch postulierte. Vollends die Aufgabe, fehlende privatwirtschaftliche Unternehmungslust durch Staatsbetriebe zu ersetzen, erforderte große Barmittel, die der Gewerbefleiß und die Ausfuhr ins Land bringen sollten.

Eine zweite Möglichkeit, die Finanzkraft des Staates zu heben, war die Erschließung neuer Steuerquellen. Die sich daraus ergebenden Probleme bilden den Gegenstand verschiedener Werke JUSTIs. Er stellte feste Steuergrundsätze auf, die viele Gedanken von ADAM SMITH vorwegnahmen; so verlangte er, daß die Abgaben von den Erträgen und nicht aus der Vermögenssubstanz erhoben werden sollten und daß der Staat nur soviel Steuern einziehen dürfe, wie er für das gemeine Beste seiner Bürger benötige. Ferner setzte er sich für die Ordnung der Finanzen, für Steuergleichheit und Steuergerechtigkeit ein und suchte nach Möglichkeiten, den Widerstand der Untertanen gegen die Steuerzahlung zu verringern. Er erkannte den organischen Zusammenhang zwischen Staatsausgaben und Staatseinnahmen, eine Einsicht, die später in der klassischen Lehre gelegentlich wieder verlorengehen sollte; gerade in seinen finanzwissenschaftlichen Schriften entpuppte sich JUSTI als einsichtiger Staatsmann, wie überhaupt die Kameralisten nicht müde wurden, auf die Notwendigkeit einer gewissen Schonung der Steuerquellen hinzuweisen. So nimmt es nicht wunder, daß sie immer wieder dem hemmungslosen Fiskalismus der Fürsten entgegentreten mußten; viele ihrer Schriften erschienen anonym, um die Verfasser allen Verfolgungen zu entziehen. Aus ihrer Sorge um die Steuerquellen erklärte sich andererseits auch die Vielseitigkeit des kameralistischen Schrifttums; in der Frühzeit finden wir unter ihnen nicht wenige Alchimisten, die dem Staatshaushalt mit Hilfe der Goldmacherkunst aufzuhelfen versuchten.

JUSTI hat sich besonders auf dem Gebiet der Agrarwirtschaft hervorgetan; seine Vorschläge zur Lösung agrarpolitischer Fragen lassen ihn für die heutige Agrarwissenschaft zum bedeutendsten Agrarpolitiker unter den Kameralisten werden[*]. Auch zahlreiche Einzelprobleme aus dem Gebiet des Bergbaus und der gewerblichen Wirtschaft verstand er sachkundig zu erörtern. Einzelne Schriften widmete er auch den Problemen der Bevölkerungspolitik, der er ganz besondere Bedeutung beimaß, denn nur eine größere Bevölkerungszahl schien ihm die Gewähr für Reichtum, wirtschaftliche Blüte und politische Macht des Staates zu bieten.

In seiner Blütezeit war der Kameralismus fähig, diese ganze Stofffülle literarisch zu verarbeiten, ohne in pedantische Krittelei zu versinken; die Gedanken JUSTIs und seiner Vorläufer wirkten in Deutschland machtvoll genug, die von Frankreich herüberdrängenden physiokratischen Ideen von der deutschen Volkswirtschaftslehre fernzuhalten. Erst unter dem Einfluß von ADAM SMITH brach der Kameralismus zusammen, nachdem er, in kleinliche Gängelei entartet, jene große Aufgabe nicht mehr zu lösen vermochte, die ihn nach SCHMOLLERs Worten vor allem auszeichnete: die staatliche Gemeinschaft zugleich zu einer volkswirtschaftlichen zu machen und ihr so eine erhöhte Bedeutung zu geben.

3. Die Physiokraten: François Quesnay (1694–1774)

Während in Deutschland die Kameralwissenschaft blühte, für die der große Merkantilist auf dem Königsthron, der Preußenkönig FRIEDRICH II., in Frankfurt/O. und Halle/S. eigene Universitätslehrstühle errichtete, entwickelte sich in Frankreich das erste logisch geschlossene System der Volkswirtschaftslehre, dessen entscheidender Ansatz im Kopfe eines einzigen Denkers entstand. Bezeichnenderweise war es im Zeitalter der aufblühenden Naturwissenschaft ein Mediziner, FRANÇOIS QUESNAY, der Leibarzt der MARQUISE DE POMPADOUR und ihres königlichen Gönners LUDWIG XV., der die Analogie des Güterkreislaufs mit dem Blutkreislauf des menschlichen Körpers entdeckte; die auf dem Boden des Naturrechts entstandene Vorstellung von einer ‹Natürlichen Ordnung›, die sich auch im sozialen Leben vorfinden müsse, begründete die entschiedene Absage der neuen Lehre an den staatsdirigierten Merkantilismus und die Forderung ‹laissez faire, laissez passer, le monde va de lui-même›, die zum politischen Dogma einer ganzen Epoche, des liberalen Zeitalters, werden sollte.

FRANÇOIS QUESNAY wurde als Sohn eines Landarbeiters im Jahre 1694 in der Nähe von Versailles geboren. Früh des Vaters beraubt, lernte er erst mit 11 Jahren das Lesen, machte dann jedoch rasche Fortschritte und kam mit 16 Jahren zu einem Wundarzt in die Lehre; 1743 ließ er sich endgültig als Arzt in Paris nieder, wo er durch mehrere wissenschaftliche Werke auf dem Gebiet der Medizin bekannt wurde. Sein Hofamt als Leibarzt des Königs ließ ihm genügend Muße, sich ungestört wissenschaftlichen Studien zu widmen, und so wandte er sich noch im Alter von 60 Jahren der Nationalökonomie zu; 1758 veröffentlichte er das theoretische Hauptwerk dieser jungen Wissenschaft, das ‹Tableau économique›, mit dem er nicht nur die physiokratische Schule, sondern zugleich die nationalökonomische Kreislauftheorie begründete. QUESNAY erlebte den Aufstieg der Physiokraten, nicht mehr jedoch ihren schnellen Niedergang; 80jährig starb er am 16.12.1774 in Versailles.

Die Lehre QUESNAYs und seiner Schüler ist sicherlich nicht ohne geistige Ahnen; der Kampf gegen den Merkantilismus auf der Grundlage der neuen Lehre des Naturrechts setzte vielmehr schon zu COLBERTs Zeiten ein. ALTHUSIUS, GROTIUS und LOCKE gehörten zu den Philosophen, durch deren Schriften die Gesichtspunkte der Naturphilosophie und Naturwissenschaft in die Nationalökonomie Eingang gefunden hatten. Daran anknüpfend hatte schon BOISGUILLEBERT (1646–1714) die allgegenwärtige Reglementierung der Wirtschaft durch den Staat abgelehnt und die grundlegende Wichtigkeit der Landwirtschaft betont; er hatte die Freigabe der Preise und eine Steuerreform gefordert. Ähnliche Gedanken äußerte der Marschall VAUBAN (1633–1707) in seiner ‹dixme royale›; nachhaltiger war der Einfluß des MARQUIS D’ARGENSON (1694–1757), der den Volkswohlstand in einem guten Stand des Ackerbaus erblickte und energisch gegen die absolutistische Vielregiererei Front machte.

