Gestalttherapie - Antje Abram - E-Book

Gestalttherapie E-Book

Antje Abram

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Beschreibung

Die Gestalttherapie ist ein psychologisches Verfahren, das sowohl gesprächsorientiert, als auch darstellend-kreativ und körperorientiert arbeitet. Ausgehend von der Psychoanalyse schufen Fritz und Laura Perls die Basis der heutigen Gestalttherapie, wobei sie wesentlich beeinflusst wurden vom Existentialismus und dem Gedankengut Martin Bubers. Als flexibel einsetzbare Behandlungsmethode können Klienten in unterschiedlichen Settings von ihr profitieren. Antje Abram – seit 15 Jahren selbstständige Gestalttherapeutin – schildert anhand vieler Praxisbeispiele prägnant und übersichtlich die theoretischen Grundlagen, Techniken und Einsatzfelder der Gestalttherapie. Auch die Verbindungen zu und die Integration in andere psychotherapeutische Verfahren werden anwenderfreundlich beschrieben. Dieses Buch ist ein weiterer Band aus der Reihe »Therapeutische Skills kompakt«, in der Theorie und Praxis einzelner Therapieformen kurz, kompetent und informativ vorgestellt werden.

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Seitenzahl: 274

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Antje AbramGestalttherapie

Reihe Therapeutische Skills kompakt Band 5

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2013

Coverfoto: © jock+scott – photocase.com

Coverentwurf / Reihengestaltung: Christian Tschepp

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2013

Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe 978-3-87387-952-2 ISBN dieses eBooks: 978-3-87387-953-9

Für alle, denen Gestalttherapie auf ihrem Weg geholfen hat oder noch helfen wird.

Vorwort

Es ist ein interessantes Unterfangen, sich nach 14 Jahren als selbstständig arbeitende Gestalttherapeutin nochmals intensiv, in Form dieses Buches, mit der „Gestalt“ zu befassen.

Einige Zeit habe ich darüber nachgedacht, was mich zu Beginn meiner Arbeit zur Gestalttherapie hingezogen hat, denn als sehr neugieriger Mensch hatte ich schon so einiges „Therapiezeugs“ ausprobiert. Letztendlich war – und ist – der entscheidende Punkt, dass Gestalttherapeuten nicht mit dem „weisen Rat“ um die Ecke kommen oder dem Klienten eigene Vorstellungen oder Interpretationen als Tatsachen mitteilen, dass sie aber dennoch als Person in oftmals intensivem Kontakt und in Beziehung zum Klienten stehen.

Sehr positiv überrascht war ich auch von der Vorgehensweise, mir als Klientin meine inneren Widerstände – und davon gab es jede Menge! – zu lassen. Stattdessen wurde erforscht, wozu diese Widerstände, mein „Aufruhr“, meine Wut, meine „Macken“, wohl gut wären – mit für mich oftmals überraschenden Ergebnissen und interessanten Aha-Effekten!

Gestalttherapie: eine Therapieform, bei der es nicht um „Macht“ geht, nicht um das Spielchen „Wer ist jetzt gerade schlauer?“ oder „Wer führt wen gerade an der Nase herum?“, sondern eine Vorgehensweise, die vor allen Dingen eine Beziehung zwischen Klient und Therapeut mit gegenseitiger Würdigung aufbaut mit dem Ziel, den Klienten zu unterstützen, seinen eigenen Weg zu finden, mit allen Entwicklungsmöglichkeiten und Ressourcen.

Ein weiteres, mir persönlich äußerst angenehmes Phänomen ist die große Flexibilität der Gestalttherapie, was die Integration verschiedenster Techniken und Medien angeht. Ich persönlich arbeite gerne mit Körperübungen, Tanz, kunsttherapeutischen Elementen, Rollenspielen und systemischen Ansätzen. Mit der inneren Haltung einer Gestalttherapeutin kann ich alles von mir Gelernte integrieren und anbieten, was mir für die jeweilige Situation und Befindlichkeit des Klienten sinnvoll erscheint und natürlich was der Klient selbst ausprobieren möchte.

Es würde mich außerordentlich freuen, wenn die eine oder andere Leserin und der eine oder andere Leser durch dieses Buch dazu inspiriert wird, einmal hineinzuschnuppern in die Gestalttherapie, und Mut fasst, ein bisschen zu experimentieren und mehr über sich selbst zu erfahren.

Gute Reise!

Antje Abram Köln, im Herbst 2013

Teil I: Die theoretischen Grundlagen der Gestalttherapie

1. Geschichtlicher Hintergrund

Alle heutigen Formen der Psychotherapie gehen letztendlich auf die Theorien und Einsichten Sigmund Freuds zurück. Er behauptete als Erster, dass der Mensch durch Impulse getrieben werde, die weder rational noch bewusst gesteuert seien. Dieses Konzept schockte die damalige Gesellschaft, die auf rationalem Denken und Verhalten aufgebaut war, und implizierte, dass „Heilung“ nicht unbedingt geistiger Selbsterkenntnis entspringt. Freud entwickelte die Psychoanalyse, bei der die Patienten auf der berühmten Couch lagen und ihre Gedanken so weit wie möglich ungehindert fließen lassen sollten, möglichst frei von Absicht oder Logik.

Friedrich und Lore Perls, beide ursprünglich Psychoanalytiker, sind als Begründer der Gestalttherapie zu nennen, obwohl in vielen Kurzbeschreibungen der Gestalt einzig Friedrich Perls angegeben wird. Um die Relevanz beider Gründer hervorzuheben, möchte ich an dieser Stelle die beiden Lebensläufe weitgehend getrennt beschreiben.

