Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
In engem Bezug zu seiner Autobiographie vermittelt der Autor, dies zuweilen auch mit bissigem Spott und einem Hauch von Sarkasmus, offene, ehrliche und schonungslose Einblicke in das Alltagsleben der DDR-Bürger, aber auch in Strukturen, die selbst vielen DDR- Bürgern nicht zugänglich waren wie Flottenübungen der Volksmarine, Mobilmachungsübungen der NVA-Wehrkommandos, Arbeitsweise des Partei- und Staatsapparates und nicht zuletzt des Ministeriums für Staatssicherheit. Im Unterschied zu den meisten nachwendigen Veröffentlichungen stellt der Autor dabei nicht ehemalige Führungseliten oder Widerständler der DRR in den Mittelpunkt seines Narrativs sondern Menschen wie du und ich, welche sich guten Glaubens und festen Willens der sozialistischen Idee verschrieben hatten. Ein zwingendes Muss für alle zeitgeschichtlich interessierten Leser.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 477
Veröffentlichungsjahr: 2015
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Geschichten aus einem anderen Land
Gert Holstein
Copyright: © 2015 Joachim Gerlach
published by: epubli GmbH, Berlin www.epubli.de
ISBN 978-3-7375-2919-8
Der Autor legt nach inhaltlicher und formeller Überarbeitung seines bereits 2010 in Buchform veröffentlichten Romans „Holstein, Gert – Lebenswege im deutschen Osten“ jetzt auch eine Fassung als ebook vor. Dabei durchbricht er die bisherige streng chronologische und formelle Fassung und bietet die einzelnen Kapitel auch sich selbst tragend dar.
In engem Bezug zu seiner Autobiographie vermittelt der Auto, dies zuweilen auch mit bissigem Spott und einem Hauch von Sarkasmus, offene, ehrliche und schonungslose Einblicke in das Alltagsleben der DDR-Bürger, aber auch in Strukturen, die selbst vielen DDR- Bürgern nicht zugänglich waren wie Flottenübungen der Volksmarine, Mobilmachungs-übungen der NVA-Wehrkommandos, Arbeitsweise des Partei- und Staatsapparates und nicht zuletzt des Ministeriums für Staatssicherheit.
Im Unterschied zu den meisten nachwendigen Veröffentlichungen stellt der Autor dabei nicht ehemalige Führungseliten oder Widerständler der DRR in den Mittelpunkt seines Narrativs sondern einfache Menschen, die sich guten Glaubens und festen Willens der sozialistischen Idee verschrieben hatten.
Ein zwingendes Muss für alle zeitgeschichtlich interessierten Leser.
Vom gleichen Autor in Vorbereitung einer Veröffent-lichung:
„Maidan – Am Vorabend der Apokalypse“
An der Tür, welche von außen aus Sicherheitsvorschriften nicht zu öffnen möglich war, klopfte es heftig. Wird wohl Wunderlich sein, der drängelte nämlich schon sein Tagen, ob das von ihm beantragte Computerprogramm endlich einsatzbereit wäre. Ein Riesenzeitaufwand wäre die gegenwärtig manuell betriebene, permanente Auswertung hunderter Investitionsvorhaben, mit der edv-gestützten Lösung erhoffte man sich geradezu unendliche Freiräume für andere Aufgaben. Zum Beispiel säße ihm schon wieder ein Mitarbeiter von der SED-Bezirksleitung mit einer Vorlage für deren Sekretariat im Nacken: Ergebnisse bei der Senkung des Kraftstoffverbrauches, Diesel und Benzin, im Bezirk, gute und schlechte Erfahrungen galt es dabei herauszufiltern.
Wunderlich, gut zehn Jahre jünger als Holstein, von korpulenter Statur mit deutlichem Bauchansatz, galt als Nachfolgekanditat der Parteikontrollkommission, die sich als sogenannte Parteipolizei um Einheit, Reinheit und Geschlossenheit des Kampfbundes mühte. Im Vorfeld dieser Funktionsaufnahme hatte er sich schon einmal einen Rüffel eingefangen, als er, zu einer ersten Aussprache und Beratung ins Haus der Bezirksleitung gerufen, vor dem Aufzug stehend salopp von sich gab: „Was hier am besten klappt, sind wohl auch nur die Türen der Fahrstühle.“ Der Rüffel konnte ausgebügelt werden, da Wunderlichs Schwager sich einschaltete. Der verfügte als stellvertretender Kreistierarzt über ausgesprochen gute Kontakte zur territorialen Parteispitze. Allerdings verschob sich Wunderlichs Berufung in die Parteipolizei durch den vorlauten Ausrutscher um ein paar Jahre. Als sie ihn im Frühjahr 1990 dann urplötzlich doch wollten, da ihnen alle anderen schon weggelaufen waren, versagte er sich ihnen.
Nun stand er, wie es Holstein schon geahnt hatte, wirklich vor dem Computerarbeitsraum und steckte erst einmal vorsichtig schnuppernd seinen großen Kopf zwischen den Türrahmen. Und Holstein war’s zufrieden, dass es nicht dessen Chef war. Der nämlich, Leiter der Abteilung „Mittelfristige Planung“, ein eigentlich recht mickriger Mittfünfziger, leicht gehbehindert infolge einer Granatsplitterverletzung, die er sich in den letzten Kriegswochen in den eisigen Schmelzwässern inmitten des letzten Aufgebotes von Heldenklaumarschall Schörner an der Oderfront zugezogen hatte, maß den neuartigen elektronischen Rationalisierungsgeräten im Gegensatz zu den meisten seiner Leitungskollegen durchaus praktische Bedeutung zu. Nur hatte er die schlimme Angewohnheit, sich sehr schnell in den Vordergrund zu schieben, auch dann, wenn er tiefer greifend vom Sachprinzip nichts verstand. Die ihm unterstellten Mitarbeiter hatten unter seinem Regime nichts zu lachen: Noch vor Dienstaufnahme nach krankheits- oder urlaubsbedingten Ausfällen verlangte er von ihnen die Hinterlegung aller wesentlichen, während seiner Abwesenheit eingetretenen Probleme. Allesamt sauber aufbereitet auf seinem Schreibtisch abgelegt, in chronologischer Reihenfolge. Am Tage seines Dienstantrittes saß er dann Stunden bevor der erste Mitarbeiter seiner Abteilung eintraf in seinem Dienstzimmer und hatte bereits etliche Stapel Papier verarbeitet. Dann widmete er sich der Auswertung des eben Verarbeiteten. Im halbstündigen Rhythmus defilierten die Abteilungsmitarbeiter durch seinen Dienstraum, Abwäsche folgte auf Abwäsche, Nicht wenige der Gerufenen, zumal der weiblichen Geschlechts, die schon zitternd im Wissen um die Gefahren früh zur Arbeit erschienen und voller Bangen den Rufen folgten, verließen bar jeglicher Hemmungen schluchzend die Höhle des Löwen und waren für den Rest dieses Tages zu keiner Arbeit mehr zu gebrauchen. Andererseits ging beharrlich das Gerücht um, dass die attraktiveren Mitarbeiterinnen von diesen Ärgernissen weitgehend verschont blieben. Eine aus der Schar dieser Auserwählten berichtete Holstein unter dem brüchigen Siegel der Verschwiegenheit, dass er zu einer seiner Audienzen sie auf Knien um ein Schäferstündchen, vielleicht auch weniger, nur ein halbes Stündchen, ein Viertelstündchen, man könne sich ja beeilen, gleich hier im Dienstzimmer, auf dem Schreibtisch, auf dem Drehstuhl, auf dem Ledersofa, gebeten habe. Sie habe widerstanden, müsse sich nunmehr aber die üblen Prozeduren dienstlicher Schurigeleien wie alle anderen gefallen lassen, allerdings nicht allzu übel, denn sie hätte ja noch einen Trumpf dagegen, die Grenzen wären da schon gesteckt.
Wunderlich schnupperte jetzt in den Computerraum.
„Junge, Junge, da drinnen kann man ja wieder die Luft mit dem Messer schneiden! Solltest du nicht ein richtiges Zimmer kriegen, mit Fenster und so? Und wolltest du nicht eigentlich wieder aufhören zu rauchen?“
„Beides. Kommt Zeit, kommt Rat. Manchmal bin ich ganz froh darüber, in dieser Buchte zu arbeiten. Selbst der Ratsvorsitzende müsste anklopfen, um eingelassen zu werden, dank der idiotischen Sicherheitsvorkehrungen. Hab‘ ich meine Ruhe.“
Holstein und Wunderlich hatten am Ende des vergangenen Jahres gemeinsam den Rechner in einem Piratenakt beschafft. Die Bilanzzuteilung, der schriftlich fixierte, staatlich gesicherte Anspruch auf eine Ware oder Dienstleistung im Geschäftsverhältnis zwischen den Betrieben, Einrichtungen und Kombinaten, lag für den Computer schon im September 1985 auf Holsteins Tisch, zum Jahresende war mit seiner Auslieferung zu rechnen.
Gleichzeitig mit dem Auslieferungsbescheid traf kurz vor Weihnachten die Stornierungsmitteilung zum Bilanzentscheid ein, Wunderlich überbrachte beide in der Hand haltend wie die letzten Reste eines Skatblattes und streckte sie Holstein entgegen.
„Zieh, Holstein, aber der Schwarze Peter ist auch dabei.“
Holstein schnappte sich einen der Zettel: Stornierung der Bilanzzuweisung, Verdammter Mist!
Wann mit der nächsten Maschine zu rechnen war, stand in den Sternen. Wahrscheinlich würde es wieder ein ganzes Jahr dauern oder gar noch länger. Das hieß, er müsste weiter trocken programmieren und Einsatzvorbereitung betreiben. Das würde nicht nur den Kollegen auffallen, die jetzt schon neidisch auf ihn guckten, sondern auch seinem Chef. Dann wäre er wieder mit Mode bei den Agitationseinsätzen in den Betrieben und ähnlichem Schwachsinn, und da sei Gott vor und die Preußen!
