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Geschwisterlichkeit wird in der Tradition des politischen Liberalismus häufig als moralischer Wert verstanden, der über das Ideal der Gerechtigkeit hinausgeht. Im Unterschied dazu argumentiert Jochen Bojanowski für ein neues Verständnis: Demnach sind wir im politischen Kontext zueinander geschwisterlich eingestellt, wenn wir einen gesellschaftlichen Kooperationsrahmen befürworten, in dem bloße Glücksunterschiede nicht in distributive Vorteile umgemünzt werden können. Ausgehend von dieser Idee entwickelt Bojanowski eine Theorie der Gerechtigkeit, der zufolge Geschwisterlichkeit einen konstitutiven Teil von Gerechtigkeit darstellt.
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Seitenzahl: 704
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Jochen Bojanowski
Geschwisterliche Gerechtigkeit
Prinzipien einer politischen Utopie
Campus VerlagFrankfurt/New York
Über das Buch
Geschwisterlichkeit wird in der Tradition des politischen Liberalismus häufig als moralischer Wert verstanden, der über das Ideal der Gerechtigkeit hinausgeht. Im Unterschied dazu argumentiert Jochen Bojanowski für ein neues Verständnis: Demnach sind wir im politischen Kontext zueinander geschwisterlich eingestellt, wenn wir einen gesellschaftlichen Kooperationsrahmen befürworten, in dem bloße Glücksunterschiede nicht in distributive Vorteile umgemünzt werden können. Ausgehend von dieser Idee entwickelt Bojanowski eine Theorie der Gerechtigkeit, der zufolge Geschwisterlichkeit einen konstitutiven Teil von Gerechtigkeit darstellt.
Vita
Jochen Bojanowski ist Professor für Philosophie an der University of Illinois.
Cover
Titel
Über das Buch
Vita
Inhalt
Impressum
0.
Einleitung
0.1.
Geschwisterliche Gerechtigkeit
0.2.
Eine »gemütliche Abstraktion«?
0.3.
Eine Dystopie?
0.4.
Geschwisterliche Gleichheit
0.5.
Exposition
1.
Kapitel: Ideale ohne Zugeständnisse
1.1.
Ideale und nicht-ideale Theorie
1.2.
Praktische Funktion von Idealen
1.3.
Ideale Orientierung
1.4.
Status der Tatsachen
1.5.
Schwacher Pluralismus
2.
Kapitel: Gerechtigkeit und Verdienst
2.1.
Verdienst und Gerechtigkeit
2.2.
Die glücksegalitaristische Einsicht
2.3.
Das Verdienst-Dilemma
2.4.
Ist der Glücksegalitarismus eine Verdiensttheorie?
A.
Selbstschädigende Nothilfe
B.
Glückliche Vorteile
C.
Extreme Knappheit
3.
Kapitel: Willkür statt Gerechtigkeit
3.1.
Libertarische Argumente gegen den Egalitarismus
A.
Das Argument gegen schematische Verteilungen
B.
Das Argument gegen Steuern
3.2.
Wert der Freiheit
3.3.
Privilegierte Freiheit
4.
Kapitel: Glück statt Gerechtigkeit
4.1.
Größtes Glück, Gleichheit und Gerechtigkeit
4.2.
Geschwisterlicher Utilitarismus
4.3.
Negative und positive Rechte
5.
Kapitel: Fairness statt Gerechtigkeit
5.1.
Egalitaristische Gerechtigkeitsverfahren
5.2.
Währungen egalitaristischer Gerechtigkeit
A.
Wohlergehen
B.
Primäre Güter
C.
Fähigkeiten
D.
Midfare
5.3.
Das Liberalitätsproblem
5.4.
Faire und effiziente Ungleichheit
6.
Kapitel: Geschwisterliche Gerechtigkeit
6.1.
Gerechte Ungleichheit
6.2.
Grundprobleme geschwisterlicher Gerechtigkeit
A.
Das Informationsproblem (Christiano)
B.
Das Problem des Herunternivellierens (Parfit)
C.
Das Problem des falschen Gerechtigkeitskriteriums (Anderson)
6.3.
Geschwisterliche Verdienstökonomie
A.
Gerechtigkeit und Ökonomie
B.
Wie geschwisterlich sind Kapitalismus und Sozialismus?
Bibliographie
0.1.1. Der Titel dieser Untersuchung »Geschwisterliche Gerechtigkeit« ist missverständlich. Geschwisterliche Beziehungen sind nicht immer moralisch intakt und mitunter von Neid, Missgunst und Eifersucht geprägt. Bereits der von seinem Bruder Kain erschlagene Abel hätte ein Lied davon singen können. Der Titel legt nahe, wir würden uns hier mit der Frage befassen, wie das geschwisterliche Verhältnis im familiären Kontext gestaltet sein muss, damit Geschwister als Geschwister bekommen, was sie verdienen. Diese Untersuchung könnte so als ein Beitrag zur Familienethik missverstanden werden. Dies ist aber nicht gemeint. Mit »geschwisterlich« soll vielmehr eine Einstellung bezeichnet werden, in der wir die Ansprüche nicht nur der Familienmitglieder, sondern aller, die zu dieser Einstellung fähig sind, als moralisch gleichwertig betrachten und distributive Unterschiede, die nicht selbst gewählt sind, ablehnen. »Geschwisterlichkeit« meint eine Einstellung zum Anderen, die durch dieses normative Ideal informiert ist. Gesellschaftliche Institutionen und Praktiken sind geschwisterlich eingerichtet, wenn sie unserer Fähigkeit zu dieser Einstellung Rechnung tragen.
Mit dieser Präzisierung des Titels entsteht aber auch eine neue Irritation. »Geschwisterlichkeit« und der häufig synonym verwendete Begriff »Solidarität« werden gewöhnlich als Ideale oder Werte verstanden, die über Gerechtigkeit hinausgehen. Der Begriff der Gerechtigkeit bringt zum Ausdruck, was wir jemandem schuldig sind. Gerechtigkeit könne deshalb auch legitimerweise erzwungen werden, Geschwisterlichkeit sei dagegen wie Wohltätigkeit: wünschenswert, aber nicht erzwingbar. Aus diesem Grund könne es nach einer verbreiteten Überzeugung auch ein Recht auf Freiheit als Nichteinmischung, aber kein Recht auf Geschwisterlichkeit geben. Der barmherzige Samariter macht seine Hilfe nicht davon abhängig, ob der Notleidende die Hilfe verdient hat oder seine Hilfe gerecht ist, sondern er hilft dem Opfer bedingungslos. Geschwisterlichkeit zu erzwingen wäre demnach so, als wollte man die Liebe zu anderen Menschen erzwingen. Ein gerechter Staat, der den Interessen seiner Bürger/-innen mit gleicher Rücksicht begegnen und ihren Entscheidungen gleiche Achtung entgegenbringen soll, dürfe dagegen seine Hilfe nicht bedingungslos garantieren. Wenn wir Geschwisterlichkeit als bedingungsloses Samaritertum verstehen, müssen wir sie zu den supererogatorischen Dingen zählen, den Dingen, die über das hinausgehen, was moralisch geboten sein kann.
So gesehen ist es verständlich, warum die liberale Tradition große Schwierigkeiten mit dem Begriff der Geschwisterlichkeit hat. Als politischer Begriff scheint er gänzlich unbrauchbar zu sein, weil er als ein Gesinnungsbegriff jenseits liberaler Sanktionsgewalt liegt. Damit behauptet man freilich nicht, Geschwisterlichkeit und Solidarität wären, wie Emile Durkheim es nennt, keine Zutaten des »Zements« einer liberalen Gesellschaft (Durkheim, »On Institutional Analysis« 1978, 234). Sie sind jedoch nicht die Zutaten, die diesem Zement seine eigentliche verbindende Kraft geben.
Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass der Begriff der Brüderlichkeit aus der Trias der Französischen Revolution neben Gleichheit und Freiheit vergleichsweise weniger Beachtung gefunden hat. Brüderlichkeit wirkt in der liberalen Staatstheorie wie ein Fremdkörper und scheint in der Moral ihren eigentlichen Ort zu haben. Institutionelle Anwendung findet dieser Begriff in den freiwilligen Gemeinschaften, den sogenannten Brüder- und Schwesternbünden oder den Solidargemeinschaften. In ihnen verspricht man sich gegenseitige Hilfe und Unterstützung in guten und in schlechten Zeiten. Studentenverbindungen, Gilden und Genossenschaften sind einschlägige Beispiele für Vereinigungen dieser Art. Der Grund, einen solchen Bund einzugehen, muss kein moralischer, sondern kann durchaus auch ein prudentieller sein. Ein solcher Bund dient als eine Art Versicherung, auf die man in Notsituation zurückgreifen kann. Als Gegenleistung ist man bereit, auch anderen Notleidenden in diesem Bund zu helfen. Das Prinzip dieser willkürlich eingegangenen Solidargemeinschaften ist das der Wechselseitigkeit: Wenn du mir hilfst, helfe ich dir!
0.1.2. Der Begriff der Geschwisterlichkeit, der in dieser Untersuchung entwickelt werden soll, ist ein anderer. Er soll als ein basaler politischer oder gesellschaftlicher Begriff interpretiert werden. Provokant ist er nicht schon deshalb, weil er die Relation von Menschen zu Menschen meint und nicht wie die Fraternité in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der Französischen Revolution eine Relation zwischen französischen Männern ausdrückt. Dieser Vorzug der Geschwisterlichkeit gegenüber der Brüderlichkeit ist wenig kontrovers. Kontrovers und provokant ist unsere Interpretation vielmehr deshalb, weil Geschwisterlichkeit in ihrem Kern als konstitutiv für den Begriff der Gerechtigkeit verstanden werden soll und also nicht notwendig über sie hinausgeht.
Wir wollen hier jedoch mit einer These beginnen, die weniger kontrovers sein sollte: Eine feudal-aristokratische Gesellschaftsordnung ist ungerecht. Dieser These liegt die Idee zugrunde, wonach ein gesellschaftlicher Kooperationsrahmen nur dann gerecht ist, wenn die zufälligen Unterschiede hinsichtlich unserer sozialen und biologischen Prädispositionen nicht zu Status-, Ressourcen- oder Wohlfahrtsvorteilen führen. Diese Idee, die wir in dieser Arbeit genauer ausarbeiten wollen, werden wir die »glücksegalitaristische Einsicht« nennen. Wir können das Prinzip dieser Einsicht wie folgt formulieren:
x hat ungerechte Vorteile gegenüber y, gdw die Kooperationsbedingungen so beschaffen sind, dass die zufälligen bzw. nicht selbst gewählten Unterschiede x besserstellen als y.
