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Dieses Buch, verfasst von einem ausgewiesenen Kenner der Landesgeschichte, zeichnet ein lebendiges Porträt des heutigen Niedersachsens und seiner historischen Wurzeln. Eine informative Einführung in die Geschichte des Bundeslandes von seinen Ursprüngen im Mittelalter bis zur Gegenwart. Die regionale Vielfalt Niedersachsens basiert auf historischen Entwicklungen, die bis ins Mittelalter und die Frühe Neuzeit zurückreichen. Schon damals verliefen durch den niedersächsischen Raum wichtige Verbindungswege zwischen den Zentren Europas. Carl-Hans Hauptmeyer zeigt, wie sich heute Vergangenheit und Gegenwart vermischen und porträtiert die erstaunlich wandlungsfähigen ländlichen Räume des Landes ebenso wie seine innovativen Metropolregionen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Carl-Hans Hauptmeyer
GESCHICHTE NIEDERSACHSENS
C.H.Beck
Cover
Inhalt
Textbeginn
Titel
Inhalt
Vorwort zur Neuausgabe
Vorwort zur ersten Auflage
I. Ein junges Bundesland mit Traditionen
1. Niedersachsen heute
2. Niedersachsenbegriff
3. Naturpotenzial
II. Frühzeit bis 1180
1. Ur- und Frühgeschichte
2. Römer und Germanen
3. Frankenreich, Sachsen als Königsland
4. Herren und Bauern
5. Scheitern der welfischen Vormachtstellung
III. 1180–1450
1. Territorialisierung und Fürstenherrschaft
2. Landesausbau und Grundherrschaft
3. Agrardepression und Wüstungsphase
4. Klöster und Stifte
5. Stadtentwicklung und Bürgerfreiheit
6. Rohstoffe und Gewerbe, Verkehr und Handel
IV. 1450–1648
1. Reformation
2. Territorialstaaten, Konflikte und Kriege
3. Grundherrschaft und Bauernschutz
4. Städte, Handel und Gewerbe
5. Renaissance
V. 1648–1815
1. Frühmoderne Staaten
2. Merkantilismus und internationale Wirtschaftsverflechtungen
3. Aufklärung und Emanzipation
4. Beginn der agrarischen Bewegung
5. Ancien Régime und «Franzosenzeit»
VI. 1815–1918
1. Staatliche Restauration
2. Agrarreformen
3. Regionale Industrialisierung
4. Soziale Differenzierung
5. Neugliederung der staatlichen Ordnung
VII. 1918–2024
1. Zwischen Agrar- und Industrieland
2. Kerngebiet nationalsozialistischer Herrschaft
3. Neues Bundesland mit großen Gegensätzen
4. Niedersachsen in der Zeitgeschichte
Karten
Literaturhinweise
Bildnachweis
Personenregister
Zum Buch
Vita
Impressum
16 Jahre sind vergangen, seit das Manuskript der ersten Auflage dieses Buches an den Verlag übergeben wurde. Zum Glück muss die niedersächsische Geschichte nicht neu geschrieben werden. Allerdings gibt es einige moderne Forschungsergebnisse und gewisse Aktualisierungen, die nicht unbeachtet bleiben sollten. Zudem bot der Verlag dankenswerterweise an, die erste Auflage von 2009 zu erweitern und Abbildungen einzubeziehen.
Herzlich danke ich Dr. Sabine Graf (Hannover), Dr. Gerd van den Heuvel (Ronnenberg-Benthe), Dr. Dirk Leder (Hannover), Dr. Henning Steinführer (Braunschweig), Martin Stöber (Hannover) sowie einmal mehr Prof. Dr. Detlef Schmiechen-Ackermann (Hannover). Sorgsam berieten sie mich, was anlässlich der überarbeiteten Neuausgabe zu bedenken sei. In diesen Dank schließe ich zugleich Monika Preuß (Springe-Lüdersen) ein samt denjenigen, die mich bereits bei der Arbeit an der Erstausgabe so sehr hilfreich unterstützt hatten.
Lüdersen, im August 2024
Carl-Hans Hauptmeyer
Das Land Niedersachsen wurde 1946 geschaffen. Die Regionen des Landes hatten sich über Jahrhunderte eigenständig entwickelt, und wichtige Weichen wurden bereits im Mittelalter gestellt. Daher ist auf die Geschichte der Landesteile und auf die vorindustrielle Zeit spezielles Augenmerk zu richten.
