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"Gebet ist nur ein langweiliger Monolog. Oft frage ich mich: Warum bete ich überhaupt? Ich weiß auch nicht, ob ich bei einem Gott, der mich so allein gelassen hat, wirklich richtig bin." Diese und viele weitere, frustrierte und verbitterte Anmerkungen zum Beten hört Christof Lenzen oft in der Beratung und Seelsorge. Und wenn er ehrlich ist, hört er sie auch immer wieder mal in seinem eigenen Herzen. Wohlmeinende, fromme Floskeln, die nur flüchtig hinschauen, helfen nicht weiter, findet der erfahrene Pastor und Coach. Wir müssen genauer hinsehen. Graben. Ehrlich werden. Uns kennenlernen. Toxische Spiritualität und falsche Vorstellungen mutig abstreifen. Dann ist ein neuer Zugang zum Gebet möglich. Packen wir sie an - die Gebetskrise! Das Buch liefert dafür konkrete Hilfestellung: Wie können wir toxische Bilder von Spiritualität, von Gott und von uns selbst hinter uns lassen? Mit welchen Übungen und Ansätzen finden wir unseren Zugang zum Gebet? Ein Buch für Zweifler:innen, Fragende, als Hilfe bei der Dekonstruktion, aber auch für alle, die einfach ihren Glauben weiterdenken wollen oder sich mehr Freude am Gebet wünschen.
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Seitenzahl: 294
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Lektorat: Hauke Burgarth, Pohlheim
DTP: Burkhard Lieverkus, Wuppertal
Verwendete Schriften: Scala Pro, Scala Sans Pro
eBook: PPP Pre Print Partner GmbH & Co. KG, Köln, www.ppp.eu
ISBN 978-3-7615-7026-5 Print
ISBN 978-3-7615-7027-2 E-Book
www.neukirchener-verlage.de
„Alles zu bezweifeln oder alles zu glauben, das sind zwei gleichermaßen bequeme Lösungen; beide befreien vom Nachdenken.“(Henri Poincaré: La science et l‘hypothèse, 1902)
„Gott möchte, dass wir unsere Aufmerksamkeit vor allem auf zwei Dinge richten: die Ewigkeit selbst und die Gegenwart, der Punkt, in dem die Ewigkeit die Zeit berührt.“(C. S. Lewis)
Vorwort
Ich überlese Vorworte meistens, will lieber loslegen und ins Thema eintauchen, anstatt mir wohlgemeinte Appetizer hinwerfen zu lassen. Oder wie in amerikanischen Büchern üblich seitenweise „celebrity endorsements“ von prominenten Christ*innen. Also fasse ich mich kurz:
Gebet ist in der Krise.
Gebet ist häufig langweilig und wenig heilsam.
Gebet ist eins der aufregendsten Dinge des Universums.
Und warum merke ich davon nichts?
Überhaupt: Wo ist Gott in all dem?
Damit ist der Rahmen dieses Buches gut beschrieben. Und wir schauen uns diese – meine und vielleicht auch deine – persönliche Krise und den Weg daraus radikal offen und ehrlich an, ohne Tabus und frommes Zukleistern. Alle Zweifel und Fragen dürfen vorkommen. Bringt sonst auch nichts. Ich will mich nicht mit dem Status quo zufriedengeben. Ich habe eine heilige Sehnsucht in mir nach tiefer, authentischer, heilsamer Gottesbegegnung. Und ja, ich habe sie durch meine Zweifel und Fragen hindurch wieder erleben dürfen. Aber ich bin immer noch auf dem Weg. Wollen wir ein Stück gemeinsam gehen und dabei plaudern? Denn das soll dieses Buch sein: eine kleine Emmauserfahrung. In der Jesus uns manches erklärt und wir irgendwann staunen: „Ah, so meinst du das!“ Das wünsche ich mir und lade dich dazu ein.
Noch eine kleine Anmerkung, bevor wir loslegen: So umfassend und inklusiv Zweifel und Fragen in diesem Buch vorkommen dürfen, so inklusiv schreibe ich auch bezogen auf die Geschlechter. Ich benutze bewusst männliche und weibliche Form und auch das Gendersternchen. Mir ist es wichtig, dass sich auch die Menschen angesprochen und wahrgenommen fühlen, die sich sonst ausgegrenzt fühlen würden. Hüter einer anderen Sichtweise mögen mir dies verzeihen und den freundlichen, jesusmäßigen Gedanken dahinter würdigen.
