Geschwister der Bibel - Margot Käßmann - E-Book

Geschwister der Bibel E-Book

Margot Käßmann

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Beschreibung

Mit den Geschwistern hat man die längste Beziehung des Lebens. Sie prägen die gesamte Kindheit, sie prägen die Persönlichkeit jedes Einzelnen. Margot Käßmann setzt sich mit Geschwistern der Bibel auseinander. Jakob und Esau, Lea und Rahel, Ger und Onan und viele andere kommen zu Wort. Sie erzählt zwanzig Geschwistergeschichten der Bibel nach und bezieht sie auf die heutige Zeit. Margot Käßmann interpretiert u.a. diese Geschwistergeschichten der Bibel mit dem Blick von heute: •Jakob und Esau: Zwillinge – eine ganz besondere Beziehung •Dina und ihre Brüder: Ein Mädchen unter so vielen Jungs! •Absalom, Amnon und Tamar: Von der großen Liebe zur kleinen Schwester •Judas, Simon und Jonatan: Drei Brüder, die im Leben nur Krieg kennen •Jesus und seine Geschwister: Der Älteste nervt irgendwie – und ist doch besonders •Die Schwester von Paulus: Von Entfremdung und Annäherung "Je älter ich werde, desto spannender finde ich das Thema Geschwister. Das ist offensichtlich kein individuelles, sondern ein verbreitetes Phänomen. Freundinnen und Freunde gehen, Geschwister bleiben, es ist in der Tat die längste Beziehung des Lebens. Sie prägt unsere gesamte Kindheit. Da gibt es große Liebe zueinander und große Konkurrenz, Solidarität und Abgrenzung, Zusammengehörigkeitsgefühl und Auseinandersetzung", so Margot Käßmann im Vorwort des Buches. Auf faszinierende Art zeigt sie, die selbst mit zwei älteren Schwestern aufgewachsen ist, was man von den Geschwistern und ihrer Beziehung lernen kann, wie sie heute inspirieren und auf welche Weise sie das Leben beeinflussen können.

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Margot Käßmann

Geschwister der Bibel

Geschichten über Zwist und Liebe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Bibelstellen nach der revidierten Lutherbibel 2017

Lektorat: Elke Rutzenhöfer

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © Chagall, Marc: (Mirjam), Mose und Aaron vor dem Volk (1966), aus dem Zyklus »Exodus«, Farblithographie, Galerie Fetzer, © VG Bild Kunst, Bonn 2019

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN E-Book 978-3-451-81661-1

ISBN Print 978-3-451-39414-0

Meinen Geschwistern gewidmet

Inhalt

Vorwort

Kain, Abel und Seth

Brüder, die Mord und Totschlag kennen

Sem, Ham und Jafet

Brüder, die in schwerer Zeit zusammenhalten

Ismael und Isaak

Brüder im Ringen um die Vormachtstellung beim Vater

Lots Töchter

Schwestern, die sexuelle Gewalt erfahren

Rebekka und ­Laban

Bruder und Schwester im Spannungsfeld

Jakob und Esau

Zwillinge – eine ganz besondere Beziehung

Lea und Rahel

Ein Wettstreit im Gebären

Ger, Onan und Schela

Ersatzkind für den verstorbenen Bruder?

Dina und ihre Brüder

Ein Mädchen unter so vielen Jungs!