Friedrich Salomon Perls

In Berlin wird Friedrich Salomon Perls am 8.7.1893 geboren, als drittes Kind einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Er wählt das Medizinstudium und wird im Ersten Weltkrieg als Rotkreuzhelfer eingesetzt. Nach Abschluss des Studiums entscheidet sich Perls, genannt Frederick oder Fritz, für den Berufsweg des Psychiaters. Er lernt in den 20er-Jahren die Psychoanalyse kennen und begibt sich bei Karen Horney in Behandlung. Stark beeinflusst wird Perls auch von Wilhelm Reich, der sich zunehmend für den Körper als Mittel des Ausdrucks interessiert. Im Gegensatz zu Freud, der sich primär mit den Körperzonen Mund, Anus und Genitalien beschäftigt, bezieht Wilhelm Reich den ganzen Körper mit ein und erforscht die Verbindung von „Körperpanzer“ und „Charakterpanzer“. Fritz Perls geht bei Reich in psychoanalytische Behandlung und entwickelt später dessen Ansätze der Körperlichkeit weiter.

1926 wird Perls in Frankfurt der Assistent von Kurt Goldstein, einem Neurologen, der sich eingehend mit Gestaltpsychologie beschäftigt. Frankfurt wird ein wichtiger Ort für Fritz Perls, denn dort lernt er neben den Existenzialisten Paul Tillich und Edmund Husserl auch den Philosophen Martin Buber kennen, dessen Ansichten das Konzept der Gestalttherapie wesentlich mitprägen sollten. Vor allen Dingen aber traf Fritz in Frankfurt auf Lore Posner, die er schätzen und lieben lernt und die er ein paar Jahre später, im Jahr 1929, heiratet. Das Paar zieht nach Berlin, 1931 wird die gemeinsame Tochter Renate geboren. 1933 muss die Familie vor den Nationalsozialisten in die Niederlande fliehen, 1934 geht die Flucht weiter, dieses Mal weit weg, nach Johannesburg/Südafrika. Dort gründen Fritz und Lore gemeinsam das erste südafrikanische Institut für Psychoanalyse und beginnen mit einem Ausbildungsprogramm. Außerdem wird 1935 ihr zweites Kind, Steve, geboren.

1936 reist Fritz Perls zu einem Psychoanalyse-Kongress nach Marienbad, um dort sein Konzept über den „oralen Widerstand“ darzulegen. Zu Perls großer Enttäuschung reagiert Sigmund Freud auf dieses Konzept sehr abwehrend, was mit großer Wahrscheinlichkeit der Grund dafür ist, dass Fritz danach beginnt, eine eigene Therapieform zu entwickeln, nun losgelöster von Freud, dem „Vater der Psychoanalyse“. Und so entsteht 1942 in Südafrika, mit maßgeblicher Unterstützung durch seine Frau Lore, das Werk Das Ich, der Hunger und die Aggression – mit dem Untertitel: Eine Revision der Freud’schen Analyse, der später in Die Anfänge der Gestalttherapie umgeändert wird.

1947 emigriert das Ehepaar Perls nach New York, eröffnet dort eine Praxis, und die therapeutische Arbeit folgt immer mehr den Strömungen der Gestaltpsychologie.

1951 erfolgt die Erstveröffentlichung des Buches Gestalttherapie. Es erscheint in zwei Bänden, unterteilt in „Grundlagen“ und „Praxis“, und damit erhält die neue Therapieform auch ihren Namen. Als Co-Autoren wirken der Psychologe Ralph F. Hefferline und der Philosoph und politisch sehr aktive Paul Goodman mit.

1952 entsteht das Gestalt-Institut in New York inklusive einem Ausbildungsprogramm für Gestalttherapeuten, 1953 auch ein Institut in Cleveland. Bei Fritz und Lore kommt es zunehmend zu Streit und Auseinandersetzungen. Zuletzt trennen sich ihre Wege: Fritz geht nach Kalifornien, während Lore in New York bleibt.

Fritz Perls hält sich in den 50er-Jahren längere Zeit in Japan auf, lernt dort den Zen-Buddhismus kennen und integriert einige Ansätze wie Gewahrsein und Achtsamkeit stärker in seine therapeutische Arbeit.

Berühmt wird Fritz Perls mit seinen recht exzentrisch geleiteten Gestalt-Workshops ab 1963 in Esalen, an der kalifornischen Westküste, die gut im Buch Gestalttherapie in Aktion (1969) beschrieben werden.

1969 schließlich gründet er mit einigen treuen Anhängern eine Art „Gestalt-Kibbuz“ in Vancouver Island, Kanada. 1970 verstirbt Fritz Perls im Krankenhaus in Chicago an einem Herzanfall.

Lore Perls

Lore Perls, geborene Posner, wird am 15.8.1905 in Pforzheim geboren. Sie ist Tochter einer wohlhabenden Juweliersfamilie. Von frühester Kindheit an liebt Lore Rhythmik und Musik und erhält ab ihrem fünften Lebensjahr Klavierunterricht. Bis ins hohe Alter wird Lore diese Leidenschaft begleiten. Ab 1913 nimmt das Mädchen am Tanz- und Bewegungsunterricht teil, ebenso an Dalcroze-Kursen (rhythmische Gymnastik nach Émile Jaques-Dalcroze), was später auch in ihrer therapeutischen Arbeit Raum finden wird. Nachhaltig beeindruckt hat sie dort ein Lehrer, der ihr die Botschaft mitgibt, niemanden zu imitieren in den Bewegungen, sondern stattdessen zu fühlen, wie sich der eigene Körper bewegen will (Doubrawa & Doubrawa, 2005, S. 57).

Als einziges Mädchen besucht Lore das Gymnasium, danach studiert sie 1923 Rechtswissenschaften in Frankfurt. 1926 wechselt sie das Studienfach, weil sie merkt, wie sehr sie sich für den Menschen und dessen Psyche interessiert, und widmet sich der Psychologie und der Philosophie. Zu ihren Lehrern gehören die Gestaltpsychologen Kurt Goldstein und Max Wertheimer ebenso wie die Philosophen Edmund Husserl und Martin Buber. Lore Posner beteiligt sich politisch aktiv in der „Frankfurter Schule“, die kritisch marxistisch eingestellt ist, und sie intensiviert ebenfalls ihr Studium von Ausdruckstanz und rhythmischer Bewegungsarbeit. 1927 beginnt Lore mit ihrer psychoanalytischen Ausbildung, bei Adhemar Gelb promoviert sie.