„Zeig mir doch mal den anderen Wisch her.“
Mitteilung vom VEB Robotron: Personalcomputer A5130, Seriennummer 3436, steht zur Abholung bereit, bitte melden im Außenlager bei Kollegen xyz.
„Was soll das denn?“
„Na, die Linke weiß offensichtlich wieder einmal nicht, was die Rechte tut. Nichts Neues also. Gib mir die Stornierung her, ich halte sie bis morgen erst einmal zurück. Aber sieh zu, dass du die Kiste noch heute herbeiholen kannst. Bevor du dich auf die Socken machst, hier noch einer zum Aufwärmen:
Staatsbürgerkundeunterricht Klasse sieben: Was bedeuten die Symbole des Staatsemblems der DDR? Ingrid? - Der Hammer steht für die Arbeiter. - Richtig. Werner? - Der Ährenkranz für die Bauern. - Prima, auch richtig. Matthias? - Die Ingenieure bedeutet der Zirkel. - Hervorragend Kinder, alles richtig. Fritzchen, was denn noch? - Mein Vater. - Bitte? Wieso dein Vater? Was macht dein Vater? - Parteisekretär. - Und wo steckt der im Emblem? - Na die kleine Niete oben im Zirkel.
He, he, he, ...“
Holstein, Wunderlichs Meckern verhallend im Ohr, hastete zur Tür hinaus und raste zur Fahrbereitschaft, ein Barkas-Transporter mit Pritsche ohne Plane stand noch auf dem Hof.
„Komm Kollege, schnell, wir müssen zu Robotron, einen Comptuter abholen. Hier ist der Fahrauftrag.“
Der als Kollege Angesprochene schaute gelangweilt von seinem Fahrersitz durch die Windschutzscheibe.
„Müssen müssen wir gar nichts“, orakelte er weise. „Nur sterben müssen wir.“
„Ich mach dir gleich Feuer unter deinem Arsch, du Nicht-Müsser“, schnaubte Holstein empört.
Der Fahrdienstleiter lugte ob des einsetzenden Gelärms aus seinem Kabuff. Was ist das denn für ein Rabatz da draußen? Jeden Morgen das gleiche, alle wollen sie ein Auto haben, am Nachmittag stehen die Fahrzeuge dann ungenutzt herum.
Der Kollege Fahrer startete den Motor, Holstein kraxelte in die Kabine, schob einen alten, total mit Öl gesättigten Putzlappen vom Sitz und los ging’s. Im Außenlager von Robotron wiesen sie sich mit der Abholbescheinigung aus, suchten sich unter hunderten dort abgestellter Rechner den ihren heraus und verluden ihn auf den Barkas. Niemand von den dort Beschäftigten ahnte, dass die Bilanzzuteilung inzwischen rückgängig gemacht worden war. Also schnell quittieren und ab, so fix es geht. Keine dummen Fragen stellen, wer dumm fragt, kriegt auch dumme Antworten. Was man einmal hat, kann einem schlecht wieder weggenommen werden. Womöglich fällt in dem allgemeinen Wirrwarr die bilanzwidrige Entnahme des Rechners nicht einmal auf.
Den Erfolg galt’s zu begießen, so verabredeten sich Holstein und Wunderlich nach Dienstschluss auf ein Glas, oder auch zwei, in der neueröffneten Bierstube nahe des Rathauses. Die war als sie kamen schon randgefüllt, von außen sah man die Trauben um den Tresen stehen, kaum ein Durchkommen möglich, die wenigen Tische restlos belegt und von Wartenden umstellt. Anstelle des sonst üblichen Schildes an der Eingangstür „Bitte hier warten, Sie werden plaziert!“ hatte man vorsichtshalber einen Kellner in Livree und mit Parteiabzeichen außen postiert. Der wies jedermann ab, so auch Holstein. Wunderlich hakte nach, er kannte offenbar den Zugangsschlüssel. Das „Sesam – öffne dich“ erwies sich als ein Zwanzigmark-Schein, den Wunderlich andeutungsvoll dem Livrierten in der linken Hand versteckt zeigte. So wurden sie auch eingelassen, nicht bevor jedoch Wunderlich seine linke Hand in die etwas abstehende Jackentasche des Kellners versenkt hatte. Drinnen öffnete er die Hand wieder, neben dem Zwanziger befand sich nunmehr auch ein Fünfziger darinnen. Woher die plötzliche, gar wundersame Mehrung des Geldes in Wunderlichs Linker? Wunderlich klärte auf: „Als ich den Zwanziger in der Kellnertasche fallen lassen wollte, fühlte ich dort Scheine über Scheine. Da hab‘ ich lieber zugegriffen.“ Das brachte nur der Wunderlich fertig, frech wie Rotz. Womit sie die schon einmal die voraussichtlichen Spesen des Abends gedeckt hatten und es nicht einmal zu vermuten steht, dass der genasführte Parteikellner vom klammheimlichen Zugriff etwas bemerkte. Im oberen Raum um den Tresen war freilich nicht daran zu denken, in der nächsten halben Stunde auch nur ein Bier zu ergattern, also trabten sie nach unten und fanden dort in einem winzigen Raum überraschenderweise Platz. Nur vier Tische, einer davon belegt mit vier Damen mittleren Alters und einem Herrn, offensichtlich ein Arbeitskollektiv mit dem Herrn als Chef, eine „After-Work-Party“ wird man dazu in späteren Jahren sagen. Ein Tisch frei, die beiden anderen jeweils einfach besetzt, ein Kahlköpfiger und ein noch recht junger Bursche, beide schon ziemlich vom Alkohol beseelt. Holstein und Wunderlich setzten sich an den freien, bestellten die erste Runde, gleich darauf die zweite, die dritte ließ vorerst auf sich warten. Die Wartezeit vertreibend schauten sie sich im dämmrigen Raum um. Der Kahlköpfige spendierte eine Flasche Sekt für den Tisch der Damen und rückte seinen Stuhl etwas näher daran. Der junge Bursche gestikulierte deutlich mit Daumen und Zeigefinger in Richtung des Fünfer-Tisches, bis Holstein die Finger-Verweise auf sich und Wunderlich bezog, beim ersten flüchtigen Hinschauen aber nichts Bemerkenswertes feststellen konnte, erst beim zweiten. Nun zog der junge Bursche seine Stuhl an Holsteins Tisch und laberte stockend: „Eine Sauerei ist das, wirklich eine Sauerei. Arbeiten alle im Rathaus nebenan, sind fast jeden Tag hier, manchmal auch mittags. Wirklich richtige Schweine.“ Dann legte er eine Geldschein auf seinen Platz und entschwand, noch immer labernd: „Eine Sauerei, eine Sauerei.“ Holstein hatte die Ursache der Empörung inzwischen geortet: Der Verwaltungschef, sein Jacket lässig über die Lehne des Stuhles geworfen, das Parteiabzeichen deutlich sichtbar, saß hemdsärmelig mit zufriedenem Gesichtsausdruck zurückgelehnt, sowohl sein linker als auch sein rechter Arm waren irgendwo zwischen den Schenkeln der zu beiden Seiten neben ihm sitzenden Damen versenkt, beide Hände offensichtlich in Aktion. Die von diesem Treiben Betroffenen schien das aber nicht sonderlich zu berühren, denn sie unterhielten sich nach vorn gebeugt und so sich näher kommend über ganz sachliche Angelegenheiten, wie es den Anschein hatte sogar über dienstliche. Die dritte im Bunde, die an der Stirnseite, gluckste und kicherte ab und zu albern, ohne sichtbaren Anlass allerdings. Der vierten, der mit der mächtigen blonden Löwenmähne, war inzwischen der immerzu sektspendende Kahlkopf dicht auf den Pelz gerückt, seine eine Hand schon weit unter ihren Pulli, deutlich sichtbar einziges Kleidungsstück an ihrem Oberkörper, geschoben, nun setzte er an, auch die andere dorthin zu verbringen, nicht ohne jedoch vorher beim ab und zu vorbeischauenden Kellner eine weitere Flasche Schampus zu ordern. Holstein und Wunderlich hatten mittlerweile ihre Stühle so hingerückt, dass sie dem Treiben am Nachbartische ihre volle und gänzlich unverhohlene Aufmerksamkeit schenken konnten. Das scherte die dort Sitzenden einen feuchten Kehricht, und so erlebten Holstein und Wunderlich etwas, was sie ein paar Jahre später als Live-Show in jeder billigen Absteige hätten erleben können, allerdings diesmal nur auf das Vorspiel bezogen. Der eigentliche, der animalische Schlussakt blieb ihnen jedoch erspart, denn jäh endete das Vergnügen, als der Ehemann der Blondmähnigen den Raum betrat, nach leisem Hüsteln, das Herausfahren der Kahlkopfhände aus dem Pulli seiner Gattin und der Chefhände aus den Schenkeln seiner Tischdamen geflissentlich übersehend, bedeutete, dass er gekommen sei, seine Gemahlin nach Hause zu fahren. So erhoben sich auch die anderen und schickten sich, leicht taumelig schon, an, noch eine der umliegenden Nachtbars heimzusuchen. Die waren in aller Regel wegen Überfüllung kaum zugänglich, doch war es abzusehen, dass es dem männlichen Begleiter der verbleibenden drei Damen gelingen würde, mit Hilfe des Wunderlichen „Sesam - öffne dich“ Einlass zu finden. Vielleicht würde es dessen nicht einmal bedürfen, denn alkoholisch und erotisch solcherart vorbelastete Gäste versprachen, da auf anderweitige Dinge konzentriert, sich nur allzu leicht wie die Weihnachtsgänse ausnehmen zu lassen.
Auf diese Weise verbrachten Holstein und Wunderlich einen durchaus erlebnisreichen Abend, Essen und Trinken zumal gesponsert vom dies nicht ahnenden, den Einlass zur Bierstube regulierenden Kellner mit Parteiabzeichen.