Die Lehre QUESNAYs und seiner Schüler bildete ein geschlossenes System; die Physiokraten waren die ersten Nationalökonomen, die eine umfassende Anschauung des ganzen Wirtschaftskreislaufs besaßen und nach quantitativen Zusammenhängen zwischen den einzelnen wirtschaftlichen und sozialen Größen forschten, um aus der Kenntnis dieser Zusammenhänge den sozialen Ablauf sinnvoll erklären zu können. Im physiokratischen System läßt sich deutlich die Staats- und Gesellschaftstheorie von der volkswirtschaftlichen Theorie unterscheiden; organisch folgt daraus je ein eigenes steuer- und wirtschaftspolitisches Programm.

Die Gesellschaftsphilosophie QUESNAYs und seiner Schüler stand auf dem Boden des Naturrechts; die ‹natürliche Ordnung› (ordre naturel) war für sie die von Gott vorgesehene Ordnung der Dinge, als Idee Gottes unabänderlich und ewig und daher für alle Menschen und Zeiten gleich. Sie schien ihnen erkennbar in den vom Schöpfer in die menschliche Psyche hineingelegten ‹Trieben›, ‹Neigungen› und ‹Bedürfnissen›, an erster Stelle dem Selbsterhaltungstrieb; diese Selbsterhaltung jedoch, so lehrte die Schule, sei nur durch Bodenbesitz und Bodenbearbeitung möglich, woraus sich unmittelbar auch das Recht auf Eigentum ergab. Das Recht auf Eigentum und damit die Existenz des einzelnen Bürgers muß die Gesellschaft garantieren; insoweit hat sie auch eine Sorgepflicht. Weiter geht der ‹natürliche› Anspruch des Menschen jedoch nicht; die Ungleichheit von Begabung und Fähigkeiten muß sich vielmehr unabdingbar auch in einer ungleichen Verteilung des Wohlstandes niederschlagen, einer Ungleichheit, die im göttlichen Weltenplane beschlossen und durchaus sinnvoll ist, da die unterschiedlichen persönlichen Bedingungen die Menschen anspornen, ihre Kräfte aufs äußerste anzuspannen, um sich und damit zugleich ihren Mitmenschen ein Höchstmaß an Wohlstand zu verschaffen.

Dieser natürlichen Ordnung steht die politische Ordnung der jeweiligen Umwelt gegenüber (ordre positif). Sie ist nur dann gut und bringt nur dann Wohlstand und Frieden in das Land, wenn sie der natürlichen Ordnung möglichst vollkommen entspricht. Die optimale bürgerliche Ordnung ist also ein Spiegelbild des ordre naturel; an die Stelle des höchsten Wesens tritt der absolute Herrscher, ein mit vollständiger Gewalt ausgerüsteter Monarch. Er hat die Verwaltung zu führen, die Sonderinteressen zu bekämpfen und die schlechten Gesetze abzuschaffen, um sie durch bessere zu ersetzen, die dem ordre naturel entsprechen. Diese Gesetze sind im wesentlichen die Grundgesetze des Eigentums und der freien wirtschaftlichen Betätigung; der Monarch soll seine Eingriffe auf das unbedingt notwendige Mindestmaß beschränken.

Hier schließt die volkswirtschaftliche Theorie der Physiokraten an. Wenn es die erste Aufgabe des Menschen ist, sich selbst zu erhalten und seinen Wohlstand zu sichern und zu mehren, so ist das Mittel dazu einzig der Ackerbau. Nur der Boden ist die Quelle allen Reichtums, weil nur die Natur produktiv ist; nur sie kann Güter schaffen, deren Gebrauchswert größer ist als ihre Produktionskosten. Daher ist von den vielen menschlichen Tätigkeiten nur die der Bodenbearbeitung wirklich produktiv, weil hier die Natur selbst mitwirkt. Die Bauern, die als Pächter und Hintersassen des Grundherrn den Boden bebauen, heißen deshalb classe productive; ihnen stehen die Klasse der Grundbesitzer (classe distributive) und die Klasse der Handwerker und Kaufleute (classe stérile) gegenüber. Jene besitzen den Boden zu Eigentum, beaufsichtigen die Pächter und sorgen dafür, daß Meliorationen durchgeführt und Steuern bezahlt werden; letztere veredeln die Agrarerzeugnisse und verarbeiten andere Rohstoffe zu nützlichen Gütern, ohne freilich dadurch die Substanz des Reichtums zu vermehren. Zwar erhöht das Gewerbe den Wert der Güter, jedoch nur um den Betrag des aufgewendeten Kapital- und Lohneinsatzes; der Boden vermehrt demgegenüber das verwendete Saatgut um das Vielfache. ‹Addieren ist nicht Multiplizieren› – so formulierte MERCIER DE LA RIVIÈRE den Unterschied zwischen Gewerbe und Landwirtschaft.

Neben dieser kategorischen Einteilung der Wirtschaftszweige in ‹produktive› und ‹sterile› Klassen macht uns heute insbesondere die Rechtfertigung der classe distributive stutzig. An ihr wird die konformistische Einordnung der physiokratischen Lehre in das herrschende Feudalsystem sichtbar; QUESNAY und seine Schüler hatten nicht die Absicht, das herrschende Sozialgefüge anzutasten. Infolgedessen mußten sie der Klasse der reichen Grundbesitzer, die von den Abgaben und Frondiensten ihrer Hintersassen nicht selten ein Leben verschwenderischen Müßigganges führten, eine besondere Rolle zuweisen, die ihre ökonomische Existenz rechtfertigte, eben die Rolle der ‹Distribution›, der Weiterverteilung des von ihren Pächtern erzeugten Nettoprodukts (produit net).

Dieser Stufenbau der Volkswirtschaft wurde von QUESNAY in einem Kreislaufschema dargestellt. Das ‹Tableau économique› hat sein Vorbild im Kreislaufsystem des menschlichen Körpers; ‹dieser Umlauf ist es, dessen Beständigkeit das Leben des politischen Körpers geradeso ausmacht, wie das Leben des tierischen Körpers vom Blutumlauf abhängt› (TURGOT). Die ökonomische Kreislauftheorie gab einen ersten, scheinbar lückenlosen Überblick über den Wirtschaftsprozeß:

Von der classe productive werden jährlich für 5 Mrd. Livres Produkte erzeugt; davon sind 2 Mrd. reiner Überschuß (produit net), der an die besitzende Klasse abgetreten wird. Diese verwendet die Mittel je zur Hälfte dazu, Lebensmittel von den Bauern und gewerbliche Erzeugnisse von der classe stérile zu kaufen; die letztere kauft für ihren Anteil ebenfalls Lebensmittel von den Bauern. Damit sind die zunächst an die Grundbesitzer abgeführten 2 Mrd. wieder an die Bauern zurückgeflossen; von den restlichen 3 Mrd. des Nettoprodukts gehen 2 Mrd. nicht in den Kreislauf ein, sondern verbleiben bei den Bauern selbst zu deren eigenem Unterhalt. Die dritte Milliarde dient ihnen zum Kauf gewerblicher Erzeugnisse, wird aber von der classe stérile wiederum zum Ankauf landwirtschaftlicher Produkte verwendet; damit ist das gesamte Jahresprodukt wiederum bei der Landwirtschaft angelangt und der Kreislauf geschlossen.