Genug der Vorrede. Ich freue mich auf einen wilden, aufregenden und gleichzeitig sensiblen, tiefgehenden gemeinsamen Weg durch die Krise der Spiritualität. Gott ist dabei. Auch auf den Umwegen und in Sackgassen. Los geht’s.
Abteilung 1: Moin Gebet – wie geht’s uns miteinander?
1. Gebetsdetox: Ich kann so nicht mehr beten!
▪ „Gebet ist, wenn ich ehrlich bin, unheimlich langweilig! Ich schäme mich, das zuzugeben, denn ich sollte es anders empfinden! Ich muss mich regelrecht zwingen zum Gebet.“
▪ „Fürbitte? Pah! Wie oft habe ich für wirklich gute Dinge für andere gebetet und was ist passiert? Nichts! Warum also noch beten?“
▪ „Gebet ist doch nur ein Monolog. Da kann ich auch Selbstgespräche führen. Ich glaube an Gott, aber wenn ich mit ihm reden soll, scheint er verdammt schweigsam zu sein. Oder nicht sehr interessiert an mir.“
▪ „Ich soll Gott Lobpreis bringen? So ein Scheiß! Ich bin wütend und depressiv abwechselnd. Dieses Lobpreisgesülze wäre gerade die pure Heuchelei. Ohne mich!“
▪ „Wenn Gott allmächtig sein soll, dann lässt er ganz schön viel laufen. Auch in meinem Leben. Boah, was haben mir Menschen und dieses ominöse ‚Schicksal‘ angetan. Ich kann mich diesem Gott so nicht mehr anvertrauen!“
▪ „Wenn ich mal vor Gott zur Ruhe kommen will, erreiche ich damit genau das Gegenteil. Alles ist unruhig und manches tut weh. Das tut mir nicht gut. Bei Gott kann ich nicht zur Ruhe kommen.“
▪ „Ich würde so gerne im Gebet die Nähe Gottes spüren und von ihm berührt werden – aber das ist in den vergangenen 20 Jahren vielleicht zwei- oder dreimal passiert. Mittlerweile ist mein Gebet nur noch eine Pflichtübung. Manchmal sogar eine lästige.“
Es ist im wahrsten Sinne des Wortes Not-wendig, dass wir ehrlich werden! Radikal ehrlich! Doch zuvor ein kleiner Disclaimer: Wenn du, lieber Leser, liebe Leserin, das anders empfindest und Gebet für dich eine wirklich erfreuliche und wohltuende Begegnung mit dem Vater ist: dann bitte ich dich, daran festzuhalten und es genauso weiter zu genießen. Ich glaube daran, dass das, was wir im Leben wahrnehmen, Bedeutung hat. Und manchmal gibt es Warnlampen, die am Armaturenbrett unserer Seele aufleuchten, und um die wir uns kümmern sollten. Siehst du keine Warnlampe, bist entspannt und zufrieden in deinem Gebetsleben? Wunderbar! Wenn die Sätze weiter oben aber auch nur entfernt eine Resonanz, einen Widerhall in dir finden, dann sei herzlich willkommen zu einer vielleicht erst einmal schmerzhaften, aber hoffentlich auch ertragreichen, befreienden Reise neu hinein ins Gebet. Diese Reise ist ein Stück weit auch meine Geschichte mit dem Gebet und der Spiritualität im Ganzen.