Zwei Jahre nach ihrer Heirat wird 1931 die Tochter Renate geboren und Lore beginnt, intensiv das Verhalten ihrer Tochter zu beobachten, vor allem in Bezug auf orale Bedürfnisse und Widerstände bei der Nahrungsaufnahme. Auf diese Beobachtungen wird sich Fritz später berufen, wenn er 1936 in Marienbad seinen Vortrag über „orale Widerstände“ hält.

Während Lore und Fritz vor den Nationalsozialisten erst nach Amsterdam, dann nach Johannesburg flüchten, sterben sowohl die Mutter als auch die Schwester von Lore im Konzentrationslager.

1935 wird Sohn Steve in Johannesburg geboren. 1937 entzieht die Internationale Psychoanalytische Vereinigung Lore und Fritz die Ausbildungsbefugnis mit der fadenscheinigen Begründung, dass sie beide nicht in Europa als Trainer gearbeitet hätten. Lore Perls, die mittlerweile Laura genannt wird, sagt später, dass die soziale und professionelle Isolierung und Beschränkung in Südafrika dazu geführt habe, aus sich selbst zu schöpfen, und so sei auch mit viel Reflektion und Arbeit das erste Buch entstanden: Ego, Hunger und Aggression. Als wichtige Kommunikationspartner in Südafrika für die Entstehung des Buches nennt Laura den deutschen Maler Hans Katz, dessen gesamtes Werk im Krieg zerstört wurde, und den Pädagogen Karl Wilker, der als Erneuerer und Experimentator des pädagogischen Systems und im Strafvollzug in Südafrika gilt.

Laura arbeitet maßgeblich an diesem Buch mit, schreibt einige Kapitel sogar ganz ohne Fritz (s. a. Doubrawa & Doubrawa, S. 82). Dennoch wird sie nicht als Mitautorin erwähnt. Zumindest gibt es im Vorwort der ersten Ausgabe eine Würdigung von Lauras Beitrag.

Mit der Emigration in die USA 1947 und der Eröffnung einer Praxis in New York kommen auch neue Schüler zu Laura, wie beispielsweise Paul Goodman, Isadore From und Daniel Rosenblatt.

Auch bei den beiden 1951 veröffentlichten Bänden der Gestalttherapie ist Laura stark am Entstehungsprozess beteiligt, bleibt aber wiederum als Autorin unerwähnt.

1953, in dem Jahr, in dem Fritz Perls eigene Wege geht, erscheint von Laura der Artikel „Über die Psychologie des Gebens und Nehmens“ („Notes on the Psychology of Give and Take“, 1956 „Zwei Beispiele für Gestalttherapie“ („Two Instances of Gestalt Therapy“).

Zum ersten Mal nach ihrer Flucht reisen Laura und Fritz dann gemeinsam 1957 nach Deutschland und treffen sich dort mit einigen Vertretern der „Frankfurter Schule“.

1970 verstirbt Fritz Perls.

Von 1969 bis 1989 reist Laura jeden Sommer nach Europa, um Workshops in England, Belgien, den Niederlanden und später auch in Deutschland zu leiten, was dazu beiträgt, die Gestalttherapie in Europa bekannter zu machen.

1982 wird Laura die goldene Doktorwürde zum 50-jährigen Jubiläum ihrer Promotion an der Universität in Frankfurt/Main verliehen.

1989 wird Laura Ehrenbürgerin der Stadt Pforzheim, zeitgleich erscheint ihr Buch Leben an der Grenze.

1990 verstirbt sie. Ihre Urne wird zusammen mit der von Fritz in Pforzheim im Familiengrab der Posners beigesetzt.

2. Definition und Einflussgrößen

2.1 Was ist Gestalttherapie?

Eine klare Definition für die Gestalttherapie zu finden ist aufgrund der Vielschichtigkeit der Therapieform schwierig. Viele Fachbücher umgehen eine Definition, indem sie sich direkt den verschiedenen Strömungen und Wurzeln zuwenden. Ich möchte Ihnen dennoch einige „Versuche“ der Definition von verschiedenen Autorinnen und Autoren anbieten:

„Gestalttherapie beruht auf der grundlegenden Theorie, dass Reifen ein kontinuierlicher Wachstumsprozeß ist, in dem eine Umweltabhängigkeit

(environment support)

in Selbständigkeit

(self-support)

verwandelt wird.“ (Perls, 1980a, S. 178)

„Die Gestalttherapie befasst sich mit nicht angemessenem Verhalten. Als ‚nicht angemessen‘ wird Verhalten betrachtet, mit dem der Handelnde nicht erreicht, was er erreichen will (bzw. das ihn nicht befriedigt). Als Ursache für nicht angemessenes Verhalten gilt ein gestörter Kontakt mit der Wirklichkeit.“ (Blankertz & Doubrawa, 2005, S.119)

„Nach Perls ist der Mensch der verantwortliche Akteur seines Handelns und fähig, sein positives Potential zu aktualisieren. Im therapeutischen Prozess werden unabgeschlossene emotionale Erlebnisse der Gegenwart – oft in Bezug zur Vergangenheit – durchgearbeitet: Vollendung der Gestalt.“ (Arnold, Eysenck & Meili, 1993, S. 766)

„Indem wir Gestalten bilden, erschaffen wir in einem fort unsere Erfahrungen und verleihen dem, was uns geschieht, große Bedeutung. Dieser Prozeß ist es, der in der Therapie so genau betrachtet wird.“ (Rosenblatt, 1995, S. 32)

„Die Gestalttherapie will nicht verändern, sondern freilegen, was da ist: Werde, der du bist!“ (Boeckh, 2006, S. 32)

2.2 Welche Einflüsse haben die Gestalttherapie wesentlich geprägt?

Die „Wurzeln“ der Gestalttherapie ergeben sich größtenteils aus dem im 1. Kapitel beschriebenen beruflichen und persönlichen Werdegang von Fritz und Laura Perls, die sich beide als Psychoanalytiker ausbilden ließen und sich mit den zentralen Themen dieser Therapieform auseinandersetzten.