Mit diesem in sich geschlossenen Schema ist, wie erwähnt, der Kreislaufgedanke in die Nationalökonomie eingeführt worden; gleichzeitig wurde eine bestimmte Gesellschaftsstruktur statt als geschichtliche Besonderheit als ewige und ‹natürliche› Seinsform postuliert, die nur noch den Gesetzen der Natur unterworfen und in jeder Hinsicht vollständig berechenbar schien. Damit wird die Nationalökonomie zu einer Schwester der Physik und der Medizin; der Streit um die Frage, ob unsere Wissenschaft eine Natur- oder eine Kulturwissenschaft ist, begann mit dem ‹Tableau économique›.

Der große geistige Einfluß der wirtschaftstheoretischen Grundgedanken QUESNAYs und seiner Schüler fand seine Parallele auf wirtschaftspolitischem Gebiet. Die Wirtschaftspolitik der Physiokraten war eine Politik der Negation; wenn die sterile Klasse des Handels und Gewerbes ohnehin nichts zum Sozialprodukt hinzutut und wenn das Eigeninteresse den Menschen stets antreibt, die natürliche Ordnung bestmöglich zu verwirklichen, dann scheint es sinnvoll, die sterile Klasse der Handel- und Gewerbetreibenden möglichst ungestört ihrem Schicksal zu überlassen. Auf agrarpolitischem Gebiet war damit eine Staatsfürsorge nicht ausgeschlossen; hier forderten die Physiokraten den Abbau der drückenden Feudallasten, Ausfuhrverbote und Maßnahmen gegen die Landflucht. Gleichwohl findet sich auch hier der Gedanke des laissez faire: der Flurzwang sollte aufgehoben und dem Bauern selbst sollte es überlassen werden, diejenigen Früchte anzubauen, die nach seiner Meinung den größten Ertrag bringen.

Diese konsequente Anwendung der Wirtschaftstheorie auf die Wirtschaftspolitik fand ihre Parallele in der Steuerpolitik der Physiokraten. Wenn nur der Boden einen Überschuß abwirft, aus dem die übrigen Wirtschaftszweige erhalten werden, so kann der Staat sich nur aus diesem Überschuß finanzieren. Besteuert er dagegen Gewerbe und Handel, so werden hier die Steuern zu einer Verteuerung des Lebensunterhalts führen und damit letztlich auf die Landwirtschaft zurückgewälzt; ökonomisch sinnvoll ist es daher, diesen Umweg zu vermeiden und alle Steuern, der Einfachheit halber in einer einzigen Steuer zusammengefaßt, direkt beim Grundbesitzer zu erheben. Dieser impôt unique ist gewissermaßen der Anteil am Ertrag, den der Staat als Äquivalent für seine Agrarfürsorge beanspruchen darf.

Auf ihrem Höhepunkt schien die physiokratische Lehre über Frankreich hinaus zu politischer Wirkung zu gelangen; Kaiser JOSEPH II. und sein Bruder LEOPOLD II., die Zarin KATHARINA II. von Rußland und der Markgraf von Baden waren der neuen Lehre in manchen Punkten zugeneigt. Nach dem Tode FRIEDRICHS DES GROSSEN appellierte GRAF MIRABEAU in einem berühmt gewordenen Brief an den neuen preußischen König FRIEDRICH WILHELM II., an die Stelle der merkantilistischen Regierungsprinzipien die neuen Grundsätze des Liberalismus treten zu lassen: ‹Comme il vous convient de gouverner toujours bien, il est digne de vous de ne pas trop gouverner. Pourquoi dans le gouvernement civil montrer le pouvoir du Roi lorsque les affaires peuvent aller sans lui?›

Um diese Zeit hatte freilich das physiokratische System in Frankreich selbst schon viel von seiner anfänglich faszinierenden Wirkung eingebüßt. Bald nach dem Tode QUESNAYs nahm seine Schule mehr und mehr den Charakter einer Sekte, seine Lehre den eines Dogmas an. Das ‹Tableau économique›, ‹die unter allen anderen hervorragende Erfindung, die den Ruhm unseres Jahrhunderts bildet und deren Früchte die Nachwelt pflücken wird›, die der MARQUIS DE MIRABEAU den Großtaten der Menschheit wie der Erfindung der Schreibkunst und des Geldes gleichgestellt hatte, verfiel dogmatischer Erstarrung, was naturgemäß dazu führte, daß seine wissenschaftlichen Irrtümer nicht ausgemerzt wurden. Der Grundirrtum der Verabsolutierung des Nutzens der Landwirtschaft wurde von VOLTAIRE in seiner Satire vom 40 Taler-Mann (‹L’homme aux quarante écus›, 1768) bissig gegeißelt: der kleine Grundbesitzer mit einer Rente von 40 Talern muß den impôt unique an den Staat abführen; der Rentner mit 400000 Talern Einkommen fährt hohnlachend an ihm vorbei. – Gefährlicher war jedoch die theo retische Erstarrung, gegen die sich besonders der Abbé GALIANI (1728 bis 1787) wandte; als Schüler MONTESQUIEUS war er durchaus dazu berufen, nachdrücklich auf die Bedeutung des steten Wandels der sozialen Umwelt hinzuweisen.

Der wissenschaftliche Niedergang der Lehre war vom politischen Rückzug des Ancien Régime begleitet. Die große Revolution warf ihre Schatten voraus; A.ROBERT TURGOT, der als treuer Anhänger QUESNAYs galt, führte als Generalkontrolleur der Finanzen in den Jahren 1774 bis 1776 eine Anzahl übereilter Reformen durch, die in ihrer doktrinären Einseitigkeit fehlschlagen mußten. Die Abschaffung der Zünfte und Monopole griff der Entwicklung voraus; jede Steuerreform war zum Scheitern verurteilt, solange die steuerlichen Privilegien des Adels und der Geistlichkeit nicht beseitigt waren. Das Mißlingen dieser Reformen kennzeichnete gleichzeitig das Scheitern der Physiokraten; politische Gegnerschaft schränkte ihre literarische Wirkungsmöglichkeit ein. Bald nach TURGOTs Sturz erlosch die Schule QUESNAYs so rasch, wie sie aufgestiegen war; vollends nach der Revolution von 1789 und der napoleonischen Epoche blieb für eine ‹wissenschaftliche› Rechtfertigung des Ancien Régime kein Raum.

4. Der klassische Liberalismus: Adam Smith (1723–1790)

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts zeichnete sich der Beginn einer Epoche ab, die binnen weniger Jahrzehnte die Welt, im wesentlichen von der Wirtschaft her, in umstürzender Weise verändern sollte. In Europa, vornehmlich in England, kamen um diese Zeit die ersten Fabriken auf; die Produktionsstruktur, die jahrtausendelang durch das Nebeneinander von Landwirtschaft und Handwerk geprägt und auch durch die staatlichen Manufakturen der Fürstenhöfe noch kaum verändert worden war, wandelte sich im Zuge einer Entwicklung, die alsbald das gesamte soziale und kulturelle Gefüge der Nationen entscheidend umzugestalten begann, zum Wirtschaftssystem des Industriezeitalters und des wirtschaftlichen Liberalismus.

