Geschichte im Text - Stephanie Catani - E-Book

Geschichte im Text E-Book

Stephanie Catani

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Beschreibung

Wie lässt sich über Geschichte schreiben, wenn diese zuverlässig nicht mehr zur Verfügung steht? Ausgehend von dieser Fragestellung untersucht der Band die Literatur der Gegenwart als jenen Schauplatz, auf dem die Konkurrenz von Fakten und Fiktion im Zeichen historischer Narration sowie im Sinne einer geschichtstheoretisch begründeten "Bruchhaftigkeit der Geschichte" verhandelt wird. Im ersten Teil werden die Signaturen eines seit dem 18. Jahrhundert kontrovers diskutierten Geschichtsbegriffes untersucht, der die Grenze zwischen Fiktion und Historie neu auslotet. Der zweite Teil gilt der Analyse historisch-fiktionaler Texte nach 1989: Diese erzählen nicht einfach von der Geschichte, sondern reflektieren dieses Erzählen bereits. Über traditionelle narratologische Fragen hinaus erfolgt die Textlektüre vor dem Hintergrund jüngster Erkenntnisse der Neurowissenschaft und der kognitiven Psychologie, der Psychotraumatologie sowie der Medientheorie.

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Seitenzahl: 952

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Stephanie Catani

Geschichte im Text

Geschichtsbegriff und Historisierungsverfahren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb/dnb.de abrufbar.

 

Umschlagabbildung: © Jodi Harvey-Brown, Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

 

Die vorliegende Studie wurde von der Neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg im Juli 2015 als schriftliche Habilitationsleistung angenommen. Für den Druck wurde sie leicht überarbeitet.

 

© 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigingen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Internet: www.francke.de

E-Mail: [email protected]

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ISBN: 978-3-7720-0009-6

Inhalt

Für Nils, Benedikt & ...1 Geschichte und Gegenwartsliteratur: Eine Einleitung1.1 Der historische und der ›andere‹ historische Roman: Ein Forschungsüberblick1.2 Epochenzäsur 1989: Zum Begriff der Gegenwartsliteratur1.3 Historisch-fiktionales Erzählen nach 1989: Terminologische PrämissenI. Teil: Von der Geschichte zum Text2 Erzählte Geschichte zwischen Aufklärung und Historismus2.1 Literatur und Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert2.2 Friedrich Schiller: Vordenker der modernen Geschichtswissenschaft2.3 Der Historismus des 19. Jahrhunderts3 Geschichte als Text: Linguistic turn und die Folgen3.1 Der Poststrukturalismus: Roland Barthes und das Ende der res gestae3.2 Die Narrativität der Geschichte: Hayden White3.3 Die Diskursivierung der Geschichte: Michel Foucault3.4 Vom New Historicism zur historischen Kulturwissenschaft4 Geschichte in der Postmoderne – Geschichte nach der Postmoderne4.1 Der Abschied von der Geschichte4.2 Die Ethik der Geschichte4.3 Neue Wege zu einer historischen ›Wirklichkeit‹: Lucian Hölscher5 Zur Poetik historisch-fiktionalen Erzählens der Gegenwart5.1 Vorläufer im frühen 20. Jahrhundert: Lion Feuchtwanger und Alfred Döblin5.2 Historisch-fiktionales Erzählen unter Verdacht: Von Peter Härtling zu Norbert GstreinII. Teil: Historisierungsverfahren in der Gegenwartsliteratur6 Die Struktur der Geschichte: Metafiktionales Erzählen6.1 Erzählstruktur(en)6.2 Das Erzählen erzählen – Prozesse literarischer Selbstbeobachtung6.3 Metahistoriografische Selbstreflexion6.4 »Am Anfang stand für mich der Mythos.« Norbert Gstreins Die englischen Jahre (1999)7 Wer erzählt die Geschichte?7.1 »So oder anders könnte es gewesen sein.« Zum Konzept der unreliable narration im historischen Roman7.2 Archivare, Chronisten, Dokumentaristen erzählen7.3 »Wer versteht diese Stimmen?« Felicitas Hoppes Johanna (2006)8 Gedächtnis – Erinnerung – Geschichte8.1 Theoretische Ansätze8.2 Das Gedächtnis (in) der Literatur8.3 Den Holocaust erinnern8.4 Das Trauma erzählen8.5 »Der Mensch als Archiv von Fakten«. Robert Menasses Die Vertreibung aus der Hölle (2001)9 Die Medien der Geschichte: Zur Ausweitung des Textbegriffes9.1 Geschichtsbilder – Geschichte im Bild9.2 Aural history: Die Stimmen der Geschichte9.3 Geschichte 2.0: Das World Wide Web als Geschichtsgenerator9.4 »Dieses Gewicht eines Familienalbums voll mit Allermenschen Schmerz.« Reinhard Jirgls Die Stille (2009)Was bleibt von der Geschichte? Eine SchlussbetrachtungSiglenverzeichnisLiteraturverzeichnis1. Werke und Quellen2. Forschung3. Rezensionen4. Internetquellen

Für Nils, Benedikt & Juna

1Geschichte und Gegenwartsliteratur: Eine Einleitung

1995 hält der österreichische Autor Robert Menasse die Eröffnungsrede zur Frankfurter Buchmesse und verkündet darin programmatisch: »Vielleicht war »Geschichte« der größte historische Irrtum der Menschheit.«1 Menasse beruft sich auf einen Geschichtsbegriff, der am Ende des 20. Jahrhunderts seine Sinnhaftigkeit verloren hat und als vermeintlich falsch verstandenes Modell eines teleologischen Prozesses verantwortlich zeichnet für die »Abfolge von Greuel«, die sich hinter dem Katastrophenjahrhundert verbergen:

»Geschichte« ist so oder so ein sehr zweifelhaftes Konstrukt, die Annahme, daß sie einen immanenten Sinn und ein Ziel hat, ist reiner Glaube, und daß es Techniken gibt, sinnvoll in sie einzugreifen, das ist schon religiöser Irrsinn. Alle großen Menschheitsverbrechen wurden und werden immer von geschichtsbewußten Menschen begangen, immer mit dem Gefühl, »im Auftrag der Geschichte« zu handeln, und dieses Gefühl macht skrupellos. Jede »Lehre aus der Geschichte« ist dürftig und jedes »Geschichtsziel« ist so spekulativ, daß es abenteuerlich ist, damit den Eingriff in eine lebendige Wirklichkeit zu legitimieren. Kein sogenanntes »geschichtsbewußtes Handeln« kann glaubhaft voraussetzen, daß es so logisch funktioniert wie die einfache Abfolge von Saat und Ernte. Wenn es einen ›Misthaufen der Geschichte‹ gibt, dann ist das, was am dringendsten auf diesen Misthaufen gehört, unser Begriff von Geschichte selbst.2

Pointiert fasst Menasse hier die Umstände zusammen, die den Geschichtsbegriff an der Schwelle zum 21. Jahrhundert zu einem problematischen machen. Zum einen sind spätestens mit der durch den linguistic turn fächerübergreifend postulierten Erkenntnis, dass eine der Sprache vorgängige Geschichte nur schwer zu haben ist, Geschichte und Vergangenheit unsicher geworden und Historiografie und Literatur, Fakten und Fiktion im Zeichen der Narration in ein neues Konkurrenzverhältnis getreten. Zum anderen warnt Menasse gerade angesichts dieses »zweifelhaften Konstrukts«, das sich hinter der Geschichte verberge, vor ihrer Instrumentalisierung: Als Handlungsrichtlinie könne die Geschichte am Ende eines Jahrhunderts, das von Verbrechen im Namen der Geschichte geprägt sei, keineswegs mehr funktionieren, allenfalls als Versuch, »dem Sinnlosen Sinn zu geben«3.

Menasses Plädoyer für eine Loslösung vom Konzept ›Geschichte‹ mithilfe eines auf die Gegenwart ausgerichteten Denkens und Handelns ist keineswegs als bloße Polemik oder gar als Angriff auf das akademische Feld der Historik zu verstehen, sondern führt geradewegs zu deren zentralen Einsichten: Einsichten, wie sie etwa Jörn Rüsen, einer der profiliertesten Geschichtstheoretiker der Gegenwart, in seinem programmatischen Essay Was ist Geschichte? formuliert:

Allerdings stellen die Schreckens- und Katastrophenerfahrungen des 20. Jahrhunderts eine neue Herausforderung an das historische Denken und an einen zukunftsfähigen Geschichtsbegriff: Sie lassen sich nur schwer mit den bisherigen Sinnkonzepten des Historischen vereinbaren und verlangen neue Interpretations- und Darstellungsstrategien. Die Frage nach dem Menschen und seiner ›Natur‹ als Geschichte muß radikal neu gestellt und Sinnlosigkeit selber als Element eines sinnvollen Geschichtskonzepts berücksichtigt werden. Das kann und sollte zu neuen Praktiken des historischen Denkens und der Repräsentation der Vergangenheit führen […].4

Auch Rüsens Historiker-Kollege Lucian Hölscher verabschiedet sich von einer »durchgängigen historischen Kontinuität« der Geschichte und sieht die Zukunft seines Faches dadurch bestimmt, sich »dieser neuen Bruchhaftigkeit« der Geschichte zu stellen.5 Seine 2009 veröffentlichte Aufsatzsammlung mit dem bezeichnenden Titel Semantik der Leere beschließt er mit einem Beitrag zur Hermeneutik des Nichtverstehens, der an Rüsens Plädoyer für die ›Sinnlosigkeit‹ als Element eines gegenwartstauglichen Geschichtskonzepts anknüpft:

Sie [die Geschichtswissenschaft, S.C.] muss sich der Einsicht stellen, dass sich die Ordnungen der Erfahrung in keinem denkbaren epistemologischen Raum mehr zu einem homogenen Ganzen zusammenfügen lassen, dass sie sich überlagern, bruchhaft und einander wechselseitig ausschließend aufeinanderstoßen. Die Geschichtswissenschaft muss sich daher den epistemologischen Brüchen und in ihnen insbesondere den Prozessen des Nichtverstehens als historischen Tatbeständen zuwenden, d.h. eine Hermeneutik des Nichtverstehens entwickeln.6

Rüsen wie Hölscher belassen es keineswegs bei der resignierten Einsicht in ein aus epistemologischer Sicht fragwürdig gewordenes Geschichtsmodell: Vielmehr repräsentieren sie stellvertretend, wie im ersten Teil dieser Untersuchung ausführlich dargestellt wird, das Bemühen der aktuellen geschichtstheoretischen Forschung, an einer Orientierungsfunktion historischen Wissens festzuhalten, ohne die Problematik einer aufgrund konstruktivistischer wie poststrukturalistischer Befunde unsicher gewordenen Geschichte zu verschweigen.