Hierzu zählen das Strukturmodell des Selbst, die Triebtheorie, die freie Assoziation, Abwehrmechanismen, die Traumdeutung und auch das Phänomen von Übertragungen.

Während Themen wie die Abwehrmechanismen oder das Konzept von Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen aufgegriffen und stetig von dem Ehepaar Perls weiterentwickelt wurden, übte Fritz Perls an der Triebtheorie von Freud grundlegende Kritik. Seiner Meinung nach ist nicht die Libido, also der Sexualtrieb, die treibende Kraft von wichtigen psychischen Prozessen, sondern der „Hunger“, denn Perls sieht die Nahrungsaufnahme als elementare Grundlage für einen Kontakt zur Außenwelt an. Ausgelöst auch durch die Beobachtungen von Laura Perls an der gemeinsamen Tochter Renate, unterscheidet Perls drei Phasen der Kontaktaufnahme: Zuerst nimmt der Mensch als Säugling die Muttermilch in sich auf und geht eine symbiotische Beziehung zur Mutter ein. In der zweiten Phase steht das Beißen im Mittelpunkt, das Kleinkind ist mithilfe seiner ersten kleinen Zähne in der Lage, etwas abzubeißen, und kann somit auch auswählen, was es abbeißen will, sodass sich bereits eine Trennung von „Ich“ und „Nicht-Ich“ abzeichnet. Schließlich, in Phase drei, lernt das Kind mit seinen zahlreichen Zähnen gründlich zu kauen und zu prüfen, ob es diese Nahrung auch verdaulich machen und herunterschlucken kann.

Fritz Perls sah in der Nahrungsaufnahme eine äußerst wichtige Kontaktfunktion zur Umwelt, die durchaus auch auf aggressivem Verhalten, dem Abbeißen und Kauen, beruht. Diese Erkenntnisse, in klarer Abgrenzung zur Psychoanalyse, verarbeitete Fritz Perls mithilfe seiner Frau in seinem ersten Buch Das Ich, der Hunger und die Aggression und legte damit die Grundlage für weiteres Forschen darüber, wie relevant Kontaktaufnahme generell ist und in welcher Weise der Kontakt auch zwischen Therapeut und Klient eine grundlegende Rolle spielt.

Gestaltpsychologie

Ein weiteres tragendes Element der Gestalttherapie kam aus der Gestaltpsychologie, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Max Wertheimer (1880–1932) entwickelt wurde. Die Kernaussage der Gestaltpsychologie liegt darin, dass die Wahrnehmung des Menschen nicht einfach die Umwelt abbildet und es dann ins Bewusstsein transportiert, sondern dass das Wahrgenommene bereits vorher strukturiert wird. Ein einfaches Beispiel für diesen Vorgang stellen viele Punkte dar, die in Kreisform angeordnet sind. Obwohl objektiv nur ein paar Punkte zu sehen sind, nehmen Auge und Gehirn die Punkte dennoch als Kreis wahr, wenn sie dicht genug beieinanderliegen (vgl. Abb. 2.1).

Abbildung 2.1: Unser Gehirn nimmt die Umwelt (hier: Punkte) strukturiert wahr (hier: in Form eines Kreises)

Um die Annahmen der Gestaltpsychologie zu überprüfen, bemühte sich vor allem der Neurologe Kurt Goldstein (1878–1965) um wissenschaftliche und experimentelle Vorgehensweisen, und es gelang ihm tatsächlich, die Hypothesen zu bestätigen, sodass die wahrnehmungstheoretischen Erkenntnisse in der psychologischen Fachwelt anerkannt wurden. Kurt Lewin (1890–1947) übertrug diese Erkenntnisse auch in die Sozialpsychologie, die unter anderem den Begriff der „Ganzheit“ hervorhebt.

In aller Kürze kann gesagt werden, dass sich die Gestaltpsychologie damit befasst, wie die menschliche Wahrnehmung Gestalten „richtig“ erfasst, während die Gestalttherapie den Fokus darauf legt, dass das Individuum aufgrund von psychischen Prozessen und Lernerfahrungen einige Gestalten „nicht richtig“ bilden kann.

Existenzialismus

Eine weitere Strömung, die zum Entstehen der Gestalttherapie beigetragen hat, ist der Existenzialismus. Zu seinen berühmtesten Vertretern gehören Sartre, Heidegger, Jaspers oder Camus.

Im Kern sagt der Existenzialismus aus, dass vorgefertigte Denkmodelle oder Anleitungen für das Leben nicht wirklich relevant seien, sondern dass vielmehr das Lebensgefühl zähle, die Gegenwart, der erlebbare Moment. Edmund Husserl (1859–1938) vertrat die Ansicht, dass der Blick auf das Konkrete gerichtet werden solle, auf die Phänomene, die rund um den Menschen wahrnehmbar sind, und weniger auf irgendwelche Theoriekonstrukte.

Fritz Perls schreibt dazu (1969, S. 24): „Der Existenzialismus will Konzepte abschaffen und nach dem Prinzip der Bewusstheit arbeiten, auf der Grundlage der Phänomenologie.“

Noch heute ist die Phänomenologie ein sehr wichtiger Teil der Gestalttherapie, denn sie vermeidet Interpretationen und bleibt bei dem, was wirklich vorhanden ist.