Der im Fachorgan eingesetzte Computer erfüllte die in ihn gesetzten Erwartungen über alle Maße. Wie üblich standen zwar noch immer einige Kollegen dieser technischen Entwicklung mehr als skeptisch gegenüber, einige, die nicht einmal den längst üblichen Taschenrechnern vertrauten und die ellenlangen Spalten und Zeilen der Planungsmatrizen wie seit Urzeiten gewohnt kopftechnisch summierten und multiplizierten, andere dagegen waren nur mit sanfter Gewalt und unter dem Druck des Einsatzplanes von der neuen Technik weg zu bewegen. Als jämmerlicher Engpass stellte sich mit forcierter Nutzung die Beschaffung des erforderlichen Zubehörs wie Disketten, Druckerpapier und Druckerfarbbänder heraus. Disketten gab’s stückweise und nachweispflichtig per rationierter Zuteilung - gut, wenn man da wie Holstein wenigstens ein, zwei Flaschen Wernesgrüner Bier im Gepäck hatte. Im Frühsommer des Jahres 90, kurz vor Währungsunion und Anschluss, traten Holstein schier die Augen aus den Höhlen, da er zu Besuch bei entfernten Verwandten im Fränkischen weilte und wahrnahm, dass der Hausherr ausgemusterte, aber noch funktionstüchtige Festplatten-Laufwerke als Abstützhilfen für wackelnde Regale in seiner Werkstatt einsetzte. Von Laufwerken dieser Leistungsfähigkeit hätte Holstein zu DDR-Zeiten nicht einmal zu träumen gewagt.
Alles in allem aber war Holstein, nunmehr am Beginn in sein fünftes Lebensjahrzehnt stehend, dienstlich gesehen im Reich der Glückseligen angelengt und hatte seine Seelenbalance mit der neuen Tätigkeit wiedererlangt. Längst - Gott, dem ehernen Naturgesetz oder wem sonst auch immer, sei’s tausendfach gedankt - vergangen waren die nervenaufreibenden Tage, Wochen und Monate, da er hauptamtlich in der SED-Bezirksleitung und danach ehrenamtlich für die Aufklärungsabteilung der Stasi arbeitete.
Sohn Sven, der Pfiffikus, bereitete sich auf den Eintritt in die mathematisch-physikalische Spezialschule vor, die würde ihn direkt nach dem Abitur ohne Zeitverzug in eine der eben ins Leben gerufenen Meisterseminargruppen an einer Universität führen, von dort in eine der Forschungs- und Entwicklungsbereiche in Wissenschaft oder Industrie. Svens beruflicher Weg war klar und eindeutig vorgezeichnet. Über dessen Zukunft brauchte sich Holstein keine Sorgen zu machen, das beruhigte ungemein. Da konnte man über die Zustände im Lande meckern wie man will, berechtigt oder auch nicht, im Gegensatz zum Westen erhielten die Jungs und Mädels hier alle eine Lehrstelle, danach alle auch ohne Abstriche eine berufliche Anstellung, keiner lag auf der Straße und damit den Eltern oder der Gesellschaft auf der Tasche. Wer wollte und das Zeug dazu hatte, besuchte die höheren Bildungseinrichtungen. Dort dauerte das Studium vier, fünf oder höchstens sechs Jahre, nicht sieben, acht, neun, zehn und darüber hinaus. Und auch die Absolventen der Hochschulen und Unis standen mit ihren erfolgreichen Abschlüssen nicht arbeits- und hoffnungslos vor den Schaltern irgendeines Arbeitsamtes. War schon etwas dran am Sozialismus. Zugegeben, die Bäume wuchsen nicht in den Himmel, vor allem nicht gleich und nicht sofort und nicht überall. Die Prozesse brauchten eben ihre Zeit, Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Es würde sich trotz aller Hindernisse und Schwierigkeiten lohnen, sich weiterhin dazu zu bekennen und dafür zu streiten. Die Kaste der Parteioligarchen musste eliminiert, die Fachkompetenz zum alleinigen Sachwalter erhoben werden. Das war der Schlüssel zum Erfolg, darin wussten sich Holstein und Wunderlich einig.
Wie es schien, hatten die sowjetischen Genossen unter ihrem neuen Generalsekretär Gorbatschow in diesem Sinne die Nase dabei vorn, vielleicht konnte man es bald wieder zu Recht verkünden: Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen.
Wie üblich legte Holstein den Heimweg am späten Abend bei trockenem Wetter zu Fuß zurück, das sparte Benzin und verhalf zu klarem Denken.
Tochter Maria, mittlerweile auch schon Schülerin der vierten Klasse und Sohn Sven präsentierten heute ihre Halbjahreszeugnisse, für Sven würde es das entscheidende Sprungbrett zur Spezialschule bedeuten. Holstein musste bei beiden keine Bedenken haben. Dani und er hatten sich immer viel mit den Kindern beschäftigt, auf dass deren Anlagen nicht ungenutzt verfilen oder gar ungesteuert missbraucht wurden. Trotzdem war es kein Geheimniss, dass sich beide Kinder trotz gleichem genetischen Ausgangsmaterials und weitgehend gleicher Begleitumstände beim Aufwachsen im Elternhaus deutlich verschieden in ihrem Charakter zeigten. Während Sven ausgesprochen, manchmal geradezu beängstigend kühl und sachlich seinem schulischen und sonstigen Tagewerk nachging, zeigte sich bei Maria ein deutlicher Hang zum Extravaganten, ja zum Luxus. Diese, von Holstein stirnrunzelnd beobachtete Neigung erfuhr durch Holsteins Mutter noch beachtlichen Vortrieb. Die Oma hatte genug Zeit, hin und wieder, freilich ohne meinen Vater, der hätte diesen ihren Unternehmungen nur hinderlich im Wege gestanden, per Straßenbahn ins Stadtzentrum zufahren, um bei dem dort seit ein paar Jahren vermehrt in den Straßenunterführungen der Innenstadt postierten, wie Mutter Holstein es bezeichnete, „fahrenden Volk aus Polen“ für recht viel Geld recht billigen Tand einzuhandeln und diesen alsdann Maria bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit ins Haar zu stecken, um den Hals zu legen, an Fingern, Ohren und Handgelenken zu befestigen. Holstein nahm die zunehmende Schar der permanent aus Polen einrückenden jungen Männer mit Erstaunen und Unmut wahr: Kerle wie Gardesoldaten mit Händen zum Zupacken verhökerten Kettchen, Armreifen, Anhänger und jede Menge anderen Tinnef, von diesem selbst behangen wie Christbäume. Gab’s denn keine ordentliche Arbeit mehr im polnischen Nachbar- und Bruderland?
Wahlen standen wieder einmal vor der Tür und damit kam auch Holsteins moderne Rechentechnik im Wahleinsatz zum Tragen. Und das war auch gut so, denn es ersparte ihm, da diesmal als Spezialist im eigenen Haus gebraucht, den Einsatz als Wahlhelfer wie zu den letzten Wahlen. Dabei ging es zwar nur um solche im kommunalen Bereich, das Prozedere jedoch war das gleiche: Gegen vier Uhr nachmittags wurden durch den Leiter des Wahlbüros Gruppen von je zwei Mann gebildet, die suchten diejenigen Bürger des Wahlbereiches auf, die bis dahin noch nicht im Wahllokal erschienen waren und forderten sie auf, ihrer patriotischen Pflicht nachzukommen. Holstein hatte Glück, sein Partner, ein älterer Bankangestellter, kannte sich bestens aus in den Gepflogenheiten und Abläufen der Wahlrituale. Noch vor der Aufgabenstellung und Inmarschsetzung durch den Wahlbüroleiter zu den vermeintlich Säumigen nahm er Holstein zur Seite, und sie verkrümelten sich zu einem länger währenden Spaziergang durch die städtischen Parkanlagen. Erst nach Schließung des Wahllokals kehrten sie zurück und nahmen dann an der öffentlichen Auszählung der Stimmen teil. Eine immer wieder vermutete Wahlfälschung konnte Holstein in diesem Wahlbüro nicht feststellen.
Zur diesjährigen Wahl würde er also nicht als Stimmen-Zutreiber fungieren, sondern das tun, was er auch sonst immer tat: den Computer bedienen. In Vorbereitung des qualitativ neuen Rechenverfahrens wurde er vom Vorsitzenden der Wahlkommisssion vergattert: Alles, was im Zusammenhang mit der Erbringung und Zusammenstellung der Wahlergebnisse steht, unterliegt der strengsten Schweigepflicht. Was wird denn das jetzt, fragte sich Holstein? Doch nicht etwa Wahlbetrug!
Was sie jedenfalls bis in die späten Abendstunden mittels Computer als vorläufiges Wahlergebnis für den Bezirk errechneten, fand sich auch so bis auf geringe Abweichungen nach dem Komma in den Tageszeitungen am nächsten Tag wieder. Die in Holsteins Rechner einfließende Zahlen ergaben über alle Kreise und den Bezirk selbst nie weniger als 98,5 Prozent an Ja-Stimmen. Wieso und woher also der stete Verdacht auf Betrug und Fälschung? Holstein vergaß an diesem Abend die vielen Stimmen derjenigen, die im Vorfeld der Wahlen per Briefwahl oder Sonderwahllokal die Chance nutzten, dort ihren Unmut über das Regime und dessen Ablehnung kundzutun. Bei deren Stimmen-Auszählung blieb die Öffentlichkeit fern. Wo aber lag denn das Problem für die Partei- und Staatsführung, einmal zwanzig Prozent unter den angestrebten Hundert zu kassieren? Hätte das nicht auch gereicht? Hätte es nicht. Holstein wurde sich dessen erst viel später bewusst: Einmal in Fahrt gekommen, wäre die Sache nicht zu bremsen gewesen. Zur nächsten Wahl wären vierzig, fünfzig oder gar sechzig Prozent von Hundert abzuzählen gewesen.