Es geht hier nicht darum, ob es klug ist, anderen die gleichen politischen Rechte zukommen zu lassen. Dieses Prinzip besagt nicht, dass wir anderen ein politisches Mitbestimmungsrecht einräumen sollen, wenn wir selbst politisch mitbestimmen wollen. Es besagt vielmehr, dass es ungerecht wäre, wenn wir nicht alle grundsätzlich dieselben demokratische Partizipationsrechte hätten. Die Familie, in die wir geboren worden sind, stellt keinen guten Grund dar, die Interessen der Bürger unterschiedlich zu berücksichtigen. Wir können diese Überzeugung allgemeiner wie folgt formulieren: Jeder Bürger hat es verdient, dass seine Interessen gleich berücksichtigt werden und seinen Entscheidungen die gleiche Achtung entgegengebracht wird. Diese Überzeugung hat ihre Quelle darin, dass wir freie, gleiche, zum Glück und zur Geschwisterlichkeit fähige Wesen sind.
0.1.3. In dieser Untersuchung sollen die Begriffe der Freiheit und Gleichheit radikal im Licht der glücksegalitaristischen Einsicht interpretiert werden. Es soll die These vertreten werden, wonach wir die Idee der Gerechtigkeit nur dann angemessen in den Blick bekommen, wenn sie unser Vermögen reflektiert, diese fundamentale Gleichheit wechselseitig anzuerkennen und sie damit Grund unseres Handelns werden kann. Diese Einstellung zum anderen werden wir als geschwisterlich bezeichnen. Geschwisterliche Gerechtigkeit, wie wir sie verstehen, bedeutet – um die Formulierung des frühen John Rawls aufzugreifen – »das Schicksal miteinander zu teilen« (Rawls, TJ, 1971, 102). Diese Formulierung hat es weder in die deutsche Übersetzung noch in die überarbeitete zweite Auflage von Rawls‹ Buch »Eine Theorie der Gerechtigkeit« geschafft (Rawls, TJ, 1999, 88; TG, 123). Im späteren »Restatement« seiner Theorie, »Justice as Fairness«, hat Rawls dann sogar den Begriff der Brüderlichkeit gänzlich aus einer Gerechtigkeitstheorie entfernt (Rawls, TJ, 105 ff.; JF, 2001, –). Damit hat sich offenbar bei Rawls die Überzeugung durchgesetzt, der Begriff der Brüderlichkeit dürfe in einer Gerechtigkeitstheorie keine Rolle spielen.
Wir wollen hier an den Gedanken des frühen Rawls anknüpfen, der die glücksegalitaristische Einsicht reflektiert. Demnach sind wir es uns gegenseitig schuldig, »das Schicksal miteinander zu teilen« und damit die Idee der Geschwisterlichkeit zur »Vollzugsform von Freiheit« zu machen (Honneth 2017, 123). Von dem Begriff der Solidarität distanzieren wir uns nur insofern, als die Solidargemeinschaft als eine »freiwillig eingegangene Rechtsverbindung« verstanden wird (Metz 1998, 176. Zur Semantik beider Begriffe und ihrer Geschichte s. Brunkhorst 22016, 7–110; Metz 1998; Bude 2019, 20–44; Wildt 1998; 1996). Unser Begriff der Geschwisterlichkeit soll vielmehr das Involuntäre und die Ursprünglichkeit der Verpflichtung zum Ausdruck bringen. Sie darf jedoch nicht in einem partikularen und sippenbündnerischen Sinn interpretiert werden. Für unseren Begriff der Geschwisterlichkeit gilt vielmehr, was Jürgen Habermas in seiner Weise über die Solidarität sagt: Sie muss als »durch die Idee einer diskursiven Willensbildung transformiert« gedacht werden (Habermas 21996, 312). »Diskursiv« soll bei uns aber nicht in Habermas‹ engem diskursethischen Sinn verstanden werden, sondern allgemeiner als das, was argumentativ und rational ausgewiesen werden kann. Geschwisterlichkeit in diesem allgemein einforderbaren Sinn impliziert, anders als starke Formen des Altruismus, nicht, dass wir unsere Interessen den Interessen anderer unterordnen, sondern, dass sie grundsätzlich gleich zu behandeln sind (Nagel 1970, 79). Der Begriff der Gleichheit muss dabei stets im Licht der glücksegalitaristischen Einsicht interpretiert werden, wodurch er seine spezifisch geschwisterliche Bedeutung erhält (s. dazu 0.4.). Die geschwisterliche Einstellung kann in ihrer Grundbedeutung wie folgt definiert werden:
x und y sind zueinander geschwisterlich eingestellt gdw x und y keine unverdienten distributiven Vorteile gegenüber dem anderen beanspruchen und einen Kooperationsrahmen befürworten, in dem bloße Zufallsunterschiede zwischen x und y nicht so reflektiert werden, dass sie zu distributiven Vorteilen führen.
Die Gerechtigkeit gesellschaftlicher Institutionen und Regeln muss sich an unserer Fähigkeit zur Geschwisterlichkeit messen lassen. Solange es uns nicht gelingt, Institutionen oder Märkte hinreichend geschwisterlich einzubetten, bleiben sie, vom Gerechtigkeitsstandpunkt aus betrachtet, defizient. Erst wenn Institutionen und Märkte unser Vermögen zur Geschwisterlichkeit reflektieren und glückliche Unterschiede nicht mehr in distributive Vorteile umzumünzen sind, erst wenn wir Gerechtigkeit an die Fähigkeit zur Geschwisterlichkeit binden, liegt die Messlatte der Gerechtigkeit auf der angemessenen, uns Menschen möglichen Höhe. In dieser Untersuchung wird Geschwisterlichkeit folglich nicht wie Solidarität bei Habermas als das »Andere« der Gerechtigkeit verstanden (Habermas 21996, 311 f.), sie soll vielmehr, wenn man es mit Habermas‹ Dichotomie ausdrücken will, als das der Gerechtigkeit Eigene gedacht werden.
Eine Theorie der Gerechtigkeit, die Zugeständnisse an die bestehenden Verhältnisse oder die moralische Schwäche der Menschen macht, werden wir eine konzessive oder nachgiebige Theorie der Gerechtigkeit nennen (s. dazu Estlund 2019, 6, Kap. 8). Unsere geschwisterliche Theorie ist entschieden nicht-konzessiv oder unnachgiebig, weil sie die Gerechtigkeitsstandards nicht von den Schwächen der menschlichen Natur oder den Mangelerscheinungen der Gegenwart abhängig macht. Die Gerechtigkeitsansprüche zurückzuschrauben, weil die Menschen nicht immer stark und die Verhältnisse nicht ideal für ihre Realisierung sind, ist ein Fall von »adaptiver Präferenzbildung«. Dabei setzt man, um Enttäuschungen zu vermeiden, seine Erwartungen herab. Mehr noch, man redet sich erfolgreich ein, wie der Fuchs in Aesops Fabel, dass die zu hoch hängenden Trauben sauer sind (s. dazu Elster 1983a, 117 ff.). Auf einer personalen Ebene wird diese Reaktion oft als Altersweisheit verstanden. Aber eine Theorie der Gerechtigkeit, wie wir sie hier entwickeln, ist keine Theorie davon, was wir bei realistischer Betrachtung in den nächsten Jahrzehnten erreichen können. Sie ist eine Theorie davon, was wir unabhängig von der historischen Situation als Menschen verdienen. Wir können hier Jerry Cohens Wort leicht abwandeln und sagen: Das »Lamm der Gerechtigkeit« darf nicht auf dem Altar von Effizienz- und Realisierbarkeitserwägungen geopfert werden (Cohen, 2008, RJE, 371). Im Anschluss an Cohen wollen wir Gerechtigkeit nicht als eine Mischung aus idealen und realen Überlegungen konstruieren. Sie soll auch nicht, wie bereits Ernst Tugendhat gegen Rawls geltend gemacht hat, als ein Containerwert des insgesamt Guten verstanden werden, der andere Werte in sich enthält (Tugendhat 1993, 386). Vielmehr wollen wir Gerechtigkeit in ihrer reinen und höchsten Form denken und so unsere Theorie konsequent als ideale Theorie entwickeln.
0.2.1. Viele werden weder mit unserem methodischen Ansatz noch mit dem normativen Gehalt unserer Untersuchung einverstanden sein. Karl Marx hat die Rede von der Brüderlichkeit als eine »gemütliche Abstraktion« bezeichnet (Marx, »Klassenkämpfe«, MEW, Bd. 7, 21). Diese Kritik würde Marx auch gegen unseren Begriff der Geschwisterlichkeit geltend machen. Methodisch stehen wir mit unserer idealen Theorie den sogenannten »liberalen« Theorien der gegenwärtigen politischen Philosophie näher. Die Kritik von Marx kann hier dazu dienen, unseren Ansatz zu erläutern und zu situieren.
»Geschwisterlichkeit« ist für Marx eine Abstraktion, weil sie von den eigentlichen ökonomischen »Klassengegensätzen«, die ihren Ursprung in den Produktionsverhältnissen haben, absieht. »Gemütlich« ist er, weil wir scheinbar lediglich an die Geschwisterlichkeit aller Menschen appellieren, so als wäre der »Klassengegensatz« nur ein »bloßes Mißverständnis« (ebd.). Die »Ungerechtigkeit«, wie wir es nennen, lasse sich nicht beseitigen, indem geschwisterliche Gesinnung an die Stelle antagonistischer Einstellungen tritt. Grundlegende gesellschaftliche Veränderung werde nicht durch ein »Sich-aus-dem-Kopf-Schlagen einiger fixer Ideen« hervorgebracht (Marx, »Ideologie«, MEW, Bd. 3, 404). Die »Emanzipation des Proletariats« lasse sich vielmehr nur durch die Überwindung der materiellen Grundlage, genauer des »Antagonismus der Klassen«, herbeiführen (Marx, »Elend«, MEW, Bd. 4, 84).
Mit seiner Kritik wendet sich Marx insbesondere auch gegen das, was Engels den »utopischen Sozialismus« nennt und den er vom eigentlichen »wissenschaftlichen Sozialismus« unterscheidet (Engels, ES, MEW, Bd. 19, 177–228). Der wissenschaftliche Sozialismus dürfe »nicht von Prinzipien, sondern [müsse] von Tatsachen aus[gehen]« (Engels, »Heinzen«, MEW, Bd. 4, 321; s. auch Engels, ES, MEW, Bd. 19, 189). Mit unserer geschwisterlichen Gerechtigkeitstheorie gehören wir für Marx und Engels bestenfalls zu der »ganzen Bande halbreifer Studiosen und überweiser Doctores, die dem Sozialismus eine ›höhere, ideale‹ Wendung geben wollen, d.h. die materialistische Basis […] durch moderne Mythologie mit ihren Göttinnen der Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und fraternité [ersetzen wollen]« (Marx, Brief an F. A. Sorge vom 19. Oktober 1877, MEW, Bd. 34, 303; s. dazu auch Engels, »Anti-Dühring«, MEW, Bd. 20, 78–110). Bereits der Untertitel unserer Untersuchung hätte für Marx und Engels »reaktionär« geklungen (ebd.).