Mirjam, Mose und Aaron

Geschwister mit Führungsqualität

David und seine Brüder

Ein kleiner Bruder, den das Leben bevorzugt

Absalom, Amnon und Tamar

Von der großen Liebe zur kleinen Schwester

Judas, Simon und Jonatan

Drei Brüder, die im Leben nur Krieg kennen

Jesus und seine Geschwister

Der Älteste nervt irgendwie – und ist doch besonders

Jakobus und ­Johannes

Gemeinsamer Aufbruch zweier Brüder

Herodes und Philippus

Wenn ein Mann die Frau des Bruders liebt …

Maria, Marta … und Lazarus

Ein Zusammenleben der besonderen Art

Andreas und ­Simon Petrus

Brüder mit sehr verschiedenen Gaben

Die Schwester von Paulus

Von Entfremdung und Annäherung

Paulus schreibt an die Schwester Aphia

Geschwister im Glauben

Über die Autorin

Vorwort

Je älter ich werde, desto spannender finde ich das Thema Geschwister. Das ist offensichtlich kein individuelles, sondern ein verbreitetes Phänomen. Freundinnen und Freunde gehen, Geschwister bleiben, es ist in der Tat die längste Beziehung des Lebens. Sie prägt unsere gesamte Kindheit. Da gibt es große Liebe zueinander und große Konkurrenz, Solidarität und Abgrenzung, Zusammengehörigkeitsgefühl und Auseinandersetzung.

Erstaunlicherweise erzählen viele, dass die Geschwisterbeziehungen wieder enger werden, wenn wir alt werden, da wird die Bindung oft neu und positiv wiederentdeckt. Und ich denke, das rührt genau daher: Wenn die Eltern eines Tages verstorben sind, teilen wir nur noch mit unseren Geschwistern die Kindheitserinnerungen. Wir sind die letzten gemeinsamen Zeugen jener Jahre. Dabei können die Erinnerungen durchaus unterschiedlich sein. Hat der älteste Sohn die Eltern jung, dynamisch, verliebt gesehen, so hat der jüngste sie vielleicht als gestresst oder schon in Abgrenzung erlebt. War die erste Tochter der Mittelpunkt elterlicher Aufmerksamkeit, so wurde die dritte schlicht eingegliedert in ein schon vorhandenes System von Familie.

Als meine Schwestern und ich unsere Mutter beerdigt haben, hat mich die Übereinstimmung sehr bewegt. Wir hatten immer unsere normalen Konflikte und unterschiedliche Zeiten von Nähe und Distanz. Aber beim Sterben unserer Mutter waren wir ganz eng beieinander, sehr harmonisch, verbunden im Verlust dieser Frau, die uns alle von Geburt an geprägt hatte. Und wir haben unseren als Säugling verstorbenen Bruder erstmals mit Namen genannt, er war präsent wie selten zuvor. Wie gut, das gemeinsam zu erleben und ja, auch durchzustehen. Wie viele Kinder machen heute gar keine Geschwistererfahrung mehr! Sie sind allein in so einem existentiellen Abschied …

Ich finde interessant, dass in den vergangenen Jahren die Forschung mit Blick auf Geschwister intensiviert wurde. Sigmund Freud etwa hat Geschwisterbeziehungen in seiner Arbeit völlig ignoriert, obwohl sie doch so großen Einfluss auf das Leben von Menschen haben. »Inzwischen weiß man, dass Geschwister einen ebenso starken Einfluss auf die Seele eines Menschen haben wie die Eltern«, schreibt Susann Sitzler.1 In ihrem ausführlichen Buch zu Geschwisterbeziehungen zeigt sie auf, wie eng die Verflechtungen in dieser Beziehung sind, die sich ein Leben lang nicht lösen lässt. Geschwister sind für sie Zeugen der Kindheit, erste Verhandlungspartner, sie können beste Vertraute sein, aber auch »gezielter verletzen als alle anderen Menschen, oft ein Leben lang«2.

Und in einer Ausgabe von »Psychologie Heute«, die sich dem Geschwisterthema widmet, wird deutlich gemacht, dass gar nicht so entscheidend ist, an welcher Stelle in der Geschwisterfolge ein Kind steht. Lange hieß es, die Erstgeborenen seien eher konservativ, die Sandwichkinder hätten Rollenfindungsprobleme, die Jüngsten seien häufig rebellisch. Die neuere Forschung habe vielmehr erwiesen: »Wie Eltern im Alltag auf ihre Kinder eingehen, ob sie Konkurrenz zulassen, ein Kind bevorzugen oder auf eine faire und gerechte Behandlung aller achten, ob sie jedem innerhalb der Familie feste Rollen weisen oder Flexibilität fördern – das alles beeinflusst das Verhältnis der Geschwister untereinander.«3

Auch die Zeitschrift »Eltern« hat kürzlich dem Thema Geschwister einen Schwerpunkt gewidmet.4 Betont wird, dass Geschwister zu haben zwar anstrengend ist, aber die eigenen Entwicklungsmöglichkeiten wesentlich erweitert. »Sie können unterschiedliche Rollen ausprobieren: hilfsbereit, aggressiv, großzügig, neidisch. Wie komme ich an, wenn ich so bin oder so? Was steckt alles in mir?«5 Dabei wird auch deutlich, dass gleichgeschlechtliche Konkurrenz größer ist, als wenn es um Geschwister unterschiedlichen Geschlechts geht.