Der Herbst zog ins Land, die Wahlen zu den örtlichen Parteiorganen standen auch wieder an. Da gab es jede Menge Agitation in Rundfunk und Fernsehen, wenig aus dem großen Sowjetlande, dafür um so mehr aus dem eigenen Politbüro.
Zur Wahlversammlung in Holsteins Parteiorganisation hörte er die gleichen Töne wie seit Jahr und Tag, Friede, Freude, Eierkuchen. Kein Wort von den Umbrüchen in Ungarn, in Polen, schon gar nicht von Glasnost und Pjerestroika. War die DDR über Nacht autark geworden, politisch, wirtschaftlich und überhaupt?
Holstein, als Diskussionsredner mit dem vorgegebenen Thema „Nutzung der Errungenschaften von Wissenschaft und Technik in der Planungsbehörde“ aufgestellt, sprach nur ganz kurz zu seinen Arbeitsergebnissen. Jetzt, so setzte er nach, möchte er lieber zu einer Frage reden, die ihn mehr berührt und eigentlich auch viel eher Thema von Parteiberatungen sein sollte, als die stereotype Wiederkäuung von Arbeitsinhalten, die bekanntlicherweise ja eigentlich Angelegenheiten dienstlicher Natur seien. Es gänge ihn um den neuen Kurs in der Sowjetunion. Ihm scheine, dass das dortige Herangehen auch engsten Bezug zur Politik der SED haben sollte. Viele der im großen Saal Versammelten senkten die Köpfe, man sah es ihnen geradezu an, dass sie sich am liebsten angstvoll unter den Stuhlreihen verkriechen würden. Der als Gast anwesende Vertreter der SED-Bezirksleitung schaute bei Holsteins Worten immer finsterer, schließlich hielt er sich nicht mehr auf dem Stuhl.
„Stopp! Was uns der Genosse Holstein hier darbietet, steht nicht im geringsten Zusammenhang mit unserer Politik, auch überhaupt nicht mit unserem heutigen thematischen Anliegen. Wenn die Führung der KPdSU der Meinung ist, sie müsse Korrekturen vornehmen, bitte, dann soll sie das tun. Wir sind dieser Meinung nicht. Der Sozialismus auf deutschem Boden entwickelt sich in den Farben der DDR, über seinen Fortgang entscheidet unsere auf der Grundlage wissenschaftlicher Führungstätigkeit arbeitende Parteiführung. Die übergroße Mehrheit der DDR-Bevölkerung steht geschlossen hinter der Politik unserer Parteiführung und stellt sich tagtäglich der Losung: Mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden!“ So fügte er, sein eigentliches Redekonzept zur Seite legend, mehrstündig Stein auf Stein. Holstein erhielt durch nicht einen einzigen der anderen Diskussionsredner Unterstützung und Beistand. Das verdross ihn nicht sonderlich, wusste er doch, dass seine Arbeitsstelle im Prinzip nichts anderes war als der verlängerte Arm der Partei. Er kannte die inoffizielle Meinung vieler seiner Kollegen, auch die vieler Genossen und wusste, dass sie sich untereinander trotz der permanenten Gefahr von Denunziationen freimütig zu den aktuellen Themen unterhielten und auch im wesentlichen seine Standpunkte teilten. Nur taten sie dies nicht offiziell in den Versammlungen. Offiziell beteten sie nach wie vor die alte Litanei herunter, die sie gewohnt waren zu beten, und die man so auch gerne hören wollte, zumal auf den mit viel rotem Fahnentuch ausgestatteten Großkampfveranstaltungen.
Holstein zerrte an den Ketten, nicht gegen den Sozialismus sondern dafür. Weg mit den vom Klassenkampf verbrämten alten Zöpfen, raus mit der Ideologie, wo sie nichts zu suchen hat. Als im Folgejahr die Gewerkschaftswahlen ausgetragen wurden, forderte er die neu gewählte Leitung der Abteilungsgewerkschaftsorganisation dazu auf, sich endlich um ihre tatsächlichen Obliegenheiten ihrer Klientel zu kümmern. Nicht die Verteilung von Urlaubsplätzen sei die ihr zugewiesene Aufgabe, schon gar nicht der verlängerter Arm der Parteiorgane beziehungsweise der staatlichen Leitungen bei der Durchsetzung deren Beschlüsse und Anordnungen. Historisch gesehen hat Gewerkschaftsarbeit die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen zum Ziel, dessen gälte es sich zu erinnern. Gesenkte Köpfe, gebeugte Rücken, ganz zaghafter Beifall.
In der anschließenden kleineren Runde nahm ihn sein Vorgesetzter zur Seite. Der war etwa im gleichen Alter, hatte gleichfalls bei der Marine gedient, allerdings nur ein halbes Jahr Reserve bei den rückwärtigen Einrichtungen. Wenn er jedoch von den schier unendlichen Abenteuern und Begebenheiten, traurigen, skurrilen schnurrigen, dieser seiner Dienstzeit erzählte, schien es, als wäre er der langjährig dort Dienende gewesen und Holstein der halbjährige Reservist.
„Hör mal, Gert, sei bitte etwas vorsichtiger. Die Zeit ist noch nicht reif. Ich weiß es aus sicherer Quelle: die Auswechselung der politischen Spitze steht bevor, der Erste unserer Bezirksleitung wird wahrscheinlich zum neuen Führungskorps gehören. Auch der Dresdner. Wahrscheinlich wird Krenz der neue Parteichef. Wäre schade, wenn du dann nicht mehr dabei bist, denn du kennst es doch noch: einmal dabei – für immer dabei, einmal raus – für immer raus. Also, halte dich bereit, aber vorsichtig und diszipliniert. Jetzt machst du dich mit deinem Auftreten zum Sprecher auch solcher, die mit uns wenig oder gar nichts am Hut haben. Das kannst du beobachten, wenn du dich in Versammlungen zu Wort meldest. Die einen ziehen die Köpfe ein, die anderen frohlocken. Achtung, gleich gibt der Holstein wieder Saures!“
Ein wirklich gutgemeinter Rat? Eine ehrliche Warnung? Oder eher eine auf Veranlassung der Leitung sanft umschriebene Drohung? Ein baldiger Wechsel an der Parteispitze? Alles undurchsichtig. Holstein machte weiter wie bisher und nahm kein Blatt mehr vor den Mund.
Das neunundachtziger Jahr brach an, mit ihm gingen einschneidende Restriktionen im Lande daher: Die Vertrieb der beliebten, stets vergriffenen, zunehmend deutlicher mit den Erscheinungsformen des Stalinismus abrechnenden Sowjetzeitschrift „Sputnik“ wurde eingestellt, zahlreiche, selbst international preisgekrönte sowjetische Filme auf den Index gesetzt. Die Parteiführung leugnete weiterhin die offensichtlich notwendigen Parallelen zur sowjetischen Parteipolitik, das ZK-Mitglied Hager befand in aller Öffentlichkeit dazu: Wenn der Nachbar eben einmal gerade die Wohnung tapeziere, müsse man dies ja nicht auch gleich tun. Noch wenige Jahre zuvor wurde jeder noch so laue Pups, der von Osten heranwehte, mit allem Nachdruck und ohne jede Verzögerung kopiert.
In der Bevölkerung aber wuchs rasant der Ausreisedruck in Richtung Westen. Je mehr und je durchsichtiger sich die Partei- und Staatsführung bemühte, Ruhe, Disziplin und Besonnenheit aufrechtzuerhalten, desto mehr schärften sich die politischen Sinne. Im Frühsommer formierten sich vor den ungarischen und tschechischen Botschaften Tausende von Ausreisewilligen. Holstein saß allabendlich vor dem Fernseher und verfolgte mit Entsetzen, wie junge Mütter und Väter ihre Kleinkinder und Säuglinge über die eisernen Botschaftszäune hoben, wie die in die Botschaften Entkommenen unter den extremsten Bedingungen dort über Wochen schon ausharrten, um in den Westen zu gelangen. Waren sie etwa schlecht gekleidet? Nein. Waren sie unterernährt? Auch nicht. Was also trieb sie dann zu solch waghalsigen, völlig unwägbaren Unternehmungen? Von denen nicht zu reden, die sich in lebensbedrohlicher Weise mit Schwimmhilfsmitteln über die Ostsee oder mit selbstgebauten Luftfahrzeugen über die grüne Grenze auf den Weg gen Westen machten? Wir müssen hier einen weiteren Irrtum Holsteins konstatieren, nämlich den, dass er zu diesem Zeitpunkt noch ernsthaft daran glaubte, dass viele der Flüchtlinge wegen fehlender demokratischer und freiheitlicher Grundrechte ihr Vaterland verließen. Heute, ein nahezu anderthalb Jahrzehnt später, ist er sich dessen sicher, dass Demokratie und Freiheit schlechthin leere Worthülsen sind, geeignet, ein einigermaßen prosperierendes Wirtschaftssystem darin einzubinden oder individuell-intellektuelles Denken zu befördern. Im Kern ihres Daseins orientieren sich die Menschen an ihrem Lebenssatndard, dies natürlich im Vergleich zu ihren unmittelbaren Nachbarn, demokratische Grundrechte hin, demokratische Grundrechte her. Wenn die Nachbarn dann zumal auch die Verwandten sind, wiegen die Differenzen um so schwerer. Der ehemals von Holstein geheimdiensthalber kontaktierte Besuch aus Köln ließ grüßen.
Damals jedoch, im Wendejahr 89, sah Holstein in der politischen Starrköpfigkeit der Partei- und Staatsführung die Hauptursachen des menschlichen Aderlasses, meinte die Massenflucht stoppen zu können mit konsequenten Kursänderungen nach russischem Beispiel. Wie gesagt, ein Irrtum. Genau wie die Erwartung, nach der Wende würden die sowjetische Zeitschrift „Sputnik“ und die ebenso der Zensur der politischen Führung anheimgefallenen sowjetischen Filme Hochkonjunktur haben. Weit gefehlt, es wollte sie dann angesichts der Schwemme bunter Blätter und Videobänder aus den Verlagen jenseits der Elbe plötzlich kaum jemand mehr sehen.