Die Industrielle Revolution und der Siegeszug der Technik mußten nicht nur den Inhalt der Wirtschaftslehre aufs stärkste verändern, sondern ihr zugleich auch eine ganz neue Position im geistigen Leben der Zeit verschaffen; in der Verkennung dieser Wandlung liegt der Grund für die irrtümliche Meinung, die Geschichte der Nationalökonomie habe überhaupt erst mit ADAM SMITH begonnen. Das große Echo, welches das Werk des bedeutendsten Sozialökonomen jener Epoche bei seinen Zeitgenossen fand, liegt vielleicht nicht zuletzt in dem neuerwachten Interesse an den darin behandelten Fragen, die unvermittelt zum Range bedeutender Probleme des öffentlichen Lebens aufgerückt waren; die Geschichte der Wirtschaftslehre ist jedoch, wie erwähnt, zumindest um ein Jahrhundert älter als die ‹Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Volkswohlstandes› von ADAM SMITH. Wohl aber hat SMITH das wirtschaftliche Denken seiner Zeit in ein klares, geschlossenes System gebracht und in einer umfassenden, mit einer Fülle von Beispielen aus dem täglichen Leben versehenen Überschau zusammengefaßt; sein Werk ist so sehr Ausdruck seiner Zeit, daß die Epoche sich darin wiedererkannte und das aufsehenerregende Werk zu einem Erfolg und zu einer Verbreitung gelangte, wie sie weder vorher noch nachher jemals einem nationalökonomischen Buche beschieden war.

‹Die Anhänger der klassischen Schule, die in verba magistri schwören, behaupten mit ROSCHER, man könne die Geschichte der Nationalökonomie gar nicht anders als in eine vorsmithische und eine nachsmithische Schule einteilen. Für ENGELS und seine Epigonen heißt der erste Nationalökonom KARL MARX, da er es gewesen sei, der den großen Schritt ‚von der Utopie zur Wissenschaft‘ vollzogen habe … JEVONs zufolge beginnt die Nationalökonomie erst mit CANTILLON; MACCULLOCH optiert für QUESNAY, BRENTANO hält dafür, daß diese Ehre MONTCHRÉTIEN, dem ‚créateur à la fois du nom et de la chose‘ gebühre. CADET ist der Meinung, daß der erste Erfinder der Wirtschaftswissenschaft BOISGUILLEBERT sei, weil dieser der Welt zuerst diese neue, selbständige und selbstsichere Lehre geschenkt habe›[*]. Meist wird jedoch ADAM SMITH als Begründer der Volkswirtschaftslehre bezeichnet, deren erste Gesamtdarstellung in seinem Buch über den Reichtum der Völker enthalten sei.

Diese Wirkung des ‹Wealth of Nations› ist an sich um so erstaunlicher, als SMITH ‹nach seiner Ausbildung Philosoph war und sich viele Jahre hindurch auf Gegenstände außerhalb des Bereichs der Wirtschaftslehre konzentrierte›[*]. Er wurde 1723 in Kirkcaldy in Schottland geboren und soll als Kind im Alter von drei Jahren von Zigeunern entführt worden sein; dank den Bemühungen seines Onkels (der Vater war vor ADAMs Geburt gestorben) wurden die Zigeuner aufgespürt und verfolgt, und auf ihrer Flucht ließen sie den jungen ADAM am Straßenrand zurück. ‹Er wäre, so fürchte ich, ein schlechter Zigeuner geworden›, sagt einer seiner Biographen[*]. ADAM SMITH studierte Philosophie, vor allem bei HUTCHESON, und übernahm 1751 den Lehrstuhl für Logik, im Jahre darauf den Lehrstuhl für Moralphilosophie an der Universität Glasgow. Das Lehrgebiet der Moralphilosophie umfaßte an den alten europäischen Universitäten sowohl Ethik als auch ‹Oikonomia› (im Sinne der guten Haushaltsführung) und Politik, im ganzen also Grundsätze und Ratschläge der Lebens-, Haushalts- und Staatsführung, sowie ‹natürliche Theologie› und Naturrechtslehre.

Das große philosophische Hauptwerk von ADAM SMITH erschien 1759 unter dem Titel ‹Theorie der ethischen Gefühle› (‹The Theory of Moral Sentiments›), in späteren Auflagen mit dem Untertitel ‹Versuch einer Analyse der Grundveranlagungen, mit deren Hilfe die Menschen natürlicherweise das Verhalten und den Charakter zunächst ihrer Mitmenschen und sodann ihrer selbst beurteilen›. SMITH selbst hat dieses sein philosophisches Hauptwerk auch später immer für bedeutender gehalten als sein wirtschaftswissenschaftliches Werk[*]; nach 30 Jahren, kurz vor seinem Tode, erschien die sechste, vollständig neu überarbeitete Auflage. Der erste Satz dieses Werkes lautete: ‹Wie selbstsüchtig auch immer der Mensch eingeschätzt werden mag, so liegen in seiner Natur doch offensichtlich bestimmte Grundanlagen, die ihn am Schicksal anderer Anteil nehmen und ihm diese Anteilnahme sogar notwendig werden lassen, obwohl er keinen anderen Vorteil daraus zieht als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein.› Darin zeigt sich bereits die Grundthese des Verfassers, daß es nämlich im Menschen von seiner Natur her eine Anlage zur ‹Sympathie› gebe, zur einfühlenden Anteilnahme am Mitmenschen und seinem Schicksal, und daß diese Anlage der angeborenen Selbstsucht des Menschen die Waage halte. Infolgedessen werde das Urteil über Gut und Böse nicht so sehr, wie die Morallehre früher meinte, von der Vernunft, als vielmehr vom Gefühl gefällt, das entscheidend durch diese ‹Sympathie› geprägt sei. Jedes Verhalten, das diese gegenseitige Anteilnahme vermissen läßt oder gar beeinträchtigt und stört, ist für SMITH zumindest ‹unschicklich›; das dritte Kapitel des ersten Abschnittes handelt ‹von der Art, wie wir über die Schicklichkeit oder Unschicklichkeit der Neigungen anderer Menschen nach ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit unseren eigenen urteilen›.

Klingt dies fast so, als wolle SMITH damit die Regeln der Moral gewissermaßen relativieren, so steht dem sein Bekenntnis zu der Auffassung entgegen, daß es in jedem Menschen ein eingeborenes, natürliches ‹Gefühl für das sittlich Richtige› gebe. Das sittlich Richtige erweckt Sympathie, das sittliche Richtige ist das Schickliche, umgekehrt: Was Sympathie erweckt und schicklich ist, das ist zugleich das sittlich Richtige. Hinter dieser Auffassung steht im Grunde das Konzept einer allgemeinen zwischenmenschlichen Harmonie, die sich aus der Übereinstimmung in den Grundanlagen aller Menschen ergeben müßte und sich in vielen Fällen – wenn auch in beschränktem Maße – tatsächlich ergibt; diese Harmonievorstellung kehrt im späteren ‹Wealth of Nations› wieder.