0.2.2. Zumindest einige utopische Sozialisten sollte man gegen Marx‹ und Engels‹ Vorwurf in Schutz nehmen. Robert Owen z.B. rechtfertigt seine »Prinzipien« (wir würden von »Umsetzungsregeln« sprechen, s. dazu 1.4.1.) ausdrücklich auf der Grundlage von Tatsachen (Robert Owen, »A New View of Society«, 1991 [1813], 71; »A Further Development of the Plan for the Relief of the Poor, and the Emancipation of Mankind«). Owen hat sich außerdem bekanntlich in »New Harmony« im Bundesstaat Indiana mit einem groß angelegten Experiment um die Realisierung seines utopischen Sozialismus bemüht. Ernst Bloch wusste, dass Owens Utopie z.B. auf der konkreten Tatsache beruhte, dass »ein gut genährter und nicht unzufriedener Arbeiter in der halben Zeit dasselbe und Besseres schafft wie ein Galeerensklave« (Bloch, »Prinzip Hoffnung«, 31976, 647). Dennoch war Bloch Owens Utopie nicht konkret genug, und er hat sie als nur »abstrakte Utopie« zurückgewiesen (Bloch, »Prinzip Hoffnung«, 31976, 1226). Diese Bezeichnung nehmen wir in unserem Untertitel ausdrücklich an, weil wir glauben, dass normative politische Philosophie als abstrakte Utopie der konkreten Utopie systematisch vorausgeht.
Owens »New Harmony« Experiment ist gescheitert. Selbst wenn es daran gescheitert sein sollte, dass seine Prinzipien zu »abstrakt« waren, kann man Owen nicht vorwerfen, er habe nur »Mythologie« betrieben. Marx‹ berühmter Vorwurf, wonach die traditionellen Philosophen, »die Welt nur […] interpretiert« und nicht »verändert« hätten, trifft Owen nicht (Marx, »Feuerbach«, MEW, Bd. 3, 5 ff.). Marx‹ eigentlicher Vorwurf scheint eher darin zu bestehen, dass Owen die Welt nicht (genau) genug interpretiert hat (s. dazu Marx, »Kapital I«, MEW, Bd. 23, 109Fn f.). In einem polemischen Sinn von »Mythos« kann man eine falsche Interpretation der Welt durchaus auch als »Mythologie« bezeichnen. Marx‹ und Owens Ansatz sind aber nicht durch den kategorialen Unterschied zwischen »Materialismus« und »Idealismus« unterschieden, wie Marx es in seinem oben zitierten Brief an Sorge nahelegt. Dieser Unterschied wird nicht etwa deshalb aufgehoben, weil die utopischen Sozialisten eine materialistische Begründung von »Freiheit, Gleichheit und fraternité« geliefert hätten (Marx, Brief an F. A. Sorge, vom 19. Oktober 1877, MEW, Bd. 34, 303). Vielmehr kommt Marx selbst, wie wir unten noch sehen werden, nicht ohne diese, wie er es nennt, »Göttinnen« aus.
0.2.3. Auch wenn man Owens Theorie gegen Marx in Schutz nehmen kann, treffen seine und Blochs Vorwürfe auf unsere Theorie uneingeschränkt zu. Wir liefern weder eine historische Theorie noch eine Transformationstheorie, die erklären könnte, warum sich bestimmte normative Prinzipien historisch durchsetzen konnten und wie ihre Vorherrschaft zu überwinden ist. Unsere Untersuchung beschränkt sich auf die Frage nach der Rechtfertigung dieser Prinzipien, und wir behaupten, dass diese Rechtfertigung letztlich von Tatsachen unabhängig ist. Prinzipien der Gerechtigkeit bewerten die Tatsachen, nicht umgekehrt (s. dazu 1.4.). Unser geschwisterliches Gerechtigkeitsprinzip ist zudem bestenfalls ein abstraktes Prinzip, das in konkreten Utopien auf unterschiedliche Weise zu realisieren ist. Die Abstraktheit unseres Ansatzes muss aus Marx‹ Perspektive noch problematischer erscheinen als der utopische Sozialismus seiner Zeit. Und den hielt er bereits für »albern, fad und von Grund aus reaktionär« (Marx, Brief an F. A. Sorge, vom 19. Oktober 1877, MEW, Bd. 34, 303).
Es kommt noch schlimmer: Mit unserem normativen Ansatz, so würden uns gegenwärtige Verteidiger von Marx‹ Ansatz vorwerfen, wird auch »die Verbindung zwischen Gesellschaftsanalyse und normativer Kritik […] durchtrennt« (Nancy Fraser in Jaeggi; Fraser 2020, 20). Resultat sei ein »freistehender Normativismus«, der den »Kontakt mit der Gesellschaftstheorie« verloren habe (Rahel Jaeggi in Jaeggi; Fraser 2020, 19). Auch an diesem Vorwurf ist etwas Wahres dran. Wie die Prinzipien einer idealen Theorie der Gerechtigkeit umzusetzen sind, ist keine triviale Frage. Zur Beantwortung dieser Frage braucht es eine umfassende Theorie der Gerechtigkeit. Zu einer solchen umfassenden Theorie gehört auch eine sogenannte Übergangs- oder Transformationstheorie der Gerechtigkeit, die auch der Nicht-Idealität, ja sogar der »Zerbrochenheit« der Welt Rechnung tragen muss (s. dazu z.B. Anderson, »Private Government« 2017; Esther Duflo, »Kampf gegen Armut« 2013; Catherine Coleman Flowers, »Waste: One Woman’s Fight Against America’s Dirty Secret« 2020; Alf Hornburg, »Nature, Society, and Justice in the Anthropocene. Unraveling the Money-Energy-Technology Complex«, 2019; Tim Mulgan, »Ethics for a Broken World«, 2011; Streek, »Gekaufte Zeit«, 52015). Es wäre wünschenswert, wenn wir in dieser Untersuchung nicht nur abstrakte normative Theorie betreiben könnten, sondern auch eine Theorie davon hätten, wie die normativen Prinzipien in den verschiedenen historischen Konstellationen zu realisieren sind. Dazu bedarf es tatsächlich einer ökonomisch, soziologisch und psychologisch gut informierten Gesellschaftsanalyse. Solange wir nicht auch über eine Übergangs- und Umsetzungstheorie verfügen, bleibt unsere Theorie bestenfalls unvollständig.
Doch mit diesem Zugeständnis wird man uns nicht aus der Verantwortung entlassen. Der theoretische Anspruch geht nämlich noch weiter: »Gesellschaftsanalyse [soll selbst], ohne moralistisch zu sein, bereits ein umgestaltendes und emanzipatorisches Ziel in sich enthalten« und so den »freistehenden Normativismus« ersetzen (Jaeggi 2020, 20). Wenn mit »moralistisch« gemeint ist, dass moralische Anforderungen an einen Bereich herangetragen werden, in dem sie unangemessen oder überzogen sind, ist dieser Anspruch zweifellos richtig. Wenn damit aber gemeint ist, dass die moralischen (ohne »moralistisch« zu sein) oder teleologischen (»emanzipatorische Ziele«) Prinzipien aus der Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst zu entwickeln sind, dann ist damit möglicherweise der zentrale Unterschied zu unserer Untersuchung markiert. Wir können hier in Auseinandersetzung mit Marx einleitend erklären, welche Rolle der normative Ansatz in dieser Untersuchung spielt und ob er berechtigt oder sogar notwendig ist. »Freistehend« ist dieser Ansatz nur insofern, als unsere fundamentalen Prinzipien nicht durch empirische Tatsachen erklärt oder gerechtfertigt werden. Er ist aber nicht »freistehend« in dem Sinn, dass er keinen Bezug auf unsere empirische »Lebenswirklichkeit« hat (ebd.). Wir behaupten nur, dass der »gesellschaftlichen Topographie« (Fraser 2020, 81) eine Topologie vorausgehen muss. Erst vor dem Hintergrund normativer Prinzipien wird der normative Gehalt dieser Wirklichkeit sichtbar werden.
0.2.4. Auch Marx kommt in seiner Theorie nicht ohne moralische Prinzipien aus. Entgegen seinem eigenen Selbstverständnis sind sie die Voraussetzung seiner Analyse der konkreten ökonomischen oder gesellschaftlichen Wirklichkeit. Diese Voraussetzungen hat Marx bekanntlich stets heruntergespielt: »Die Kommunisten predigen überhaupt keine Moral. Sie stellen nicht die moralische Forderung an die Menschen: Liebet Euch untereinander, seid keine Egoisten« (Marx, »Ideologie«, MEW, Bd. 3, 229). Marx behauptet sogar, es sei »kein Unrecht gegen den Verkäufer« der Arbeitskraft, wenn »der Wert, den ihr Gebrauch während eines Tags schafft, doppelt so groß ist als ihr eigner Tageswert«, sondern lediglich »ein besonderes Glück für den Käufer [den Kapitalisten]« (Marx, »Kapital I.«, MEW, Bd. 23, 208). Auf der anderen Seite spricht Marx aber eben auch vom »Raub« der Arbeitskraft (MEW, Bd. 23, 208, 248, 756), des Grund- und Bodens (MEW, Bd. 23, 208, 529) sowie »aller normalen Arbeits- und Lebensbedingungen« (MEW, Bd. 23, 208, 494). Er spricht vom »Diebstahl an fremder Arbeitszeit« (Marx, »Grundrisse«, MEW, Bd. 42, 601, Hervorhebung in der Vorl.) und vom »direkten Diebstahl an den notwendigsten Lebensmitteln des Arbeiters« (Marx, »Kapital I«, MEW, Bd. 23, 477Fn). Außerdem ist da auch noch die bei Marx stets präsente Rede von der »Ausbeutung«. In der Wendung der »dem Arbeiter ausgepumpte[n] Beute« wird die Raubgutmetapher noch deutlicher hervorgehoben (MEW, Bd. 23, 622). »Ausbeutung des Menschen durch den Menschen« wird von Marx ausdrücklich mit dem paradigmatischen Fall unmoralischen Handelns schlechthin charakterisiert: »[I]ch [nütze] mir dadurch, daß ich einem Andern Abbruch tue« (Marx, »Ideologie«, MEW, Bd. 3, 394).
Die ambivalente Rolle moralischer Urteile in Marx‹ Schriften ist von der Marxforschung bereits vor Jahren hinreichend dokumentiert worden (Geras 1984, 60, vgl. G. A. Cohen, 1983; J. Elster 1983b; 1986, 79–102). Norman Geras hat Marx‹ Selbstverständnis hinsichtlich der Moral überspitzt folgendermaßen charakterisiert: »Marx did think that capitalism was unjust but he did not think he thought so« (Geras 1984, 60). Vielleicht können wir etwas vorsichtiger sagen, dass, wenn Marx von der Rechtmäßigkeit des kapitalistischen Tausches spricht (Marx, »Kapital I«, MEW, Bd. 23, 208), er die Perspektive der bestehenden Moral- und Rechtsverhältnisse einnimmt. Derselbe Tausch muss dann aber vor dem Hintergrund seiner eigenen Arbeits- und Mehrwerttheorie als Ausbeutung gelten. Und weil Ausbeutung im Allgemeinen, wie wir oben gesehen haben, von Marx als die Verwirklichung der eigenen Interessen auf Kosten anderer verstanden wird, dürfen wir diesen Tausch dann auch als unmoralisch verstehen.