Die Anregung zu diesem Buch gab meine hannoversche Universitätskollegin Frau Prof. Dr. Adelheid von Saldern. Vielen Personen habe ich aus den mehr als drei Jahrzehnten meiner Beschäftigung mit niedersächsischer Geschichte zu danken, in diesem Fall insbesondere Frau Dr. Gudrun Fiedler (Stade), Herrn Prof. Dr. Detlef Schmiechen-Ackermann (Hannover) und Herrn Prof. Dr. Gerd Steinwascher (Oldenburg), die mir ihre Manuskripte für den alsbald erscheinenden Band 5 der «Geschichte Niedersachsens» (20. Jahrhundert) vorab zur Verfügung stellten. Frau Gerburg Brückner und Herrn Dr. Dieter Brosius danke ich für die kritische Durchsicht des Gesamttextes.
Lüdersen, im August 2008
Carl-Hans Hauptmeyer
Rückwirkend zum 1. November 1946 schuf die britische Militärregierung aus den Ländern Oldenburg, Schaumburg-Lippe und Braunschweig sowie der vordem preußischen Provinz Hannover das Land Niedersachsen. Die alten Landesteile besitzen langwährende, eigenständige Traditionen. Heute wird der Raumbegriff Niedersachsen im Sinne der aktuellen Landesgrenzen verstanden, er geht aber auf enger oder weiter gefasste Gebietsbezeichnungen seit dem späten Mittelalter zurück.
Das Bundesland Niedersachsen ist mit ca. 47.700 km² Fläche größer als Belgien, die Schweiz, die Niederlande oder Dänemark. Die Einwohnerzahl von mehr als 8 Millionen reicht nahezu an die Österreichs und der Schweiz heran und übertrifft diejenige Serbiens, Bulgariens, Dänemarks, Norwegens oder Finnlands.
Vom Landschaftsbild erscheint das Land agrarisch geprägt, aber es weist einige verdichtete Urbanisationsräume auf, vor allem die Region Hannover samt der Landeshauptstadt mit mehr als einer Million Einwohnern. Niedersachsen liegt zudem zwischen städtischen Agglomerationen von europäischer Dimension: Hamburg, Berlin, Rhein-Main, Rhein-Ruhr. Unter den 16 Bundesländern steht es nach der Fläche an zweiter, nach der Bevölkerungszahl wie auch nach der Wirtschaftsleistung an vierter Stelle.
Prognosen zeigen, dass Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum in den westlichen Teilen Niedersachsens zu erwarten ist. Vorrangig die Landkreise Emsland sowie Vechta und Cloppenburg verändern sich – aufbauend auf einer traditionell kleinteiligen und katholisch-ländlichen Struktur – rasch zu einer modernen gewerblichen und Dienstleistungslandschaft. Im Osten wird weiterhin für den Raum um Wolfsburg eine positive Entwicklung angenommen. Hier ist zu erwarten, dass eine Veränderung vom «Monopolstandort Auto» zu einem Raum mit permanent global konkurrenzfähiger Industrie, differenziertem Gewerbe und anspruchsvoller Kultur gelingt. Die Entwicklung des von West nach Ost verlaufenden Städtegürtels von Osnabrück bis Braunschweig wird ebenfalls positiv prognostiziert. Die Metropolregion Hannover-Braunschweig-Göttingen-Wolfsburg weist weiterhin die größte Bevölkerungsballung, regionale Wirtschaftskraft und eine hohe Dienstleistungsdichte auf und vereint zahlreiche Einrichtungen der Forschung und Bildung. Den zentralen Gebieten, Teilen der Küstenregionen und dem Süden werden hingegen – mit Ausnahme des südlichen Hamburger Umlandes – ökonomische und demographische Schrumpfung vorhergesagt.