1764 legte SMITH seine Professur nieder, um als Erzieher des jungen HERZOGS VON BUCCLEUGH seinen Schützling auf einer Reise nach Frankreich und in die Schweiz zu begleiten. In Paris lernte er dabei FRANÇOIS QUESNAY und andere führende Köpfe der Physiokraten kennen; die Idee des laissez faire, der wirtschaftlichen Freiheit, hat er jedoch schon vor der Frankreichreise in seiner Vorlesung von 1763 vertreten, die später von CANNAN veröffentlicht wurde. In seine Geburtsstadt zurückgekehrt, vertiefte er sich in die schon 1764 in Toulouse begonnene Aufgabe, in einem Unterabschnitt seines großen Werkes die ‹Prinzipien der Staatskunst auf dem Gebiete der Verwaltung, der Besteuerung und des Heerwesens› genauer zu behandeln; aus diesem Unterabschnitt entstand das Werk ‹The Wealth of Nations›, das von Zeitgenossen überschwenglich als ‹das wichtigste Buch nach der Bibel› gerühmt wurde. Zehn Jahre arbeitete SMITH an seiner Fertigstellung; 1776 erschien die erste Auflage, der seitdem unzählige Textausgaben, Kommentare und Zusammenfassungen in allen Sprachen und Ländern gefolgt sind. 1778 erhielt SMITH eine einträgliche Position als Mitglied der aus nur drei Beamten bestehenden obersten Zollbehörde in Edinburgh, um ohne materielle Sorgen seinen Forschungen nachgehen zu können; er starb 1790 in Edinburgh.

Die kritische Auseinandersetzung mit der in Frankreich herrschenden Lehre der Physiokraten war für die Wirtschaftslehre SMITHs von entscheidender Bedeutung; er wandte sich entschieden gegen die Überbewertung der classe productive und gegen die Vorstellung, als sei allein die Landwirtschaft die Quelle allen Reichtums. ‹Aufgewachsen in einer durch Handel und Industrie genährten Umgebung, wußte er zuviel von der Bedeutung der neuen Wirtschaftsform, um sich der agraren Einseitigkeit der Physiokraten zu verschreiben›[*]. Für SMITH war nicht der landwirtschaftlich genutzte Boden, sondern die menschliche Arbeit die Quelle allen Wohlstandes; der erste Satz des ‹Wealth of Nations› lautet: ‹Die jährliche Arbeit eines Volkes ist der Fonds, welcher dasselbe mit allen Bedürfnissen und Annehmlichkeiten des Lebens versorgt, die es jährlich verbraucht …› Daß die Arbeit darüber hinaus, um wirklich zum Wohlstand zu führen, bestimmter natürlicher Vorbedingungen so wenig entraten kann wie des Kapitals, daß der Wohlstand also auf der Kombination mehrerer ‹Produktionsfaktoren› beruht, wie wir heute sagen würden, hat SMITH klarer gesehen als viele seiner Vorgänger; dem menschlichen Element maß er aber die entscheidende Bedeutung bei. In der Tat war der wirtschaftliche Fortschritt jener Zeit nicht zuletzt ein Ergebnis der Arbeit und der in der Fabrik organisierten Arbeitsteilung; an dem berühmt gewordenen Beispiel der Stecknadelfabrikation hat ADAM SMITH gezeigt, daß die organisierte Arbeitsteilung ein Grundprinzip der industriellen Entwicklung ist und daß volkswirtschaftlich das gleiche von der Spezialisierung und Verselbständigung ganzer Wirtschafts- und Berufszweige gilt.

Im Mittelpunkt des SMITHschen Systems steht die Markt- und Preislehre ‹oder richtiger: der Preismechanismus als Knochengerüst der klassischen Wirtschaft, jenes ersten Modells einer Verkehrswirtschaft, deren dauernder Antrieb und deren harmonische Anordnung durch die freie Konkurrenz gegeben und gewährleistet ist›[*]. SMITH unterschied zwischen dem ‹natürlichen Preis› und dem ‹Marktpreis› der Güter. Der natürliche Preis ist der Kostenpreis, welcher den Aufwendungen für Arbeit, Kapital und Boden entspricht; dieser Preis ist jedoch nicht ohne weiteres identisch mit dem Marktpreis, d.h. jenem Preis, den das Produkt im Spiel von Angebot und Nachfrage auf dem Markt erzielt. Wird von einer Ware zuviel oder zuwenig angeboten bzw. nachgefragt, so steigt oder sinkt der Marktpreis über oder unter den natürlichen Preis. Der Mechanismus, der es zustande bringt, daß die sich am Markt bildenden Preise immer wieder dazu tendieren, sich auf den natürlichen Preis einzuspielen, ist die freie Konkurenz. Ist der Marktpreis hoch, so regt die Aussicht auf hohen Gewinn die Produzenten dazu an, ihre Erzeugung zu vergrößern; neue Konkurrenten treten auf und bieten ihrerseits zusätzliche Produkte an, so daß der Preis schließlich bis auf den natürlichen Preis zurückgeht, der zumindest die Produktionskosten deckt. Der umgekehrte Vorgang vollzieht sich, wenn der Marktpreis unter den natürlichen Preis sinkt, so daß diejenigen Produzenten ausscheiden müssen, für die der Preis nicht mehr auskömmlich ist, und demgemäß das Angebot zurückgeht.

Die freie Konkurrenz ist es somit, die in ihrer ausgleichenden Wirkung über den Markt- und Preismechanismus jedem Wirtschaftssubjekt das zuteilt, was ihm nach seiner Leistung für den Markt zusteht, und die damit zugleich den Fortschritt des allgemeinen Wohlstandes verbürgt; die den drei Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Boden entsprechenden Einkommensarten Lohn, Zins und Grundrente werden durch Angebot und Nachfrage auf jedem dieser Märkte im Gleichgewicht gehalten. Indem jeder seinem Eigeninteresse nachgeht (SMITH fordert allerdings, im Gegensatz zu anderen Liberalen, die sich später auf ihn beriefen, daß dieses Eigeninteresse durch Erwägungen der Gerechtigkeit und durch das Gefühl für das sittlich Richtige in Schranken gehalten werden müsse), dient er dem wirtschaftlichen Wohl aller besser, als dies durch jede behördliche Regelung der Preise, Löhne und Zinsen erreicht werden könnte. Wie durch eine ‹unsichtbare Hand› entsteht so im freien Spiel der Kräfte eine allgemeine Harmonie der Interessen; folgerichtig kann ein Eingriff des Staates in diese sich selbst verwirklichende Ordnung nichts anderes als eine Störung ihres Funktionierens bewirken. Forderte der Merkantilismus eine dauernde wirtschaftspolitische Aktivität des Staates, so fordert SMITH nichts als die Entfernung all jener Hemmnisse, welche ‹die Bewegung der schön geordneten Triebwerke aufhalten›: der Zunftschranken, der merkantilistischen Reglementierungen und Begünstigungen, der Zölle, der Preisvorschriften und, nicht zuletzt, der Monopole, die SMITH mehr als ein Relikt aus der Merkantilepoche ansah, als daß er die Gefahr wahrgenommen hätte, daß auch aus dem System der unbeschränkten Konkurrenz private Monopole erwachsen könnten.