Marx‹ generelle Ablehnung gegenüber der Moraltheorie lässt sich im Wesentlichen auf drei Gründe reduzieren: Moraltheorie sei individualistisch, ahistorisch und bewusstseinszentriert. Als individualistische Theorie verkenne sie radikal die gesellschaftliche Verankerung des Menschen. Als ahistorische Theorie reflektiere die Theorie nicht auf ihre eigenen materiellen Entstehungsbedingungen. Und in ihrer Bewusstseinszentriertheit werde ein »Sich-aus-dem-Kopf-schlagen einiger fixer Ideen« für eine angemessene Transformationstheorie der Gesellschaft ausgegeben (Marx, »Ideologie«, MEW, Bd. 3, 404).
0.2.5. Auch für unser geschwisterliches Gerechtigkeitsprinzip gibt es zweifellos eine historisch-genetische Theorie. Diese Theorie liefern wir nicht. Wir liefern auch keine Transformationstheorie, die erklären könnte, wie Gerechtigkeitsdefizite zu überwinden sind. Wir konzentrieren uns hier lediglich auf die Rechtfertigung einer normativen Theorie, deren Grundprinzip jedoch nicht nur als Prinzip individuellen Handelns, sondern als ein normatives Prinzip gesellschaftlicher Praktiken und Institutionen verstanden werden kann. In der Auseinandersetzung mit alternativen Theorieentwürfen zeigt Marx mit seinen Argumenten, dass auch ihm (bei aller zeitbedingter, mitunter wenig sachlicher Polemik) diese Rechtfertigungsdimension seiner Theorie nicht fremd ist.
Wir halten es für evident, dass Marx eine moralische Defizienz des Kapitalismus artikuliert, wenn er schreibt, im Kapitalismus werde »[e]ine Klasse hervorgerufen […], welche alle Lasten der Gesellschaft zu tragen hat, ohne ihre Vorteile zu genießen« (Marx, »Ideologie«, MEW, Bd. 3, 69). Dasselbe gilt auch für den Sachverhalt, dass »die Einen auf Kosten der Andern ihre Bedürfnisse befriedigten« (Marx, »Ideologie«, MEW, Bd. 3, 417). Es ist hier nicht entscheidend, ob es um individuelles moralisches Fehlverhalten oder gesellschaftliche Institutionen geht, die ein solches moralisches Fehlverhalten erlauben oder sogar befördern. Die Phase des Kapitalismus gehört wie auch der Feudalismus für Marx zur »Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft« (Marx, KPÖ, MEW, Bd. 13, 9), die bekanntlich erst mit dem Kommunismus in ihr eigentliches Ziel kommt. Dieses Ziel ist, von einem normativen Standpunkt aus betrachtet, vorzuziehen. Im Kommunismus sind die »Klassen« und die »Klassengegensätze« aufgehoben und »die freie Entwicklung eines jeden [ist] die Bedingung für die freie Entwicklung aller« (Marx/Engels: MKP, MEW, Bd. 4, 482; vgl. Marx, »Kapital I«, MEW, Bd. 23, 618). Damit ist dann auch die »Vorgeschichte« der menschlichen Gesellschaft abgeschlossen und die eigentliche Geschichte kann beginnen. Erst mit der Überwindung des Kapitalismus, so können wir uns diese Passage zurechtlegen, leben die Menschen in einer freien, klassenlosen und in diesem Sinne ökonomisch gleichen Gesellschaft. Die kommunistische Gesellschaft ist in einem doppelten Sinn gerechter als die kapitalistische: Zum einen ist der unverdiente Klassenunterschied aufgehoben und damit niemand unverdient schlechter gestellt (relationaler Sinn). Zum anderen sind die materiellen Bedingungen so, dass alle Menschen ein menschenwürdiges Leben leben können (nicht-relationaler Sinn).
0.2.6. Marx hat seinem offensichtlich präsenten moralischen Vokabular keine große Beachtung geschenkt, weil im Vordergrund bestehender Produktions- und Eigentumsbedingungen der »Raub«, der »Diebstahl«, die »Beute« als solche nicht sichtbar werden. Im Unterschied zur Sklaverei und zum Leibeigentum treten die Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt in das Tauschverhältnis mit den Kapitalisten »formell freiwillig« ein (Marx, »Resultate«, MEGA II. Abt., Bd. 4.1, 474). Oberflächlich betrachtet, ist es deshalb zunächst auch nicht verständlich, warum es zu einer Machtverschiebung und Kapitalkonzentration kommen kann. Erst vor dem Hintergrund des »Wertgesetzes« oder genauer der Mehrwerttheorie soll dies verständlich werden: Demnach fällt der Lohn der Arbeiter geringer aus als der Warenwert, den sie produzieren. Zwar schwankt nach Marx die Mehrwertrate und damit der Grad der Ausbeutung, sie beruht aber immer auf dieser Ungleichheit:
Gesetzt, der Arbeitstag zähle 6 Stunden notwendiger Arbeit und 6 Stunden Mehrarbeit. So liefert der freie Arbeiter dem Kapitalisten wöchentlich 6 x 6 oder 36 Stunden Mehrarbeit. Es ist dasselbe, als arbeite er 3 Tage in der Woche für sich und 3 Tage in der Woche umsonst für den Kapitalisten. Aber dies ist nicht sichtbar. Mehrarbeit und notwendige Arbeit verschwimmen ineinander (Marx, »Kapital I«, MEW, Bd. 23, 251).
Marx‹ Ausbeutungsthese beruht auf der problematischen Voraussetzung, dass nur die Arbeitskraft des Arbeiters wertschöpfend ist. Der Arbeiter erhält als Lohn nur den Teil, der für die Reproduktion seiner Arbeitskraft notwendig ist. Die Arbeitskraft, die in dem Produkt »verkörpert« ist, geht aber über die Reproduktionskosten hinaus. Der Arbeiter erhält damit weniger Wert, als er produziert. Die Aneignung des über die Reproduktionskosten (in Marx‹ Terminologie: den Wert) der Arbeitskraft hinausgehenden »Mehrwerts« ist nach Marx der »Diebstahl« des Kapitalisten oder die »Ausbeutung«. Es ist wichtig sich klarzumachen, welche argumentative Funktion der Arbeits- oder Mehrwerttheorie zukommt. Sie etabliert nicht die Behauptung, dass Ausbeutung schlecht und zu überwinden ist. Dies wird von Marx implizit als selbstverständlich vorausgesetzt. Sie soll vielmehr die Behauptung etablieren, dass sich in kapitalistischen Arbeitsverhältnissen der Kapitalist den »Mehrwert« aneignet, den er selbst nicht geschaffen hat. Oberflächlich betrachtet, sieht es so aus, als ob freiwillig Wertäquivalente getauscht werden. Wie in einer radiologischen Untersuchung fungiert die Arbeitswerttheorie hier als Kontrastmittel, durch die der ungerechte Tausch erst »sichtbar« gemacht wird. Deshalb ist es verständlich, warum Marx glaubt, Moraltheorie würde nicht die entscheidende Arbeit leisten.
0.2.7. Marx‹ »Wertgesetz« ist, zurückhaltend ausgedrückt, umstritten. Verteidigungsversuche dieser Theorie sind die Ausnahme (Heinrich 1990, Kap. 6; 2008; 2013). Marginalisten haben dagegen schon früh nicht nur den objektiven Wertbegriff zurückgewiesen, sondern das »Gesetz« auch als falsch oder unbrauchbar zur Preis- und Profitberechnung erklärt (s. dazu bereits Böhm-Bawerk 1896). Selbst von denjenigen, die Marx‹ Kapitalismuskritik gegenüber grundsätzlich aufgeschlossen sind, lehnen viele die Arbeitswerttheorie ab (G. A. Cohen 1988; Elster 1985; 1986; Roemer 1981). Es gibt allerdings auch Versuche, die Vereinbarkeit von Marx‹ Wertgesetz und der subjektivistischen Theorie des Marginalismus von Angebot und Nachfrage nachzuweisen (s. dazu bereits Tugan-Baranovsky 1890; 1906; zum Verhältnis von Marginalistmus und Sozialismus s. Steedman 2003).
Um Ausbeutungsverhältnisse als solche anzuerkennen, braucht man aber keine so kontroverse Annahme wie Marx‹ Wertgesetz oder seine Mehrwerttheorie. Ausbeutung kann ganz allgemein so verstanden werden, dass Arbeiter nicht in gerechter Weise an den Früchten ihrer Arbeit beteiligt werden. Allerdings muss man dann erklären, unter welchen Bedingungen Tauschverhältnisse ungerecht sind. Wir sind damit aber nicht auf eine bestimmte Theorie darüber festgelegt, welche Faktoren ungerechte Tauschverhältnisse verursachen und begünstigen. Wir müssen nicht behaupten, dass Ausbeutung ausschließlich ökonomische Gründe hat. Aber im Licht unserer glücksegalitaristischen Einsicht wird auch jener Gütervorteil, der nur »ein besondres Glück für den Käufer« von Arbeitskraft zu sein scheint, gerechtigkeitstheoretisch problematisch (Marx, »Kapital I«, MEW, Bd. 23, 208). Im Licht dieser Einsicht werden auch uneingeschränkte Eigentumsrechte an Produktionsmitteln als Ausbeutungsquelle sichtbar. Wir kommen so ganz ohne Marx‹ kontroverse Werttheorie aus. Im Licht dieser Einsicht werden darüber hinaus aber noch weitere mögliche Ausbeutungsquellen sichtbar. Sowohl der Besitz unserer natürlichen Talente als auch unsere Sozialisierungsbedingungen müssen dahingehend betrachtet werden, welche unverdienten Vor- oder Nachteile sie uns verschaffen. Die glücksegalitaristische Einsicht macht also allgemein sichtbar, warum Ausbeutungsverhältnisse bereits dann vorliegen, wenn glückliche (Besitz-)Unterschiede systematisch in Verteilungsvorteile gegenüber anderen umgemünzt werden. Unsere fundamentalen Überzeugungen zur Verteilungsgerechtigkeit müssen in ihrem Licht schließlich so präzisiert werden, dass auch die Begriffe der »Freiheit, Gleichheit und fraternité« ihre kritische Bedeutung erhalten (Marx, Brief an F. A. Sorge, vom 19. Oktober 1877, MEW, Bd. 34, 303). Vielleicht ist damit bereits hinreichend deutlich geworden, wie ungemütlich unsere Abstraktionen in Debatten um ganz konkrete herrschende Ungleichheit werden können.
0.2.8. Wir haben zuletzt Ausbeutung im Rahmen des »distributiven Paradigmas« verstanden. Dieses Verständnis wird nicht von allen geteilt (Wood 1995; Vrousalis 2014; 2017). Glücksegalitaristischen Ansätzen wird vorgeworfen, dass sie Ausbeutung nicht eigentlich erklären können, weil Unterschiede, die selbst gewählt und also nicht das Resultat von unverdientem Unglück sind, durchaus noch ausbeuterisch sein können. Ausbeutung und unverdientes Unglück müssten demnach unterschieden werden: Wenn Paul in eine Grube fällt und Anton, der »gierige Retter«, ihm nur unter der Bedingung hilft, dass Paul für ihn in seinem Sweatshop arbeitet, dann hat Paul, sofern er in dieses Angebot einwilligt, den distributiven Unterschied selbst gewählt (Vrousalis 2014, 157; 2017, 92 f.).