Auch der Autor Robert Menasse beendet seine Rede in Frankfurt nicht, ohne einen Ausweg anzudeuten – allerdings einen, den er ausschließlich im Feld der literarischen Produktion verortet:

Was können wir tun? Was Sie tun können, weiß ich nicht. Sie tun, was Sie können. Was wir Autoren tun können, ist schreiben. Unser Schreiben ist ein lautes Singen in finsteren Wäldern. Dieses Singen soll uns die Angst nehmen, nicht Ihnen. Es sind Poetische Wälder – Gefallen findet, wer sie gefällt.7

Tatsächlich, darin liegt der zentrale Ausgangspunkt der vorliegenden Studie, sind es jene ›poetischen Wälder‹, die den medialen Schauplatz vergegenwärtigen, auf dem die Konkurrenz von Fakten und Fiktionen im Zeichen historischer Narration sowie die von Hölscher skizzierte »Bruchhaftigkeit der Geschichte« verhandelt werden: vorrangig in literarischen Texten, die sich auf vermeintlich historische Fakten zu berufen scheinen.

Das Feld historisch-fiktionaler Literatur ist dabei nicht einfach bestellt: Offenbar machen sich Texte, die über Geschichte schreiben, a priori verdächtig. Dort, wo sie nicht gleich mit dem Eskapismus-Vorwurf konfrontiert werden, wird ihnen die ästhetische Qualität mit Blick auf die hinter historischem Gewand und historischer Kulisse lauernde Kitsch-Gefahr gerne abgesprochen. Dass der Graben zwischen sogenannter E- und U-Literatur auch gegenwärtig ein tiefer ist, lässt sich selten so gut beobachten wie am Beispiel des historischen Romans.

In diesem Kontext repräsentativ ist noch immer Lion Feuchtwangers unmittelbar vor seinem Tod entstandene Verteidigungsschrift Das Haus der Desdemona oder Größe und Grenzen der historischen Dichtung (1956–58). Diese antizipiert jene Selbsterklärungsversuche, zu denen sich Autoren historischer Dichtung offenbar veranlasst sehen:

Mein Thema ist die historische Dichtung. Ich darf also beiseite lassen die Fülle der Erzählungen geschichtlichen Inhalts, die nur den Zweck verfolgen, dem Leser leichte Unterhaltung und dem Schreiber seinen Unterhalt zu verschaffen. Das sind unter hundert Büchern, die sich als historische Romane bezeichnen, achtundneunzig.8

Feuchtwangers Kritik gilt jenen Vertretern der Gattung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in seinen Augen für ihren Verruf verantwortlich sind durch triviale Texte, die mit der Darstellung einer »billige[n] romantische[n] Handlung« auf bloße Publikumswirksamkeit abzielen.9 Diese Vorbehalte gegen die Gattung haben in der Gegenwartsliteratur an Gewicht nicht verloren, sondern spiegeln sich in eindeutigen Positionierungen von Autoren, die mit dem historischen Roman aufs Schärfste abrechnen und ihre eigenen Texte gerade dort, wo sie explizit von der Historie erzählen, der Gattung mit Nachdruck entziehen. Tatsächlich, auch darauf wird im Verlauf der Untersuchung einzugehen sein, lässt sich ein drastisches Missverhältnis zwischen dem auf poetologischer Ebene vollzogenen Abschied von der Gattung und dem nicht abreißenden Erscheinen eben solcher Texte, die sie fortlaufend konstituieren, beobachten.

Allen Unkenrufen zum Trotz lässt sich die ungebrochene Tradition eines fiktionalen historischen Erzählens, auch jenseits sogenannter Unterhaltungs- und Trivialliteratur, nicht übersehen. Allein der Blick auf die Büchner-Preisträger der letzten Jahre führt die andauernde Relevanz historischer Stoffe unübersehbar vor Augen: Martin Mosebach, der Preisträger des Jahres 2007, feiert 2001 einen Erfolg mit seinem historischen Roman Der Nebelfürst, der im Wilhelminischen Deutschland der Jahrhundertwende spielt. Walter Kappacher wird 2009 nicht nur mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet, sondern veröffentlicht im gleichen Jahr mit Der Fliegenpalast einen von der Literaturkritik enthusiastisch besprochenen historischen Künstlerroman über die Figur Hugo von Hofmannsthal. Reinhard Jirgl, Büchner-Preisträger des Jahres 2010, bereichert das Genre im Jahr 2012 mit seinem am Übergang von Historie in Zeitgeschichte verorteten Familienroman Die Stille. Das literarische Oeuvre Friedrich Christian Delius’, der den Preis im Jahr 2011 erhält, thematisiert mehrfach historische Sujets und Figuren: etwa sein Roman Die Frau, für die ich den Computer erfand (2009) über die historische Figur des Computer-Pioniers Konrad Zuse oder Der Königsmacher (2003), der die Geschichte des 19. sowie das Erzählen dieser Geschichte zu Beginn des 21. Jahrhunderts gleichermaßen behandelt. Die Büchner-Preisträgerin des Jahres 2012, Felicitas Hoppe, veröffentlicht mit Johanna (2006) und Pigafetta (1999) gleich zwei historische Romane und legt mit ihrem Erzählband Verbrecher und Versager (2004) fiktionale »Porträtstudien« historischer Figuren vor.

Dass literarischer Anspruch und Publikumswirksamkeit sich nicht ausschließen, dokumentiert eindrucksvoll der literarische Sensationserfolg des beginnenden Jahrtausends, der ebenfalls auf das Konto des historischen Romans geht: 2005 erscheint Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt, der national wie international gefeiert wird und den die New York Times auf ihrer Weltbestsellerliste 2006 an Platz zwei führt.10 Gerade der internationale Literaturbetrieb macht die andauernde Dominanz historisch-fiktionalen Erzählens sichtbar. Die britische Autorin Hilary Mantel wird zweimal mit dem Bookerpreis und damit dem wichtigsten britischen Literaturpreis ausgezeichnet – 2009 für ihren historischen Roman Wolf Hall und drei Jahre später für dessen Fortsetzung Bring up the bodies (2012). »Ein großartiger Triumph des historischen Romans«, kommentiert Andreas Isenschmid die Auszeichnung der Autorin in Die Zeit und Ronald Pohl spricht im Standard gar von einer »glanzvolle[n] Rehabilitierung« der Gattung.11 Radikaler im Sinne einer grundsätzlichen Erneuerung der Gattung bespricht Andreas Kilb Mantels Wolf Hall in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sein Lob der Autorin legt jene Vorbehalte gegen die Gattung offen, von denen sich der Literaturbetrieb (auf Seiten der Autoren wie der Leser) offenbar noch immer beherrscht zeigt. So heißt es bei Kilb über Mantels Roman:

Schon in diesem Anfang wird klar, worin die besondere Qualität von Mantels Roman liegt. Es ist eine Überblendung von objektiver und subjektiver Wahrnehmung, wie es sie im historischen Roman so noch nicht gegeben hat. Seit Walter Scott mit »Ivanhoe« das Genre vor zweihundert Jahren erfand, folgen seine Fiktionen, wenn man von Ausreißern wie Tolstois »Krieg und Frieden« absieht, dem immergleichen stereotypen Muster aus Beschreibung und Wechselrede, Schlachten- oder Boudoirgemälde und drehbuchmäßigem Dialog.12

Die Lobpreisung des Mantel’schen Roman geht in Kilbs Rezension mit einer Abrechnung der Gattung des historischen Romans einher, die sie auf jene Texte reduziert, welche seit jeher das Feld der Unterhaltungsliteratur und den Buchmarkt im erklärten Bemühen dominieren, Geschichte möglichst anschaulich zu vermitteln und in Übereinstimmung mit den historischen Fakten darzustellen, ›wie es wirklich war‹. »Der gewöhnliche historische Roman, wie ihn die Buchhandlungen zwischen ›Krimi‹ und ›Fantasy‹ anbieten«, schlussfolgert Kilb, »ist einerseits unsinnlich, andererseits ungenau: Er verhunzt sowohl die Geschichte als auch die Literatur.«13

Mit dem »gewöhnlichen« historischen Roman bezieht sich Kilb wohl auf jene mittels grell gestalteter Cover angepriesene »Kitschgeschichten aus früheren Zeiten«, die, wie Susanne Beyer in ihrer Standortbestimmung zum Genre anmerkt, »am liebsten bei Raubrittern (weiches Herz unter harter Rüstung) oder testosterongesättigten Piraten« spielen.14 Daniel Fulda hat unlängst eine empirische Studie zum populären Geschichtsroman veröffentlicht, die belegt, dass der Reiz solcher Texte für den, auch akademisch geschulten Leser noch immer in der Vermittlung von historischem Wissen und einem möglichst spannungsgeladenen »Miterleben von Geschichte« liegt. Der historische Populärroman, so unterstreicht Fulda, erfüllt diese Lesererwartung, indem er seine vermeintliche »Faktentreue« hervorhebt und mit dem dargestellten Geschehen explizit auf einen ›historisch verbürgten‹ außerliterarischen Referenzbereich zu verweisen sucht.15 Mit Fulda lässt sich folglich von einer anhaltenden Spaltung im Segment des historischen Romans ausgehen, die den ›literarisch anspruchsvollen‹ vom populären historischen Roman unterscheidet – wenngleich die Grenze zwischen beiden sicherlich durchlässig und am Einzelfall zu überprüfen ist.