Aber erst mal heißt es: Raus aus dem Gebet. Vogelperspektive. Draufschauen und Hinschauen. Ehrlich werden. Und wo es notwendig ist: Detox! Denn es gibt wirklich toxisches Gebet und toxische Gottesbilder, die unsere Spiritualität wahrhaft vergiften können. Denn es wird bezüglich des Gebets (und Bibellesens) unheimlich viel geheuchelt in frommen Kreisen. Ich möchte dies ehrlich beim Namen nennen, denn die Statistiken sprechen eine deutliche Sprache. Bei der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (wer erfindet solche Wortungetüme?) KMU 6 aus dem Jahre 2023 gaben gerade einmal circa 15 Prozent der Mitglieder der beiden großen Kirchen an, täglich zu beten. In den Freikirchen mag die Zahl höher sein, aber aus meiner Beobachtung nach über 20 Jahren hauptamtlichem Dienst und seelsorgerischer bzw. geistlicher Begleitung von vielen hundert Menschen scheint mir selbst dort die Zahl eher hochgegriffen! Wir haben eine handfeste Krise der Spiritualität. Und in keinem Bereich findet so viel Pfeifen im dunklen Keller statt, denn es kann doch nicht wahr sein, was nicht wahr sein darf! Beten ist so wichtig! Gerade das Gebet für andere Menschen. Und Bibellesen! Es ist doch das Wort Gottes! Aber warum ist es dann so unglaublich langweilig? Ja, so empfinden es die meisten Christ*innen. Nennen wir es beim Namen. Wenn du wie oben erwähnt zu den Glücklichen zählst, denen es nicht so geht, ist das wunderbar. Dann wünsche ich mir trotzdem, dass wir radikal ehrlich werden in unserer frommen Blase und uns gegenseitig zuhören und voneinander lernen! Aber indem wir alle fröhlich weiter behaupten, wie wichtig und toll Gebet sei, kommen wir aus dieser Krise nicht heraus.
Meine persönliche Gebetskrise dauert seit dem Beginn meines Christseins an – natürlich in einem Auf und Ab unterschiedlicher Erfahrungen. Frustration, Wut auf Gott und bockige Verweigerung säumen diesen Weg. Aber parallel zu dieser Krise verläuft meine Faszination fürs Gebet und ich habe entzückende, tief bewegende Momente und Erfahrungen in anderen und manchmal ungewohnten Formen von Spiritualität erlebt. Beides war immer da. In einer depressiven Verstimmung während meines Theologiestudiums konnte ich mehr als zwei Jahre lang keine Lobpreislieder singen – sie erschienen mir leer, hohl und zynisch, und ich verweigerte mich dem Pfeifen im dunklen Keller. Ich verweigerte mich dem „Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt“-Geträllere und machte komplett zu. Ich war in der Tiefe und da war kein Gott. Da ist niemand! Ich hatte Momente, in denen ich mit dem Auto ein paar Kilometer weit wegfuhr und einfach nur noch schrie und aufs Lenkrad trommelte. Ich war traurig, verzweifelt und konnte mich selbst nicht verstehen.
Diese Lobpreiskrise habe ich überwunden, aber ich bin immer noch sehr achtsam mir selbst gegenüber und schaue genau hin: Kann ich das authentisch singen? Oder verkrampft sich etwas in mir? Soll ich hier gruppendynamisch in eine erwünschte Atmosphäre hineingezogen werden oder ist das wirklich meins? Ich liebe Lobpreis. Aber er kann auch unglaublich manipulativ und manchmal verlogen sein. Harte Worte? Wie gesagt: Ich will ehrlich von mir erzählen und einen Raum aufspannen, wo auch du mit deiner persönlichen Erfahrung ehrlich werden kannst. Das ist nicht in vielen Gemeinden möglich. Lass uns so lange hier eine kleine Teilzeit-Gemeinde zwischen zwei Buchdeckeln (oder innerhalb eines e-Readers) gründen.
Gab es noch eine Krise? Ja, die Fürbitte. Mein Verständnis von der Allmacht Gottes kam vor einigen Jahren in die Krise, und ich bin dankbar dafür. Ich werde später noch erklären, warum. Wenn aber Gott nicht allmächtig ist – wozu sollen wir dann für andere beten? Und warum ist die Fürbitte, die in evangelikalen Kreisen so hochgehalten wird, in der Bibel zwar vorhanden, aber nicht besonders dominant? Meine Fürbitten-Theologie zerbröselte langsam und findet sich inzwischen ebenso langsam, aber eben anders wieder. Ja, ich glaube an die Kraft der Fürbitte, aber nicht mehr so, wie sie landläufig praktiziert wird. Und auch da müssen wir ehrlich werden! Wie viele junge Menschen finden wir noch bei klassischen Gebetsabenden der Gemeinden? In der Allianzgebetswoche? Darüber kann man nun den Zeitgeist verfluchen, den Kopf schütteln und über den vermeintlichen Untergang des christlichen Abendlands lamentieren. Oder man kann darin ein Zeichen sehen, dass wir dringend ein neues Nachdenken über Gebet brauchen. Dass uns hier etwas sehr Wertvolles entgegenkommt, das uns zugegebenermaßen aus der Komfortzone schubst. Wir können es nicht zulassen, dass uns etwas so Existenzielles wie Gebet entgleitet in ausgehöhlte Tradition und nur von einigen Treuen tapfer und verbissen hochgehalten wird. Wir brauchen einen neuen, frischen (und manchmal auch ganz alten) Blick auf das Gebet. Und auf uns selbst. Und auf Gott. Wenn Gebet wieder bewegt – wenn Gebet berührt, dann wird genau das die Menschen unserer Zeit ansprechen. Denn diese stimmen vollkommen zu Recht mit den Füßen ab. Sie erwarten vom christlichen Glauben: nichts. Das zerreißt mir das Herz. Und die Trägheit so vieler Christ*innen bei diesem Thema ebenso. Oder sollte ich statt Trägheit sagen: Lähmung? Vielleicht spüren ja viel mehr von uns, dass diese Irrelevanz des Glaubens und eben auch des Gebets längst auch in unseren Herzen um sich greift … Wenn das so ist, dann sollten wir uns dem stellen. Machen wir uns auf die Reise!