Der Einfluss des Existenzialismus auf die Gestalt ist sicherlich weniger konkret als beispielsweise der der Gestaltpsychologie; es handelt sich dabei eher um eine Art Zeitgeist, um eine grundsätzliche Veränderung der Gesellschaft, die sich in vielen Bereichen – unter anderem in Kunst oder Pädagogik – bemerkbar machte.

Ich-Du-Beziehung

Einen sehr viel konkreteren Einfluss auf die Entwicklung der Gestalttherapie nahm der jüdische Religions- und Sozialphilosoph Martin Buber (1878–1965), vor allem mit einem seiner Hauptwerke Ich und Du (1983), in dem er eine dialogische Auffassung von Kommunikation vertritt. Im Wesentlichen unterscheidet Buber das „Ich“ und das „Du“, welches eine Beziehung auf gleicher Ebene darstellt und eine respektvolle und achtsame Haltung einnimmt. Demgegenüber existiert ebenfalls ein „Ich und Es“, wobei das „Es“ auf etwas Objekthaftes hinweist, etwas, das sich nicht auf gleicher Ebene befindet und dementsprechend auch mit weniger Respekt und Achtsamkeit behandelt wird.

Angewandt auf die Wurzeln der Gestalttherapie bedeutet dies, dass die klassische, frühere Psychoanalyse mit dem Patienten auf der Couch und einem Therapeuten, der die Aussagen des Patienten interpretiert, sich eher auf einer „Ich-Es- Ebene“ bewegt, während die Gestalttherapie das Dialogische sucht, die Begegnung auf gleicher Ebene mit einer offenen inneren Haltung von Respekt und Würdigung, einer „Ich-Du-Beziehung“.

Laura Perls studierte in den 1920er-Jahren bei Buber, und Fritz Perls kam ebenfalls mit den Schriften von Landauer und Buber in Berührung, allerdings finden sich keine direkten Hinweise auf den Einfluss dieser Werke in den ersten Büchern von Fritz Perls.

Spätestens aber die nächste Generation von Gestalttherapeuten wie Gary Yonntef, Lynn Jacobs oder Erving und Miriam Polster beschäftigte sich eingehend mit den Schriften von Martin Buber und deren Bedeutung, mit der „wirklichen Begegnung“ von Klient und Therapeut“ und der Authentizität in dieser Beziehung.

Körper und Bewegung

Prägend für die Gestalttherapie, vor allem in der Arbeit von Laura Perls, war sicherlich auch die Einbeziehung vom Körper, nicht nur in Bezug zu Mimik, Gestik, Körperhaltung und Atmung, sondern auch in der konkreten Anwendung von Bewegung, Berührung und Kontakt. Auch Musik und andere kreative Medien wurden zur Unterstützung des therapeutischen Prozesses angeboten. Da Laura Perls dem Tanz sehr verbunden war, lag es nahe, dass sie nicht nur ruhig mit ihren Klienten vis-á-vis arbeitete, sondern der Gestik und Mimik, vor allem aber der Bewegung Raum gab. Wesentlich starrer erscheint im Gegensatz dazu die klassische Psychoanalyse, die den Klienten auf der Couch liegen lässt, während der Therapeut dabei sitzt und fast ausschließlich kognitiv arbeitet und weniger den ganzen Körper mit einbezieht.

Die Gestalttherapie bevorzugt generell eher experimentelle Methoden, denn dabei steht das Erfahrungslernen der Klienten im Vordergrund und mit allen Wahrnehmungskanälen können neue Ressourcen entdeckt oder ausgebaut werden.

Die Gestalttherapie lässt sich zusammenfassend beschreiben als eine Therapieform, die aus der Psychoanalyse hervorgegangen ist, aber von Fritz und Laura Perls wesentlich weiterentwickelt wurde, und zwar durch Einflüsse der Gestaltpsychologie, des Existenzialismus, des Gedankenguts von Martin Buber und letztendlich auch durch die persönliche Entwicklung der beiden Gründer in kritischer Auseinandersetzung mit ihren persönlichen Vorlieben und ihren wechselnden Umweltbedingungen.

2.3 Krankheit aus Sicht der Gestalttherapie

Was bedeutet es eigentlich, „krank zu sein“? Ist ein Mensch bereits krank, wenn er sich nicht gesund fühlt, oder bedarf es der Diagnose eines Arztes, Heilpraktikers oder Therapeuten, um Krankheit zu diagnostizieren? Zur näheren Bestimmung des Phänomens „Krankheit“ werfen wir zuerst einmal einen Blick auf die „Gesundheit“.

Die Gestalttherapie versteht unter Gesundheit einen Zustand, der ein fortwährendes Sich-Einlassen auf den Lebensprozess ermöglicht, ein Voranschreiten von Situation zu Situation, die einerseits gekennzeichnet sind durch Wahrnehmung der äußeren Begebenheiten und Kontakte und andererseits durch innere Gefühle, Gedanken, Bedürfnisse und Erfahrungen. Dabei ist das Erleben im „Außen“ und im „Innen“ eines Menschen miteinander verwoben.

Der Krankheitsbegriff ist vor allem im psychischen Bereich umstritten, denn eine konkrete Diagnose, beispielsweise „Depression“, kann sowohl beruhigend auf den Betroffenen wirken, weil er endlich zur diagnostizierten Krankheit Behandlungsmethoden ansteuern kann, sie kann andererseits aber auch als eine Art sich selbst erfüllende Prophezeiung wirken, indem alle Symptome der Depression nun deutlich zutage treten, die vorher vielleicht gar nicht da waren. Therapeuten reden auch davon, dass Klienten sich „in ihrer Krankheit einrichten“ oder sie gar als Schutzschild oder Rechtfertigung dafür benutzen, was sie alles nicht machen können.