Den Sommerurlaub verbrachten die Holsteins wie üblich wieder an der Ostsee. Dort schwammen aus nicht erklärten Gründen am Ufer Millionen toter Marienkäfer im Wasser herum, teilweise bedeckten sie ganze Strände. Holsteins Schwager bemerkte dazu bei einem Spaziergang: Sind gar keine Käfer, schau richtig hin Gert, alles weggeworfenen Parteiabzeichen. Und hatte noch einen weiteren parat:
„Honecker kommt eines Abends vom Staatsbesuch zurück. Am Flugplatz gleißende Helle, aber kein Mensch zur Begrüßung. Auch die Hallen sind in helles Licht getaucht, jedoch auch hier keine Menschenseele, kein Empfangskomitee wie üblich, kein Angestellter, kein Taxi. Also macht er sich zu Fuß auf die Socken in den Regierungspalast, jedoch überall das gleiche Bild: viel Licht, kein Mensch zu sehen, so auch im Palast. Da schwant ihm Böses: der Klassenfeind! Auf zur Mauer! Auch dort aber nur sehr, sehr viel Licht, kein Mensch, keine Grenzer, kein Zoll, keine Stasi. Statt dessen ein großes Loch mitten in der Mauer. Erich hastet hinzu und entdeckt neben dem Loch einen Zettel, darauf steht in flüchtiger Schrift: Erich, mach das Licht aus, du bist der Letzte.“
Des Volkes Worte. Wie schnell sie sich noch in diesem Jahr bewahrheiten würden, hätte Holstein nicht möglich gehalten.
Der noch hochsommerliche September trieb unablässig weitere DDR-Bürger in die BRD-Botschaften der mit der DDR verbündeten Staaten und Holstein machte in der monatlichen Parteiversammlung offen Front gegen die dafür an den Haaren herbeigezogenen Begründungen in Presse, Funk und Fernsehen. Gleichermaßen stellte er die gebetsmühlenartig gepriesene Wirtschafts- und Sozialpolitik der Parteiführung hochgradig in Zweifel.
„Was ist eine Wirtschaftspolitik wert, die gegen jegliche ökonomische Vernunft, ja selbst gegen von den Klassikern des Sozialismus formulierte ökonomische Gesetze verstößt? Was ist eine Sozialpolitik wert, die soziale Zuwendungen aus einer Streusandbüchse verteilt, unbesehen von tatsächlicher Bedürftigkeit? Was ist daran ökonomisch oder sozial, wenn man jahrelange Mietschuldner bei einem lächerlichen Mietbetrag von hundert, allerhöchstens hundertfünfzig Mark für eine geräumige Drei-Zimmer-Wohnung mit Balkon inklusive aller Heiz- und Nebenkosten ohne ernsthafte Konsequenzen gewähren läßt, sich statt dessen als Begründung ihrer Schuld noch die freche Aussage sonst fehlender Benzingelder für ihr Auto, in solchen Fällen zumeist kein Trabant sondern eher ein Wartburg oder Lada, bieten lässt? Wie lachhaft ist das Festhalten an Durchhalteparolen aller Art. Mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden. Wer von euch glaubt denn das wirklich, dass Lieschen Müller von solchem Gedankengut beseelt am frühen Morgen erst ihre Kinder zur Krippe bringt und dann vom genannten Motto hochgradig inspiriert mit Enthusiasmus bis spät abends an ihrer Kasse in der Kaufhalle Warenpreise eintippt, oder dass Mäxchen Pfiffig in einem fort an die Erhaltung des Weltfriedens denkend im Walzwerk den rotglühenden Stahl wendet? „
Die Antwort vom anwesenden Sekretariatsmitglied der SED-Bezirksleitung erfolgte prompt, scharf und in persönliche Beleidigungen mündend. Holstein wies die Argumente als Beispiele der Entmündigung und der Arroganz zurück und stand hinfort seit genau diesem Tag wieder unter der direkten Beobachtung der SED-Bezirksleitung. Holsteins Parteisekretär kabelte wöchentlich, wenige Tage später sogar täglich, der zentralen Parteileitung über die Stimmungs- und Meinungslage Bericht, darin stets eingebunden der Sonderabschnitt „Holstein“, die zentrale Parteileitung telegrafierte darüber zu dem in Berlin mit anderen Genossen der Parteispitze den 40. Jahrestages der DDR vorbereitenden Ersten Sekretär. Der erinnerte sich nur äußerst ungern seines einstigen Mitarbeiters, der ihm nun erneut Ärger verschaffte. Ärgeren allerdings, viel ärgeren als damals. Da wäre er lieber wieder zu mitternächtlicher Stunde wegen eines Trunkenheitsdelikts aus dem Schlaf gerissen worden.
Sie warfen Holstein in vereinter Front fehlenden Klassenstandpunkt vor, und der konnte es tags darauf im Organ des ZK der SED „Neues Deutschland“ nachlesen, was er unter diesem Klassenstandpunkt zu verstehen hatte:
Es gilt, stand da zu lesen, dass sich die Mitglieder der Partei wieder intensiver mit den Beschlüssen des ZK befassen müssen, um die neuen Anforderungen richtig verstehen zu können und konsequent danach zu handeln. Revolutionärer Klassenstandpunkt bedeutet nichts anderes als fest und in unverbrüchlicher Treue zum ZK und seinem Politbüro zu stehen. Wer einmal der Partei sein Wort gegeben habe, tat dies auf Lebenszeit!
Ja, so hätten sie es wohl gerne, und da glichen sie den Machthabern in aller Welt: blinde Ergebenheit und unverbrüchliche Treue!
Holstein hatte in der Folgezeit eine schweren Stand in seiner Abteilung, nicht bei den Kollegen, abgesehen von denen, die ihm anonyme telefonische Anrufe bedrohlichen Inhalts zuteil werden ließen, wohl aber bei seinem neuen Leiter. Den bisherigen hatte man auf eigenen Wunsch, möglicherweise spielte dabei auch dessen Hang zum Alkohol und zu verheirateten Frauen eine nicht unbeträchtliche Rolle, in eine ihm besser gelegene Funktion außerhalb des Staatsapparates versetzt, der neue, Genosse Setzer, übte bis dahin das Amt des Ratsvorsitzenden eines Kreises im Erzgebirge aus. Als seine erste und vordringlichste Aufgabe im neuen Amt sah er es offenbar an, Holstein ideologisch wieder auf Vordermann zu bringen. So bestellte er ihn zu sich und überlud ihn dann sogleich stundenlang mit den Vorzügen des Sozialismus, dass Holstein die Ohren sausten und der Kopf schmerzte.
Wenn nur ein Viertel, so Setzer, aller Parteimitglieder die Parteipolitik tagtäglich mit allerhöchstem Eifer in ihrer Arbeit umgesetzt hätte, wäre der derzeitig desolate Zustand in der DDR sicher zu vermeiden gewesen. Auch wäre eine gewisse Unmäßigkeit in den Forderungen der Bürger festzustellen, ein Beispiel nur: Als Ratsvorsitzender habe er mit unzähligen Eingaben in Fragen Wohnraumversorgung zu tun gehabt. Einer siebenköpfigen Familie habe er dazu verholfen, außer der Reihe aus ihrer dem Zusammenbruch geweihten Altbausubstanz aus der Zeit des mittelalterlichen Silberbergbaus in eine Neubauwohnung umziehen zu können, mit Bad, Innentoilette, vier Zimmern, einer geräumigen Küche. Aber anstelle des erwarteten Dankschreibens wäre ihm zwei Wochen nach dem Einzug von dieser Familie die nächste Eingabe auf seinen Tisch geflattert: Es gibt keine Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe der Wohnung, auch keine Gaststätte. Ja zum Kuckuck, wo leben wir denn? Etwa schon im Schlaraffenland? Unmäßig, völlig unmäßig!
Der 40.Jahrestag der Gründung der DDR stand ins Haus. Wie seit Jahrzehnten gewohnt mit der obligatorischen Militärparade und dem abendlichen Fackelzug der aus allen Teilen der Republik herangekarrten Jugendlichen in den blauen Hemden und Blusen der FDJ, in hohem Grade erinnernd an die Aufmärsche der Heiligen Inquisition, des Ku Klux Klan und der Nazis. Parallel dazu die Bekundungen der Andersdenkenden, mehrheitlich noch formiert unter Rosa Luxemburgs Freiheitsanspruch. Erwartungsgemäß kam es zu Auseinandersetzungen mit den Sicherheitsorganen, so auch an diesem Tag in Leipzig und anderen Städten, so auch in Holsteins Heimatstadt. Noch allerdings war die Zahl der öffentlich Aufmüpfigen klein, unüberhörbar zwar, aber doch bescheiden. Für den nachfolgenden Montag hatte das Neue Forum in Leipzig zu einer Massendemonstration aufgerufen. Polizei und Armee standen in Bereitschaft, es drohte der offene Konflikt, ein Bürgerkrieg. Trotz seiner unbegrenzten Sympathie mit den Demonstranten und ihren Forderungen konnte sich Holstein nicht dazu entschließen, sich selbst an den Demonstrationen zu beteiligen. Nicht aus Angst, nein, Holstein umging Massenaufläufe welcher Art auch immer, außerdem hoffte er darauf, dass die Parteigenossen der Basis sich endlich an die Spitze stellen und die Wende herbeiführen würden. Doch die Genossen der Basis waren entweder gelähmt oder marschierten selbst schon in den Demonstrationen des Neuen Forums. Tausende Parteimitglieder hatten ihr Mitgliedsbuch bereits zurückgegeben, die Marienkäfer am Ostseestrand tanzten vor Holsteins Augen. Er wusste sich in einer geschichtlichen Situation von außergewöhnlicher Tragweite und sah seine Partei darin in Agonie, die, die immerfort bisher vollmundig verkündete, ein für alle mal die historische Wahrheit gepachtet zu haben. Da half ihm nicht mehr Lenins „Was tun?“, Lenin selbst auch nicht. Nur der alberne Witz erhielt plötzlich reales Gewicht, in dem Lenin, von einem Wunderdoktor aus dem Todesschlaf erweckt, helfen soll, die Probleme des Sowjetlandes zu lösen. Nach etlichen Tagen finden die Genossen dort, wo sie ihn nebst aktuellen Zeitdokumenten alleine zurück ließen, nicht ihn selbst sondern nur seine Nachricht vor: Bin auf der Aurora, die Scheiße geht von vorne los! Also, was tun? Alle Kennzeichen und Signale im Land deuteten in Richtung einer sozialen Revolution. Die Herrschenden können nicht mehr und die Beherrschten wollen nicht mehr, so sagte es Marx. Noch aber schienen sich die Herrschenden ihrer Sache sicher zu sein.