2. Ist das erlaubt? Über fromme und unfromme Blockaden
Gebet sei wie eine Audienz beim König. Sei wie ein Krabbeln auf den Schoß beim Vater – aber hey, bei einem mächtigen Vater, der das Universum erschaffen hat, und es Tag für Tag erhält. So sagen sie. Und das sind Bilder, teilweise auch wohltuende Bilder, die ich selbst oft genug benutzt habe, um über Gebet zu reden. Ohne solche Bilder kommen wir nicht aus, weil Gebet sonst blutleer und abstrakt bleibt. Bilder haben nur ein Problem: Sie begrenzen. Und blockieren manchmal, wenn die Entwicklung in eine Richtung geht, die der vom Bild intendierten entgegengesetzt ist. Beim Vater auf den Schoß krabbeln und Zeit mit ihm verbringen ist ein vertrautes, fast zärtliches Bild, das spätestens seit den berührenden Geschichten von „Nicht wie bei Räubers“ vielen Menschen geholfen hat, eine furchtlosere, intimere Beziehung zu Gott aufzubauen. Was aber geschieht, wenn wir merken, dass unsere Audienz, unsere Schoßkrabbelzeit, leerer und leerer wird? Oder zumindest von uns so erlebt wird? Wenn sie sich gar falsch anfühlt, routiniert und unauthentisch? Dann wird das Bild zum Denkverbot oder zumindest zu einer Blockade. Denn darf das so sein? Darf ich mir offen eingestehen, dass ich die Zeit auf dem Schoß des Vaters langweilig und uninteressant finde? Dass ich lieber weglaufen und alles andere machen möchte oder eben nach drei Minuten entnervt aufgebe? Schwierig … Dabei steckt die Schwierigkeit weniger im Intellektuellen, Rationalen. Da ist (hoffentlich) jedem und jeder von uns klar, dass wir alles denken dürfen. Wir wissen auch: Wenn Gott in unser Herz schaut, dass weiß er eh, wie es uns im Gebet geht was bringt es also, sich und ihm etwas anderes vorzugaukeln? Das Problem der Blockade findet sich nicht im rationalen Denken – es liegt eine Ebene tiefer.