Von dem Grundsatz, daß der Staatsmann, ‹that insidious and crafty animal›, sich nach Möglichkeit überhaupt nicht in den Markt- und Preisautomatismus einmischen solle, läßt SMITH jedoch einige wesentliche Ausnahmen gelten. Dem Staat obliegt es, für die Rechtspflege, für die Landesverteidigung und für die Errichtung solcher Anstalten und Unternehmungen zu sorgen, die für die privatwirtschaftliche Betätigung entweder ungeeignet oder uninteressant, für das Wohlergehen des Ganzen aber unabdingbar notwendig sind. SMITH ist durchaus bereit, diesen drei Ausnahmen, soweit sie die Voraussetzungen des freien Spiels der Kräfte überhaupt erst schaffen, den Vorrang vor wirtschaftlichen Erwägungen auf kurze Sicht einzuräumen; Landesverteidigung (defence) ist wichtiger als Reichtum (opulence), und für die Landesverteidigung erforderliche handelspolitische Beschränkungen (wie etwa CROMWELLs Navigationsakte von 1651) gehen daher dem Prinzip des unbedingten Freihandels, der auch international das Prinzip der Arbeitsteilung verwirklichen soll, in jedem Fall vor.

Das Werk von ADAM SMITH ist so wichtig wie das Wirtschaftsleben, dem es gewidmet ist; SMITH berücksichtigt in jeder Frage verschiedene Aspekte, stellt vielfach Gesichtspunkte und Argumente einander gegenüber und diskutiert sie unvoreingenommen, so daß es kaum verwunderlich ist, daß sein Werk breiten Raum für einseitige Auslegungen und auch für Mißverständnisse aller Art bietet. Die Wirtschaftslehre des ganzen 19. Jahrhunderts hat sich immer wieder auf SMITH berufen und seine Lehren zur Begründung und zum Beweis ihrer oft recht heterogenen Ansichten herangezogen; die Entwicklung der Nationalökonomie in den letzten 200 Jahren ist, im ganzen gesehen, mehr durch ADAM SMITH bestimmt worden als durch irgendeinen anderen einzelnen Gelehrten. War auch der Glaube an die grundlegende Harmonie der sozialen Beziehungen den Physiokraten wie ADAM SMITH gemeinsam[*], so wandelte doch SMITH ‹die ‚natürliche‘ Ordnung der Physiokraten, die bei QUESNAY und DUPONT ausgesprochen eine naturrechtliche gewesen war, zu einer – sit venia verbo – naturpsychischen Ordnung, entfernte so ein gut Teil der finalistischen Elemente des physiokratischen Systems und baute jene kausalpsychische Wirtschaftswelt des Eigennutzes, in deren Rahmen sich wesentliche Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts, die gesamte Wertlehre bis hin zur Grenznutzenlehre, entwickelten›[*].

Das liberale Prinzip der von Staatseingriffen befreiten, sich selbst zu immer größerem Wohlstand vorantreibenden Wirtschaft entsprach so sehr dem Selbstverständnis und dem Interesse seiner Zeit, daß die Volkswirtschaftslehre auf ein halbes Jahrhundert zur Modewissenschaft und zum Thema in den Salons wurde; in immer neuen Darstellungen und Ausarbeitungen der besonders ‹gängigen› Thesen wurden viele von SMITHs Gedanken bis zur Unkenntlichkeit popularisiert und verflacht, kritiklos nachgebetet und auf die Verhältnisse anderer Länder übertragen. In Preußen war es der Königsberger Professor KRAUS, der eine ganze Generation von künftigen Beamten in der neuen Lehre unterwies; kritischer war der FREIHERR VOM STEIN, der manche der liberalen Ideen für die Reform des preußischen Staates nutzbar machte[*].

Keiner der neben SMITH zu den ‹Klassikern› der Nationalökonomie zu zählenden Nachfolger hat dem ‹Wealth of Nations› ein auch nur annähernd ebenbürtiges Werk an die Seite zu stellen vermocht. Die Systeme von MALTHUS, RICARDO, SAY und JOHN STUART MILL bieten, vielfach auf anderen philosophischen Voraussetzungen aufbauend, mancherlei Variationen und Ergänzungen der SMITHschen Thesen, die sie erweitern oder spezialisieren, im Hinblick auf bestimmte praktische Probleme und Einwände auch wohl neu formulieren; jeder von ihnen konnte damit zu seiner Zeit einen nicht unerheblichen theoretischen oder auch praktischen Einfluß entfalten, und vieles davon ist in die späteren Lehrmeinungen eingegangen, wovon an gegebener Stelle noch im einzelnen die Rede sein wird. Den Durchbruch des wirtschaftlichen Denkens zur liberalen Theorie, die wir heute als ‹klassische› Nationalökonomie empfinden und bezeichnen, verdanken wir jedoch dem einmaligen großen Wurf, der dem Schotten ADAM SMITH mit seinem ‹Wealth of Nations› gelang.

5. Theorie am Modell: Johann Heinrich v.Thünen (1783–1850)

Der Name ‹Politische Ökonomie›, den SMITH von STEUART übernahm, bedeutete bei ihm noch keineswegs den Gegenstand einer besonderen Wissenschaft auf dem abgesonderten Gebiet der Wirtschaft; seine Untersuchung über Natur und Ursachen des Volkswohlstands ging vielmehr noch durchaus von einem letztlich moralphilosophischen Anliegen aus, nämlich die Maximen für das wirtschaftliche Handeln des Staatsmannes (policy, nicht politics) aus seiner Zweckmäßigkeit, statt, wie sein sonstiges Handeln, aus den Maßstäben der Gerechtigkeit abzuleiten. Erst die Epigonen der klassischen Schule machten aus diesen moralphilosophischen Anweisungen an den Staatsmann eine geschlossene, eigenständige Theorie von der ‹Wirtschaft an sich›; der Name ‹Politische Ökonomie› fand alsbald überall dort Eingang, wo der liberal-individualistische Inhalt der neuen Lehre am bereitwilligsten rezipiert wurde, zunächst daher keineswegs in Deutschland, sondern in England selbst und in Frankreich, wo JEAN BAPTISTE SAY (1767–1831) im Jahre 1803 seinen ‹Traité d’économie politique› veröffentlichte. Von nun an ist die Volkswirtschaftslehre ‹eine einfache Darlegung, wie der Reichtum gebildet, verteilt und verbraucht wird›; aus der wohlbegründeten SMITHschen Ablehnung staatlicher Eingriffe in den Außenhandel wird bei SAY die berühmte ‹Theorie der Absatzwege›, nach der bei freier Preisbildung keine Überproduktion möglich ist, da jeder ja nur produziert, um vom Erlös die Waren der anderen zu kaufen, so daß Angebot und Nachfrage sich über die Preisbildung auch international vollkommen ausgleichen, wenn keine Handelshemmnisse dazwischentreten.

Damit beschritt die ‹Politische Ökonomie› den Weg der Abstraktion und der theoretischen Modellbildung zur Darstellung ihrer Lehren; das Menschenbild dieser Wirtschaftstheorie, das bei SMITH noch als ‹Realtypus› aus dem wirklichen Leben abgeleitet war, wandelte sich unbemerkt zu der schematischen Fiktion eines homo oeconomicus, der für sich allein steht und von nichts anderem beherrscht ist als von dem Streben nach seinem Nutzenmaximum im Wettkampf mit allen anderen ebenso unabhängigen und von dem gleichen Streben erfüllten Menschen. Von der Vielfalt menschlichen Handelns und Wirkens, die SMITH durchaus erkannte und anerkannte, wird von nun an in der ‹reinen› Wirtschaftstheorie abstrahiert; das Verhalten der wirtschaftenden Menschen wird theoretisch, in einem Modell, auf eine einzige Funktion reduziert, um damit das Wirtschaftsgeschehen auf ein bloßes mechanisches Kräftespiel von Mengen und Märkten, Einkommen, Preisen und Zinsen zurückzuführen.