Trotz des anhaltenden Erfolges populärer Genrevertreter wird man, das belegt allein der Blick auf die genannten literarischen Neuerscheinungen der letzten Jahrzehnte, der Gattungsgeschichte kaum gerecht, beschränkt man sie allein auf ihre publikumswirksamsten Ausmaße. Die (wenngleich vorrangig angloamerikanische und komparatistische) gattungstheoretische Forschung erarbeitet bereits früh alternative Gattungsmodelle und richtet den Blick auf Texte, die jene in Kilbs Rezension angeführte Überblendung von objektiver und subjektiver Wahrnehmung bewusst reflektieren und damit spielen, dass man gerade nicht weiß, wie es gewesen ist. Während Hans Vilmar Geppert in seiner komparatistischen Studie schon 1976 schlicht vom ›anderen‹ historischen Roman16 spricht und Ina Schabert in ihrer Untersuchung zum historischen Roman in England und Amerika den »reflektiven historischen Roman«17 skizziert, etabliert Linda Hutcheon in ihrer Poetik der Postmoderne schließlich den programmatischen Begriff der »historiografischen Metafiktion« – und meint damit literarische Texte, die weniger auf die fiktionale Darstellung der Historie abzielen, als sie vielmehr die Fiktion der Historie bereits entlarven.18 Damit sind nur einige wenige Stationen im Bemühen der Forschung die Gattung zu konturieren bezeichnet – der sich anschließende Überblick über die Forschungsgeschichte wird vorhandene Definitionsversuche erarbeiten und zugleich die Diskrepanz zwischen einer allgemeinen Vorstellung von der Gattung und den deutlich innovativeren Modellen, welche die literaturwissenschaftliche Forschung anbietet, offen legen. Insgesamt führen die gattungstheoretische Ausweitung sowie die Ausarbeitung neuer Gattungsmodelle nur ansatzweise zu einer differenzierteren Wahrnehmung der Gattung – übertragen auf den deutschsprachigen Raum ist dem Anglo-Amerikanisten Ansgar Nünning zustimmen, wenn er festhält:

Bei wenigen Genres dürfte die Diskrepanz zwischen einem intuitiven Vorverständnis von deren Beschaffenheit und einer präzisen Benennung der konstitutiven Merkmale ähnlich groß sein wie beim historischen Roman.19

Bezeichnend ist etwa, wie wenig folgenreich der Begriff der historiografischen Metafiktion für die germanistische Literaturwissenschaft im Gegensatz zur Anglo-Amerikanistik zunächst geblieben ist – zumindest im Hinblick auf seine Bedeutung für den historischen Roman.20 Als Erzählhaltung der (Post-)Moderne findet allein der Terminus der »Metafiktion« in Einzelstudien zum Roman der Gegenwart oder zu spezifischen Autoren Eingang.21 Dem hier entstandenen Nachholbedarf möchte die vorliegende Untersuchung entsprechen, indem sie verschiedene Merkmale einer metafiktionalen wie historiografisch-metafiktionalen Problematisierung exemplarisch an historischen Romanen der Gegenwart nachzuweisen und mit den Ergebnissen aktueller geschichtstheoretischer Diskussionen konstruktiv zu verschränken sucht.

Dieser Ansatz schließt zum einen an die eingangs angedeuteten Analogien zwischen geschichtstheoretischen Reflexionen und poetologischen Autorenpositionierungen an. Zum anderen lässt sich der historische Roman grundsätzlich nicht bestimmen, ohne vorab zu klären, was der Begriff des »Historischen« bezeichnet. Zu Recht hält Hugo Aust in seiner Einführung in die Gattung fest: »Wer den historischen Roman charakterisieren will, muß wissen, was Geschichte bedeutet.«22 Hier formuliert Aust, dessen 1994 veröffentlichte Studie der bislang letzten Überblicksdarstellung zur spezifisch deutschsprachigen Gattungstradition entspricht, ein Forschungsdesiderat, das auch seine Einführung nicht zu schließen vermag. Zahlreiche Studien zur Gattung entbehren einer Auseinandersetzung mit geschichtstheoretischen Diskursen, mithin dem Begriff der Geschichte selbst, der sich im diachronen Verlauf entscheidend ändert und spätestens in der Gegenwart ebenso schwierig zu bestimmen ist wie die Gattung des historischen Romans.

Aufgabe der vorliegenden Untersuchung ist es somit, den Geschichtsbegriff in seiner gegenwärtigen (mit Hölscher) »Bruchhaftigkeit« kenntlich zu machen und die geschichtstheoretischen Diskussionen, die ihn im Lauf der Zeit, insbesondere mit Ausbreitung des linguistic turn im 20. Jahrhundert prägen, nachzuzeichnen. Die Argumentation lässt sich von der Prämisse leiten, dass Historiografie und Literatur im Zeichen der Narration nicht erst im 20. Jahrhundert in ein Konkurrenzverhältnis treten: Bereits die Ausdifferenzierung eines wissenschaftlich begründeten Geschichtsbegriffes im ausgehenden 18. Jahrhundert ist gekoppelt an das Ringen um die Unterscheidung zwischen historisch-fiktionalem und historisch-wissenschaftlichem Schreiben, zwischen Dichter und Historiker. Schließlich erweist sich erst die Herausbildung eines autonomen Geschichtsbildes und Geschichtsbewusstseins zu Beginn des 19. Jahrhunderts als eine der grundlegenden Voraussetzungen für die Entstehung der Gattung. Vor diesem Hintergrund strebt der erste Teil der Studie die kritische Auseinandersetzung mit einem zwischen Fiktion und Fakten changierenden Geschichtsbegriff im diachronen Verlauf an, mit besonderem Schwerpunkt auf die radikalen Erschütterungen, denen er im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert unterworfen ist.

Der sich anschließende zweite Teil der Untersuchung gilt der Analyse historisch-fiktionaler Gegenwartstexte und orientiert sich in seiner Argumentation an den Ergebnissen der vorab erarbeiteten geschichtswissenschaftlichen Positionen, die den Geschichtsbegriff der Gegenwart grundieren. Wie diesen ist literarischen Geschichtsdarstellungen eine autoreflexive Problematisierung historischen Erzählens und die Dekonstruktion der eigenen erzählerischen Zuverlässigkeit konstitutiv eingeschrieben. Die literarische Konstruktion (doing) wie Dekonstruktion (undoing) der Geschichte durch fiktive Geschichten ist dabei keineswegs nur an traditionelle ästhetische oder narratologische Fragen (Literarizität, Textualität und Narrativität der Geschichte) gebunden: Die Texte öffnen sich gerade für eine Lektüre vor dem Hintergrund jüngster Erkenntnisse der Neurowissenschaft und der kognitiven Psychologie (Gedächtnis und Geschichte, ›false memory debate‹), der Psychotraumatologie (Geschichte, Literatur und Trauma) sowie der Medientheorie (Medialität der Geschichte).

Indem sich die Studie mit literarischen Texten nach 1989 auseinandersetzt, sucht sie ein Forschungsdesiderat anzugehen, das im Hinblick auf die deutschsprachige historisch-fiktionale Literatur der Gegenwart auffällt und sich zudem im Widerspruch mit der gleichzeitigen Hochkonjunktur entsprechender Texte befindet. Bis ins 20. Jahrhundert hinein ist der historische Roman recht gut erforscht – im Kontext der unmittelbaren Gegenwartsliteratur wird die Gattung jenseits exemplarischer Einzelanalysen oder komparatistischer Studien deutlich weniger berücksichtigt. Aus diesem Grund versteht sich die vorliegende Studie als Überblicksstudie zur Gegenwartsliteratur und will signifikante Tendenzen historisch-fiktionalen Schreibens bewusst nicht über ein Nacheinander von Einzelanalysen, sondern ein Nebeneinander erzählstruktureller Auffälligkeiten erarbeiten. Der grundsätzliche Aufbau der Untersuchung gliedert sich nicht über die berücksichtigten Primärtexte, sondern jene Merkmale historisch-fiktionalen Erzählens, die als repräsentativ für die Gegenwartsliteratur erachtet und an unterschiedlichsten Texten bzw. Textsegmenten nachgewiesen werden. Gleichwohl wird jedes Kapitel im zweiten Teil der Studie mit einer exemplarischen Analyse beschlossen, welche die im jeweiligen Kapitel erarbeiteten literarischen Verfahren im Kontext einer Gesamtlektüre paradigmatischer Texte sichtbar macht.

1.1Der historische und der ›andere‹ historische Roman: Ein Forschungsüberblick

Die anglistische wie amerikanistische Forschung übertrifft in Bezug auf den historischen Roman die germanistische Literaturwissenschaft an Qualität und Quantität der diesbezüglich erschienenen Arbeiten deutlich: Daher wird im Folgenden auf jene Werke der angloamerikanischen Forschung Bezug genommen, die für signifikante Zäsuren innerhalb der Gattungsforschung gesorgt haben. Diese komparatistische Ausweitung ist grundsätzlich nur unter Vorbehalt möglich, da die in den jeweiligen Werken profilierte Gattungsdefinition auf Texte rekurriert, die sich dem Gegenstandsbereich der germanistischen Literaturwissenschaft nicht nur entziehen, sondern auch eigenen, spezifischen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Auf den Einbezug dieses wichtigen Forschungssegmentes ganz zu verzichten, wie etwa Aust in seiner Studie zum historischen Roman, bleibt dennoch problematisch.1 Gerade angesichts der sowohl gattungstheoretisch wie -historisch insgesamt unzureichenden Forschungslage lassen sich die angloamerikanischen Forschungsbeiträge nicht ignorieren. Vielmehr bilden sie konstruktive Versuche, den historischen Roman zu definieren und in seinen neuen Akzenten sichtbar zu machen. Hans Vilmar Geppert, der 2009 die bislang aktuellste Übersichtsstudie zur Gattung vorlegt, zollt diesem besonderen Umstand Rechnung und liefert einen komparatistischen Überblick, der nicht nur die internationale Forschungsliteratur, sondern Primärtexte der Weltliteratur aus den letzten zwei Jahrhunderten berücksichtigt. Zwangsläufig reduziert muss angesichts der Materialfülle dieser Studie gleichwohl die Auseinandersetzung mit spezifisch deutschsprachigen Erzähltexten der Gegenwart ausfallen.2

Mangelt es bis in die Gegenwart nicht an Versuchen, die Gattung bestimmen zu wollen, fallen die Antworten auf die Frage, was ein historischer Roman denn nun sei, in der Regel wenig präzise aus. Dies lässt nicht etwa auf nachhaltige Defizite der Gattungsforschung schließen, sondern gehört zur Programmatik der Gattung, die sich weniger über verbindliche Gattungsmerkmale als vielmehr über die Quantität potentieller Eigenschaften definiert. Zwei Namen fallen auf, welche die Diskussion konsequent prägen – auch, weil die Gattung in Abgrenzung von ihnen bestimmt wird. Zunächst handelt es sich dabei um Sir Walter Scott, den mutmaßlichen Begründer der Gattung, der mit seinem Waverley-Roman 1814 das Modellmuster eines historischen Romans liefert. Erst 2001 erscheint mit Frauke Reitemeiers Monografie zu den deutschen Vorläufern Scotts eine Untersuchung, die den Beginn der Gattung vor Walter Scott ansetzt und sich damit, so hält Reitemeier selbst fest, deutlich vom Tenor der entsprechenden Forschungsdiskussion absetzt.3 So wie die Gattungsgeschichte einerseits mit Scott ihren Anfang zu nehmen scheint, wird eine ernstzunehmende gattungstheoretische Diskussion andererseits erst mit Erscheinen der deutschsprachigen Übersetzung der Studie Georg Lukács’ Der historische Roman (1955) begründet und richtet sich – wenngleich äußerst kontrovers – auch gegenwärtig noch an dessen Thesen aus:

Unabhängig davon, welchen Stellenwert Lukács’ Scott-Auffassung in der wandlungsreichen Scott-Forschung einnehmen kann, darf gelten, daß seine kanonische Entscheidung für das Verständnis des historischen Romans aller Sprachen wegweisend ist.4