Blockaden und auch Denkblockaden entstehen da, wo uns die emotionale Ebene unseres Seins dazwischenfunkt. An dieser Stelle kommt im Buch neben der geistlich-spirituellen eine zweite Ebene zum Tragen, die ich als enorm wichtig erachte, und die die nächsten Seiten immer wieder durchziehen wird. Als Seelsorger und traumatherapeutischer Begleiter weiß ich, wie sehr unterbewusste Prozesse uns boykottieren können. Je länger ich Menschen begleite, desto mehr staune ich, wie wenig freier Wille da manchmal zu sehen ist (aber vorausgesetzt wird). Der Weg in ein neues Gebetsleben muss seelische Prozesse berücksichtigen und integrieren, sonst wird er nicht gelingen. Es wird in diesem Buch also keine rein geistliche Lehrstunde geben, bei der ich vor einer imaginären Sonntagsschultafel stehe und abstrakt Bibelstellen doziere, bis das Beten allen Lesern und Leserinnen wieder Spaß macht. Das geschieht viel zu oft. Gut gemeint – schlecht gemacht. Gebetserkenntnis erfolgt immer über Gottes- und eben auch Selbsterkenntnis. Sich selbst kennenzulernen, innere Wunden wahrzunehmen und heilen zu lassen, achtsam, heilsam, barmherzig mit sich selbst umzugehen – all das sind notwendige Voraussetzungen auf dem Weg, einen neuen Gebetsstil zu finden, der die eigene Seele nährt, anstatt sie darben zu lassen. Mir ist bewusst, dass dieser Schritt in manchen christlichen Kreisen stirnrunzelnd gesehen wird. Unnötige Bauchnabelschau sei das. Es ginge darum, nicht auf sich selbst zu schauen, nur auf Jesus. Und ja – das sich selbst den Puls fühlen kann ausarten. Es kann zu einer Marotte werden, zu einem Ziel an sich, statt zu einem wertvollen Wegbegleiter. Aber der Missbrauch delegitimiert nicht den rechten Gebrauch. Wir sind einzigartig. Individuell. In unserem Sein, aber auch in unserer Prägungs-, unserer Verletzungsgeschichte. Schon deswegen muss klar sein: Es kann nicht das Standard-Gebetsrezept geben, das unserer Seele schmeckt und diese ermutigt, sich zu öffnen und diesem Gott hinzuhalten. Da du aber anscheinend dieses Buch liest, weil du selbst spürst, dass dein Gebet nicht mehr richtig trägt und berührt, habe ich die Hoffnung, dass du dich wahrnehmen kannst und ahnst, dass der Weg bei dir beginnt. Ich setze also voraus, dass wir gemeinsam auch eine Ebene tiefer schauen dürfen, und ich garantiere dir aus der Erfahrung der konkreten Begleitung vieler Menschen, dass das Auflösen seelischer Blockaden, die Integration verwundeter innerer Anteile immer einen enormen geistlichen Effekt hat. Wir sind eben eine Einheit aus Seele, Körper und Geist. Wie sollte es anders sein? Ich freue mich, dass du dich darauf einlässt.
Zurück zu unseren blockierenden Gebetsbildern. Je emotionaler diese angelegt sind, desto heilsamer können sie uns berühren, aber desto tiefer können sie uns auch blockieren, wenn wir spüren, dass sie nicht mehr tragfähig sind. Das Bild vom Schoß des Vaters, auf den man krabbeln darf, hat im besten Fall etwas tief Berührendes. Dieses Bild löst eine Resonanz in unserer Seele aus. Urbedürfnisse nach Sicherheit, Geborgenheit und Bindung werden hier angesprochen. Wohltuend kann das sein, wenn da ein Mangelempfinden ist, eine Lebenswunde. Umso schwieriger wird es aber, gegen dieses Bild zu „verstoßen“. Darf ich vom Schoß krabbeln und das alles hinterfragen? Enttäusche ich dann den Vater? Verliere ich Sicherheit und Bindung? An dieser Stelle werden Urängste wach! Noch krasser geschieht diese Aktivierung von tief verankerten Ängsten bei druckerzeugenden Gebetsbildern. Wenn Gebet eine Pflicht gegenüber einem ernsten, gar zornigen und strafenden Gott ist, zu dem ich kommen muss. Ähnlich wie beim Gottesdienst ist es genau so ein Bild (das vielleicht nicht mehr intellektuell und vordergründig vertreten wird, aber innerlich noch vorhanden sein kann), das Menschen aus Pflichtbewusstsein am Gebet festhalten lässt oder zum Gottesdienst gehen lässt. Tiefsitzende Ängste verhindern hier den Weg in eine befreiende Spiritualität! Oder sie verhindern den Schritt in Gottesdienste hinein, die mehr Freude machen, die ganzheitlicher ansprechen.