Im Oktober begann der alle zwei Jahre stattfindende Lehrgang für die Mitarbeiter Holsteins Fachorgans. Fachliche und politische Vorträge und Seminare wechselten sich ab, in der Eröffnungsansprache hörte Holstein das alte Lied vom Sieg des Sozialismus, jetzt in den Farben schwarz-rot-gold, von der Überlegenheit der sozialistischen Planwirtschaft, von der wahrhaft demokratischen Gesellschaftsordnung in der DDR, von den Erfolgen der Sowjetunion beim Aufbau des Sozialismus-Kommunismus bis 1985 (danach schien es damit vorbei zu sein)...und die Flüchtlingswelle rollte derweil weiter, unaufhaltsam, westwärts.
Für den wie gewöhnlich anberaumten militär-politischen Vortrag hatte man einen Oberstleutnant aus dem hiesigen Wehrbezirkskommando gewonnen, ein ehemaliger Divisions-Planungsoffizier einer brandenburgischen motorisierten Schützeneinheit, gerade und von dort frisch versetzt. Seine Darlegungen veranlassten Holstein zum radikalen und endgültigen Bruch mit den gegebenen Herrschaftsstrukturen.
Der Offizier dozierte über die unter Gorbatschow neu erarbeitete Militärdoktrin des Warschauer Paktes, nicht mehr Angriff und Zerschlagung der gegnerischen Truppen auf deren eigenem Territorium sei jetzt angesagt, sondern nur noch Auffangen des Angriffs und Zurückdrängung der feindlichen Kräfte bis zur eigenen Landesgrenze. Während die restlichen Hörer mehr oder weniger mit sich selbst beschäftigt waren und vor sich hindösten, verfolgte Holstein, der langjährig Gediente, den Vortrag mit gespannter Aufmerksamkeit und erkannte einen Widerspruch. In der Pause trat er an den Oberstleutnant heran.
„Das mit der neuen Verteidigungsdoktrin musst du mir bitte noch einmal etwas deutlicher erklären.“
„Auf einen Nenner gebracht: Zu Breshnews Zeiten galt, der militär-politisch günstigste Zeitpunkt ist Schlagzeit für den präventiven Angriff des Warschauer Paktes. Mittels mehrerer Atomschläge werden drei, vier oder fünf Schneisen durch Westeuropa zum Atlantik getrieben, darin rollt nachsetzend die Masse unserer Panzerkräfte. Das gilt jetzt so nicht mehr.“
Holstein wurde es speiübel. Diese Schweine, diese elenden Schweine! Auch wenn es nur halbwegs stimmte, was ihm der Oberstleutnant gerade unter dem Mäntelchen der Verschwiegenheit offenbarte, verheizt hätte sie sie, schonungslos und schamlos verheizt für ihre hirnrissigen und aberwitzigen und zugleich militanten Weltbefreiungs- und -beglückungsideen. Plötzlich war es ihm bewusst, warum sie zu seinen Dienstzeiten bei der Marine mit dem Schnellboot Stunden über Stunden schweißüberströmt in voller Schutzmontur fahren mussten, obgleich sie mit ihren Booten den radioaktiven Wolken leicht hätten ausweichen können. Plötzlich war ihm klar, warum der Warschauer Vertrag über solch massive Panzerarmeen verfügte. Und plötzlich sah Holstein seinen Sohn vor sich, der jetzt so alt war wie er damals, und es presste ihm den Brustkorb zusammen. Schluss, Schluss und weg mit diesen verdammten Schweinen! Und er konnte in seiner grenzenlosen Übelkeit und ohnmächtigen Wut keinen anderen Gedanken mehr fassen.
Der Lehrgang wurde, bedingt durch die sich im Lande zuspitzende politische Situation, vorzeitig abgesetzt, die Mitarbeiter an ihre Arbeitsplätze zurückverwiesen. Der in der Folgewoche anberaumte nächste Durchgang fand überhaupt nicht mehr statt.
Als Holstein am letzten Tag des Lehrgangs zu Hause eintraf, fand er ein Blatt Papier vor im Briefkasten, ein blassgelber, schon leicht zerknitterter Ormigabzug. Den handgeschriebenen Schriftzügen lagen die Zielstellungen der noch immer um ihre Zulassung ringenden Bürgerrechtsbewegung Neues Forum zugrunde. Holstein erkannte darin weder konterrevolutionäre Absichten noch sonst irgendwelche Formulierungen, die den Sozialismus in Frage stellten. Freie Meinungsäußerung, Freiheit der Medien, demokratische Wahlen, alles das waren Forderungen, die er selbst aufwerfen könnte.
Neben den Forderungen waren Ansprechpartner aufgeführt, Namen, Adressen, Telefonnummern. Holstein beschloss, den Kontakt zu suchen, er wollte mehr über die Zielstellungen des Neuen Forum und dessen Sprecher in Erfahrung bringen. Nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es ihm endlich, sich mit einer der auf dem Zettel Genannten zu vereinbaren. Er suchte sie in ihrer Wohnung auf und stellte schon an der Hauseingangstür des großen Mietshauses fest, dass die Frau, eine Künstlerin, observiert wurde: eine außergewöhnlich überdimensionierte Hauslaterne warf jedem Ankömmling ihr gleißendes Licht entgegen, genug, um aus dem Gebäude auf der Gegenseite jede den Hauseingang passierende Person auch in nächtlicher Dunkelheit ausreichend identifizieren zu können. Holstein sah keinen Sinn im Versteckspiel mit seinen ehemaligen Bundesgenossen, in diesem Kampf half nur das völlig offenen Visier, jegliche Geheimniskrämerei würde von Nachteil sein und konnte gegen die Reformkräfte verwandt werden. So schritt er gelassen durch die Tür und stattete der auf dem Ormigabzug genannten Ansprechpartnerin seinen angekündigten Besuch ab. Die kam gerade von einem dreiwöchigen Urlaub aus Ungarn zurück, wusste wenig auf Holsteins Fragen zu antworten und verwies ihn deshalb an ein anderes Mitglied ihrer Organisation. Holstein stellte alsbald mit Erschrecken fest, sie zählten nur ein paar Leute. Ein Arzt, einige Künstler, kein einziger Arbeiter. Sie verfügten über keine Organisationsstrukturen, keine sicheren Kommunikationskanäle, sie waren untereinander nicht erreichbar und das schlimmste von allem: sie wussten zwar, was sie alles nicht mehr wollten im gesellschaftlichen Leben der DDR, aber was an dessen Stelle treten sollte, das wussten sie nicht. Sie hatten kein Wirtschaftskonzept und keine außenpolitische Plattform. Sie hatten nur vage Vorstellungen von den neu zu gestaltenden innenpolitischen Zuständen. Ihre formulierten Zielstellungen beruhten auf ihren persönlichen Erfahrungen, die waren von keiner homogenen Gesellschaftstheorie getragen. Damit, das war Holstein sofort klar, konnten das Neue Forum wohl der Initiator des allgemeinen Volksaufbegehrens sein, niemals aber wirklich der die allgemeine Erhebung kanalisierende Hegemon.
Da keine andere Kraft aber momentan in Sichtweite war, die sich so rigoros und selbstlos vor den Karren aller spannte wie eben das Neue Forum, sah Holstein nur den einen Weg: so schnell wie möglich war der Bogen zu spannen von den jetzt noch voranreitenden Forumsleuten zu den noch in den Startlöchern hockenden SED-Genossen aus den Basisorganisationen. So könnte der Bewegung Strategie und Taktik verschafft und die drohende Abgleitung in Anarchie und möglichem Bürgerkrieg oder auch in den Anschluss an die Bundesrepublik vermieden werden.
Wir wissen längst, dass Holsteins Engagement in dieser Sache nichts brachte, nicht einmal in seinem lächerlich kleinen Umfeld und Wirkungskreis. Die Forum-Leute wollten mit den SED-Leuten nichts zu tun haben, die meisten der SED-Leute nichts mit dem Neuen Forum. Neben dem Neuen Forum traten zudem schnell andere Oppositionsgruppen und –parteien auf die politische Tagesordnung, und der Tanz um die Macht nach dem sich abzeichnenden desaströsen Abgesang der SED setzte ein. Die Tanzfläche als Sieger verließ letztendlich einer, der sich dies in den Tagen, da noch nichts entschieden war, da noch Millionen bewaffneter Kräfte in der DDR unter sozialistischer Befehlsgebung standen, da Holstein mit geradezu irrsinniger Wut und furchtbarer Angst gegen die Festung Stalinismus anrannte, nicht hätte träumen lassen: der mit Beginn des Nachwendejahres 1990 D-Mark, Freizügigkeit und blühende Landschaften ohne Ende versprechende Bundeskanzler Helmut Kohl.
Folgen wir jetzt dem weiteren Verlauf der Geschehnisse an Hand der Aufzeichnungen aus Holsteins Tagebuch, welche er in den entscheidenden Tagen und Wochen der Wende anfertigte.