Lukacs’ Studie kennzeichnet Walter Scotts historische Romane als revolutionäre Literatur, die den großen realistischen Gesellschaftsroman des 18. Jahrhunderts fortführen und gleichzeitig etwas »vollständig Neues« bedeuten.5 Der streng marxistische Ansatz Lukacs’ führt zu einer ideologischen Deutung der Gattung, deren Hauptaufgabe nach Lukacs’ darin besteht, »die Existenz, das Geradeso-Sein der historischen Umstände und Gestalten mit ›dichterischen Mitteln‹ zu beweisen.«6 Dies gelinge Scott, so führt Lukacs aus, insbesondere durch die Profilierung eines »mittleren Helden«, dessen Schicksal die Wendungen der Historie, die »großen historischen Ereignisse«, erst sichtbar mache:

Der Held der Scottschen Romane ist stets ein mehr oder weniger mittelmäßiger, durchschnittlicher englischer Gentleman. Dieser besitzt im allgemeinen eine gewisse, nie überragende praktische Klugheit, eine gewisse moralische Festigkeit und Anständigkeit, die sogar bis zur Fähigkeit der Selbstaufopferung reicht, die aber niemals zu einer menschlich hinreißenden Leidenschaft erwächst, nie begeisterte Hingabe an eine große Sache ist.7

Problematisch, insbesondere mit Blick auf historische Romane des 20. und 21. Jahrhunderts, ist Lukacs’ Deutung, weil sie die Gattung im Kontext eines strengen Realismusbegriffs als Werkzeug geschichtlicher Erkenntnis begreift, die mit ästhetischen Mitteln ein Abbild der »historischen Wirklichkeit« liefern soll:

Es kommt darauf an, nacherlebbar zu machen, aus welchen gesellschaftlichen und menschlichen Beweggründen die Menschen gerade so gedacht, gefühlt und gehandelt haben, wie dies in der historischen Wirklichkeit der Fall war.8

Damit reduziert Lukacs das Genre auf seine mimetische Funktion, ignoriert das geschichts- und erkenntnistheoretische Reflexionspotential, das den historischen Roman im Koordinatensystem von Literatur und Geschichte als Gattung ausmacht.

Erst zwanzig Jahre nach Erscheinen der deutschen Übersetzung der Lukacs’schen Studie wird die Forschungsdiskussion um Wesen und Inhalt der Gattung neu belebt. Hartmut Eggert legt 1971 seine Studien zur Wirkungsgeschichte des deutschen historischen Romans 1850–1875 vor, die noch keinen neuen Definitionsversuch liefern, statt dessen eine Typologisierung der Romane nach den behandelten historischen Stoffen und Gesichtspunkten entwerfen und nach ihren strukturellen Besonderheiten unter dem Aspekt der Publikumswirksamkeit unterscheiden.9 Auch Michael Meyer verzichtet in seiner 1973 veröffentlichten Dissertation zur Entstehungsgeschichte des historischen Romans zunächst auf eine Definition der Gattung, macht vielmehr ihre Entstehung in Deutschland im Spannungsfeld zeitgenössischer Poetiken und Theorien der Geschichtsschreibung sichtbar.10

Die komparatistische Studie Walter Schiffels, Geschichte(n) Erzählen, sorgt 1975 für eine deutliche Akzentverschiebung, da sie selbstreferenzielle und -reflexive Merkmale historisch-fiktionaler Texte hervorhebt und damit auf Definitionsversuche vorbereitet, die eben darin das entscheidende Charakteristikum der Gattung sehen. Schiffels teilt Lukacs’ Einschätzung hinsichtlich der Vorbildfunktion der Scott’schen Romane, relativiert sie aber zugleich, indem er den »›klassischen historischen Roman‹ vom Typ Scott« als allein auf die Waverley Novels anwendbar begreift. Kennzeichnend für diese Form des historischen Romans ist nach Schiffels, dass Geschichte hier »zum bloßen Spannungsträger, nicht mehr zum Auskunftsträger« avanciere11 und damit gleichsam auf einen austauschbaren Kulissenhintergrund reduziert werde. Den historischen Romanen Scotts, so kann Schiffels auch im Rekurs auf die poetologischen Selbstäußerungen des Autors zu Beginn seiner Romane nachweisen, gehe es gerade nicht darum, in Konkurrenz zur Historiografie zu treten: »[I]n ihnen wird nicht Geschichte zum Roman, sondern in die Geschichte wird ein eigentlich beliebiger Roman verwoben.«12 Was erreicht wird, ist, mit Schiffels, weniger eine »Rekonstruktion« der Vergangenheit als vielmehr ihre »Verlebendigung«, die dem Leser Geschichte als ästhetischen Gegenstand nahebringe, der allein der Unterhaltung, nicht aber der Aufklärung diene. Das Scott’sche Medium dieses Verlebendigungsprozesses sei, hier schließt sich Schiffels zunächst Lucács an, tatsächlich ein Held der Mitte – dieser aber entspringe selbst gerade nicht der Geschichte, sondern verkörpere eine ahistorische, streng fiktive Figur. Bereits im Gesamtwerk Scotts zeige sich, so Schiffels, »daß die ideale Realisation der von Scott entwickelten Erzähltechniken nicht von ihm selbst geleistet worden sei.«13 Damit erteilt Schiffels dem homogenen Gattungsbegriff eine Absage und differenziert unterschiedliche Typen historisch-fiktionaler Texte, die allesamt präzise zu beschreiben seien. Die zentrale und mit Blick auf die metafiktionale Dimension der Gattung in der Gegenwart besonders relevante Schlusserkenntnis Schiffels ist die Einsicht, dass »›Historisches Erzählen‹ sich nicht durch ein signifikantes Quantum ›Geschichte‹ vor anderen epischen Texten auszeichnet, sondern nur durch dessen Thematisierung in Funktion zur Fabel des Erzählens.«14 Dieses Fazit der Studie, das nicht in der Rekonstruktion der vermeintlich historischen Fakten, sondern in der bewussten Thematisierung der Fiktionalisierung der Geschichte die eigentliche Leistung eines historischen Romans begründet sieht, antizipiert die wachsende Auseinandersetzung der literaturwissenschaftlichen Forschung mit dem von Hans Vilmar Geppert erstmals so benannten »anderen historischen Roman«.

Die komparatistisch angelegte Untersuchung Gepperts erscheint 1976 und begründet das eigene Vorgehen einleitend gerade durch die anhaltenden Definitionsprobleme, die bis dato sämtliche Versuche, die Gattung systematisch zu erfassen, kennzeichnen:

Gerade weil man tiefgreifende Unterschiede zwischen verschiedenen historischen Romanen nicht als Konsequenz einer durch jeden von ihnen hindurch laufenden kategorialen Grenze versteht, kommt es zu der eigentümlichen Situation, daß einerseits sozusagen ein offizielles Bild des historischen Romans existiert, andererseits die Einzeluntersuchungen auch da, wo sie diese communis opinio nicht als passend empfinden, niemals dazu übergehen, ›den‹ historischen Roman neu zu definieren.15

In seiner Auseinandersetzung mit gattungstheoretischen Positionen unterstreicht Geppert, dass Scott keineswegs das gültige Modell für ›den‹ historischen Roman liefere, sondern sich inzwischen eine neue Form des historischen Romans etabliert habe. Charakteristikum dieser Gattung sei, so Geppert, die metahistorische Reflexionsleistung der Texte, der es gerade nicht um eine Monumentalisierung der dargestellten Fakten, sondern um die Infragestellung historischer Referenzialität fiktionaler Texte gehe. In dieser »kritischere[n] Funktion der Geschichtsdichtung« erkennt Geppert die eigentliche Voraussetzung der Gattung: »[M]an kann sogar sagen: erst wenn er [Der historische Roman, S.C.] sie mit aufnimmt, erfüllt er seine Möglichkeiten – als Roman.«16 Unter Rückgriff auf das Kommunikationsmodell Roman Jakobsons untersucht Geppert das im historisch-fiktionalen Text kommunizierte Verhältnis von Geschichte und Dichtung und gelangt zu der zentralen Einsicht, dass das Charakteristikum historisch-literarischer Dichtung gerade in der fehlenden Übereinstimmung zwischen Fiktion und Historie zu erkennen sei – ein Phänomen, das er unter den Begriff »Hiatus von Fiktion und Historie« fasst.17 So stellt Geppert etwa mit Blick auf die Henri-Quatre-Romane Heinrich Manns fest, dass hier gezeigt werde, »daß die Bezeichnung eines Ereignisses, das heißt seine Aufnahme in ein kollektives Gedächtnis und seine Konstituierung als Faktum, immer auch bereits Interpretationen enthält.«18 Hier problematisiert er bereits den »Kollektivsingular« Geschichte, der neben den res gestae (den Fakten), immer auch die historia rerum gestarum (die Repräsentation der Fakten) meint und nimmt damit geschichtstheoretische Problematisierungen in der Folge des linguistic turn bereits vorweg.

Das selbstreflexive Potenzial des historischen Romans untersucht 1981 Ina Schabert in ihrer Studie zum historischen Roman in England und Amerika. Sie geht dabei von einer Gattungsdefinition aus, die erneut auf wenig präzise Koordinaten zurückgreift und eine kaum konturierte Bedeutung des Begriffes »historisch« vergegenwärtigt:

Ein Roman gilt als ›historischer Roman‹, wenn er sich auf Geschehen oder Zustände bezieht, die in einer bestimmten, dem Leser bekannten Epoche zu lokalisieren sind. Historisch meint hier demnach ›epochenspezifische, kollektiv vorgewußte Wirklichkeit betreffend‹. Die dazu erforderlichen außerliterarischen Bezugnahmen im Text sind Angaben von Jahreszahlen, mit Zeitangaben gekoppelte geographische Festlegungen, Benennung von Personen, von denen der Leser weiß, daß sie tatsächlich gelebt haben, Hinweise auf authentische Ereignisse. Während identifizierbare Zeit- und Ortsangaben übereinstimmend für das Genre als unerläßlich postuliert werden, kann durchaus in Frage gestellt werden, daß es notwendig ist, historische Personen einzubeziehen. […] Jede der über diese Bestimmung von ›historisch‹ hinausgehende Spezifizierung erweist sich als umstritten.19