Wir dürfen dennoch im Rahmen unserer geschwisterlichen Gerechtigkeitstheorie diesen Unterschied als »ausbeuterisch« bezeichnen. Dafür müssen wir Ausbeutung nicht notwendig im »deliberativen Akt« des Ausbeuters oder des Ausgebeuteten suchen (so etwa Cohen, 2009b, 97). Wir können in einiger Nähe zu Marx auch Institutionen und gesellschaftliche Praktiken ausbeuterisch nennen, wenn sie die Umwandlung von unverdienten Glücksunterschieden in distributive Vorteile befördern. Es sind dann die Erlaubnisregeln der Institutionen und Praktiken oder, wenn man so will, die Erlaubnisregeln »des Systems«, die unserem geschwisterlichen Gerechtigkeitsprinzip nicht hinreichend Rechnung tragen. Ausbeutung bedeutet, dass jemand übervorteilt wird, aber Übervorteilung muss nicht notwendig die Brechung bestehender Regeln bedeuten (vgl. Arneson 2016, 28). Selbst wenn man annimmt, dass Paul im vermeintlichen Gegenbeispiel Gieriger Retter selbst in die Grube gesprungen ist, ist es vor dem Hintergrund unseres geschwisterlichen Gerechtigkeitsprinzips nicht gerecht, wenn es Anton erlaubt ist, Pauls Verwundbarkeit in distributive Vorteile umzuwandeln. Denn selbst wenn Paul seine Verwundbarkeit selbst verschuldet hat und also keine »unwillentlichen« oder »ungerechten Schritte« zu seiner Verwundbarkeit geführt haben (Vrousalis 2014, 157), dürfen die distributiven Unterschiede nicht über angemessene Sanktions- und Kompensationskosten hinausgehen. Auf diese Weise können wir gegen das Gegenbeispiel vom gierigen Retter den Begriff der Ausbeutung mit dem Begriff des unverdienten Unglücks versöhnen (vgl. Barry 2006, 94 f. Für eine ausführliche Replik auf Wood und Vrousalis s. Arneson 2016).
0.2.9. Marx hat seinem Widersacher Proudhon die rhetorische Frage vorgelegt, was man »von einem Chemiker denken [würde], der, statt die wirklichen Gesetze des Stoffwechsels zu studieren und auf Basis derselben bestimmte Aufgaben zu lösen, den Stoffwechsel durch die ›ewigen Ideen‹ der ›naturalité‹ und der ›affinité‹ ummodeln wollte?« (Marx, »Kapital I«, MEW, Bd. 23, 99 f.) Was für den Chemiker gilt, so will Marx mit dieser Analogie nahelegen, gilt auch für den Ökonomen. Marx würde es deshalb für bestenfalls naiv halten, wenn wir behaupten wollen, eine ökonomische Ordnung sollte das Prinzip geschwisterlicher Gerechtigkeit berücksichtigen. Genau dies wollen wir aber behaupten. Damit akzeptieren wir die materialistische Hypostasierung der Produktionsverhältnisse nicht – sei es der gegenwärtigen, sei es der antizipierten postrevolutionären – und stehen mit dieser Überzeugung dem Ansatz von John Rawls näher als Marx. Die Analogie von Marx aufgreifend, können wir diesen Sachverhalt auch so ausdrücken: Welche Auswirkung die Anhebung des Spitzensteuersatzes auf die Ökonomie hat, kann durch keine nicht-ökonomische, normative Theorie erkannt werden. Ob aber der Spitzensteuersatz angehoben werden sollte oder nicht, ist durchaus nicht nur eine ökonomische Frage, sondern auch eine normativ-ethische Frage. Dabei wird diese Frage auch im Licht des »Ideal[s] der Gerechtigkeit, der justice éternelle« (ebd.) betrachtet werden müssen. »[D]ass die Katze der Reichen genau die Milch trinkt, die dem [Kind] der Armen fehlt, um gesund zu bleiben« (Samuelson; Nordhaus, »Economics« 2010, 38), ist ein Beispiel dafür, dass die Preissignale, die ein allein durch Angebot und Nachfrage geregelter Markt aussendet, nicht automatisch dafür sorgen, dass die Güter in den richtigen Mündern landen. Wir machen hier einen selbstverständlichen Unterschied zwischen dem dringenden Bedürfnis des Kindes und der starken Präferenz der Katze oder der Katzenhalter. Diese Wertunterscheidungen treffen wir jenseits eines durch Angebot und Nachfrage geregelten Marktes. Damit ist schon eine erste »ethische Grenze des Marktes« angezeigt (vgl. Anderson 1990, 198). Der Markt ist zudem eine »brute luck machine« (Cohen 2011, 102), der gerade nicht notwendig dafür sorgt, dass jeder bekommt, was er verdient. Wieviel unsere Talente und Vorlieben am Markt Wert sind, hängt von den zufälligen Vorlieben anderer ab. Die daraus resultierenden Unterschiede sind ungerecht, wenn die Vorlieben genauso wie die Talente nicht selbst gewählt sind. Auch die Freiheit, die uns der der Markt verspricht, ist nicht unbedingt begehrenswert (s. dazu Anderson 1990, 2004; Cohen 1995, 56–59). Wir sind frei dazu, andere an den Entscheidungsprozessen über unser Privateigentum auszuschließen. Wenn unsere Entscheidungen beispielsweise die Einrichtung unseres Hauses betreffen, ist dies unproblematisch. Wenn uns aber alleine die Wasservorräte der Stadt gehören, wird deutlich, warum diese Art von Freiheit nur einen eingeschränkten Wert hat. Hier werden »unter dem Deckmantel der individuellen Freiheit bloß private Interessen durch[gesetzt]« (Honneth 2017, 106) und damit wird gegen geschwisterliche Gerechtigkeit verstoßen. Man muss sich deshalb immer fragen, welche Bereiche überhaupt nach Marktmechanismen geregelt werden sollten (s. dazu Fraser & Jaeggi; 2020, 36–48; Sandel 2013; Satz 2012) und wie durch eine mögliche geschwisterliche Einbettung der Märkte Gerechtigkeitsmängel zu korrigieren sind. Dabei genügt es freilich nicht, Einkommen durch Steuererhebung oder gar die bereits produzierten Waren umzuverteilen. Die Notwendigkeit von Umverteilung von Einkommen, Gütern und Waren ist Ausdruck davon, wie auch Iris Young immer wieder betont, dass die ursprünglichen Transaktions- und Verteilungsmodi im Allgemeinen defizient sind (vgl. Young 1990, 53). Wir können also Marx darin zustimmen, dass es nicht bloß um die »Verteilung von Konsumtionsmitteln« geht, sondern grundsätzlicher noch um die »Verteilung der Produktionsbedingungen« gehen muss (Marx, KGP, MEW, Bd. 19, 22). Damit müssen wir uns aber gerade nicht, wie Marx es mit seiner Polemik oft nahelegt, vom Paradigma der Verteilungsgerechtigkeit verabschieden (vgl. Geras 1984, 46 f.). Vor dem Hintergrund unserer geschwisterlichen Gerechtigkeitstheorie entsteht vielmehr die Aufgabe, einen Markt oder einen »sozialen Mechanismus« zu konzipieren, der die geschwisterlichen Kräfte der Individuen freisetzt, ohne dabei die Entwicklung ihrer eigenen Talente und Fähigkeiten zu behindern (s. dazu Carens 2014; Friedland & Cole 2019; Roemer 2019). Eine Ökonomie, die unser Prinzip der Geschwisterlichkeit berücksichtigt, werden wir eine »geschwisterliche Verdienstökonomie nennen« (s. dazu 6.3.). Wir dürfen freilich nicht bei der Ökonomie halt machen, sondern müssen die sozialen Institutionen im Allgemeinen vor dem Hintergrund geschwisterlicher Gerechtigkeit beleuchten.
In dieser Untersuchung soll in erster Linie auf der Prinzipienebene das Ideal der Verteilungsgerechtigkeit klar und deutlich artikuliert werden. Dabei müssen wir uns auch immer die Frage vorlegen, welche besonderen Gerechtigkeitsurteile unter konkreten Anwendungsbedingungen aus unserem geschwisterlichen Gerechtigkeitsprinzip folgen. Die Bestätigung und Anwendung unseres Prinzips erfolgt dabei aber anders als bei Marx nur selten unter Berücksichtigung empirischer Tatsachen, sondern meist im Gedankenexperiment (s. dazu Brownlee & Stemplowska 2016). Hier sollen eingangs drei Gedankenexperimente exponiert werden, anhand derer die Grundzüge des normativen Gehalts unser geschwisterlichen Gerechtigkeitskonzeption deutlich werden.
0.3.1. Die Utopie der geschwisterlichen Gerechtigkeit ist nicht nur als bloß moralistisch verworfen worden, auch ihr vermeintlicher Inhalt ist auf radikale Ablehnung gestoßen. Ein wirkungsmächtiges Gedankenexperiment hat Kurt Vonnegut in seiner satirisch-dystopischen Kurzgeschichte »Harrison Bergeron« angestellt. Bei Egalitarismuskritikern ist diese Geschichte beliebt, weil sie uns vermeintlich den paradigmatischen Fall für die Wertlosigkeit des Egalitarismus liefert. Mit unserer geschwisterlichen Gerechtigkeitskonzeption legen wir uns auch auf eine Form des Egalitarismus fest. Wir wollen hier die Sorge des Anti-Egalitaristen ernst nehmen. Dafür wird es hilfreich sein, sich genauer mit Vonneguts Dystopie zu befassen. Im Kontrast zu dieser Dystopie wird dann der eigentliche Wert der Gleichheit in den Blick kommen. Wie im Fall von Marx wird vor dem Hintergrund einer theoretischen Alternative der Grundzug unserer eigenen Position sichtbar werden, in diesem Fall unseres Egalitarismus.
Vonneguts Dystopie beschreibt die US-amerikanische Gesellschaft im Jahr 2081, in der in einem radikalen Sinn »endlich alle gleich« sind (Vonnegut, »Welcome to the Monkey House«, 1968, 7):
»They weren’t only equal before God and the law. They were equal every which way. Nobody was smarter than anybody else. Nobody was better looking than anybody else. Nobody was stronger or quicker than anybody else« (ebd.).
Möglich wurde dieser Egalitarismus durch eine Verfassungsänderung. Durchgesetzt wird er von einem autoritär agierenden Staat in Person einer sogenannten »Behinderungsgeneralin«. Um Gleichheit, werden nicht die weniger fähigen Menschen befähigt, sondern die fähigen Menschen unfähiger gemacht. Sie werden, wie es in unserer politischen Rhetorik oft heißt, »herunternivelliert«: in geistiger, in physischer und ästhetischer Hinsicht. Die überdurchschnittlich Intelligenten müssen einen Radiosender im Ohr tragen, der laute und irritierende Töne aussendet, die sie daran hindern, klare Gedanken zu fassen. Die physisch stärkeren Bürger müssen Bleisäcke tragen, die ihnen die Bewegung erschweren. Beeinträchtigungen dieser Art sind erforderlich, um kompetitive Vorteile zu verhindern. Wer versucht, sich seiner künstlichen Beeinträchtigungen zu entledigen, etwa indem er Bleikugeln aus den Bleisäcken entfernt, wird bestraft: »Two years in prison and two thousand dollars fine for every ball [one] took out« (Vonnegut 1968, 9).