Vor vielen Jahren habe ich ein Buch über die Mütter der Bibel geschrieben. Leserinnen und Leser haben zurückgemeldet, dass es für sie anregend war, diese Gestalten ganz neu oder überhaupt erst kennen zu lernen. Bei den Müttern stieß ich natürlich immer wieder auch auf die Kinder und die verschiedenen, sehr spannenden Geschwisterbeziehungen. Und so hat es mich fasziniert, einzusteigen in die biblischen Erzählungen. Gewiss, sie sind keine Sachberichte, es gibt keine Youtube-Videos. Aber es sind Erzählungen, die seit Jahrtausenden beeindrucken, weil Grundsätzliches zur Sprache kommt: Liebe und Hass, Hingabe und Gewalt. Ich habe die Geschichten in der Bibel noch einmal gelesen, viele Geschwister gefunden und erzähle nach. Mich fasziniert, wie tief Menschliches erzählt wird, schöne Beziehungen, aber auch bittere. Mir liegt daran, sie für uns heute zum Klingen zu bringen, indem ich versuche, sie in eine Beziehung zu unseren Erfahrungen, unserem Leben heute zu bringen. Denn das ist mir wichtig: Die Bibel ist kein Buch von gestern! In jeder Generation hat sie ihre Weisheit Menschen neu erschlossen. Was mich zudem fasziniert: Sie ist ein globalisiertes Buch. Wenn wir von Kain und Abel, Jakob und Esau, Maria, Martha und Lazarus sprechen, wissen Menschen in Indonesien oder Tansania oder Brasilien sofort, um welche Geschichte es geht. Da sind wir dann Geschwister im Glauben.

Mir ist immer wieder die Bibel ein Buch der Inspiration. Ich lese darin und erfahre etwas über die Erfahrungen mit Gott, die meine Mütter und Väter im Glauben gemacht haben. Und die Geschichten lassen uns tiefe Einsichten teilen in die Grundkonstellationen von Beziehungen seit Menschengedenken.

Der Historiker Michael Wolffsohn hat mit Blick auf biblisches Erzählen erklärt, ein doppelter, ja mehrschichtiger Boden mache große Literatur aus und »das phänomenal, literarisch Phänomenale, also das Alte und Neue Testament, das sind literarische Meisterwerke unabhängig davon, ob man an den lieben Gott glaubt oder nicht«6. Es geht darum zu fragen, was uns diese alten Texte heute sagen können, ohne dass wir sie wortwörtlich nehmen. Und wenn wir mit Neugier auf sie zugehen, haben sie erstaunlich viel zu geben!

So habe ich im Folgenden zwanzig Geschwistergeschichten der Bibel nacherzählt und auf unsere Zeit heute bezogen. Manches hat mich dabei ganz neu berührt, etwa die Töchter Lots, die wohl schlicht sexuellen Missbrauch erlebt haben. Oder Ham, der seinen Vater nackt sieht – in Zeiten der Sensibilisierung für sexuelle Gewalt fallen neue Nuancen auf. Aber auch die Rollen der Mädchen in alten Zeiten und allzu oft heute in unserer Welt machen nachdenklich. Sie bleiben in der Bibel eine Nebenerzählung, Bedeutung haben die männlichen Nachkommen. Und doch, siehe Mirjam, spielen sie eine zentrale Rolle.

Mir hat es große Freude gemacht, Sem und Aaron und Dina nachzugehen, sie aus den Erzählungen der biblischen Bücher hervortreten zu lassen oder auch die Schwester des Paulus zu entdecken. So hoffe ich, dieses Buch macht Lust, auch einmal selbst wieder nachzulesen im Buch der Bücher.