Schabert beschäftigt insbesondere die Differenzierung zwischen historischem Roman und Gegenwartsroman, die ihres Erachtens immer dann aufgehoben werde, wenn die Forschung »vom nachzeitigen Standpunkt der eigenen, späteren Rezeptionsphase«20 ausgeht und den Gegenwartsroman in einem solchen Fall als historischen liest. Sie plädiert hingegen für ein Konzept des historischen Romans, das als Zentralmerkmal ein ›nachzeitiges‹ Erzählen (statt einer allein nachzeitigen Rezeption) impliziert. Fehlen Signale eines nachzeitigen Erzählens vollkommen, dann liege, so Schabert, »kein historischer Roman mehr vor, sondern ein fingierter Gegenwartsroman aus einer früheren Epoche.«21 Indem Schabert das Bewusstmachen der nachzeitigen Erzählsituation zum konstitutiven Merkmal der Gattung erklärt, unterstreicht sie die selbstreflexiven Bezüge derselben und grenzt zugleich jene der sogenannten Trivialliteratur vorbehaltenen historischen Romane aus: Der historische Roman ist mit Schabert erst dann ein solcher, wenn er die Historie nicht nur erzählt, sondern die Tatsache, dass er dies tut, offensichtlich macht. Im Anschluss unterbreitet Schabert eine Typologie des historischen Romans, mit deren Hilfe sie zwischen verschiedenen Vertretern der Gattung zu unterscheiden versucht: Zum einen fasst sie darunter die Gruppen an Romanen, in denen das Geschichtsmaterial Personal und Haupthandlung vorgibt – aus story werde darin hier history. Texte, in denen der historische Stoff lediglich einen »Zustands- und Ereignisraum« zur Verfügung stelle, bündelt Schabert unter dem Begriff des »historischen Gesellschaftsromans«. Das dritte von ihr erarbeitete Mikrogenre des historischen Romans meint hingegen solche Texte, in denen das Entdecken und die Vermittlung der Geschichte selbst zum Thema werden und das historische Material häufig »zu multiperspektivischen, oft fragmentarischen und kontradiktorischen Ansichten desorganisiert« werde. Diesen Gattungstyp, von Schabert als »reflektiver historischer Roman« erfasst, sieht sie insbesondere in der englischsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts vertreten – damit antizipiert sie die Diagnose der jüngeren angloamerikanischen Forschung, welche die selbstreflexiven Bezüge des historischen Romans unter dem Begriff der historiographic metafiction einfangen wird.22

Raimund Borgmeier und Bernhard Reitz ziehen in ihrem 1984 erschienenen Herausgeberband zum angloamerikanischen historischen Roman des 19. Jahrhunderts die »Brauchbarkeit« der von Schabert vorgeschlagenen Typologie hinsichtlich daraus resultierender Zuordnungsmöglichkeiten in Frage, obgleich sie, ihr folgend, das nachzeitige Erzählmoment ebenfalls zum Charakteristikum der Gattung erklären und diese vom Gegenwartsroman trennen.23 Tatsächlich verzichten die Autoren bewusst darauf, eine neue Typologie zu entwerfen und bestätigen damit ihre eigene einleitend aufgestellte Beobachtung: »Jedermann weiß, was ein historischer Roman ist, ihn zu definieren wird aber dadurch offensichtlich nicht leichter.«24 Vielmehr entscheiden sich Borgmeier und Reitz, die divergierenden Merkmale, denen die Gattung mit Blick auf die unterschiedlichen Zeiten, von und in denen sie erzählt, unterworfen ist, näher zu beleuchten. Mit Blick auf die in der vorliegenden Untersuchung zu diskutierenden Texte erweisen sich die Überlegungen der Anglisten als vorausschauend, wenn sie, damit bleiben sie eine Ausnahme, einerseits die Gattung und andererseits den Geschichtsbegriff in seinem diskursiven Verlauf parallelisieren und zu dem Ergebnis kommen, dass »Zweifel an den Möglichkeiten und der Bedeutung historischer Aussagen auch auf den historischen Roman übergreifen müssen«.25 Die viel zitierte literaturwissenschaftliche Kritik an der Gattung, die sich vermeintlich an der Grenze zum Trivialen bewege und die Autonomie des literarischen Textes untergrabe, wird von Borgmeier/Reitz nicht wiederholt, sondern aus Sicht der Geschichtswissenschaft neu formuliert. Deren Einwände hätten sich, so weisen die Autoren nach, lange Zeit auf ein vermeintlich vorschnell konstatiertes Verwandtschaftsverhältnis zwischen Historiografie und Literatur bezogen. Inzwischen aber lasse sich eine Entschärfung geschichtswissenschaftlicher Kritik feststellen, die Borgmeier/Reitz zu Recht mit einem veränderten Begriff der Geschichte begründen. Spätestens mit Collingwoods »bahnbrechende[r]« Studie The idea of History (1946), welche die Subjektivität des Historikers in den Vordergrund stellt und seine Arbeit als »eine vielfältig bedingte schöpferische und imaginative Leistung« bewertet, seien Literatur und Geschichte durch die Vorstellung der kreativen, beinahe poetischen Arbeit des Historiografen neu zusammengerückt. Im unübersehbaren »Status- und Prestigeverlust« der Geschichte wie der Geschichtswissenschaft, verantwortet durch die von Hayden White und seinen Nachfolgern aufgeworfene Diskussion um die Narrativität der Geschichte, erkennen die Autoren eine Chance für die Gattung des historischen Romans, da diese »als fiktionale Literatur von sich aus zu einer subjektiv gesetzten, nur relativ gültigen Darstellung der Vergangenheit« tendiere.26

Dass ungeachtet dieser frühzeitig formulierten Sensibilisierung für die metafiktionalen und selbstreferenziellen Implikationen des historischen Romans sowie der (durch Borgmeier/Reitz formulierten) Parallelisierung eines angreifbar gewordenen Geschichtsbegriffs mit literarischen Texten die germanistische Forschung immer wieder hinter eigentlich schon aufgestellte Standards zurückfällt, zeigen Studien wie die 1986 erschienene englischsprachige Untersuchung von Bruce Broermann The german historical in exile after 1933. Broermann ignoriert die Ansätze der Forschung, die Gattung nicht allein über ihre historischen Inhalte zu definieren, wenn er feststellt: »The term ›historical novel‹ refers traditionally only to content.«27 Dem Untertitel seiner Studie Calliope contra clio folgend reduziert Broermann die Forschungsdiskussion auf Versuche, die Gattung entweder der Poesie (Kalliope) oder der Historiografie (Clio) zuzuschreiben und warnt davor, den historischen Roman fälschlicherweise als Werkzeug der Geschichtsschreibung zu verstehen.28 So richtig diese Prämisse auch ist, lässt sie sich im Hinblick auf die von der angloamerikanischen Forschung bereits erarbeiteten Ergebnisse von einem überholten Gattungsbegriff leiten.

Einem eindeutigen Gattungsbegriff verweigert sich auch Richard Humphreys englischsprachige Untersuchung der historischen Romane Alexis’, Fontanes und Döblins The historical novel as philosophy of history (1986). Diese liefert anstelle einer konkreten Gattungsdefinition zunächst einen Überblick über die gesamteuropäische Gattungsgeschichte, um im Anschluss daran festzustellen:

The shortest appropriate answer to the question, ›What is an historical novel?‹ is that an historical novel is a novel which so resembles the above family of historical novels that it makes sense to describe it in those terms rather than in others.29

Eine Gattung schlicht aus der Tradition der Gattung zu erklären, erweist sich jedoch als problematisch, zumal der von Humphrey erarbeitete gattungshistorische Überblick von einer recht begrenzten Textauswahl ausgeht, die mit Blick auf andere, von Humphrey nicht berücksichtigte Gattungsvertreter in Frage gestellt werden könnte. Desweiteren vergibt Humphrey mit seiner Begriffsbestimmung die Möglichkeit, die Gattung des Romans ausgehend von aktuellen geschichtstheoretischen, -philosophischen oder auch literarischen Modellen neu zu denken.

Wie sehr die deutschsprachige Gattungstheorie hinter den Ergebnissen oben dargestellter angloamerikanistischen Untersuchungen zurückbleibt, stellt Harro Müller in seiner 1988 erschienenen Studie zum deutschsprachigen historischen Roman des 20. Jahrhunderts heraus: Darin skizziert er einleitend die »Legitimationsnöte«, denen sich der historische Roman ausgesetzt sehe, und betont das Unbehagen der Forschung angesichts einer Gattung, die einen zweifelhaften Literaturbegriff besetze:

Den Hauptvorwurf kann man vielleicht so pointieren: Der historische Roman sei eine Zwittergattung von trauriger Gestalt. Die ganze Gattung bleibe hinter dem ästhetischen Autonomie-Postulat zurück, weil sie ästhetikfernes – referentialisierbares Material benutzen muß und auf ästhetikexterne – praktische, politische – Effekte beim Leser schiele. Der historische Roman vermenge auf unselige Weise wissenschaftlichen und literarischen Diskurs, sei ein didaktisch angelegtes, auf Unterhaltungseffekte kalkulierendes Verdopplungsunternehmen zum Transport von Erkenntnissen, die im wissenschaftlichen Diskurs besser und valider vermittelt werden könnten. Das Motto dieser Gattung: Kleine Didaktik für kleine Menschen oder wie sage ich es meinem Kinde! 30

Die hier gesammelten stereotypen Vorstellungen von der Gattung verweisen auf einen deutschsprachigen Forschungskonsens, der den historischen Roman noch immer auf seine geschichtsvermittelnde Funktion, mithin auf ein Instrument der Historiografie reduziert: Das etwa von Schabert und Geppert herausgestellte Reflexionspotenzial zahlreicher früh erschienener historisch-fiktionaler Texte bleibt hier unberücksichtigt. Müller verteidigt die Gattung gegen Vorbehalte, welche die komparatistische Gattungstheorie eigentlich schon ausgeräumt hat, wenn er unterstreicht, dass es dem historischen Roman weder um ein historisches »So-ist-es-eigentlich-gewesen« noch um die schlichte Vergegenwärtigung »aktueller Erfahrungsmomente des Autors« gehe.31 Ganz richtig stellt Müller fest, dass es die literarische Qualität des historischen Romans seit 1800 gerade ausmache, auf die Kategorie der »Potenzialität« zurückgreifen zu können, Geschichte also nicht nur zu re- sondern erst zu konstruieren und den Konstruktionscharakter der Geschichte dabei durch bestimmte ästhetische Verfahren sichtbar zu machen. Geppert analog unterscheidet Müller zwischen einem »traditionellen historischen Roman«, dem es um die Darstellung historischer Einheit gehe, und einem Textmodell, in dem die Einheit der Geschichte nachhaltig gestört und sie durch »Akzentuierung von reflexiven, metahistorischen Verfahren« in ihren Konstruktionsmechanismen offen gelegt werde.32 Diesen eben auch ›anderen‹ historischen Roman sucht Müller historisch zu verorten und sieht ihn insbesondere im 20. Jahrhundert vertreten, was er im Folgenden anhand exemplarischer Analysen (zu Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Alfred Döblin und Alexander Kluge) nachzuweisen sucht. Ungeachtet seiner Bemühungen um einen Gattungsbegriff, der die ästhetischen, dezidiert literarischen Möglichkeiten des historischen Romans stärker bewertet als dessen vermeintliches Bemühen, historisches Wissen zuverlässig zu vermitteln, verknüpft Müller in seiner Studie seine Thesen noch nicht mit der zeitgleich stattfindenden Debatte um narrative Verfahren der Historiografie bzw. die »Poetik der Geschichte«. Diese aber weitet Einsichten der literaturwissenschaftlichen Forschung entscheidend aus, indem sie nicht allein den Konstruktionsprozessen fiktionalisierter, sondern jeder narrativ vermittelten Geschichte nachgeht.