Der tragische Held und Bösewicht der egalitaristischen Dystopie ist Harrison Bergeron. Er ist alles andere als durchschnittlich, und das wird für ihn zum Problem. Seine Fähigkeiten sind so herausragend, dass er so schwer wie niemand vor ihm beeinträchtigt werden muss. Er sieht aus wie ein »walking junkyard« (Vonnegut 1968, 11). »In the race of life, Harrison carrie[s] three hundred pounds« (ebd.). Statt eines kleinen Radiosenders im Ohr, muss er einen Kopfhörer tragen und zusätzlich noch eine Brille, die ihn nicht nur auf einem Auge blind macht, sondern auch noch Kopfschmerzen verursacht (ebd.).
Dieser außerordentlich talentierte Sohn wird seinen Eltern weggenommen und ins Gefängnis gebracht, weil er verdächtigt wird, die Regierung umstürzen zu wollen. (In diesem »egalitaristischen Staat« genügt offenbar schon der Verdacht, um ins Gefängnis gesperrt zu werden.) Auf dem Höhepunkt der Geschichte bricht Harrison aus dem Gefängnis aus und ins Fernsehstudio ein, ruft dort vor laufender Kamera die Monarchie aus, krönt sich selbst zum Kaiser und erwählt von den Ballerinen des Fernsehballetts eine zur Kaiserin. Zusammen legen sie zunächst ihre Beeinträchtigungen ab und beginnen dann gemeinsam zu tanzen. Sie werden aber schließlich bei ihren Luftsprüngen, mit denen sie zwischenzeitlich die »Schwerkraft neutralisieren«, durch die Schüsse der Behinderungsgenerälin buchstäblich auf den Boden der Tatsachen (und Normen) zurückgeholt (Vonnegut 1968, 13).
0.3.2. Vonneguts Gedankenexperiment beruht also auf der folgenden Überlegung: Wie wäre es, wenn wir in einer Welt leben würden, in der die Talentierteren durch Herunternivellierung trotz unterschiedlicher Grundvermögen die gleichen Fähigkeiten ausüben könnten wie die Unbegabten? Mit seiner Geschichte macht Vonnegut die Vorstellung konkret erfahrbar. Darin liegt die Erfahrungskomponente des Experiments. Allgemeiner können wir sagen, dass hier die vermeintliche Utopie einer Gesellschaft dystopiert wird, in der Gleichheit der alles andere in den Schatten stellende Wert ist. Genauer ist hier der »telische Egalitarismus« das allem übergeordnete Prinzip. Dieser Ausdruck stammt von Derek Parfit. Der telische Egalitarist behauptet, dass es an sich schlecht sei, wenn manche Menschen schlechter als andere gestellt sind (Parfit 1997, 206).
In dieser vermeintlich utopischen Welt werden die Menschen ihrer Freiheit und Individualität beraubt, sie werden geschwächt und verdummt, müssen ein langweiliges und eintöniges Leben leben, das auf den Emotionen von Angst und Neid gründet. Durch diese egalisierenden Maßnahmen kennt keiner sich selbst oder seine Mitmenschen. In Vonneguts Erzählung wird erfahrbar, warum die Idee einer Gesellschaft, in der die Fähigen mit Gewalt herunternivelliert werden, ein Horrorszenarium darstellt und eigentlich keinen Wert hat.
Der Anti-Egalitarist sieht sich durch diese Geschichte bestätigt. Der Egalitarismus ist etwas, wovor wir uns fürchten müssen. Vonnegut macht sich natürlich auch über die vermeintliche Alternative eines vitalen und absoluten Monarchen lustig. Man kann Vonneguts Geschichte deshalb auch als eine Aufgabe verstehen, die angemessene Alternative zu finden. Sie kann so auch als eine Satire auf eine bestimmte wertlose Form des Egalitarismus verstanden werden. Damit fordert uns diese Geschichte gerade dazu auf, den Wert der Gleichheit zu artikulieren, der diesen Namen auch verdient. Wir müssen uns Klarheit darüber verschaffen, was wir an der Gleichheit zwischen den Menschen wertschätzen und welche Art von Gleichheit wertvoll ist. Die vorliegende Untersuchung kann auch als ein Lösungsversuch dieser Aufgabe verstanden werden.
0.3.3. Gerade weil in Vonneguts Erzählung die Verwirklichung der Gleichheit zu Zwang, Konformismus, Neid und Eintönigkeit führt, ist die Sicht auf den intrinsischen Wert der Gleichheit verstellt. Wir können aber trotzdem daran festhalten, dass es in einer Hinsicht besser wäre, wenn die Menschen alle gleich fähig wären. Diese These impliziert nicht, Gleichheit sei in jedem Fall und unabhängig von den Mitteln zu ihrer Durchsetzung erstrebenswert. In Vonneguts Dystopie wird der Wert der Gleichheit vielmehr von anderen Werten in den Schatten gestellt. Zu diesen Werten gehören z.B. auch die Integrität der Person, Individualität, Selbstverwirklichung, Freiheit, Privatheit, Wohlstand und Effizienz. Damit Gleichheit intrinsisch wertvoll ist, muss sie aber nicht der in allen Situationen alle anderen Werte in den Schatten stellende Wert sein. Wir werden uns im 6. Kapitel ausführlich mit dem Herunternivellierungseinwand beschäftigen, wie er von Derek Parfit und Robert Nozick vertreten wird (6.2. B). Ihre Kritik basiert auf der gleichen Vorstellung des Egalitarismus, den auch Vonnegut satirisch aufs Korn nimmt. Doch bereits hier sollte deutlich geworden sein, dass wir uns mit unserem geschwisterlichen Gerechtigkeitsprinzip nicht auf einen »telischen Egalitarismus« verpflichten. Gleichheit ist ein konstitutives Merkmal der Gerechtigkeit, aber nicht mit ihr identisch. Diese Idee versucht Stefan Gosepath mit der anstößigen Formulierung seines Buchtitels »Gleiche Gerechtigkeit« einzufangen (Gosepath 2004). Damit ist man gerade nicht verpflichtet, Gerechtigkeit mit einem »telischen Egalitarismus« gleichzusetzen. Unsere geschwisterliche Gerechtigkeitskonzeption lässt Raum für selbstgewählte Unterschiede. Die freie Wahl muss aber immer, wie wir im Laufe dieser Untersuchung nicht müde werden zu betonen, im Licht der glücksegalitaristischen Einsicht interpretiert werden. Auf diese Weise wird die Integrität der Person gerade geschützt und nicht aufgehoben. Der wohlverstandene Egalitarismus wendet sich nicht gegen die ungleiche Ausübung unserer ungleichen Vermögen. Er wendet sich nur gegen die Idee, zufällige Ungleichheit hinsichtlich dieser Vermögen auch als Anspruchsgrundlage auf ungleiche Anteile an Ressourcen und Gütern für gerechtfertigt zu halten.
0.3.4. Im Gegenzug zu »Harrison Bergeron« können wir den paradigmatischen Fall geschwisterlicher Gerechtigkeit entwickeln: Nehmen wir an, Paul und Anton arbeiten zusammen und verrichten dabei dieselbe Tätigkeit. Im Unterschied zu Anton ist Paul aber nur mit einer Hand geboren. Nehmen wir ferner an, Paul sei genau deswegen halb so produktiv wie Anton, weil er nur mit einer Hand arbeiten kann. Pauls geringere Produktivität ist also nur das Ergebnis von ungewähltem Unglück. Aus diesem Grund wäre es ungerecht, wenn Paul aufgrund seiner geringeren Produktivität weniger Lohn als Anton erhielte. Dieses Ergebnis halten wir für so offenbar richtig, wie es offenbar richtig ist, dass die Art der Gleichheit, die in »Harrison Bergeron« durchgesetzt wird, unattraktiv ist.
Nun könnte Anton Paul freilich ein »Geschäft« vorschlagen. Bei diesem Geschäft macht Anton seine Kooperation davon abhängig, dass er 65 Prozent des Gewinns einstreicht. Paul könnte sich auf dieses Geschäft einlassen, weil er ohne Antons Beitrag schlechter gestellt wäre, auch wenn sie den Gewinn nicht geschwisterlich teilten. Nach unserer geschwisterlichen Gerechtigkeitskonzeption ist es ungerecht, wenn Anton in diesem Fall aufgrund seiner doppelten Produktivität dafür belohnt wird, dass er produktiver ist als Paul. Nach unserer Konzeption wäre es gerecht, wenn in diesem Fall beide den gleichen Gewinn erhielten. Diesen paradigmatischen Fall geschwisterlicher Gerechtigkeit wollen wir Geschwisterliche Teilung nennen. Mit Geschwisterliche Teilung verpflichtet man sich nicht auf einen Ergebnisegalitarismus. Wenn der Produktivitätsunterschied zwischen Paul und Anton nicht auf einem biologischen Zufall, sondern darauf beruht, dass sie sich bei gleichem Vermögen für eine jeweils andere Freizeit-Arbeit-Proportion entscheiden, ist es verdient, wenn Paul und Anton auch entsprechend unterschiedlich entlohnt werden. Diesem Verdienstunterschied liegt aber ebenfalls die egalitaristische Idee zu Grunde, die wir salopp in der Formel »gleiche Arbeit, gleicher Lohn« ausdrücken. Der Fall Geschwisterliche Teilung macht deutlich, dass vom Standpunkt der Gerechtigkeit der Ausdruck »gleiche Arbeit« hier nicht mit »gleicher Ertrag« identifiziert werden darf.
Zum tatsächlichen Ertrag haben wir einen epistemisch privilegierten Zugang. Für die Identifikation einer gerechten Verteilung ist aber ein Wissen um die Entstehungsbedingungen des Leistungsertrags erforderlich. In geschwisterliche Teilung haben wir vorausgesetzt, dass der Unterschied zwischen Pauls und Antons Produktivität ausschließlich auf einen zufälligen biologischen Unterschied zurückzuführen ist. In der Realität ist es freilich oft nicht so leicht zu erkennen, von welchen Faktoren der Unterschied im Leistungsertrag abhängt. Deshalb ist es aus pragmatischen Gründen verständlich, wenn der Leistungsertrag zur Bemessung der Verdienstgrundlage herangezogen wird. Wir sollten aber nicht unser Gerechtigkeitsideal ändern oder herabsetzen, weil der epistemische Zugang zur Verwirklichung dieses Ideals im Einzelfall Probleme bereitet. Das wäre nur wieder ein Ausdruck jener Konzession, die die Gerechtigkeit im falschen Licht darstellt und die wir in unserer nicht-konzessiven Gerechtigkeitstheorie vermeiden wollen. Vielmehr bestünde die Aufgabe darin, Methoden zu entwickeln, um den epistemischen Zugang im Einzelfall zu verbessern, so dass wir uns dem Ideal der distributiven Gerechtigkeit annähern können (vgl. Wolff 2003, 228–232; s. dazu Kap. 2.3.5.). Wenn wir die Fläche des Kreises suchen, begnügen wir uns nicht schlechthin mit einer groben Näherung wie r²22/7, nur weil diese epistemisch leicht zugänglich ist.