Der niedersächsische Raum wurde gemessen am Südwesten Deutschlands spät in das – antike Gedanken mit christlichen Argumenten mischende – geistige Geflecht Europas integriert. Nach der Missionierung zur Zeit Karls des Großen vor gut 1200 Jahren lag er im frühen Mittelalter zunächst am nordöstlichen Rand der europäischen Wirtschaftszentren West- und Südeuropas. Im Hoch- und Spätmittelalter rückte Niedersachsen in die Mitte zwischen die ökonomisch hochentwickelten Landschaften Oberitaliens, Süddeutschlands oder Flanderns und die vom europäischen Handel erreichten Randzonen Skandinaviens und Osteuropas. Diese Mittellage blieb in der frühen Neuzeit erhalten, wurde aber von der sich rasch ausweitenden Kluft zwischen West- und Osteuropa überformt. Während der Hauptindustrialisierungsphase seit der Mitte des 19. Jahrhunderts holte Deutschland den wirtschaftlichen Rückstand gegenüber den Zentren im Westen auf. Innerhalb des deutschen Wirtschaftsraums stand Niedersachsen jedoch stets hinter den ökonomisch bestimmenden Gebieten zurück, auch wenn es interne Zentren besaß und besitzt.
Obwohl Niedersachsen erst 1946 entstand, wird häufig auf «die» Niedersachsen hingewiesen: sturmfest und erdverwachsen, so, wie sie das Niedersachsenlied benennt. Auch wird der über hundert Jahre alte Vers von den Eichen zitiert, die, solange sie in alter Kraft um Hof und Haus wüchsen, verhinderten, dass in Niedersachsen die alte Stammesart aussterbe. Diese Stammesbindung der Niedersachsen ist eine Konstruktion aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, und erst für die Zeit Karls des Großen ist eine Trennung zwischen den Friesen im Nordwesten sowie den Sachsen im Süden, in der Mitte und im Osten vertretbar, stets aufgeteilt in verschiedene regionale Großgruppen.
Friesen und Sachsen nahmen abweichende Entwicklungen. In (Ost)Friesland erreichte erst das Herrscherhaus der Cirksena im 15. Jahrhundert eine dominierende Stellung über konkurrierende Herren, Klöster und Großbauern. Für das sächsische Gebiet erwies sich die Christianisierung zur Zeit Karls des Großen als bestimmend: zum einen wurden die alsbald gegründeten Bistümer für die territoriale Ordnung der nächsten Jahrhunderte wichtig, zum anderen gelangten neue Herrscherfamilien – zunächst die Liudolfinger, sodann die Welfen – in hervorgehobene Positionen. Doch scheiterte der Welfe Heinrich der Löwe im 12. Jahrhundert, die verschiedenen räumlichen Herrschaften zu einen.
1952 wurde das Pferd zum Landeswappen erhoben. Allerdings verweist dieses Symbol kaum, wie oft behauptet, auf den Stamm der Sachsen und nicht auf Widukind, den Widersacher Karls des Großen, sondern es war ein Hoheitszeichen, das die Grubenhagensche Linie der Welfen seit Mitte des 14. Jahrhunderts nutzte und erst um 1400 den legendären Fürsten Hengest und Horsa anlässlich der fast 900 Jahre zurückliegenden angelsächsischen Zuwanderung in Südostengland zugeschrieben wurde. Gottfried Wilhelm Leibniz trug dazu bei, dass das Pferd fortan als «Welfenross» der hannoverschen und auch der Braunschweiger Welfen Wappenrang bekam.
Die frühmittelalterliche Dominanz «sächsischer» bzw. «friesischer» Bevölkerung veränderte sich bis in das 20. Jahrhundert hinein kaum. Es gab eine mittelalterliche slawische Besiedlung des östlichsten Niedersachsens. In die größeren spätmittelalterlichen Städte wanderte jüdische Bevölkerung ein, und in hochmittelalterliche Gründungsdörfer kamen Flamen oder Holländer. Während der frühen Neuzeit traten Hugenotten, Salzburger und obersächsische Bergarbeiter hinzu, im 19. Jahrhundert ost- und ostmitteleuropäische Landwirtschaftsarbeiter. Die wesentliche Bevölkerungsveränderung geschah nach dem Zweiten Weltkrieg durch die ca. drei Millionen Zuwanderer: Heimatvertriebene und Flüchtlinge, Übersiedler aus der DDR, Arbeitskräfte aus dem mediterranen Raum und sodann aus Osteuropa hinzuziehende und seit 2015 zahlreiche asylsuchende Menschen.