Aus den Veröffentlichungen zum historischen Roman im Anschluss an das von Geppert vorgeschlagene Modell des »anderen historischen Romans« sticht Michael Limleis 1988 veröffentlichte Dissertation zum deutschen historischen Roman zwischen 1820 und 1890 hervor, da er explizite Kritik an Gepperts Hiatus-Modell als zentralem Gattungsmerkmal übt. Dieses ist nach Limlei keineswegs gattungsspezifisch für den historischen Roman, sondern – hier greift Limlei auf die Theorien Ingardens und Barthes’ zurück – für fiktives Erzählen grundsätzlich:

Nicht das polare Nebeneinander von Historie und Dichtung, sondern die spezifische Vermittlungsabsicht zwischen geschichtlicher Welt und individualisiertem Entwurf; nicht der Hiatus zwischen Realität und Fiktion, sondern die wie immer problematische Absicht ihrer Verschränkung innerhalb eines dynamischen und zielgerichteten Handlungsverlaufs, können als signifikante Besonderheiten des historischen Erzählens bezeichnet werden.33

In seinem ausführlichen Überblick über die Gattung im 19. Jahrhundert fühlt Limlei sich folglich weniger den Ergebnissen der jüngeren Forschung als vielmehr der Studie Lukács’ verpflichtet, wenngleich er dessen literaturpolitische Zielsetzung nicht teilt. Mit Lukács und unter Rückgriff auf das ästhetische Modell Jan Mukarosvkys begreift Limlei Literatur als genuin referenziellen Text, der »in mehrfacher Hinsicht an eine außerhalb des Werks gegebene Realität gebunden« sei; mit anderen Worten: »[…] jeder literarische Text besteht aus nichts anderem als ›historischem Material‹.«34 Im Vergleich zu seinen Vorgängern befreit Limlei den literarischen Text damit nicht von einer lediglich auf Referenzialität abzielenden Wirkungsintention, sondern schreibt sie ihm als Charakteristikum ein: »In der Vermittlungsabsicht des historischen Romans, Historie und Dichtung ineinander aufgehen zu lassen, steckt eine Aussage über die historische und mittelbar über die eigene gesellschaftliche Wirklichkeit.«35 Insgesamt kann Limleis Versuch einer Neuorientierung der Gattung nicht überzeugen – er bleibt in seinen Definitionsversuchen weit hinter dem sowohl selbstreferenziellen wie auch gattungspoetologischen Potenzial zurück, welches die Auseinandersetzung mit dem »anderen historischen Roman« aufdecken konnte. Wenn Limlei als die eigentliche Gattungsbesonderheit des historischen Romans ausmacht, »daß er sie [die Geschichte, S.C.] als einziges und unübersteigbares Feld der Bewährung für die handelnden Figuren und die von ihnen vertretenen Werte, Prinzipien und Zielsetzungen darstellt und in seine Struktur aufnimmt«,36 dann lässt sich das spätestens für jene Texte der Gegenwart, die in der vorliegenden Untersuchung in den Blick genommen werden, nicht mehr halten.

Limleis Position erweist sich mit Blick auf die sich anschließende Forschung als nicht nachhaltig. Entsprechend stellt Gerhard Kebbel in seiner 1992 veröffentlichten Dissertation zur Poetik des historischen Romans fest, dass nach der durch Gepperts Studie evozierten Zäsur keine »innovativen Forschungsergebnisse« mehr vorgelegt werden konnten.37 Blickt man auf dazwischen liegende Veröffentlichungen, wie etwa David Roberts Herausgeberband zum deutschen historischen Roman,38 zeigt sich, dass Kebbels Urteil berechtigt ist und sich das Fortschreiben der Gattungsgeschichte zumeist in einem Positionierungsversuch zwischen den konträren Ansätzen Lukács’ und Gepperts erschöpft. Im Gegensatz zu Limlei bekräftigt Kebbel die durch Gepperts Modell des anderen historischen Romans für die Forschung erbrachte Innovationsleistung und sieht die zentrale Problematik der Gattung »mit der Differenz zwischen den Kategorien des Historischen und des Fiktiven« hinlänglich bestimmt.39 Unter Rückgriff auf dekonstruktive Lektüremodelle schlägt Kebbel eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit historischen Romanen vor, der es gerade nicht darum geht, den Gegensatz von Hiatus und Fiktion in seiner narrativen Verarbeitung aufzuschlüsseln, sondern diesen als grundsätzliches der Gattung eingeschriebenes Paradoxon aufzufassen. Die Konfrontation von fiktionalem und historischem Wissen entstehe, weil der historische Roman mit Elementen aus einem außerliterarischen Kontext arbeite, »zu denen der grundsätzliche Konsens best[ünde], daß sie vergangene Wirklichkeit wahrheitsgetreu schildern: eben der Geschichtsschreibung.«40 Mit seiner Gegenüberstellung von fiktionalen literarischen und authentischen, wirklichkeitsabbildenden historischen Texten ignoriert Kebbel die Diskussionen um die Konstruktion der Geschichte nicht erst im literarischen Text, sondern im Medium des Narrativen grundsätzlich. Gerade diese Debatten erschüttern den Begriff der Geschichte in der Folge des linguistic turn nachhaltig – und ziehen Termini wie »Wahrheitstreue« für historiografische Texte bereits in Zweifel. Dessen ungeachtet strebt Kebbel in seiner Studie eine dekonstruktive Lektüre historisch-fiktionaler Texte an, deren Ziel es sein müsse, »zu zeigen, an welchen Stellen im System des Textes die spezifische Form der Geschichtserzählung sich gegen sich selbst wendet und so das immer schon vorhandene Paradoxon akzentuiert.«41 Letztlich entspricht diese Leitfrage eben jener, mit der bereits Geppert an das Modell des »anderen« historischen Romans herangetreten war. Auf diese gattungsimmanente Differenzierung aber verzichtet Kebbel bewusst, da die selbstreferenzielle Problematisierung der Opposition von Fakt und Fiktion sämtlichen Texten inhärent und es damit Aufgabe der dekonstruktiven Lektüre sei, diese herauszufiltern. Entsprechend meint der Lektüreprozess bei Kebbel immer auch die Auseinandersetzung mit bereits stattgefundenen Textlektüren, welche eine »Rezeptionsgeschichte als eine Geschichte der misreadings« begründen soll.42 Auf das Problem einer Lektüre im Zeichen der Dekonstruktion muss Kebbel jedoch selbst hinweisen: »Die Dekonstruktion kann den Prozeß des Mißverstehens nicht beenden: Sie kann ihn nur über die Reflexion zu einem anderen Status im kritischen Bewußtsein verhelfen.«43 Neben diesem methodologischen Problem, das Kebbel stellvertretend für jede dekonstruktivistische Auseinandersetzung mit Texten formuliert, macht es seine reduzierte und kaum systematische Auswahl an Primärtexten (die sich auf Romane Scotts, Brechts und Pynchons beschränkt) unmöglich, über die jeweils spezifische Textpoetik hinaus tatsächlich repräsentative Aussagen für die gesamte Gattungsgeschichte zu formulieren. Hier liegt wohl der entscheidende Grund für die nur marginale Wirkungskraft des von Kebbel vorgeschlagenen Lektüremodells.

Mit Hermann J. Sottongs Studie zum historischen Erzählen von der Goethezeit zum Realismus erscheint 1992 eine Arbeit, die zunächst harsche Kritik an der bis dahin erschienenen Forschungsliteratur übt.44 Diese bezieht sich insbesondere auf die zu dominante Rolle, die den Romanen Scotts im Bemühen die Gattung zu bestimmen eingeräumt wurde. Damit ignoriert Sottong allerdings die Versuche der Forschung, Scotts Einfluss auf Form und Aussehen der Gattung zu relativieren, wie sie von Geppert, Reitemeier und Kebbel unternommen wurden. Hier zeigt sich im Übrigen, dass die Dominanz der Scott’schen Vorlage nicht allein in der literarischen Wirkungsgeschichte seiner Texte, sondern auch in einer Gattungsforschung begründet liegt, die nicht müde wird, die Vorreiterrolle des Schotten im Kontext der Gattungsgeschichte und -entwicklung zu betonen.

Sottong strebt seinerseits eine Revision der Gattungsdefinition an, indem er diese als »kulturrelativ« begreift und sie ausgehend von der Analyse einzelner Texte und epochenspezifisch zu schärfen versucht. Vor diesem Hintergrund gelangt er zu einer Definition des Genre »Historisches Erzählen« (das hier das historisch-fiktionale Erzählen meint), das drei Bedingungen erfüllen müsse: 1. Die dargestellten Ereignisse müssen in der Vergangenheit liegen, wobei der Erzählabstand zum dargestellten Zeitraum nicht generalisierend festzulegen, sondern abhängig »vom Denksystem derjenigen Kultur« sei, in welcher der historisch-fiktionale Text entstehe. Die auf Scotts Waverley zurückgehende Vorgabe von sechzig Jahren verweist mit Sottong auf das spezifische Geschichtsverständnis Scotts, nicht aber auf eine die Gattung dominierende Norm.452. Der Text müsse die aus der nachzeitigen Erzählsituation resultierenden historischen Unterschiede zwischen dargestellter und zeitgenössischer Kultur explizit machen, da nicht jeder Text, der in der Vergangenheit spiele, automatisch zum »historischen Erzählen« gehöre.463. Der Text müsse »implizite oder explizite geschichtstheoretische Aussagen« beinhalten. Geschichtstheoretisch nennt Sottong jene Äußerungen, die in historisch-fiktionalen Texten den Geschichtsbegriff, seine Entwicklung und seinen Fortschritt selbst verhandeln und damit »Erklärungsangebote für die innere Logik geschichtlicher Abläufe (im allgemeinen und/oder besonderen« unterbreiten.47 So ambitioniert Sottongs Bemühen um eine präzise Bestimmung historisch-fiktionalen Erzählens aus den Texten einer Epoche heraus auch ausfällt und so richtig sein Urteil über den recht unergiebigen »literarischen Dauerstreit«48 über den Gattungsbegriff anmutet, der in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Beschäftigung mit den Texten selbst stünde: Letztlich fällt auch Sottongs eigener Definitionsversuch hinter die Ergebnisse einer Forschung zurück, die in ihrer Auseinandersetzung mit dem ›anderen‹ historischen Roman bereits auf die selbstreferenziellen Bezüge und autoreflexiven Implikationen historisch fiktionaler Texte hingewiesen hatte, welche für die Entwicklung der Gattung maßgeblich sind.