Freitag, 20. Oktober 1989
Nach dem Sturz Honeckers keimen auch im Fachorgan Planung zaghafte demokratische Anfänge Formen. Die bisher ausschließlich den Propagandisten von Partei und Gewerkschaft vorbehaltene Wandzeitung wurde freigegeben für „vorwärtsweisende“ Stimmungen und Meinungen aller Mitarbeiter. Nach Abstimmung mit den Kollegen seiner Abteilung heftete Holstein heute morgen seinen Standpunkt daran. Seine erste Forderung lautet: Sofortige Einstellung aller Arbeiten und Tätigkeiten, die rein politisch-ideologischen Charakter haben oder von der Bezirksleitung der SED angeordnet sind.
Vor der sonst kaum wahrgenommenen Wandzeitung ballten sich nun die Kollegen zuhauf, heftig erregten sich die Gemüter, Zustimmung und Ablehnung hielten sich die Waage. Gegen Mittag war Holsteins Zettel wieder entfernt, so weit sollte die demokratische Öffnung wohl nicht verstanden werden. In den Büroräumen wurde indes darüber heftig weiter diskutiert.
Nach dem Abendessen fuhr er noch einmal in das Stadtzentrum. Das war weiträumig von Verkehrspolizisten abgesperrt. Von anderen Sicherungskräften weit und breit keine Spur, auch nicht in den Nebenstraßen. Eine tausendköpfige Menge war auf den Straßen und Plätzen versammelt, ungeordnet aber diszipliniert. Sprechchöre erschallten, Holstein hörte christliche Gesänge, daneben aber auch die „Internationale“. Auf teilweise riesigen Bannern und Transparenten wurden freie Wahlen, Demokratie, moderner Sozialismus – kein Stalinismus gefordert. Ein Plakat trug die Aufschrift „Schnitzler in die Muppet-Show“, eines forderte „Keine Lügen mehr“. Von provisorischen Rednerplätzen sprachen Vertreter der gleich Pilzen aus dem Boden schießenden politischen Gruppierungen. Viele der versammelten Menschen hielten brennende Kerzen in ihren Händen. Wo waren die Genossen der Partei-Basisorganisationen?
Montag, 23. Oktober 1989
Auf der am Nachmittag stattfindenden Rechenschaftslegung der staatlichen Leitung zum Rahmenkollektivvertrag mit der Gewerkschaft forderte Holstein die Streichung sämtlicher finanzieller Zuwendungen aus dem Kultur- und Sozialfonds für die Betriebskampfgruppe, die betrieblich organisierte Gesellschaft für Sport und Technik sowie die Betriebsparteiorganisation. Das reichte wieder zum Eklat und zum Disziplinierungsversuch durch die Versammlungsleitung. Allerdings haben die meisten der Anwesenden zu seinen Forderungen auch diesmal wieder zurückhaltend geschwiegen.
Gegen achtzehn Uhr war die Rechenschaftslegung zu Ende. Als Holstein aus dem Gebäude trat, sammelten sich bereits wieder Demonstranten. Sie stellten brennende Kerzen auf dem Sockel des Karl-Marx-Monuments nieder. Es waren schon wieder viele Hunderte.
Von der Kreuzung her näherte sich dann ein kleiner Trupp, ihm voran ein Trommler, vorbei am Haus der SED-Bezirksleitung. „Neues Forum – schließt euch an!“, gellte es durch die Straßenschlucht. Die bis dahin noch den Straßenrand Säumenden, als hätten sie nur auf dieses Signal gewartet, folgten dem Ruf und formierten sich zum Demonstrationszug in Richtung Rathausplatz.
Holstein lief ein Stück nebenher, sah die ihm schon bekannten Losungen wieder, auch neue darunter jetzt: „Stasi in die Produktion – nur für Arbeit gibt es Lohn!“, stand da auf einem Spruchband zu lesen. Zunehmend lauter aber erhob sich ein einziger Ruf „Wir sind das Volk, wir sind das Volk!“ Am Haus der Bezirksleitung der SED vorbeiziehend erklang der Sprechchor „SED – das tut weh!“
Aus dem Strom der neben Holstein auf der Straße herziehenden Massen vernahm er plötzlich seinen Namen und staunte nicht schlecht: drei seiner Arbeitskollegen im Zug. Nun trat auch er in den Demonstrationszug ein, zögerlich jedoch, denn Holstein setzte immer noch auf die befreiende Kraft der Genossen von der Basis, von denen er annahm, dass sie dachten wie er.
Den aus ihren Fenstern zuschauenden Bürgern wurde zugerufen „Auf die Straße! Schließt euch an!“, den den Verkehr regelnden Volkspolizisten „Zieht euch um und schließt euch an!“ und immer wieder „Wir sind das Volk! Demokratie –jetzt oder nie!“
Trotz der ihn umfassenden euphorischen Erregung fühlte sich Holstein unwohl. Einerseits empfand er nun deutlich: Sein Platz war hier, hier unter dem Volk, welches aufbegehrte gegen den alleinigen Weisheits- und Machtanspruch einer Clique, die stets vorgab, ausschließlich im Sinne eben dieses Volkes zu handeln. Andererseits verlangte es ihn nach einer die Richtung vorgebenden Kraft. So heterogen die vom Demonstrationszug ausstrahlenden Losungen oder Sprechchöre waren, so heterogen war auch dessen Zusammensetzung, so heterogen waren auch die Interessen seiner Teilnehmer. Ohne eine einheitliche, die Vorstellungen aller auf einen Nenner bringende Orientierung sah er die Gefahr anarchischer Zustände und blutiger Auseinandersetzungen.
Später fuhr Holstein noch kurz bei seinen Eltern vorbei, die Mutter mokierte sich über den ätzend nach fauligen Kartoffeln und Möhren riechenden Gestank in der Kaufhalle und hat Angst, die Nazis kämen mit den Unruhen auf die Straßen zurück. Sein Vater, als nun Fünfundsiebzigjähriger aller Ämter und Posten los und ledig, verfolgte die Demonstrationen mit größter Skepsis. Honeckers Rücktritt war für ihn ein derber Schlag. Er sah in dem Dachdecker stets das, was er sich für Holstein erträumte: den sozialistischen Arbeiterminister.
Sonntag, 29. Oktober 1989
Im Plenarsaal des Rathauses fand neun Uhr morgens eine bürgeroffene Diskussion statt, geleitet von einem Sprecher des Neuen Forums, anwesend auch Vertreter des Sekretariats der SED-Bezirksleitung. Der Saal war brechend voll, die Stimmung überreizt. Vor dem Rathaus standen noch Hunderte und begehrten umsonst Einlass, die drinnen geführte Diskussion wurde per Lautsprecher nach draußen übertragen. Holstein stand eingezwängt in der Masse und verfolgte mit zunehmendem Missmut den Disput. Sie schrien alle wild durcheinander, der Diskussionsleiter wurde überrannt, die beiden anwesenden Sekretariatsmitglieder der SED-Bezirksleitung kamen gar nicht erst zu Wort. Wenn die zum Mikrophon griffen, erhoben sich ein tosendes Pfeifkonzert und kreischende Puh-Rufe. Holstein hatte den Eindruck, dass hier eher lang aufgestauter Dampf abgelassen wurde. Nach zweistündiger, kontroverser und völlig ergebnisloser Debatte, die zunehmend auch im Kreis der Zuhörer selbst mit allem Pro und Kontra ausgetragen wurde, verließ er den Saal und war sich darüber im Klaren: So wird das nichts!
Montag, 30. Oktober 1989
Wunderlich nahm Holstein am Morgen beiseite: In der Betriebskampfgruppe übten sie jetzt unter der Leitung von Polizeioffizieren die gewaltsame Auflösung von Demonstrationen und Versammlungen und erlernten zu diesem Zwecke die Handhabung von Schlagstöcken. Allerdings seien sich die meisten Kampfgruppenmitglieder darin einig, niemals, auch nicht unter Befehl, gegen die derzeit aufbegehrende Bevölkerung vorzugehen. Zum einen teilten sie zumeist selbst deren Anliegen und Forderungen, zum anderen hatten schon zu den Krawallen am siebenten Oktober im Stadtzentrum Väter und Großväter in der Kampfgruppenuniform plötzlich ihren vom Wasserwerfereinsatz pitschnassen Söhnen, Töchtern und Enkeln gegenübergestanden.
Die Zahl der Montagsdemonstranten hatte sich an diesem Abend vehement weiter erhöht. Erstmals wurden neben den vereinzelten roten Fahnen auch DDR-Fahnen mit herausgeschnittenem Emblemen und schwarz-rot-goldene Fahnen ohne Emblem im Zug der Tausenden mitgeführt und auf neuen Transparenten der alleinige Führungsanspruch der SED in Frage gestellt. Rufe nach dem Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung wurden laut.
Dienstag, 31. Oktober 1989
Holstein hatte übers Wochenende in einem offenen Brief seine Vorstellungen zur Gesellschaftsreform in der DDR formuliert und diesen an die Redaktion des „Neuen Deutschland“ gesandt. Der Kern seiner darin niedergelegten Gedanken bestand darin, dass die Führungsrolle der Arbeiterklasse überholt und der verfassungsmäßig diktierte Machtanspruch der SED nicht länger aufrechtzuerhalten sind. Diesen Brief verschickte er gleichsam an die Vorstände der in der Nationalen Front vereinigten Parteien und Massenorganisationen, außerdem an einen Vertreter des Neuen Forum. Holstein verstand dies als seinen Beitrag zu einer Koalition der Vernunft, die sich für die konsequente Überwindung des Stalinismus in der DDR einsetzt, unabhängig von den weltanschaulichen Positionen ihrer Teilhaber. Anstelle der für ihn bis zu diesem Zeitpunkt gültigen Parteidisziplin, der er sich über Jahrzehnte vom Prinzip her stets abtrichslos beugte, setzte er von nun an sein politisches Gewissen.