Hannover, im Februar 2019

Margot Käßmann

1 Susann Sitzler, Geschwister. Die längste Beziehung des Lebens, Stuttgart 2014/2017, S. 14.

2 Ebd. S. 63.

3 Martin Hinz, Geschwister, in: Psychologie Heute 10/2018, S. 18ff.; S. 22.

4 Vgl. Geliebte Rivalen, in: Eltern 11/2018, S. 25ff.

5 Ebd. S. 28.

6 Michael Wolffsohn im Gespräch mit Andreas Main über biblisches Erzählen, DLF 14.08.17

Kain, Abel und Seth

Brüder, die Mord und Totschlag kennen

1. Mose 4ff.

Nach der biblischen Erzählung sind Kain und Abel die ersten Kinder der Menschheitsgeschichte überhaupt. Sie kennen keine Cousinen und Cousins, keine Freundinnen und Freunde. Gott hatte ihre Eltern Adam und Eva ja geschaffen, sie waren nicht geboren worden. Mir ist das eindrücklich klar geworden bei einer Erläuterung des Altarbildes der Marktkirche in Hannover. Adam und Eva werden ohne Bauchnabel dargestellt! Schon im 15. Jahrhundert hat sich darüber ein unbekannter Künstler Gedanken gemacht: Nicht geboren, von Gott unmittelbar erschaffen sind die beiden …

Die weitere Geschichte ist bekannt: Adam und Eva leben im Paradies, werden aber alsbald allzu neugierig und übertreten Gottes Gebot, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen. Daraufhin werden sie aus dem Paradies vertrieben. Gott kündigt an, dass der Mann nun mit Mühsal wird arbeiten müssen und die Frau mit Mühsal Kinder gebären. Das Paar wird aus dem Paradies vertrieben, allerdings nicht ohne dass Gott sie noch kleidet, damit sie Schutz haben im neuen Leben außerhalb des Paradieses.

Und so wird Eva Mutter zunächst von Kain und anschließend von Abel. Gehen wir nach der Bibel, waren Adam und sie völlig allein. Es gab keine Erfahrung mit dem Elternwerden, ja beide Eltern waren in höchstem Maße traumatisiert. Sie hatten ihre Sicherheit und Heimat im Paradies verloren, waren Vertriebene. Und sie waren in einem tiefen Schuldkonflikt verbunden oder eben auch zerrissen: Warum hast du auf die Schlange gehört? Warum hast du den Apfel genommen? Hätten wir es nicht viel besser, ganz anders machen können? Dazu die Frage: Wie soll das alles gehen? Wir kennen uns nicht aus, wie soll ich uns ernähren, wie soll ich Kinder bekommen, ja, wie wollen wir Kinder erziehen?

Wir wissen heute, dass solche Traumata sich massiv auf die nächste, ja auch die folgenden Generationen auswirken. Die Verstörung und Unsicherheit der Eltern wirkt bewusst oder unbewusst, ausgesprochen oder unausgesprochen mitten in das Familienleben und die Beziehungen. Da hinein ist Kain geboren, das erste Kind der Bibel, ganz allein ist er zunächst mit den Eltern. Das ist Privileg und Drama aller Erstgeborenen: Für die Eltern sind sie etwas ganz Besonderes, sie stehen allein im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Vater und Mutter, die beide noch keinerlei Erfahrung mit Kindererziehung haben.

Es heißt, Kain wird Ackermann. Will er das wohl, um seinem Vater besonders nachzueifern und zu gefallen, um Anerkennung zu finden? Oder ist es schlicht die offensichtliche Wahl? Das gibt es oft bei Söhnen: Der Vater war Pfarrer, sie werden Pfarrer, der Vater war Arzt, sie werden Arzt, der Vater war Journalist, so wird es auch der Sohn.