Damit liegt ein klares Dilemma vor: Einerseits müssen psychische Krankheiten beschrieben und klassifiziert werden, wie dies für Deutschland im ICD (International Classification of Deseases; Internationale Klassifikation psychischer Störungen) der Fall ist, denn viele psychische Störungen bessern sich durch medikamentöse Behandlungen, und dafür bedarf es natürlich der Diagnose. Andererseits „erfüllen“ sich oft Symptome für eine bestimme psychische Störung, wenn sie einmal diagnostiziert wird.

In der Praxis sieht das dann oft so aus, dass ein Klient von seinen Symptomen und Schwierigkeiten erzählt und der Arzt, Heilpraktiker für Psychotherapie oder der Therapeut eine „passende Nummer“ im ICD heraussuchen, um eine Diagnose zu stellen und der Krankenkasse eine „Nummer der Krankheit“ geben zu können, damit eine Therapie auch bewilligt wird. Bei der heutigen Lage der Verordnungen werden von der Krankenkasse nur die tiefenpsychologische Therapie, die Verhaltenstherapie und die Psychoanalyse bezahlt, und diese dürfen auch nur von Fachärzten und Psychologen durchgeführt werden, in Ausnahmefällen auch von anderen Berufsgruppen, beispielsweise Sozialpädagogen oder Sozialarbeiter, die bei Einführung des Psychotherapeutengesetzes 1999 bereits genügend Beratungs- und Therapiestunden nachweisen konnten.

Dies bedeutet, dass sämtliche humanistische Therapieansätze wie Gestalttherapie, Psychodrama oder die Integrative Bewegungstherapie nicht von den Krankenkassen anerkannt und bezahlt werden. Dies wiederum führt dazu, dass außerhalb von Kliniken und ambulanten Einrichtungen humanistische Therapien nur für Selbstzahler angeboten werden können – zum Unmut vieler Klienten und Therapeuten.

Es liegt aber auch ein klarer Vorteil darin, dass die Gestalttherapie neben anderen humanistischen Ansätzen nicht von der Krankenkasse abgerechnet werden kann: Es muss somit auch keine Diagnose oder Klassifizierung erfolgen, der Klient wird nicht auf seine Krankheit „festgelegt“. Positiv ist dies auch deshalb, weil in der Praxis die Unterscheidung zwischen „gesund“ und „psychisch gestört“ oft nur schwer zu treffen ist. Beispielsweise gelten bestimmte Ess- oder Schlafstörungen laut ICD als psychische Störungen, doch haben einige ansonsten „gesunde Menschen“ genau diese Schwierigkeiten und Störungen. Ist eine Klientin nun also psychisch krank, weil sie Schwierigkeiten mit dem Essen hat, aber körperlich gesund ist und ansonsten ihr Leben sehr gut meistert? Eine knifflige Frage! Mit dem Verzicht auf eine festlegende Diagnostik lässt die Gestalttherapie viel Raum für den Klienten selbst, genau herauszufinden, wie sein Ist-Zustand gerade aussieht und wie er diesen mit therapeutischer Hilfe verändern will.

Dennoch sollte jeder Therapeut ein bestimmtes Wissen über psychische und auch neurologische Krankheiten, beispielsweise Demenz oder Parkinson, haben, um entscheiden zu können, was für den Klienten ratsam und angemessen ist. In vielen Fällen ist es für Klienten sinnvoll, zuerst einmal einen Facharzt zu konsultieren oder vom Hausarzt die Blutwerte etc. checken zu lassen. Außerdem sollten sich Therapeuten darüber klar werden, ob ihr eigenes Können und Wissen und darüber hinaus ihre Behandlungsmethode für den Klienten auch ausreichend und hilfreich sind.

Für Fritz Perls war der Einsatz der Gestalttherapie nicht nur für „Kranke“ gedacht, sondern auch für „Gesunde“, die sich entwickeln und ihr Potenzial entfalten wollen, die ihre Gefühle und Möglichkeiten entdecken möchten, die neue Kontaktformen zu sich selbst und zu ihrer Umwelt finden möchten.

Auf die Frage, bei welchen psychischen Störungen Gestalttherapie angewandt werden kann und bei welchen nicht, möchte ich im nächsten Kapitel eingehen.

2.4 Grenzen gestalttherapeutischer Arbeit und ein Blick auf psychische Störungen

Die Gestalttherapie wurde wissenschaftlich auf ihre Effektivität überprüft, was viele Menschen, auch im Therapiebereich Tätige, nicht wissen. Professor Willi Butello (Ludwig-Maximilians-Universität München) und Professorin Leslie Greenberg (York-University, Toronto, Kanada) wiesen bei ihren Studien eine hohe Effektivität bei der Behandlung von Angststörungen, Phobien, Depressionen und Traumata nach. Dabei stellte sich heraus, dass die Gestalttherapie Techniken der Verhaltens- und Gesprächstherapie überlegen war (Butello, 1999, S. 1105 ff.; Greenberg, 2003, S. 397 ff.; siehe auch Boeckh, 2006).

Die Grenzen der Gestalttherapie liegen vor allem in der Person des Therapeuten. Es gibt beispielsweise Gestalttherapeuten, die es aus persönlichen Gründen ablehnen, mit ehemaligen Straftätern zu arbeiten; andere fühlen sich nicht kompetent genug, mit Kindern und Jugendlichen eine Therapie durchzuführen; wieder andere bevorzugen vor allem die Arbeit mit Gruppen.

Da die Gestalttherapie sehr lebendig ist und der Kontakt in der Beziehung grundlegend für die Arbeit, sind die Person des Therapeuten und die Person des Klienten entscheidend für die Möglichkeiten und Grenzen der gestalttherapeutischen Arbeit.

Darüber hinaus kann die Erkenntnisfähigkeit eines Klienten die Grenze der Therapiemöglichkeit markieren, wie es beispielsweise bei schwer geistig behinderten Menschen der Fall sein kann oder auch bei berauschten Personen, die ein Suchtproblem haben, oder bei Menschen mit neurologischen Schädigungen.