Die seit seiner Kontaktaufnahme mit dem Neuen Forum durch ihn bereits bemerkten Überwachungen durch die Sicherheitsorgane (sie hatten ihn ja vor Jahren auch diesbezüglich gut ausgebildet) wurden offenbar verstärkt, heute stellte er beim Betreten seines Dienstraumes die Durchsuchung seiner Aktenschränke und seines Schreibtisches fest. Holstein meldete es sofort pro forma dem Verantwortlichen für allgemeine Sicherheit im Hause, wohl wissend, dass der mit denen, welche durchsuchten, unter einer Decke steckte.
Donnerstag, 2. November 1989
In der für den 4. November in Berlin durch den Künstlerverband der DDR geplante Demonstration sah Holstein die größte Chance, vor den Augen der Weltöffentlichkeit den Willen der Bevölkerung der DDR zu bekunden, die größte, kaum wiederkehrende Möglichkeit, in einer völlig gewaltfreien und demokratischen Weise die bestehenden politischen Verhältnisse zu wenden. An eine tatsächliche Wende, wie sie Honecker-Nachfolger Egon Krenz unter der Führung des SED-Politbüros zu vollziehen versprach, glaube er längst nicht mehr.
Nächtelanges Grübeln ließ in ihm einen Plan reifen, den es den ihm bereits bestens bekannten Vertreter des Neuen Forum zu vermitteln galt. Der vereinbarte telefonisch das von Holstein mit aller Dringlichkeit angemahnte Treffen in seinem Haus am Stadtrand. Dort angekommen erkannte Holstein schon von weitem die Beobachtergruppe des MfS, drei Männer, eine Frau, die Männer trotz wolkenlosen Himmels bewaffnet mit Regenschirmen, wahrscheinlich rauchten sie „Club“, ihre Stammmarke.
Der Vertreter des Neuen Forum hörte sich Holsteins Überlegungen aufmerksam an, vorsichtshalber trug Holstein diese ihm in seinem abhörsicheren Garten weit hinter dem Haus vor. Er ging dabei davon aus, dass zur geplanten Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz mindestens eine halbe Million Menschen erscheinen werden. Unter den Augen der Fernsehkameras aus aller Welt sollte nach seinen Vorstellungen Egon Krenz von der versammelten Masse durch permanente Sprechchöre zum Erscheinen gezwungen und ihm dann das Versprechen abgerungen werden, binnen kürzester Frist einen Volksentscheid zur bestehenden Verfassung anzuberaumen. Holstein war der Meinung, dass ein solcher Volksentscheid zur Verfassung, welche in ihren erstem Artikel den Führungsanspruch der SED definiert, den Ansprüchen an Demokratie am besten gerecht wird. Soll der Souverän entscheiden, das Volk. Nicht die SED, nicht das Neue Forum, nicht andere Gruppen und Verbände, sondern das Volk, allein das Volk.
Der Neues-Forum–Vertreter sicherte Holstein die Übermittlung seiner Darlegungen an den Landesvorstand des Neuen Forum zu.
In der darauffolgenden, schlaflosen Nacht wurde Holstein von Krämpfen der Verzweiflung, der Wut und des Zorns geschüttelt. Abgrundtiefer Haß bracht aus ihm heraus, Haß auf diejenigen, die auch ihn mit Lügen und Halbwahrheiten gefüttert, mit pseudowissenschaftlichen Phrasen belogen und betrogen, die mit einer selbstgerechten Arroganz und Ignoranz ohnegleichen sein Land, sein Volk so weit an den Abgrund einer Katastrophe geführt hatten.
Freitag, 3. November 1989
Holstein verzichtete auf seinen für diesen Tag eigentlich geplanten Urlaubstag und beschloss, sich an der Wandzeitung seiner Abteilung in aller Offenheit und mit aller Konsequenz zu offenbaren. Er bekannte sich in seinem Aushang zu den Zielstellungen des Neuen Forum und vermeldete gleichzeitig seine Teilnahme an der Demonstration in Berlin unter dem Motto: Wir sind das Volk – keine Diktatur!
Seinen Standpunkt zur gesellschaftlichen Krise in der DDR , den er bereits dem Neuen Deutschland als offenen Brief zugeschickt habe, befestigte er daneben. Außerdem forderte er die Einberufung der längst überfälligen Parteiversammlung, um endlich klar Schiff zu machen.
Der Aushang ruft einen Menschenauflauf hervor, wie ihn dieses allzeit mit rotem Fahnentuch bespannte Brett wohl noch nie gesehen hat. Rufe werden laut im Tumult, die euphorische Woge rundete sich von abgrundtiefem Haß bis Zustimmung, nur wenige standen dabei, die nichts zu sagen hatten.
Am Abend beteiligte sich Holstein wieder an der Demonstration durch das Stadtzentrum. Zu Hause erwartete ihn ein Kollege von Dani, gerade erst aus einem Auslandseinsatz in Rumänien und Bulgarien zurückgekehrt. Auf der Heimfahrt durch die Slowakei wären sie fast in Österreich gelandet, da sie wie gewohnt dem Strom der mit DDR-Kennzeichen versehenen Fahrzeuge in Richtung Heimat folgten und ihren Irrtum erst kurz vor der Grenze bemerkten. Sie scherten aus der Kolonne aus ernteten bei ihrer Umkehr von den ihre bisherige Route Beibehaltenden erstaunte Minen und lange Hälse. Im Betrieb angelangt führte man sie gleich zuerst in einen eigens dazu eingerichteten Raum, wo Mitglieder der noch amtierenden Betriebsparteileitung die zurückgegebenen Parteiausweise einsammelten und, fein säuberlich nach dem Alphabet sortiert, in Karteikästchen ablegten. Außen neben der Tür zu diesem Raum hing ein Foto von Schalk-Golodkowski, darunter stand „Wanted!“. So kam Bernd ob der unerhörten Geschehnisse rundum aus dem Staunen nicht heraus und suchte die Holsteins abends als erste Anlauf- und Informationsstelle auf. Holstein setzte ihn grob von den Vorgängen in Kenntnis, schilderte ihm auch seine eigenen Anteile am Versuch, demokratische Verhältnisse auf sozialistischer Grundlage im Lande zu schaffen und informierte ihn über seine Absicht, an der Demonstration in Berlin am folgenden Tag teilzunehmen. Spontan sagte Bernd seine Teilnahme zu. Sie schnitten noch an diesem Abend aus einem Bettlaken ein Transparent heraus und beschrieben es mit roter Farbe: „Volksentscheid zur Verfassung“.
Samstag, 4. November 1989
Gegen drei Uhr morgens brachen sie auf. Das Wetter war kalt und regnerisch und beiden nicht wohl. Was wird sie erwarten dort in Berlin? Polizei- und Armeesperren, Panzer, spanische Reiter? Sie wussten es nicht, was sie wussten war: An diesem Tag ging es nicht um Bananen oder Reisefreiheit, es ging um die Wurst, um die Brechung des Machtmonopols der SED-Führung nebst deren Vasallen. Kurz vor Berlin wurden sie von einer Polizeistreife angehalten, wollten sie sie nicht hineinlassen in die Stadt? Alles in Ordnung, die Polizisten gaben nach Angabe des Fahrzieles den Weg wieder frei. Ab und an schauten sie in den Rückspiegel. Nach dem Umsteigen in die S-Bahn am Stadtrand wechselten sie an der dritten Station den Zug. Niemand folgte ihnen, aber Vorbeugen ist besser als auf den Rücken fallen.
Am Alexanderplatz erblickten sie eine unübersehbare Menschenmenge, Holsteins Erwartungen hatten nicht getrogen. Der Demonstrationszug war bereits in Bewegung, uniformierte Sicherheitskräfte oder gar schwer bewaffnete Einheiten nirgendwo zu sehen, abgesehen von den wenigen sperrenden und regelnden Verkehrspolizisten. Entlang der Strecke standen Männer und Frauen mit gelb-grünen Schärpen, versehen mit der Aufschrift: Ohne Gewalt.
Noch erschien ihnen die Stimmung im Demonstrationszug, in den sie sich einreihten, ernst und gedrückt. Ihr Transparent hielten sie mit den Händen zwischen ihnen gespannt, Fahnenstöcke und Reißzwecken waren im Kaufhaus am Alex ausverkauft. Die hinter ihnen Laufenden trugen ein farbenfrohes und breitflächiges Fahnentuch, darauf stand : Asterix ins Politbüro!
Zunehmend kam, unterstützt auch durch die Vielzahl der politischen Karikaturen, Freude und Optimismus auf unter den Demonstranten, die Stimmung wurde ausgesprochen locker, keine Spur von Aggressivität. Ruhig und diszipliniert strebte der endlose Strom nun wieder dem Alexanderplatz entgegen, begleitet von der Musik zahlreicher Liedermacher und Gesangsgruppen, keine der sonst üblichen dumpf-dröhnenden Marschmusik unter der Allmacht roter Fahnen.
Der erste Redner trat ans Pult, jetzt gilt’s! Aber die Forderung nach dem Erscheinen von Egon Krenz blieb aus. Es lief nicht so, wie es Holsteins Plan vorsah, er sah die große Chance vertan. Doch Holstein wurde auf andere Weise entschädigt: Gleich einem roten Faden durchzog eine Forderung fast alle Reden: Schluss mit dem Führungsanspruch der SED! Schon der dritte Redner formulierte sie klar und eindeutig, tosender Beifall branntete auf. Gleich einem Zeichen höherer Gewalt zog sich der bis dahin verhangene Himmel auf und die Sonne tauchte mit ihren Strahlen in die bunte Vielfalt der Demonstranten. Diese Art von Revolution war auch Holstein lieber als eine am Rande der Gewalt balancierende.
Auf der Rückreise trafen sie in der S-Bahn auf zahlreiche andere Demonstrationsteilnehmer, sie kamen ins Gespräch mit Katholiken aus dem Eichsfeld, mit parteilosen Landwirten aus Mecklenburg, die Barrieren der Weltanschauungen schienen überwunden, alle eint das gleiche Ziel: die Errichtung einer menschenwürdigen Demokratie mit sozialistischem Antlitz.