Und dann kommt die große Kränkung des Erstgeborenen: Der zweite Sohn kommt zur Welt. Heute wissen wir viel mehr darüber, was das bedeutet, als früher. Die älteren Geschwister werden vorbereitet, es wird viel dafür getan, die Geburt des zweiten Kindes nicht zur Entthronung des ersten werden zu lassen. Und doch ist es oft so, bis heute. Da haben sich die Eltern ständig um den Sohn gekümmert, zwei Erwachsenen ist das Wohl eines Kindes das Ein und Alles. Und das Kind sonnt sich in dieser ungeteilten Aufmerksamkeit, auch Kain wird ein kleiner Kronprinz gewesen sein. Der zweite Sohn stört diese Harmonie. Eifersucht beginnt sich wie Gift einzuschleichen, ohne dass es dem Kind oder den Eltern bewusst ist. Das können wir auch heute beobachten. Da ist der so wirklich ganz und gar liebe Junge, der auf einmal, ganz aus Versehen, dem kleinen Bruder mit voller Wucht einen Ball entgegenwirft. Da ist die große Schwester, die mit spitzbübischer Freude dem Geschwisterkind das Lieblingsspielzeug wegnimmt, als die Eltern nicht hinschauen. Mit dem zweiten Kind kommt Neid ins Familienspiel.

Sehr klug von Abel oder auch den Eltern ist jedenfalls die Berufsentscheidung: Er wird nicht auch noch Ackermann, sondern schlägt eine andere Richtung ein: Schäfer. So kann eigentlich kein Wettstreit aufkommen zwischen den beiden, jeder hat einen eigenen Bereich, in dem er Kompetenz erwerben und sich beweisen kann. Doch das kann am Ende die Konkurrenzsituation nicht aus der Welt schaffen. Beide jungen Männer sind offenbar im Glauben und seinen Ritualen erzogen. Sie wollen besonders redlich sein und wetteifern nicht im Beruf, sondern um die Zuwendung Gottes. Sie bringen Gott Opfer, der eine von den Früchten des Feldes, der andere von seiner Herde. Nun heißt es in der Bibel, Gott habe Abels Opfer »gnädig angesehen«, Kains aber nicht. Was mag das bedeuten? Loderte die eine Flamme höher?

Wahrscheinlich ist das nur eine Empfindung. Der andere könnte bevorzugt werden, wenn nicht von den Eltern, dann von Gott. Kain jedenfalls wird wütend und senkt seinen Blick. Gott fragt ihn, warum er nicht frei den Blick erheben könnte. Das finde ich eine großartige Beschreibung. Wer wütend ist, zornig, wer Schlechtes im Sinn hat, kann in der Regel nicht offen auf Augenhöhe geradeaus schauen. »Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben«, sagt Gott zu Kain in dieser Geschichte. Das ist doch Tiefenpsychologie! Ein freier Mensch muss den Blick nicht senken! So frei haben sich Menschen sogar vor ungerechten Richtern gefühlt! Aber Kain ist nicht frei, in seinem Inneren gärt es, ja es brodelt die Eifersucht auf den Bruder bis hin zum Hass. Das ist wohl auch der Grund, warum Gott sein Opfer nicht annimmt. Es kommt nicht aus Liebe zu Gott, es geschieht nicht in aller Freiheit, sondern Kain bringt Gott aus Berechnung ein Opfer. In ihm tobt der Neid auf den Bruder, er will besser sein und will, dass Gott anerkennt, wie gut er ist. So sät hier nicht Gott den Zorn bei Kain, sondern er macht offensichtlich, wieviel Hass sich bei Kain angesammelt hat.

Kain empfindet das als erneute Zurückweisung. Er kann seine Gefühle nicht mehr beherrschen. So überredet er Abel, mit ihm aufs Feld zu kommen, und erschlägt ihn, seinen einzigen Bruder, der ihm offenbar unbedarft gefolgt ist. Das ist eine furchtbare Geschichte. So tief darf doch die Konkurrenz von Geschwistern nicht gehen! Gelegentlicher Neid, der natürlich ist, darf nicht zu solchem Hass werden. Dafür haben Eltern zu sorgen, denke ich. Sie müssen das doch spüren und früh Mediation, Vermittlung, Konfliktbewältigung einsetzen.