Du merkst an dieser Stelle, dass der vor uns liegende, unglaublich spannende Weg der Entdeckungen viel damit zu tun hat, ob wir innerliche Blockaden aufspüren und loslassen können. Und dabei geht es nicht nur um gedankliche Blockaden – damit müsste es anfangen. Es geht eben auch um emotionale Blockaden, die uns häufig im Hintergrund unbemerkt boykottieren. Fast jeder kennt das von Diäten. Vom Kopf her wissen wir: Ein fettes Stück Gouda und ein Glas Rotwein um 23 Uhr sind meist keine gute Idee. Das denkt unser präfrontaler Cortex. Im Hintergrund läuft aber ein Programm auf emotionaler Ebene ab – und das leider stärker und vor allem schneller. Da ist eine Emotion, die nach Gouda und Rotwein ruft, um sich Gutes zu tun. Um zu kompensieren, zu betäuben, zu streicheln. Was auch immer. Und zack!, liegt der Gouda auf unserem Teller. Unsere unbewussten oder wenig bewussten emotionalen Automatismen sind entscheidend. Deswegen schau doch einmal hin, horche rein in dein Inneres. Sprich es laut aus und wenn es geht, schau dich dabei im Spiegel an: „Christof (setze bitte deinen eigenen Namen ein), ich gebe dir die Erlaubnis, Gebet kritisch zu hinterfragen. Du darfst das. Gott freut sich darüber. Er sehnt sich nach einer vertieften Beziehung mit dir, und du hast alle Freiheit, kritisch hinzuschauen, Neues auszuprobieren, anders zu denken und zu fühlen.“ Und dann lausche in dich hinein. Spürst du da Widerstände? Unbehagen? Oder hast du ein „go“? Wenn die Widerstände gering sind, darfst du dir selbst gut zureden und dir versichern, dass alles gut ist. Nichts kann dich trennen von der Liebe Gottes. Du schon gar nicht. Wenn deine Zweifel, die Fragen und dein Forschen die Kraft hätten, dich von Gott wegzubringen – dann wäre das ein schwacher Gott, der doch angeblich die Sünde der ganzen Welt getragen hat, jetzt aber deine kleinen Zweifel nicht aushält. Doch, das kann ich dir bestätigen: Er hält es aus. Er freut sich sogar darüber. Denn es zeigt ihm, dass dir Gebet wichtig ist und du nicht bereit bist, einfach aus bloßer Routine weiterzumachen. Welcher Ehepartner würde darüber entsetzt sein, wenn der Partner ihm sagen würde: „Du Schatz, unsere Kommunikation läuft nicht gut. Ich fühle mich darin nicht wohl – und ich will einfach, dass es wieder richtig klasse ist! Lass uns gemeinsam lernen und daran arbeiten!“. Ich glaube: keiner. Im Gegenteil. Warum sollte es Gott anders gehen?
Und bei extrem starken Widerständen? Dann ist dieses Buch (noch) nicht dran. Dann suche dir bitte einen geistlichen Begleiter, eine geistliche Begleiterin oder noch besser einen/eine Seelsorger*in. Und sprich mit denen noch genauer durch, was dich ängstigt und bremst. Nimm das bitte ernst. Wege brauchen Zeit und Behutsamkeit. Starte nicht gegen deinen inneren Impuls. Wenn es aber geht, dann lass uns loslegen. Vor uns liegt ein weites Land, das wir entdecken dürfen. Und du bist nicht allein.
3. Eine erste Diagnose: Habe ich eine Gebetsvergiftung?
Gebet zu definieren, ist ein durchaus herausforderndes Unterfangen. Wenn schon menschliche Gespräche komplex sind, wie viel mehr ist es das Gespräch mit Gott? Und doch benötigen wir eine Definition, um uns der Diagnose anzunähern. Ich erhebe nicht den Anspruch, dass diese Definition vollständig oder herausragend sein soll – sie muss eben unserer Sache dienen und biblisch begründbar sein. So wie ein Mediziner Symptome betrachtet, sie in Bezug zu den Körperfunktionen und -organen setzt und dann eine Differentialdiagnostik durchführt (ich habe definitiv zu viele Folgen Dr. House gesehen!), so wollen wir ausgehend von dieser Definition genauer hinschauen, was denn bei uns los sein kann. Das klingt erst einmal relativ verkopft – die Inhalte werden es allerdings nicht sein. Ich bitte dich also, diesen Weg mitzugehen. Mir hat er sehr geholfen.
Was macht Gebet aus? Machen wir ein Brainstorming:
▪ Gebet kann in Worten oder wortlos geschehen.
▪ Gebet ist dialogisch, kein Monolog. Die innere Haltung ist dabei eine sich verschenkende und eine empfangende.
▪ Gebet ist ganzheitlich und betrifft den gesamten Menschen seelisch, geistlich und körperlich.
▪ Gebet findet im Schutzraum von Vertrauen und Sicherheit statt, den Gott selbst herstellt und der nur von ihm erhalten wird.
▪ Gebet ist keine Leistung, die zu erbringen ist, sondern Ausdruck einer Intimität zwischen Gott und Mensch.