Eine weitere Grenze der Gestalttherapie liegt in ihren offiziell und juristisch festgelegten Behandlungsmöglichkeiten, denn es sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass Gestalttherapie zwar das Wort „Therapie“ beinhaltet, aber dadurch nicht automatisch eine Heilerlaubnis gegeben ist. Mit einer Gestalttherapieausbildung, die nebenberuflich in den meisten Fällen vier bis fünf Jahre dauert, darf der Absolvent Gestaltberatung anbieten, also die Arbeit mit „gesunden Menschen“, die beispielsweise in Krisen stecken, sich entwickeln möchten, Coaching brauchen oder Supervision wünschen. Sobald aber eine psychische Störung vorliegt, ist eine Heilerlaubnis nötig, was bei Ärzten, Psychotherapeuten und Heilpraktikern für Psychotherapie der Fall ist.

Ich empfehle allen Kolleginnen und Kollegen auch anderer humanistischer Therapierichtungen, die Prüfung zum/zur Heilpraktiker/in Psychotherapie abzulegen, um sich auch in der „grauen Zone“ zwischen „Gesundheit“ und „Krankheit“ sicher bewegen zu können und keine juristischen Klagen fürchten zu müssen.

Die Gestalttherapie sieht psychische Störungen als einen Versuch an, offene Gestalten zu schließen. Depressionen beispielsweise werden als „festgehaltene Erregung“ gesehen, als eine Energie, die aus irgendwelchen Gründen nicht ausgelebt werden darf und unterdrückt wird, was dann zu einer Depression führen kann – mit Symptomen wie Energielosigkeit, Verzweiflung, Schlafstörungen, Essstörungen, sehr gedrückte Stimmung, Teilnahmslosigkeit und mit der Gefahr des Suizids. Die „festgehaltene Erregung“ könnte dadurch entstehen, dass eine Frau nach dem Tod ihres Mannes ihrer Trauer keinen Raum gibt, oder auch, dass ein Jugendlicher seine Wut über Mobbing in der Schule und fehlende Unterstützung von Eltern und Lehrern in sich hineinfrisst.

Ziel der Gestalttherapie ist es, mit dem Klienten eine vertrauensvolle und tragfähige Beziehung aufzubauen, die „offene Gestalt“ zuerst einmal zu finden, und anschließend daran zu arbeiten, diese offene Gestalt zu schließen.

Von absolut entscheidender Bedeutung für den „Heilungsprozess“ oder für die persönliche Entwicklung des Klienten sind die Qualität und Tragfähigkeit der therapeutischen Beziehung. Dabei spielt es keine Rolle, um welche „Störung“ oder um welches Problem es sich handelt, und es ist ebenfalls unwesentlich, welches Klientel sich beim Gestalttherapeuten befindet, ob jung oder alt, ob erfahren oder unerfahren, ob geistig behindert oder mit normaler Intelligenz.

Exemplarisch für die gestalttherapeutische Arbeit mit psychischen Störungen möchte ich gerne auf Psychosen und Sucht näher eingehen.

Psychosen

Die Hauptmerkmale von Psychosen sind Wahn (bizarre, unkorrigierbare Überzeugungen), Halluzinationen und Realitätsverlust. Unterschieden werden außerdem exogene Psychosen, die durch körperliche Ursachen ausgelöst werden (Vergiftungen, Alkohol, Drogen, Entzündungen, Hirnverletzungen) und endogene Psychosen, die von innen heraus aufgrund genetischer Disposition entstehen (Schizophrenie, endogene Depression, Manie).

Bei Psychosen ist die Behandlung durch einen Arzt sehr wichtig, in vielen Fällen verbessern Medikamente den Gesundheitszustand und tragen dazu bei, dass der Klient überhaupt in die Lage versetzt wird, sich in eine psychotherapeutische Behandlung begeben zu können.

Es ist dabei äußerst wichtig, dass behandelnde Ärzte und Therapeuten untereinander Informationen austauschen, um eine möglichst optimale Behandlung erzielen zu können.

Die Gestalttherapie unterstützt mit Beziehungsbildung zum Klienten den Heilungsprozess, wobei der Klient Gelegenheit erhält, eine tragende Beziehung in einem geschützten Rahmen aufzubauen – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben.

Als Therapeut ist es wichtig, mit Regressionen, mit kindlich geprägtem Verhalten, zu rechnen und entsprechend einzukalkulieren, dass es sich beim Gegenüber gerade weniger um einen „Erwachsenen“ handelt, sondern dass „das innere Kind“ agiert mit entsprechenden Wünschen und Vorstellungen. Letztendlich muss sich der Klient mit seinem inneren Kind so gut aufgehoben fühlen, dass eine gemeinsame therapeutische Arbeit möglich wird.

Weiterhin ist wichtig zu wissen, dass für psychotische Klienten die Aufrechterhaltung der eigenen Weltsicht oft wichtiger ist als der Kontakt zu anderen, auch zum Therapeuten. Hier sind also Akzeptanz und Würdigung für die Weltsicht des Klienten wichtig, sei sie auch noch so bizarr, um überhaupt eine Beziehung aufbauen zu können.

Darüber hinaus dürfen bei psychotischen Klienten keine Techniken angewandt werden, die in irgendeiner Form von der Realität wegführen, wie beispielsweise Fantasiereisen und hypnotische Techniken. Auch Autogenes Training sollte nicht angewandt werden, da der Klient sich zu sehr „in sich selbst“ versenken könnte.

Außerdem ist bei Psychosen und präpsychotischen Zuständen ein zu erlebnisintensives Arbeiten kontraproduktiv, da beim Klienten nur eine begrenzte Integrationsfähigkeit des Erlebens gegeben ist. Die Gestalttherapie kann sich diesbezüglich „anpassen“ und sich zum Ziel setzen, stabilisierende Faktoren zu erarbeiten und die Bewältigungsstrategien des Klienten zu erweitern.