Interessanterweise verurteilt Gott Kain aber zunächst gar nicht, sondern fragt: »Wo ist dein Bruder Abel?« Gott weiß um die schreckliche Tat. Aber Kain sagt: »Soll ich meines Bruders Hüter sein?« Das sind für mich die elementaren Fragen der Menschheit. Es geht um Verantwortung füreinander. Ja, er hätte der Hüter seines kleinen Bruders sein müssen. Wie geht es den anderen in der Familie, aber auch in der Menschheitsfamilie, das müssen wir uns fragen lassen. Kain hat sich von Neid und Eifersucht zum Hass verführen lassen. Er ist zum Mörder seines Bruders geworden.

Und so wird Kain verflucht: »Unstet und flüchtig« wird sein Leben von nun an sein. Er hat deshalb Angst, andere könnten den Mord rächen. Gott aber machte »ein Zeichen an Kain«, das berühmte Kainsmal. Was genau es ist, weiß niemand. Anders als oft interpretiert, ist es nicht Zeichen einer Schuldzuweisung, sondern ein Schutzsymbol. Kain soll als Brudermörder geschützt sein vor Rache. Und gleichzeitig steht er als Warnung da für andere: Werdet nicht zu Mördern!

Die erste Familiengeschichte der Bibel ist damit aber noch nicht zu Ende. Eva wird einen weiteren Sohn gebären, Set. Und sie sieht ihn als Ersatz an für den erschlagenen Abel. Dieses Kind ist nun mit einer doppelten Traumatisierung belastet. Da ist zum einen die Vorgeschichte der Eltern und zum anderen der ermordete Bruder, den er ersetzen soll, dazu der vertriebene Bruder, der ein Mörder ist. Beide Brüder hat er nicht kennen gelernt, er kann nur aus den Erzählungen der Eltern ahnen, wer sie waren, was sich ereignet hat. Wie gern hätte er vielleicht mit Kain geredet, versucht, zu verstehen, was vor sich ging. Wie viele seiner Fragen werden nicht beantwortet und welche Ängste entstehen so. Was für eine Belastung! Und dazu noch diese immense Erwartungshaltung der Mutter!

Niemals kann ein Kind ein anderes ersetzen. Jedes Kind ist eine ganz eigene Person. Kinder aber, die geboren werden, nachdem ein anderes verstarb, werden stets eine besondere Last spüren. Offenbar übertragen Adam und Eva all ihre Liebe und all ihre Erwartungen auf dieses Kind. Von Kains Verbleib ist in der Bibel nichts mehr zu erfahren. Set aber wird als Stammvater benannt, der viele Söhne und Töchter zeugte …

Sem, Ham und Jafet

Brüder, die in schwerer Zeit zusammenhalten

1. Mose 6, 5ff.

Noah hatte drei Söhne. Sem, Ham und Jafet. Die drei scheinen in großer Harmonie miteinander und mit den Eltern zu leben. In der Bibel wird erzählt, dass Gott zornig wurde über die Bosheit der Menschen. Es reute ihn, dass er sie überhaupt erschaffen hatte, und er plante, alles zu vernichten. Aber da ist Noah mit seiner Familie. Der ist ein frommer Mann, an der ganzen Familie hat Gott im Grunde nichts auszusetzen.Gott hat offensichtlich so etwas wie ein schlechtes Gewissen: Die kann ich doch nicht einfach ertrinken lassen. Und so gibt Gott Noah den Auftrag, ein großes Schiff zu bauen, seine Frau, seine drei Söhne und deren Frauen sowie je sieben Paare von den reinen und ein Paar von den unreinen Tieren mitzunehmen.

Die Geschichte ist weltweit bekannt, eine Legende. Aber wenn wir sie uns real vorstellen: Wie war das wohl? Haben die Nachbarn gelacht: Noah, du Idiot, was soll dieser Schiffsbau, haha, ist doch alles trocken!? Hat Noah mit den Söhnen am Tisch gesessen und diskutiert: Ich verstehe Gott so, was denkt ihr? Haben die Söhne gesagt: Vater, wir machen uns einfach nur lächerlich? Haben seine Frau und seine Schwiegertöchter zugestimmt oder Zweifel geäußert? Nichts davon erzählt die Bibel. Aber es ist eine großartige Geschichte, die der Fantasie freien Lauf lässt.