Bei der Dissertation Ralph Kohpeiß’, veröffentlicht 1992, handelt es sich um einige der wenigen und zugleich jüngsten Studien zum deutschsprachigen historischen Roman der Gegenwart. Diesen sucht Kohpeiß zunächst in einem knappen Überblick über die Literatur nach 1945 und schließlich durch exemplarische Einzelanalysen zu Texten zwischen 1979 und 1989 zu erfassen. Er schlägt eine Gattungsdefinition vor, die als zentrale Elemente eines »definitorischen Minimalkonsens’« Fiktionalität, ästhetische Verfasstheit sowie historische Referenz festhält und zu einem pragmatischen Bestimmungsversuch führt:

Der historische Roman ist ein Sprachkunstwerk, dessen Spezifikum darin liegt, daß es historisch authentische Personen und/oder Tatsachen in einen literarisch-fiktionalen Rahmen integriert.49

Als Fazit aus seiner Betrachtung stellt Kohpeiß für den historischen Roman der Gegenwart einen »gegenwartsorientierte[n], kritisch-aufklärerischen[n] Umgang mit der Historie« fest, »der sich der spezifischen Probleme des historischen Erzählens bewußt bleibt«.50 Problematisch, zumindest aber nicht zutreffend hinsichtlich der Gattungsentwicklung im 21. Jahrhundert bleibt Kohpeiß’ Befund, dass die Geschichte »in einigen Texten auf die Funktion eines Ambientes reduziert oder aufs Formelhafte verkürzt« werde und eine Auseinandersetzung mit – bzw. eine Gestaltung von Geschichte weitgehend ausbleibe.51 Tatsächlich lassen sich gerade die Reduktion historischer Daten sowie die von Kohpeiß konstatierte komplexe Erzählhaltung, die Muster traditionellen Erzählens sprenge, keineswegs als bloße Marginalisierung der Historie deuten. Vielmehr sind sie auch als Signale einer bewussten Problematisierung historischen Wissens und historischer Erkenntnis im Medium der Literatur zu verstehen. Die selbstreferenzielle Bezugnahme historisch-fiktionaler Texte auf den eigenen Umgang mit der Geschichte, mithin die Thematisierung geschichtsstiftender narrativer Prozesse blendet Kohpeiß’ Studie aus – auch, weil sie sich von zeitgenössischen geschichtstheoretischen Diskursen relativ unbeeindruckt zeigt. Unerwähnt bleibt etwa Hayden Whites einflussreiche Studie Metahistory, die bereits in den 1980er Jahren nicht nur das geschichtswissenschaftliche Selbstverständnis neu ausrichtet, sondern zu einer theoretischen Problematisierung des Geschichtsbegriffs führt, wie sie seither Eingang in sämtliche Formen narrativer Geschichtsmodelle, darunter auch in die von der Geschichte erzählende fiktionale Literatur, findet.

Die aktuellste epochenübergreifende Einführung in den spezifisch deutschsprachigen historischen Roman verdankt sich Hugo Aust und seiner 1994 veröffentlichten Studie zur Gattung, die neben einem literaturhistorischen Überblick auch einen raumgreifenden Forschungsüberblick bietet. Einer engen Gattungsdefinition verweigert sich Aust, der einleitend feststellt: »Was ein historischer Roman ist, ändert sich mit dem, was ›Geschichte‹ bedeutet und Erzählkunst vermag.«52 In der Folge beschränkt er sich darauf, die »Geschichtssignale« aufzulisten, die historische Romane »für gewöhnlich« implizieren. Dazu gehören mit Aust etwa historische Daten, Figuren und häufig eine »temporale Individualisierung von Sprache«, die darum bemüht bleibt, die Figuren im historischen Gewand sprechen zu lassen. Darüber hinaus begegne, insbesondere bei Autoren des 19., aber auch noch des 20. Jahrhunderts, ein Erzählervorwort, das die Nachzeitigkeit des Erzählvorgangs zum Erzählten sichtbar mache und zuweilen das seriöse historische Bestreben der erzählenden Figur unterstreiche. Typischerweise werde der historische Roman dabei mit einem ersten Satz eingeleitet, der durch Angabe eines Datums, eines genauen Ortes, historischer Figuren etc. »das Licht im Geschichtsraum« entzündet und bemüht ist, »eine Brücke zwischen Gegebenem und Erfundenem zu schlagen und so den Daten eine poetische Funktion zu verleihen.«53 Eine ähnliche Tendenz lässt sich mit Aust für das Romanende feststellen, das den Spannungsbogen an den Anfang zurückbindet und damit ein kohärentes historisch-fiktionales Erzählen ermöglicht. Dem Vorbild Scotts eifern, so zeigt Aust an einigen Beispielen vorrangig aus dem 19. Jahrhundert, jene Autoren nach, die ihre Texte mit Anmerkungen und Fußnoten versehen und dadurch Faktentreue und einen wissenschaftlichen Anspruch simulieren, der sich die hybride Anlage der Gattung, dieses »episch-wissenschaftlichen Zwitters« verdankt.54 Hinsichtlich der im historischen Roman (mit Aust auch Geschichtsroman) erzählten Handlung finden sich, so Aust weiter, häufig politische Handlungen der realen Vergangenheit, die mit privaten Handlungen einer fiktiven Geschichte kombiniert werden: »Geschichte wird dadurch zum Integral unterschiedlicher ›Werte‹, sie gewinnt ihre konkrete Position im Koordinatenraum von Historischem, Ahistorischem und Fiktivem.«55 Insgesamt zeigt sich Austs Studie bemüht, die Gattung nicht auf eine allzu enge Begriffsdefinition zu reduzieren. Entsprechend führt er verschiedene Formen des historischen Romans an, die insgesamt das Bild der Gattung bestimmen und dabei nur schwerlich klar zu differenzieren sind. Dazu gehören etwa der Zeit- und Familienroman, die Familienchronik, die Autobiografie und die Memoirenliteratur, die sich mit Aust allesamt als Varianten der Gattungsgeschichte deuten lassen. Darüber hinaus unterscheidet er zwischen historischem »Vielheitsroman« und historischem »Individualroman«, der im Gegensatz zu ersterem näher an die biografische Form rücke. Entscheidend mit Blick auf die Gegenwart der Gattung erweist sich Austs Differenzierung von »rekonstruktivem« und »parabolischem« historischen Roman, die er selbst an die von Geppert eingeführte Unterscheidung zwischen »üblichem« und »anderem« historischen Roman anlehnt. Während es der rekonstruktiven Variante der Gattung um eine »möglichst authentische Wiederherstellung einer früheren geschichtlichen Person, Epoche oder Welt« gehe, inszeniere der parabolische Roman Geschichte auch als »Spiegel für die Gegenwart« und sei keineswegs um ein harmonisches ineinander Aufgehen von Fiktion und Historie bemüht, sondern demonstriere vielmehr ausgeprägte desillusionistische Tendenzen.56

In Austs Zusammenfassung des Forschungsstands zur Gattung57 bestätigen sich jene Tendenzen, die auch der vorliegende Forschungsüberblick bislang offen legen konnte: Die Produktion historisch-fiktionaler Literatur zwischen 1780 und 1945 ist hinlänglich dargestellt und bibliografisch erfasst worden, nicht zuletzt durch das vom österreichischen Forschungsfonds FWF geförderte und am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck in den Jahren 1991 bis 1997 durchgeführte Projekt zum deutschsprachigen historischen Roman. Im Kontext dieses quantitativ orientierten Projekts wurde eine Datenbank mit einer vollständigen Bibliografie des historischen Romans online gestellt, die ca. 6300 Titel aufführt.58 Zur Gattungstheorie können die Ergebnisse des Projekts kaum beitragen, lautet sein erklärtes Ziel doch, den deutschsprachigen historischen Roman von 1780 bis 1945 möglichst vollständig bibliografisch zu erschließen, um damit eine »sozialhistorisch und literatursoziologisch fundierte Gattungsgeschichte zu verfassen, die nicht nur den gängigen Kanon der bekannten historischen Romane sondern die ganze Breite des Genres berücksichtigt«.59 Angesichts der oben beschriebenen, mitunter kontroversen Bestimmungsversuche der Gattung erstaunt die äußerst pragmatische Definition, die das Projekt dem von ihm verwendeten Gattungsbegriff zugrunde legt. Eine entsprechende Kurzvorstellung verweist auf gängige Definitionen der Gattung Roman sowie auf die vermeintlich »anerkannte« Definition der Anglistin Ina Schabert, wonach »die Romanhandlung nicht ›Selbsterlebtes und Erinnertes‹ enthalten dürfe.«60 Darüber hinaus führt das Projekt all jene Texte auf, die sich selbst im Titel als »historische Romane« oder »Geschichtsromane« bezeichnen. Eine nicht unbedingt ausführlichere, aber zumindest etwas präzisere Definition findet sich in dem von Günter Mühlberger und Kurt Habitzel verfassten Beitrag, der die Ergebnisse des Projekts und die Verwendung der Datenbank erläutert.61 Einleitend räumen die Autoren zwar ein: »The question of what a historical novel really is remains debatable.«, plädieren im Anschluss aber für eine pragmatische Definition, welche ihres Erachtens für die bibliografische Recherche die einzig sinnvolle ist. So gelangen sie zu folgender Kurzdefinition: »A historical novel is a work of prose fiction of at least 150 pages, set, for the most part, in a time before the author’s birth.«62 Ausgehend von dieser Minimaldefinition wurden im untersuchten Zeitraum 6300 Romane gefunden und in die online zur Verfügung gestellte Datenbank aufgenommen. Fällt das Projekt mit seiner unspezifischen Gattungsdefinition aus gattungstheoretischer Perspektive weit hinter die Differenzierungen der Forschung zurück, so sensibilisiert der raumgreifende Überblick dennoch für einige Beobachtungen, die bislang vernachlässigt wurden. Tatsächlich besteht das eigentliche Ziel des Forschungsvorhabens nicht in einer erneuten Problematisierung der Gattung als vielmehr in dem Erstellen einer Bibliografie und dem Sammeln wichtiger sozialhistorischer Daten zur Produktion, Distribution und Rezeption der historischen Romane, die anschließend mittels eines Statistik-Programms ausgewertet und interpretiert wurden. Die in dem Zusammenhang erstellten Diagramme vergegenwärtigen exemplarisch den Mehrwert quantitativer Gattungsanalysen und zeigen, dass entgegen häufiger Forschungsmeinungen die Produktion historischer Romane gemäß der vorausgesetzten Gattungsdefinition deutlich vor der Erfolgswelle der Scott’schen Romane einsetzt, wenngleich ein erster Höhepunkt sichtbar erst in den 1820er Jahren erreicht wird.63 In Bezug auf den historischen Roman der Gegenwart begnügen sich Mühlberger und Habitzel mit einem kurzen Ausblick vorrangig auf die 80er Jahre und auf Veröffentlichungen wie Sten Nadolnys Entdeckung der Langsamkeit (1983), Patrick Süskinds Das Parfum (1985) oder Christoph Ransmayrs Die letzte Welt (1988). Eine Differenzierung zwischen traditionellem und ›anderem‹ historischen Roman, zwischen jenen literarischen Modellierungen also, die für das historisch-fiktionale Erzählen der Gegenwart an Relevanz gewinnen, bleibt hingegen ausgespart – das Forschungsdesiderat, das mit Blick auf das Genre für die Jahre nach 1989 besteht, wird dadurch nicht angegangen, sondern vielmehr bestätigt.