Abhängigkeit und Sucht

Abhängigkeit und Sucht können sich auf psychotrope Substanzen beziehen (Opiate, Barbiturate, Amphetamine, Kokain, Cannabis, Halluzinogene), auf Alkohol, auf Nikotin oder auch auf bestimmte Handlungen wie bei der Spielsucht, dem unbedingten Verlangen, Feuer zu legen (Pyromanie), oder bei pathologischem Stehlen (Kleptomanie).

Definiert wird Sucht als körperliches oder psychisches Angewiesensein auf einen bestimmten Stoff oder eine bestimmte Handlung. Für fast alle Abhängigen bedeutet der Konsum ihres Suchtstoffes oder das Ausführen ihrer Suchthandlung, dass eine Verringerung von Angst und sozialer Unsicherheit erreicht wird. Sie fühlen sich beispielsweise mit Alkohol wesentlich besser als ohne, was anfangs unproblematisch erscheint, mit zunehmender Abhängigkeit aber immer schwieriger wird und zudem die Gesundheit und den sozialen Status erheblich gefährdet.

Bei der Arbeit mit suchtkranken Menschen müssen auch in der Gestalttherapie klare Abstinenzregeln etabliert werden, beispielsweise keine Stunde durchzuführen, wenn der Klient betrunken oder high ist. Sollten eine Entgiftung und Entwöhnung anstehen, muss dies selbstverständlich in einer Klinik erfolgen. Die Gestalttherapie kann am Anfang einer Behandlung den Klienten dazu motivieren, sich in eine Klinik zum Entzug zu begeben, und auch später in der Nachbehandlung sehr hilfreich sein.

Bei der gestalttherapeutischen Arbeit geht es neben dem Aufbau einer tragfähigen und sicheren Beziehung vor allem darum, die Widerstände des Klienten zu würdigen, sie ernst zu nehmen und zu untersuchen, wozu diese Widerstände gut sind. Anschließend kann ein „Realitätscheck“ erfolgen: Sind diese Widerstände auch im Hier und Jetzt noch angebracht und hilfreich oder sind sie überholt, und neue Denk- und Verhaltensstrukturen sollten aufgebaut werden?

Es geht auch darum, den inneren Druck zu erforschen, dem der Klient zweifellos ausgesetzt ist, denn andernfalls würde er nicht die Ablenkung, Vernebelung und das „Nicht-wirklich-da-Sein“ in Form seiner Sucht und Abhängigkeit suchen.

Eine Klientin, die über zehn Jahre schwer drogenabhängig, danach aber mehrere Jahre „clean“ war, beschreibt ihre Drogenzeit im Nachhinein so: „Ich habe überhaupt keine Erinnerungen mehr an diese Zeit mit den Drogen, alles ist völlig ausgeblendet. Zehn Jahre meines Lebens sind einfach weg! Verschwunden! Das will ich nie wieder erleben.“

In diesem Fall zeigte sich die Motivation der Klientin sehr deutlich, und sowohl ressourcenorientierte Arbeit als auch die gemeinsame Strukturierung des Tagesablaufes waren für sie sehr hilfreich.

3. Zentrale Konzepte

3.1 Die Figur-Grund-Formation

Das Konzept der Figur-Grund-Formation entstammt der Gestaltpsychologie, die sich ausgiebig mit der Untersuchung der menschlichen Wahrnehmung beschäftigt. Wie bereits kurz in Kapitel 2 beschrieben, ist die grundlegende Aussage der Gestaltpsychologie, dass die Wahrnehmung des Menschen nicht die Umwelt einfach nur „abbildet“, sondern das Wahrgenommene bereits vorher strukturiert wird. Dies geschieht meist zu dem Zweck, einen Zusammenhang oder Sinn zu schaffen. Tritt ein Mensch beispielsweise in einen Raum, in dem sich mehrere Leute aufhalten und verschiedene Geräusche verursachen, während gleichzeitig im Radio ein schönes Lied gespielt wird, so ist das Individuum in der Lage, die begleitenden Geräusche auszublenden, um das Lied zu genießen. In diesem Fall handelt es sich bei dem Lied um die „Figur“ oder die „Gestalt“, die in den Vordergrund tritt für den Hörenden, während alle anderen Geräusche und Wahrnehmungen den „Grund“ oder „Hintergrund“ bilden. Der gesamte Vorgang wird auch als „Gestaltbildung“ oder „Gestaltwerdung“ bezeichnet. Das ganze Gefüge, hier der Raum mit allen Menschen, allen Geräuschen und allem Wahrnehmbaren, wird „Feld“ genannt.

Dazu ein Zitat von Fritz Perls (2012):

„Kein Individuum ist sich selbst genug; das Individuum kann nur in einem es umgebenden Feld leben. Das Individuum ist unvermeidlich in jedem Augenblick Teil des Feldes. Sein Verhalten ist eine Funktion des ganzen Feldes, das ihn und seine Umwelt einschließt.“ (S. 34)

Ob sich jemand also in einem Supermarkt, im Park oder am Arbeitsplatz aufhält, stets ist diese Person Teil eines „Feldes“, Teil der Umwelt. Auch wenn jemand alleine in seiner Wohnung sitzt oder sich in einem Wald meilenweit vom nächsten bewohnten Ort entfernt befindet, bleibt der Mensch Teil des jeweiligen „Feldes“.

In Bezug auf therapeutische Prozesse sind diese Aspekte des „Feldes“ oft sehr wichtig. So gehören beispielsweise alle Familienmitglieder immer zum Feld eines Menschen dazu, egal, ob sie in der Nähe sind oder nicht. Natürlich kann jeder Erwachsene entscheiden, ob und wie viel Kontakt zu den anderen Familienmitgliedern gehalten wird, wo er sich ansiedelt und wie er leben will – doch bleibt die Familie immer ein Teil des persönlichen Feldes.