Es sind eher allgemeine, den Norden vom Süden Deutschlands unterscheidende Sachverhalte, die auch für Niedersachsen gelten, aber keineswegs ein Landescharakteristikum darstellen. Hierzu gehören die hochdeutsche Lautverschiebung im 6. Jahrhundert und die aus dem Niederdeutschen folgende, von Westfalen bis Mecklenburg verbreitete plattdeutsche Sprache. Auch der im 13. Jahrhundert zusammengefasste Sachsenspiegel prägte das norddeutsche Recht nicht eng, sondern weiträumig.
Die Namensgebung «niederes Sachsen» verweist ebenfalls nicht eindeutig auf bestimmte Gebiete. Es war die Reichskanzlei, die in der Mitte des 14. Jahrhunderts den Nordwesten bis nach Vorpommern zur Unterscheidung gegenüber dem Teil Mitteldeutschlands, der heute Sachsen heißt, abzugrenzen begann, ohne dass sich hiermit bereits eine eindeutige begriffliche Trennung durchsetzte. Das Recht, den deutschen König zu wählen, die Kurwürde, stand nicht den Nachfahren des 1180 entmachteten Welfen Heinrich des Löwen zu, sondern den konkurrierenden Askaniern, speziell den Wittenbergern. Nach deren Aussterben fiel die Kurwürde 1423 an die Markgrafen von Meißen, die Wettiner. Sie wanderte gleichsam nach Osten und führte zur Bezeichnung des südlichen Teils Ostdeutschlands als (Ober-)Sachsen.
Im Zuge der Reichsreform wurde 1512 der niedersächsische Reichskreis gebildet mit der Aufgabe des Ausgleichs zwischen aufstrebenden Territorialfürsten und kaiserlicher Oberhoheit. Der Reichskreis ließ Gebiete des heutigen Niedersachsens im Westen aus, z.B. die Grafschaft Schaumburg, und reichte im Osten bis in die Altmark und nach Mecklenburg. Aus jener Zeit stammt die Tendenz, mit dem Begriff Niedersachsen nicht an bestimmte Territorien gebundene Zusammenschlüsse zu bezeichnen, wie den 1835 gegründeten «Historischen Verein für Niedersachsen».
Da die Welfen vom Osten her ihre Herrschaft schrittweise ausbauten, nahm seit der frühen Neuzeit die Verbindung des Niedersachsenbegriffs mit dem welfischen Hoheitsgebiet zu. Den letzten Anstoß gab die Annexion des Königreichs Hannover durch Preußen 1866. Immer, wenn es nicht opportun erschien, an die Welfen erinnernde Begriffe zu verwenden, bedienten sich vor allem die Preußenskeptiker des Begriffs Niedersachsen. Die Ende des 19. Jahrhunderts entstehende Heimatbewegung entsann sich des alten Sammelbegriffs Niedersachsen, um primär auf das hiesige bäuerliche Element hinzuweisen, das es gegen Verstädterung und Proletarisierung zu schützen und als gesellschaftliches Vorbild zu pflegen gelte.
Als in der Reichsreformdebatte zu Beginn der 1920er Jahre über die Aufgliederung Preußens nachgedacht wurde, verbanden sich Kräfte aus Politik, Wirtschaft und Forschung, die Leitideen für ein Land Niedersachsen entwickelten. An diese konnte nach 1945 angeknüpft werden.
Die regionale Disparität Niedersachsens hat ihren Ursprung in der landschaftlichen Vielfalt. Bis auf Hochgebirge gibt es in Niedersachsen alle in Mitteleuropa vorkommenden Landschaftstypen: die Marsch des Küstensaums und der Mündungsgebiete von Ems, Weser und Elbe mit dem vorgelagerten Wattenmeer und den Ostfriesischen Inseln; die Geest samt ihren Mooren und den Urstromtälern der Elbe und Aller-Weser; die für den Ackerbau vorzüglich geeigneten Lössbörden; das Berg- und Hügelland mit dem Westharz als Mittelgebirge. Dank dieser Voraussetzungen ist Niedersachsen ein Verkehrsdurchgangsland in West-Ost- und Nord-Süd-Richtung. Zusätzlich bietet es Möglichkeiten für viele landwirtschaftliche Nutzungsvarianten.