0.3.5. Die eigentliche, berechtigte Sorge, die den Anti-Egalitaristen umtreibt, scheint eine Gerechtigkeitsüberlegung zu sein, die selbst vom Gleichheitsgrundsatz Gebrauch macht: Der Anti-Egalitarist ist in der Regel darum besorgt, dass geschwisterliche Einrichtungen durch Gier, Fahrlässigkeit und Faulheit missbraucht werden. Dieser Missbrauch hätte nämlich zur Folge, dass die Werte der Gleichheit, Individualität, Selbstverwirklichung und Freiheit gewissermaßen auf der Strecke bleiben. Diese Sorge ist aber letztlich nur die andere Seite derselben Medaille der Geschwisterlichkeit. Das wird deutlich, wenn wir uns ein drittes und letztes Gedankenexperiment ansehen: Nehmen wir an, Oskar lebt in einer kleinen, armen vorindustriellen Bauerngemeinschaft. Wenn einer der Arbeiter aufhört, seinen Beitrag zu leisten, ist Mangelernährung die Folge. Oskar hat alle Fähigkeiten, um sich am Produktionsprozess zu beteiligen. Doch Oskar hat ein Hobby, mit dem er ohne Not seine Produktivkraft leichtfertig aufs Spiel setzt. Jeden Tag springt er nach getaner Arbeit von einer 15 Meter hohen Klippe ins Meer. Die Gefährlichkeit seines Hobbys ist Oskar bekannt. Er hat sich schon einige Male leicht verletzt. Er weiß, dass jeder seiner Sprünge nicht nur ein großes gesundheitliches Risiko für ihn darstellt, sondern auch das Überleben anderer Dorfbewohner gravierend gefährdet. Ihm ist zudem auch bewusst, dass sein Verhalten gegenüber den anderen Dorfbewohnern unverantwortlich und inakzeptabel ist. Nehmen wir an, Oskar verletzt sich bei einem seiner Sprünge so schwer, dass er arbeitsunfähig wird. Eine Versicherung in dem Dorf gibt es nicht. Oskar kann nichts mehr zum sozialen Produkt der Gesellschaft beitragen. Der Verlust seiner Arbeitskraft führt zu Lebensmittelmangel, und Oskar muss sogar von den Dorfbewohnern gepflegt und ernährt werden. Wir wollen diesen Fall »grobe Fahrlässigkeit« nennen.
Wie muss grobe Fahrlässigkeit vom Standpunkt geschwisterlicher Gerechtigkeit beurteilt werden? Belohnt unsere geschwisterliche Gerechtigkeitskonzeption Oskars fahrlässiges Verhalten? Mit seinem Verhalten hat Oskar täglich die elementaren Bedingungen des Wohlergehens der anderen Dorfbewohner grob fahrlässig aufs Spiel gesetzt. In seinem Verhalten drückt sich zumindest Indifferenz gegenüber dem Schicksal der anderen Dorfbewohner aus. Darin liegt das anti-geschwisterliche Merkmal. Die Dorfbewohner dürfen mit Recht sagen: »Eine solche Handlung hat keine Hilfe verdient.« Es kommt freilich auch noch auf andere Faktoren an, ob Oskar die Hilfe der anderen Dorfbewohner verdient hat. Aber als ein so Handelnder und nur als ein so Handelnder macht sich Oskar der Hilfe der anderen Dorfbewohner unwürdig. Trotzdem würden wir es »grausam« finden, Oskar nicht zu helfen, weil Oskar in seiner Situation sich nicht mehr selbst helfen kann. Wie die Sanktionsmaßnahmen in einem solchen Fall aussehen, hängt immer auch vom Wohlstand der konkreten Gesellschaft ab. Eine Wohlstandsgesellschaft kann der individuellen Entfaltung mehr Raum einräumen als Oskars Dorfgemeinschaft. Gerechtigkeitserwägungen werden in diesem Kontext in der Anwendung in den Hintergrund treten. Doch wie wir auch immer in Szenarien wie grobe Fahrlässigkeit handeln werden, in keinem Kontext hat eine Handlung wie Oskars die Hilfe der anderen verdient. Hier ist die Grenze geschwisterlicher Gerechtigkeit erreicht und der Übergang zur Barmherzigkeit oder Wohltätigkeit markiert.
Mit grobe Fahrlässigkeit soll der kleine, aber wahre Kern anti-egalitaristischer Überzeugungen einfangen werden. Dieser Fall macht deutlich, dass unsere geschwisterliche Gerechtigkeitskonzeption nicht mit einem »telischen Egalitarismus« gleichzusetzen ist, weil die distributive Gleichheit immer vor dem Hintergrund geschwisterlicher Gerechtigkeit interpretiert werden muss. Aufgabe unserer Gerechtigkeitstheorie muss es auch sein, bei ursprünglicher Anspruchsgleichheit die Bedingungen des verdienten oder gerechten Anspruchs auf distributive Ungleichheit zu artikulieren.
Das Schicksal gemeinsam zu teilen, wie es unsere geschwisterliche Gerechtigkeitskonzeption verlangt (s. dazu 0.1.3), bedeutet freilich auch, die Kontingenz der Verwirklichungsbedingungen menschlichen Handelns zu berücksichtigen: Anton, der dieselben Entscheidungen trifft wie Oskar, könnte kontingenterweise einer Verletzung entgehen. Die Handlungen von Anton und Oskar verdienen beide die Hilfe der anderen nicht. Aber Anton verdient es auch ceteris paribus nicht, bessergestellt zu sein als Oskar. Der all-luck Egalitarianismus, den wir hier vertreten, muss diesen Glücksunterschied als Gerechtigkeitsdefizit in Rechnung stellen. Dabei sind keine sauberen institutionellen Regeln zu erwarten. Aber vielleicht wird hier immerhin das Phänomen der Gerechtigkeit in seiner konkreten Opazität angemessen repräsentiert. Es wird uns nicht darum gehen, konkrete Gerechtigkeitsdefizite nachzuweisen, sondern auf der Prinzipienebene die Gerechtigkeitsforderungen von anderen normativen Anforderungen abzugrenzen.
0.3.6. Man wird gegen uns einwenden, dass wir mit Fällen wie grobe Fahrlässigkeit das Kind mit dem Bade ausschütten. In unserem Versuch, die absurden Konsequenzen von Harrison Bergeron zu umgehen, machen wir ein zu großes Zugeständnis an den Anti-Egalitaristen. Nach unserer Konzeption scheint z.B. der Empfang von Sozialhilfe davon abhängig zu sein, ob ein Individuum die Sozialhilfe auch verdient hat. Damit würden wir dann die Unterscheidung zwischen den »deserving« und »undeserving poor«, wie sie in den »Poor Laws«, den Armengesetzen des Pauperismus, üblich war, wieder einführen (Anderson 1999, 311, 327). Zudem handle ein Staat, der seine Bürger in dieser Weise einteilt, »moralisierend« und »übergriffig« (Anderson 1999, 310).
Mit dieser Kritik werden wir uns ausführlicher im 6. Kapitel befassen (6.2. C). Wir können aber hier kurz exemplarisch skizieren, wie unser idealer und wertepluralistischer Ansatz konkrete sozialpolitische Überlegungen unterstützen kann. Die Frage, was der Staat tun soll, und die Frage, was gerecht ist, werden in dieser Untersuchung stets auseinandergehalten. Nach unserer Gerechtigkeitskonzeption hat Oskars Handeln in grobe Fahrlässigkeit die Hilfe der anderen nicht verdient. Von dieser Behauptung ist es aber noch ein sehr weiter Weg zu der Behauptung: »Wir sollen die staatliche Zuteilung der Sozialhilfe davon abhängig machen, ob jemand ›deserving‹ oder ›undeserving‹ ist«. Diese Theorie darf nicht als Plädoyer für die Abschaffung von unbedingten Subsistenzrechten verstanden werden (s. dazu 4.3.5.–4.3.6). Im Gegenteil, der Begriff der Gerechtigkeit erhält durch das Merkmal der Geschwisterlichkeit einen radikal humanistischen Zug, der die Kontingenz der menschlichen Lebenssituation zu einem grundlegenden Gerechtigkeitsproblem werden lässt.
Die These, wonach Oskars Handeln keine Hilfe verdient hat, ist plausibel, weil Oskar seine eigene Existenznot sowie die Existenznot der anderen aus Freude am Nervenkitzel und ohne Not fahrlässig herbeigeführt hat. Oskars Schuldhaftigkeit ist eine gesicherte Tatsache. Die Tatsache alleine hat hier aber nicht, wie wir im 1. Kapitel sehen werden (1.4.), normative Kraft. Sie wird vielmehr erst vor dem Hintergrund unseres geschwisterlichen Gerechtigkeitsprinzips relevant. Wenn die Schuldhaftigkeit unklar ist, sollten wir auch mit unserem Gerechtigkeitsurteil zurückhaltend sein. Gerade weil es um elementare Lebensbedingungen geht, sollten auch Rechtslibertarier den Grundsatz in dubio pro paupero gelten lassen.
Wer davon überzeugt ist, dass Oskars Fall die Regel ist und die Existenznot der Menschen in der Regel auf individuelle, grob fahrlässige Fehlentscheidungen zurückzuführen ist, wird für wohlfahrtstaatliche Einrichtungen zumindest aus gerechtigkeitstheoretischer Sicht wenig Verständnis haben. Wir halten es dagegen für eine Plattitüde, dass unsere Fähigkeiten wesentlich von unseren genetischen Prädispositionen und den sozialen Verhältnissen abhängig sind. Auch im Rahmen unserer Lebensgeschichte ist unser Handlungserfolg wesentlich von kontingenten Umstandsbedingungen abhängig. In wie weit das im individuellen Fall zutrifft, ist eine empirische Frage. Die Sozialgesetzgebung sollte bis zu einem gewissen Grad an der Beantwortung dieser Frage interessiert sein, damit die Hilfe nicht in falsche Hände gelangt. Wenn z. B. Jeff Bezos, um einen klaren Fall zu nennen, $4.000 Steuererleichterung für seine Kinder erhält, ist die glücksegalitaristische Einsicht nicht angemessen berücksichtigt worden (»The Secret IRS Files: Trove of Never-Before-Seen Records Reveal How the Wealthiest Avoid Income Tax«, ProPublica 08.06.2021). Aber wie genau die konkreten Verteilungsfragen zu beantworten sind, muss immer auch vor dem Hintergrund anderer Werte erwogen werden.