Seinen Höhepunkt fand dieses modelltheoretische Wirtschaftsdenken in England mit DAVID RICARDO (1772–1823), dessen Werk ‹Principles of Political Economy and Taxation› im Jahre 1817 erschien. Da RICARDO den Ausgangspunkt sowohl der SMITHschen wie auch der merkantilistischen und physiokratischen Lehre, die Förderung des Volkswohlstandes, gänzlich hinter theoretischen Darlegungen zurücktreten ließ, kann er in gewissem Sinne als Begründer der ‹reinen› Wirtschaftstheorie bezeichnet werden. Im Mittelpunkt dieser Theorie steht die Preisbildung auf den Märkten einschließlich des Arbeitsmarktes; RICARDO begründete die Arbeitswerttheorie, die dem späteren ‹wissenschaftlichen Sozialismus› unschätzbare Dienste leisten sollte. Bestimmend für den Wert der Güter sind die zu ihrer Herstellung aufgewendeten Produktionskosten, d.h. im wesentlichen die Arbeit: ‹Der Wert eines Gutes oder die Menge von irgendeinem anderen, für die es sich vertauschen wird, hängt von der verhältnismäßigen Menge an Arbeit ab, die zu seiner Produktion erforderlich ist, nicht von der größeren oder geringeren Vergütung, die für diese Arbeit bezahlt wird.› Arbeit höherer Art ist gleich einer erhöhten Menge Arbeit einfacher Art; Kapitalgüter, die der Produktion dienen, sind soviel wert wie die ‹vorgetane Arbeit›, die in ihnen steckt; das Modell, aus dem KARL MARX seine Theorie vom ‹Mehrwert› und von der Ausbeutung der Arbeiterklasse ableiten konnte, war damit in den Grundzügen geschaffen.

Nicht zu Unrecht hat ROBERT MALTHUS (1766–1834), dem wir das ‹Gesetz› von dem Zurückbleiben der Ernteerträge hinter der Bevölkerungszunahme verdanken, RICARDO und seinen Anhängern vorgeworfen, ‹daß die Neigung zu vorzeitiger Verallgemeinerung›, die der reinen Theorie anhafte, ‹eine Unlust gegen eine Überprüfung ihrer Theorien an Hand der Erfahrungen bewirke›; seine eigene realistische Betrachtungsweise bewahrte ihn vor der Verabsolutierung der theoretisch am Modell gefundenen ‹Gesetze›. Der Historiker TOYNBEE schreibt über die Gefahr dieser Art, Theorie zu treiben: ‹Nicht, daß RICARDO selbst, der ein erfolgreicher Geschäftsmann und erfahrener Wirtschaftspolitiker, zudem ein ‚wohlwollender und guter Mann‘ war, vermutet hätte, die Welt seiner ‚Principles‘ sei die Welt, in der er lebte; aber unwillkürlich nahm er die Gewohnheit an, die ‚Gesetze‘, die nur für die von ihm in seinem Arbeitszimmer im Hinblick auf die wissenschaftliche Analyse geschaffene Gesellschaft wahr sind, auf die komplizierte Gesellschaft anzuwenden, die um ihn lebte und webte. Diese Verwirrung wird von einigen seiner Nachfolger vermehrt und in den schlecht informierten, volkstümlichen Darlegungen, die man seiner Lehre gab, noch verstärkt›[*].

In Deutschland war es JOHANN HEINRICH VON THÜNEN, der 1826 eine ‹reine› Theorie der Volkswirtschaft in Form eines Modells veröffentlichte, allerdings eines empirisch auf der Grundlage jahrelanger eigener Beobachtungen und Berechnungen gewonnenen Modells. THÜNEN ist wissensgeschichtlich schwierig einzugliedern; er wird teils als Nachfahre der klassischen Nationalökonomie englischer Prägung, aber mit deutscher Gründlichkeit, teils als früher Vorläufer der modernen Raumwirtschaftslehre betrachtet, für die er in seinem ‹Isolierten Staat› ein Muster von hohem theoretischem Wert geschaffen hat.

THÜNEN war praktischer Landwirt und Forscher zugleich. Seine eigenen Versuche und Berechnungen, die er vorwiegend zwischen 1810 und 1820 auf seinem mecklenburgischen Gute Tellow anstellte, waren die Basis für seine späteren methodischen Untersuchungen. Er veröffentlichte von 1802/03 an zahlreiche Aufsätze und Berechnungen, deren Ergebnisse alle in seinem 1826 erschienenen Hauptwerk ‹Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie› mit dem Untertitel ‹Untersuchungen über den Einfluß, den die Getreidepreise, der Reichtum des Bodens und die Abgaben auf den Ackerbau ausüben› enthalten sind.

Das Modell des isolierten Staates, das Werkzeug seiner abstrahierenden Arbeitsweise, wurde von THÜNEN im ersten Abschnitt seines Buches folgendermaßen beschrieben: ‹Man denke sich eine sehr große Stadt in der Mitte einer fruchtbaren Ebene gelegen, die von keinem schiffbaren Flusse oder Kanal durchströmt wird. Die Ebene selbst besteht aus einem durchaus gleichen Boden, der überall der Kultur fähig ist. In großer Entfernung von der Stadt endige die Ebene in eine unkultivierte Wildnis, wodurch dieser Staat von der übrigen Welt gänzlich getrennt wird. Die Ebene enthalte weiter keine Städte, als die eine große Stadt, und diese muß also alle Produkte des Kunstfleißes für das Land liefern, so wie die Stadt einzig von der sie umgebenden Landfläche mit Lebensmitteln versorgt werden kann. Die Bergwerke und Salinen, welche das Bedürfnis an Metallen und Salz für den ganzen Staat liefern, denken wir uns in der Nähe dieser Zentralstadt … gelegen.›

Nach dieser Beschreibung seines Modells stellte THÜNEN sich die Frage, wie sich unter solchen Verhältnissen der Ackerbau gestalten und wie die größere oder geringere Entfernung von der Stadt auf den Landbau wirken werde; da ergab sich, daß sich rings um die Stadt sieben konzentrische Kreise erkennen lassen, in denen je nach der Bewirtschaftungsweise und den Kosten für den Transport in die Stadt verschiedene landwirtschaftliche Erzeugnisse angebaut und verarbeitet werden.

Der erste Kreis enthält die feineren Gartengewächse, Kartoffeln, Rüben, Kohl und Klee; außerdem wird hier Milch durch Stallfütterung produziert. THÜNEN nennt diese Anbauweise die ‹freie Wirtschaft›, da sie ‹in der Fruchtfolge keiner Vorausbestimmung unterworfen ist›.