Den wirtschaftenden Menschen standen an vielen Orten Torf zum Heizen, Ton für die Töpferei und die Backsteinherstellung, Kalke, Sande oder Steine zum Bauen zur Verfügung, und Holz war mit Ausnahme der Marschen ein leicht verfügbares Brenn- und Baumaterial. Doch ist Niedersachsen eher arm an Bodenschätzen. Im Mittelalter waren die Erze des Rammelsberges bei Goslar und das Salz Lüneburgs Ausnahmen. Vereinzelt wurde im Berg- und Hügelland oder in der Geest Eisen aus Raseneisenstein gewonnen. Am Ausgang des Mittelalters gewannen die Tonwarenherstellung im Gebiet zwischen Weser und Leine östlich und nördlich des Sollings und die Glasproduktion im Solling eine überregionale Bedeutung. Die weiteren Gewerbe verarbeiteten meist forst- und landwirtschaftlich erzeugte Rohstoffe, wie Holz (als Bau-, Werk- und Brennstoff), Viehprodukte (auch Knochen, Felle) oder Gewerbepflanzen (besonders Lein).
Im 17. und 18. Jahrhundert entwickelte sich der Westharz zu einer wichtigen europäischen Montanregion für Blei, Kupfer und Silber. Steinkohlevorkommen am nördlichen Rand des Berg- und Hügellandes wurden zum Brennen von Kalk oder zum Befeuern von Schmieden genutzt, die Basis für eine kleinteilige und auf den jeweils vorhandenen Rohstoffen (z.B. Asphalt, Sand zur Glasherstellung) aufbauende Industrialisierung im Berg- und Hügelland und für eine industrielle Expansion der nahe und verkehrsgünstig sowie im fruchtbaren Ackerbaugebiet gelegenen Städte von Osnabrück über Hannover bis Braunschweig. Am Ende des 18. Jahrhunderts trat der obertägige Braunkohleabbau im Braunschweiger Revier südlich von Helmstedt hinzu.
Um 1900 waren die technischen Möglichkeiten so weit gediehen, die Kalisalze des Zechsteins auch in größeren Tiefen abzubauen. Bis heute haben Erdöl- und sodann Erdgasförderung in der Geest, mittlerweile auch im Offshorebetrieb der Nordsee, und Zementherstellung auf Mergelbasis, insbesondere östlich von Hannover, ihre Kontinuität bewahrt. Hingegen wurden der Kalibergbau drastisch reduziert und der Steinkohleabbau sowie die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts noch einmal kräftig prosperierende Erzgewinnung im Harz eingestellt und 2016 auch der Braunkohleabbau bei Helmstedt. So verbleiben vom Naturpotenzial die günstigen Verkehrsdurchgangslagen im Binnenland und die Verkehrsvorteile der Küste sowie die großen, weiterhin land- und forstwirtschaftlich genutzten Flächen mit ihren zusätzlichen Möglichkeiten für Naturschutz und Tourismus. Heute werden Agrarflächen zunehmend für den Anbau von nachwachsenden Rohstoffen genutzt, und es wird Strom aus Windkraft und Solaranlagen erzeugt, der in neuen Trassen durch das Land geführt werden muss. Diese landschaftlichen Folgen der «Energiewende» führen jüngst zu diversen Konflikten.
Wie altsteinzeitliche Funde zeigen, erreichten bereits während der Eiszeiten kleine Jäger- und Sammlergruppen den niedersächsischen Raum. Die früheste Fundstelle geht auf das Reinsdorf-Interglazial vor ca. 300.000 Jahren nach Ende der Elster-Kaltzeit zurück. Es sind die ältesten vollständig erhaltenen Jagdwaffen der Menschheit. Sie wurden 1994 im Braunkohlentagebau südlich von Schöningen entdeckt. Die archäologische Erschließung hält an und wird im eigens vor Ort geschaffenen Forschungsmuseum präsentiert. Die Jäger dieser Zeit – wohl Homo heidelbergensis, vielleicht auch die ersten Neandertaler – verstanden sich bereits auf eine höchst kunstfertige Verarbeitung von Holzstämmen zu treffsicheren Speeren und Wurfhölzern, mit denen sie am Rande eines Binnensees Groß- und Kleinwild jagten. Offenbar muss die Bedeutung der Nutzung von Holz für frühe menschliche Jäger- und Sammlergemeinschaften neu überdacht werden.