Mit dem Eingriff in die Privatsphäre und der möglichen Stigmatisierung der Armut sind oben bereits zwei Gründe genannt worden, die nicht von unserem geschwisterlichen Gerechtigkeitsprinzip erfasst werden und mögliche Grenzen der Gerechtigkeit aufzeigen. Beide genannten Gründe sind nicht nur für sich genommen problematisch, sie können z.B. auch dazu führen, dass wirkliche Armut verschwiegen wird. Das kann fatal sein, weil es bei Armut um elementare Lebensbedingungen geht. Mit unserer dualen Gerechtigkeitstheorie machen wir Platz für die richtige Intuition des Suffizientaristen, dass unsere elementaren Funktionen als freie, gleiche, des Glücks und der Geschwisterlichkeit fähige Wesen Priorität gegenüber komparativen Gerechtigkeitserwägungen haben (s. dazu 6.2.7.–6.2.9.). Aber über die nicht-komparative Dimension hinaus muss immer auch die komparative berücksichtigt werden. Gerade auch mit Blick auf die vielfältigen Fallbeispiele von distributiver Gerechtigkeit gilt es im Durchgang durch diese Untersuchung stets beide Dimensionen – die komparative und die nicht-komparative – im Auge zu behalten.
Um die politisch richtigen Maßnahmen zu ergreifen, kommt man allein mit idealer Gerechtigkeitstheorie nicht weit. Man muss auch gute empirische Kenntnisse der sogenannten »Armutskultur« haben (David Harding; Michele Lamont; Mario Luis Small, »Reconsidering Culture and Poverty« 2010). Kinderarmut ist vor dem Hintergrund unserer glücksegalitaristischen Einsicht ein besonders einschlägiger Fall. Kinder sind arm, ohne dass sie sich etwas zu Schulden kommen lassen haben. Gute Sozialgesetzgebung muss nicht in jedem Einzelfall Gerechtigkeit herbeiführen. Es sind die Einzelfälle des Missbrauchs, die medial gegen »den« Sozialstaat in Stellung gebracht werden (z.B. »Villa mit Hartz IV«, Bild-Zeitung 07.05.2006). Wir müssen Missbrauchsfälle als Missbrauchsfälle registrieren. Sie können aber weder das Prinzip noch, sofern es Ausnahmen sind, die bestehende Sozialgesetzgebung im Allgemeinen diskreditieren. Wenn ein »Teufelskreis der Armut« vorliegt und dessen Durchbrechung nur durch Missachtung von individuellem Verschulden möglich ist, hat man gute Gründe, vom individuellen Verdienst abzusehen.
Ob das Antezedens dieses Konditionalsatzes wahr ist, ist eine empirische Frage. Nach der neoliberalen Wende in der Armutsdiskussion wurde aus dem »Teufelskreis der Armut« ein »Teufelskreis der Wohlfahrt« (Joshua Guetzkow, »Beyond Deservingness: Congressional Discourse on Poverty, 1964–1996«, 2010, 187). Armen »zu helfen« hieß nun, sie aus dem »Teufelskreis der Wohlfahrt« »zu befreien«. Mit wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen würden »falsche Anreize« (perverse incentives) gesetzt, die die Armen nicht zur Arbeit motivieren, sondern ihre »Anstrengungen bestrafen« (Robert Friedman, U.S. Congress 1995c, 24. Zitiert nach Guetzkow 2010, 189). Hier geht es also nicht mehr um die Frage, ob die Armen »deserving« oder »undeserving« sind, sondern darum, was ihnen aus der Armut hilft. Die neoliberale Antwort lautet: nicht Güter, sondern Anreize und Sanktionen. Es ist wiederum eine empirische Frage, ob dies die richtige Diagnose ist. Wenn wir wissen, dass unsere Fehler und unsere Untätigkeit ausgeglichen werden, unternehmen wir weniger Anstrengungen, diese zu vermeiden. Darin liegt vielleicht der Wahrheitsfunke neoliberaler Sozialpolitik. Was aber aus dieser Tatsache für die Sozialgesetzgebung folgt, ist offen. Es sollte jedoch unstrittig sein, dass selbst wenn es mit wohlfahrtstaatlichen Maßnahmen nicht gelingt, die Armut zu beenden, durchaus auch die Elendsverhinderung durch Nahrung- und Unterkunftsversorgung als Erfolg gewertet werden muss. Ein Grund, warum einige Wohlfahrtprogramme bei der Armutsbekämpfung erfolglos geblieben sind, könnte z.B. auch die zufällige US-amerikanische Realität eines Arbeitsmarktes ohne Mindestlohn sein. Es ist auch möglich, dass manche Wohlfahrtprogramme in einen Teufelskreis führen und andere nicht. Mit idealer Theorie alleine kommt man hier wiederum nicht weiter.
Doch wir sollten uns nicht durch Anreiz- und Effizienzargumente die Sicht auf die Gerechtigkeit vernebeln lassen. Unser geschwisterliches Gerechtigkeitsprinzip fordert dazu auf, die Entstehungsprozesse der Ungleichheit genau zu untersuchen, weil Ungleichheiten nur dann gerecht sind, wenn sie selbst gewählt sind. Wer die These vertritt, wonach Armut selbst verschuldet und Reichtum das Resultat harter Arbeit ist, lädt sich eine hohe empirische Beweisschuld auf. Man muss dann z.B. erklären, warum Unterschiede im Wohlstand der Individualhaushalte in Deutschland nur zu 17% auf Haushaltseinkommen, aber zu 38% auf Erbschaften zurückgehen. (Leitner, »Vermögensungleichheit und die Bedeutung von Erbschaften und Schenkungen« 2015, 3). In den USA liegt der Anteil der Erbschaften sogar zwischen 50 und 60% (Alvaredo; Garbinti; Piketty 2017, 239 f.). Auch wenn die Kriterien geschwisterlicher Leistungsgerechtigkeit empirisch nicht einfach zu fassen sind (s. dazu Neckel 1999, 153–57), stellen diese glücklichen und leistungslosen Vermögensunterschiede nicht nur vor dem Hintergrund unserer geschwisterlichen Gerechtigkeitstheorie ein Problem dar. Selbst Nozick und Marx könnten sich in diesem Punkt einig werden (Nozick 1989, 30 ff.).
In diesem Zusammenhang ist auch die komparative Perspektive wieder einschlägig: Warum sollten glückliche und leistungslose Unterschiede bei Erbschaften unproblematisch sein, sich bei der Sozialhilfe dagegen als problematisch erweisen? Warum wird im Fall von Kritik an Erbschaften und Spitzeneinkommen oft von einer »Neiddebatte« gesprochen und im Fall von leistungslosen Wohlfahrtsbezügen nicht? Warum versucht man die offensichtlichen Ungerechtigkeiten als psychologischen Defekt der objektiv Benachteiligten darzustellen (s. dazu Neckel 1999)? Gegenwärtige Libertarier können von ihrem Vater Robert Nozick lernen, dass man es sich mit der egalitaristischen Position nicht so leicht machen darf. Nozick wusste, dass der Egalitarismus nicht primär auf Neid setzen muss, sondern es ihm vielmehr darum geht, »that correct principles be realized« (Nozick, ASU, 1974, 240). Der Neid kann dann eine durchaus berechtigte moralische Emotion darstellen, weil »von niemandem vernünfigerweise erwartet werden kann, seine verbitterten Gefühle zu überwinden« (Rawls, TJ, 1971, 534). Der Inhalt der »korrekten Prinzipien«, von denen Nozick spricht, muss bei uns vor dem Hintergrund unseres geschwisterlichen Gerechtigkeitsbegriffs ermittelt werden. Diese egalitaristischen Prinzipien wollen wir uns im folgenden Abschnitt genauer ansehen.
0.4.1. Mit dem Satz »Alle Menschen sind gleich« soll offenbar keine vollkommene Identität behauptet werden. T.S. Eliot schreibt gute Lyrik, William McGonagall nicht. Doch es gibt offenbar auch einen partiellen Sinn von »Gleichheit«, der zumindest eine Art des Egalitarismus den meisten von uns unproblematisch erscheinen lässt: Jeder Mensch, ob adelig oder bürgerlich, ob arm oder reich, Mann oder Frau, ob Bundeskanzler oder Universitätsangestellter, jeder Mensch ist moralisch gleichwertig. Denjenigen, die ihre Interessen mit Schläue und Rücksichtslosigkeit gegenüber den Interessen anderer durchsetzen wollen, machen wir einen moralischen Vorwurf, weil sie ihren Freiheitsspielraum auf Kosten anderer ausdehnen. Sie halten ihre Ansprüche für berücksichtigenswerter als die Ansprüche anderer. Deshalb setzen wir uns für eine Einschränkung ihrer Macht ein. Bei erfolgreicher Machteinschränkung kann mit Recht von einer »Nivellierung« der Starken gegenüber den Schwachen gesprochen werden. Das Wort »Gleichmacherei« hat einen negativen Beigeschmack. In dem hier geschilderten Kontext sollte es aber wiederum weitgehend unkontrovers sein, dass in einer Gesellschaft, in der unsere Interessen gleiche Berücksichtigung erfahren, der Gerechtigkeitswert in der Regel höher ist. Die zufälligen natürlichen oder sozialen Vorteile, die uns Machtvorteile gegenüber anderen verschaffen, können keine Ungleichheit legitimieren. Als Mitgliedern desselben Staates kommen uns deshalb auch dieselben Grundrechte und Pflichten zu. Nur wenige in unserer Gesellschaft würden heute noch öffentlich für eine Klassengesellschaft, eine Ständegesellschaft oder das Patriarchat eintreten. Nicht nur Egalitarier, die glauben, der Gleichheit komme ein folgenunabhängiger Eigenwert zu, sondern auch Libertarier und Utilitaristen lehnen diese Staatsformen ab. Der Utilitarist behauptet, die Glücksansprüche aller Bürger müssen gleich berücksichtigt werden, und der Libertarier nimmt dasselbe für die Freiheit der Bürger in Anspruch.
Dennoch ist die Ablehnung dieser Staatsformen keine Selbstverständlichkeit. Die Abschaffung der Leibeigenschaft und der Sklaverei, die Einführung des Wahlrechts für Frauen sowie die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe sind Errungenschaften auf dem Weg zu einer egalitaristischeren Gesellschaft. Keine dieser Gruppen soll durch rechtlich verankerte Regelungen eine größere Chance haben, ihre Interessen zu verwirklichen. Mit der rechtlichen Gleichstellung tragen wir also einer Idee der Chancengleichheit Rechnung. Dabei setzen wir voraus, dass die Unterschiede dieser Gruppen moralisch und rechtlich nicht relevant sind. Jede dieser Gruppen hat deshalb den gleichen Anspruch auf die gleichen Rechte. Die Durchsetzung und Realisierung dieser gleichen Ansprüche führt dann zu mehr tatsächlicher Gleichheit unter Anspruchsgleichen. Man kann diese Positionen als einen »schwachen Egalitarismus« bezeichnen. Er ist schwach, weil grundsätzlich das Prinzip der Anspruchsgleichheit anerkannt wird, die Anspruchsgleichheit aber nicht im Licht dessen interpretiert wird, was wir die glücksegalitaristische Einsicht nennen.