Der zweite Kreis nimmt die Forstwirtschaft auf und ist damit nicht durch das Bewirtschaftungssystem, sondern durch das in ihm erzeugte Produkt charakterisiert. Die unmittelbare Nähe zur Stadt empfiehlt sich hier wegen des großen Gewichts und der hohen Transportkosten des Holzes. Im dritten Kreis ebenso wie im vierten und fünften wird Getreide angebaut. Für die Anordnung dieser Kreise ist die Bewirtschaftungsweise ausschlaggebend: während im dritten Kreis die sogenannte Fruchtwechselwirtschaft betrieben wird, herrscht im vierten Kreis die ‹Koppelwirtschaft› (Fruchtwechselwirtschaft mit Weidegang) vor. Der fünfte Kreis ist gekennzeichnet durch die ‹Dreifelderwirtschaft› (mit periodischer Brache). Im sechsten Kreis werden die Viehwirtschaft und etwaige technische Nebengewerbe (Brennereien) betrieben. Letztlich geht an der Grenze des sechsten Kreises die Ebene in die ‹kulturfähige Wildnis› über, in der verstreut Jäger leben, die nur beim Verkauf der Tierfelle mit der Stadt in Verbindung treten.

THÜNEN war sich des hohen Abstraktionsgrades seines Sieben-Kreise-Bildes durchaus bewußt; gerechtfertigt war es in seinen Augen durch die Anwendbarkeit auf die Theorie der Grundrente, insbesondere zur Herausarbeitung desjenigen Teils der Grundrente, der auf die räumliche Lage des Grundstücks entfällt (Stadtnähe). Schon QUESNAY hatte in seinem ‹Tableau économique› auf die Renten hingewiesen, die durch die verschiedenen Entfernungen zwischen den Erzeugungs- und den Verbrauchsorten entstehen können und als deren Ursache er die Verschiedenheit der Frachtkosten erkannte. Auch JAMES ANDERSON (1739–1808) und DAVID RICARDO hatten die Lagerente bereits erwähnt. Während jedoch RICARDO vor allem die Wirkung der Fruchtbarkeits- und Intensitätsrente behandelte und die Entstehung einer Lagerente nur knapp andeutete, stellte das Werk THÜNENs darin eine grundlegende Ergänzung zu RICARDOs Lehre dar, daß es gerade die Gunst der räumlichen Lage als Faktor der Grundrente in den Vordergrund der Betrachtung rückte; THÜNEN war noch dazu unabhängig und ohne Kenntnis von RICARDOs Schriften zu seinen Ergebnissen gekommen. Die Landrente ist eine Differentialrente, da sie ‹aus dem Vorzuge› entspringt, ‹den es (das Landgut) vor dem durch seine Lage oder seinen Boden schlechtesten Gute, welches zur Befriedigung des Bedarfs noch Produkte hervorbringen muß, besitzt›.

Diese Landrente ist natürlich in jedem der THÜNENschen Kreise verschieden hoch; ihre Höhe ist abhängig von dem Preis, den das Produkt in der Zentralstadt hat, und von der Entfernung zwischen der Stadt und dem Produktionsstandort. Da unterschiedliche Entfernungen unterschiedlich hohe Transportkosten bedingen, gibt der sogenannte ‹Locopreis› (Marktpreis in der Stadt abzüglich Transportkosten) die Höhe der Landrente an. THÜNEN legte dar, daß die Transportkosten das jeweilige Bewirtschaftungssystem (Fruchtwechsel-, Koppel- oder Dreifelderwirtschaft) beeinflussen und daß keines dieser Systeme grundsätzlich einen Vorzug vor dem anderen (wie z.B. sein Lehrer A.THAER behauptet hatte), sondern nur jeweils einen relativen Nutzen besitzt.

Der Nachweis dieser Relativität des Bewirtschaftungssystems sowie die Bestätigung und Ergänzung von RICARDOs Grundrententheorie gelten als bleibendes wissenschaftliches Ergebnis von THÜNENs Forschungen am Modell des isolierten Staates; sein zweites großes Arbeitsfeld war die Lohntheorie. Die klassische Lohntheorie befriedigte ihn weder wissenschaftlich noch menschlich, da sowohl RICARDO als auch SMITH ‹nur das Tatsächliche, nicht aber das Rechte, das Naturgemäße› gezeigt hätten; ‹naturgemäß› schien THÜNEN ein Lohn, dessen Höhe von der Leistung, der Produktivität der Arbeit mitbedingt ist. Schon 1826 veröffentlichte er eine Abhandlung über das Los der Arbeiter[*], dem ‹Isolierten Staat› wurde jedoch erst bei der 2. Auflage (1842) ein zweiter Band beigefügt, in dem THÜNEN das Problem des naturgemäßen Lohnes zu lösen versuchte, ein Ausdruck seines ‹lebendigen Sozialempfindens› (SALIN).

Die Untersuchung über den naturgemäßen Lohn verlegte THÜNEN gedanklich in die Grenzzone des isolierten Staates, um bei seiner Ableitung die Wirkung der Bodenrente auszuschalten. Da nach seinen Prämissen in der Grenzzone kulturfähiges, aber herrenloses Land liegt, steht es den Arbeitern frei, für Lohn zu arbeiten oder mit Hilfe ihrer Ersparnisse Land urbar zu machen und zu bebauen. In diesem Fall bedarf es zusätzlicher Arbeit zur Errichtung des neuen Betriebes. THÜNEN nahm nun an, daß zwei Gruppen von Arbeitern bei der Errichtung eines Gutsbetriebes mitwirken; während die erste Gruppe auf Lohn verzichtet, somit lediglich ‹kapitalerzeugend› wirkt und ihren Lohn später in Form der ‹Gutsrente› erhält, arbeitet eine zweite Gruppe für Lohn im Dienst der ersten. Diesen Lohn erhält sie aus dem die Kosten ihres notwendigen Lebensunterhalts übersteigenden Überschuß der kapitalerzeugenden Gruppe; er muß so festgesetzt werden, ‹daß der Überschuß des Arbeiters, auf Zinsen gelegt … gleich der Rente des kapitalerzeugenden Arbeiters wird›, um zu verhindern, daß die Arbeiter bei zu niedrigem Lohn ihrerseits zur Kapitalerzeugung übergehen.

Dieser ‹natürliche Arbeitslohn› entspringt also nicht, wie es die klassische Lohntheorie angenommen hatte, lediglich dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt, sondern geht aus der ‹freien Selbstbestimmung der Arbeiter› hervor; aus der Rente des kapitalerzeugenden Arbeiters errechnete THÜNEN durch Differentiation die Formel

für den naturgemäßen Lohn, wobei a das existenznotwendige Lebenshaltungsminimum des Arbeiters und p das Produkt (Reinertrag) pro Arbeiter darstellen. Der ‹natürliche› Lohn wird also einerseits durch das Existenzminimum, andererseits durch die Produktivität der Arbeit bestimmt und errechnet sich als geometrisches Mittel zwischen diesen beiden Größen.

Gegen diese Lohntheorie, die bereits alle wesentlichen Erkenntnisse über die Grenzproduktivität des Lohnes enthält, sind viele Einwände geltend gemacht worden; die Angriffspunkte waren meist die empirische Gültigkeit oder der methodische Weg, auf dem die Formel von THÜNEN