Hirschknochen aus der Einhornhöhle
Vertieftes Wissen über die Neandertaler gewährt die Einhornhöhle im Südharz nahe von Herzberg, die vor und während der Weichselkaltzeit immer wieder aufgesucht wurde. In einer ca. 200.000 Jahre alten Fundschicht konnte die Enthäutung eines Höhlenlöwen nachgewiesen werden. Der etwa 51.000 Jahre alte verzierte Riesenhirschknochen ist das älteste in Niedersachsen aufgefundene, von Neandertalern geschaffene menschliche «Kunstobjekt».
Nach Ende der einstweilen letzten Kaltzeit vor gut 11.000 Jahren setzte sich vor ca. 6000 Jahren der Ackerbau durch mit über mehrere Generationen besiedelten Kleinstdörfern. Neben Feuersteinmaterialien und einfachen Werkzeugen werden die archäologischen Zeugnisse rasch vielfältiger mit den heute namensgebenden Leitfundstücken der Bandkeramik-, der Trichterbecher- und der Einzelgräberkulturen, der Bronzezeit sowie der Eisenzeit. Von der römischen Kaiserzeit an gibt es erste, und zwar externe, schriftliche Überlieferungen.
Die bandkeramischen Funde konzentrieren sich auf die Lössbörden und das Leinetal. Sie stammen aus der Zeit zwischen 5500 und 4900 v. Chr. und zeigen neben Töpferei frühe Textilherstellung. Die Trichterbecherkultur zwischen 3900 bis 2800 v. Chr. war sodann auch in der Geest verbreitet. Aus jener Zeit stammen die bis heute beeindruckenden Großsteingräber, zu deren Errichtung eine über einzelne Familiengruppen hinaus organisierte Gesellschaft notwendig war. Schwein und Rind wurden bereits in der Zeit der Bandkeramik domestiziert. Generell gilt die Haustierhaltung als wichtiger Schlüssel für die Ausbreitung des Ackerbaus in die Geest. Während der nachfolgenden Einzelgrabkultur war bereits der Hakenpflug verbreitet, und die Ernte erfolgte mit scharfem Feuersteingerät. Einfache Pfostenhäuser sind als Wohnstätten belegt. Auf die Zeit ab ca. 1800 v. Chr. werden die ersten Bronzeobjekte datiert, anschließend auch die Gewinnung Rammelsberger Erze und die Kupferverarbeitung am Harz. Wie Beigaben der Grabhügel zeigen, existierten verschiedene regionale Kulturkreise mit sozialer Differenzierung zwischen Bauern, Handwerkern und Kriegern.
Die Verhüttung von Eisen setzte in Niedersachsen nach 700 v. Chr. ein. Der in der Geest unter dünner Bodendecke anstehende Raseneisenstein wurde vor Ort verarbeitet. Bäuerliche Siedlungen an der Küste und Burgsiedlungen im Binnenland deuten auf Siedlungskonstanz über etliche Generationen hinweg. Die Textilherstellung differenzierte sich weiter. Der schollenwendende Pflug setzte sich durch, und auch die Küstenmarsch wurde kultiviert. Knüppeldämme im Moor zeugen von zunehmendem Handel selbst zwischen entfernten Gebieten.
Die Wiege der heutigen europäischen Kultur stand im östlichen Mittelmeerraum. Erst die römische Expansion ließ Norddeutschland in das Interesse einer über Schriftlichkeit verfügenden Hochkultur gelangen. Die Auseinandersetzung der Römer mit den westelbischen germanischen Stämmen in der Zeit von 58 v. Chr. bis 16/17 n. Chr. wird heute nicht mehr zwingend als angestrebte Beherrschung des Gebietes nordöstlich Galliens gesehen. Vielleicht herrschten Motive der Abschreckung oder der Profilierung von Heerführern vor.
Zunehmend rückt neben dem west-östlich verlaufenden Hellweg dabei das Leinetal in den Blick, dessen Terrassen sich für Vormärsche gen Norden gut eigneten. Hier wurde südlich von Hannover bei Wilkenburg (Gemeinde Hemmingen) 2015 das am weitesten nordöstlich im rechtsrheinischen Germanien gelegene Marschlager für ca. 20.000 Soldaten erschlossen. Es wird auf die Zeit unmittelbar vor dem Vorstoß des Publius Quinctilius Varus im Jahre 9 n. Chr. datiert, ohne dass ein unmittelbarer militärischer Zusammenhang zu erkennen ist.