Die insgesamt auffallend zurückhaltende Thematisierung historisch-fiktionalen Erzählens in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, sowie im Besonderen nach 1989, lässt sich mit einem noch immer problematischen Gattungsvorverständnis begründen, das sich oftmals unbeeindruckt von den stattgefundenen Differenzierungsversuchen zeigt. Verantwortlich ist zum einen der vermeintlich prekäre, zwischen ernstzunehmender und so genannter Trivialliteratur angesiedelte Standort der Gattung, zum anderen steht das in der Gegenwart kaum noch homogene Erscheinungsbild historisch-fiktionaler Texte dem Ringen um einen eng geführten Gattungsbegriff weiterhin im Weg.

Für eine grundsätzliche Neuausrichtung gattungstheoretischer Überlegungen zum historischen Roman sorgt die 1995 erschienene zweibändige Habilitationsschrift des Angloamerikanisten Ansgar Nünning, wenngleich sie weniger Spuren in germanistischen Auseinandersetzungen als innerhalb der Anglo-Amerikanistik hinterlassen hat. Von entscheidender Relevanz für die vorliegende Untersuchung erweist sich insbesondere der erste Band der Studie, der sich ausgehend von geschichtstheoretischen Diskursen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an einer Typologie und Poetik des historischen Romans versucht, während der zweite Band exemplarische Einzelanalysen zum englischen Roman nach 1950 liefert.64 Entschieden kritisiert Nünning die einseitige Orientierung an dem Vorbild Scotts, das zu »willkürlicher Ausgrenzung anderer Formen der Geschichtsdarstellung« in Romanen geführt habe und benennt die zentrale Problematik der Gattung, die allem voran in einem Missverhältnis zwischen einer landläufig etablierten Vorstellung der Gattung und ihren gegenwärtig tatsächlich konstitutiven Merkmalen liege.65 Die grundlegende Forderung Nünnings besteht darin, jeder Form der Auseinandersetzung mit historisch-fiktionalen Texten eine Untersuchung dessen, »was jeweils als ›Geschichte‹ angesehen wird«, vorauszuschicken und dabei den Konstruktionscharakter nicht nur der fiktionalisierten Geschichte zu berücksichtigen, sondern der Geschichte als narrativ repräsentiertem und damit immer auch schon gedeutetem Geschehen der Vergangenheit.66 Folglich plädiert Nünning für einen gattungstheoretischen Ansatz, der zum einen geschichtstheoretische Diskurse und zum anderen die narrativen Techniken, mithilfe derer Geschichte erzählt wird, in den Blick nimmt – alternativ zur Bezeichnung »historischer Roman« schlägt er entsprechend die Kategorie »Vermittlungsformen narrativ-fiktionaler Geschichtsdarstellung« vor.67 Vor diesem Hintergrund skizziert Nünning nun eine Skala, die eine Differenzierung historisch-fiktionaler Texte im Hinblick auf ihren Zeitbezug, die verschiedenen Formen und Ebenen der Geschichtsvermittlung und schließlich auf das Verhältnis des fiktionalen Geschichtsmodells zum Wissen der Geschichtsschreibung erlaubt. Am Anfang der Skala siedelt Nünning jene Texte an, die bislang mit dem Begriff des ›traditionellen‹ historischen Romans erfasst wurden, deren dominanten Referenzbereich die historisch verbürgten Fakten bilden und deren Geschichtsdarstellung sich vorrangig auf die diegetische Kommunikationsebene beschränkt.68 Dieser Variante oppositionell gegenüber befinden sich historische Romane, die durch starke selbstreferenzielle Implikationen die extradiegetische Kommunikationsebene, fiktionale sowie metafiktionale Elemente stärker in den Text einbringen als das historische Geschehen, auf das sie sich beziehen. Der eigentliche Referenzbereich ist hier nicht mehr die vermeintlich verbürgte Vergangenheit, sondern Diskurse und Prozesse der Geschichtstheorie und der Historiografie selbst. Insgesamt gelangt Nünning so zu einer Typologie des historischen Romans, die von fünf Varianten ausgeht, welche sich auf der von ihm entworfenen Skala einordnen lassen. Am Beginn derselben befinden sich der dokumentarische historische und der realistische historische Roman, in der Mitte siedelt sich der revisionistische historische Roman an, und schließlich folgen der metahistorische Roman sowie die historiografische Metafiktion. Offenbar ordnet Nünning die ersten beiden Subtypen noch dem ›traditionellen‹ historischen Roman zu, während die Varianten 3–5 bereits Spielarten des ›anderen‹ historischen Romans in der Nachfolge Gepperts darstellen.69 Dessen innovative und nicht unbedingt homogene Erscheinungsformen erarbeitet Nünning am Beispiel englischer Literatur im zweiten Teil seiner Studie. Den Begriff der historiografischen Metafktion übernimmt Nünning von der kanadischen Literaturtheoretikern Linda Hutcheon, die ihn wie folgt definiert:

By this I mean those well-known and popular novels which are both intensely self-reflexiv and yet claim to historical events and personages. […] its theoretical self-awareness of history and fiction as human constructs (historiographic metafiction) is made the grounds for its rethinking and reworking of the forns and contents of the past.70

Der Begriff der »Metafiktion« im Kontext historischen und historiografischen Erzählens avancierte in der anglo-amerikanistischen Forschung rasch zum einflussreichen Schlagwort, das wie in Nünnings Habilitationsschrift insbesondere unter Bezugnahme auf den historischen Roman weiterentwickelt wurde. Ohne die Nünning’sche Kategorisierung zwangsläufig mit sämtlichen ihrer Varianten zu übernehmen,71 fühlt sich die vorliegende Studie dennoch seiner grundlegenden Prämisse verpflichtet, den literaturwissenschaftlichen Blick auf die Gattung des historischen Romans vom »Was« (dem historischen Referenzbereich) auf das »Wie« (den narrativen Prozess der Geschichtsvermittlung) zu verlagern und die einzelnen Texte dabei auch als Aussagen über das zu ihrer Entstehungszeit herrschende Geschichtsbewusstsein zu verstehen.

An der Schwelle zum 21. Jahrhundert hat sich der historische Roman weit entfernt von den Anfängen der Gattung, den Romanen Walter Scotts oder den geschichtsvermittelnden historisch-fiktionalen Texten des 19. Jahrhunderts. Entsprechend konstatiert Hugo Aust in seinem 2004 erschienenen Beitrag zum historischen Roman im 20. Jahrhundert noch einmal die grundlegend veränderte Erscheinungsform der Gattung und stellt fest, dass der historische Roman »zur (produktiven) Infragestellung seiner eigenen Voraussetzungen« geworden sei.72 Nünnings Thesen aufnehmend unterstreicht Aust die metafiktionalen und selbstreflexiven Implikationen des Genres, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu konstitutiven Gattungsmerkmalen avancieren, wobei die Gattungsdefinition mit Aust grundsätzlich erschwert sei, da zum einen nicht jeder historische Roman als solcher angekündigt werde und zum anderen »Romane, die durchaus historische Romane sind, sich ausdrücklich von diesem Gattungstitel distanzieren«.73 Tatsächlich wird an späterer Stelle auf das auffällige Unbehagen zahlreicher Gegenwartsautoren angesichts einer Kategorisierung ihrer eigenen Texte als »historische Romane« eingegangen. (Vgl. Kap. 5.2) Diese Angst fällt umso mehr auf, als sie von einer Konjunktur historischer Themen in der Literatur des ausgehenden 20., insbesondere des beginnenden 21. Jahrhunderts begleitet wird. Mit Aust bleibt es eine besondere Leistung des historischen Romans im Verlauf des 20. Jahrhunderts, Instrumente der Geschichtskonstruktion, des historischen Wissenserwerbs und nicht zuletzt der Erinnerungsarbeit offenzulegen: »Erinnerung und Vergessen – sie durchziehen den Geschichtsroman des zwanzigsten Jahrhunderts von Anfang bis Ende.«74 Mit dem von Aust aufgeworfenen Erinnerungsdiskurs ist eines der Leittopoi historisch-fiktionaler Texte um die Jahrtausendwende angesprochen: Es wird sich im Verlauf der literarischen Analysen zeigen, dass historische Romane der unmittelbaren Gegenwart nicht nur unterschiedlichste Formen von Erinnerung und Gedächtnis thematisieren, sondern dabei zugleich das mitunter problematische Verwandtschaftsverhältnis von Geschichte und Erinnerung diskutieren.

Dass sich der historische Roman der Gegenwart entscheidend von seinen Vorläufern im 19. Jahrhundert abgrenzt, dokumentiert die 2007 erschienene komparatistische Untersuchung Barbara Potthasts zum historischen Roman des 19. Jahrhunderts.75 Potthast zeigt, wie in Romanen des 19. Jahrhunderts ein Geschichtsbegriff verhandelt wird, der die Fakten der Vergangenheit sowie den Auftrag des literarischen Textes, diese authentisch abzubilden, ernst nimmt. Die Gattung sei, so stellt Potthast heraus, hier noch einer unbedingten »Wirklichkeitsnähe« verpflichtet, welche sich etwa in den Romanen Wilhelm Hauffs im dort entwickelten Ideal des »treu poetische[n] Bild des Lebens« stellvertretend wiederfindet.76 Ziel der Gattung im 19. Jahrhundert ist es mit Potthast aber dennoch, Geschichte und Leben miteinander zu verbinden und zugleich eine genuine Verwandtschaft von Historiografie und Literatur zu behaupten – eine Verwandtschaft, die Potthast als Antizipation der Thesen Hayden Whites versteht.77

Mit Martin Neubauers Studie zu Geschichte und Geschichtsbewusstsein im Roman der Jahrtausendwende erscheint 2007 schließlich die bislang aktuellste Monografie zum deutschsprachigen Roman der jüngsten Gegenwart.78 Dass im Titel