▪ Gebet ist keine selbstverständliche Lebensäußerung. Es entwickelt sich und wird mehr und mehr erlernt.
▪ Gebet hat grundsätzlich freiwilligen Charakter, Rituale und Disziplin können aber helfen, Freude im Gebet zu finden.
Ist das so komplett? Ganz sicher nicht. Aber es hilft. Und wenn du ein wenig wie ich tickst, wirst du beim Lesen dieser Unterpunkte bereits angefangen haben, innerlich zu „rattern“. Spür dem mal ein wenig nach. Was lösen die verschiedenen Aussagen in dir aus? Nicht nur intellektuell, sondern auch emotional? Fühlt sich eine Aussage „nicht gut“ an, weil du dich unzulänglich fühlst? Weil du sie nicht „erfüllst“? Lösen manche Aussagen in dir Widerstand aus? Gut! Denn an diesen Stellen findet sich meist ein verborgener Schatz.
Folge dem Widerstand nicht vorschnell zu einer vermeintlich sauberen Schwarz-Weiß-Entscheidung, sondern spüre dem nach, befreunde dich mit diesem Widerstand in dir und befrage ihn: „Wogegen wehrst du dich? Was willst du mir damit sagen? Wovor willst du mich schützen?“ Allein dieser innere Weg mit den Teildefinitionen kann bereits sehr wertvoll sein. Ich habe bewusst die Aussagen nicht mit Bibelstellen untermauert – was aber kein Problem gewesen wäre. Das hätte aber die Begegnung mit den Definitionen schnell auf eine andere, verkopftere Ebene gehoben. Wenn es aber um unseren Gebetsverlust geht und eventuell sogar um unsere Gebetsvergiftung, dann hilft unser Kopf allein nicht weiter. Da geht es um andere Ebenen, und die liegen meist tiefer. Unser Frontalhirn liebt es, systematisch zu denken und Dinge zu ergründen – dazu ist es ja auch perfekt geeignet. Das Problem ist, dass unser (kritisches) Denken uns nicht selten den Zugang versperrt zu den eigentlichen Wunden, den inneren Überzeugungen jenseits frommer Richtigkeiten: den verletzten Gefühlen. Auch dieses Buch kann natürlich eine Flucht sein, um dem eigentlichen Schmerz aus dem Weg zu gehen. Die Intellektualisierung ist ein beliebtes Mittel und eine wertvolle Schutzfunktion vor seelischem Schmerz. Wir dürfen diesen Ausweg annehmen und wertschätzen. Wir haben ihn irgendwann aus konkreten und meist schmerzhaften Gründen unbewusst entwickelt. Wenn es aber darum geht, zur gottgewollten Fülle einer so existenziellen Sache wie Gebet vorzudringen, braucht es den ganzen Menschen. Deswegen erlaube es mit bitte, dass ich dich nicht vorschnell auf gewohnte intellektuelle oder sagen wir besser kopfbezogene Wege leite. Die Analyse wird zu ihrem Recht kommen, aber die Königsdisziplin wird in diesem Buch sein, durch die Analyse hindurchzutauchen zum Kern, zum Wesentlichen, zu dem, was uns blockiert oder eben fördert.
Nachdem wir also durch ein paar grundlegende Aussagen versucht haben, Gebet zu beschreiben, stellt sich die Frage nach einer ersten Differenzierung in der Diagnose. Da Gebet Beziehungsgeschehen ist, können wir es auch unter diesem Stichwort betrachten. In realen Beziehungen gibt es manchmal auch toxische Gegenüber. Menschen, die in ihrer psychischen Verfasstheit oder ihrem alltäglichen Verhalten andere Menschen zerstören oder zumindest zunehmend verunsichern, bis die nicht mehr weiterwissen. Oft bemerkt man solche Eigenschaften erst im Laufe der Zeit, hat man sie dann aber durchschaut, kommt man nicht mehr dahinter zurück. Ist mein Gegenüber toxisch, so ist das häufig das Ende der Beziehung und man fragt sich, wie man so lange auf ihn oder sie hereinfallen konnte. Es hat – siehe das Wort toxisch – eine Beziehungsvergiftung stattgefunden.
Gibt es dann auch eine Gebetsvergiftung? Aber natürlich und wir erleben sie momentan durchaus häufig unter Christ*innen.
Das ist eine heftige Aussage! Kann denn Gott toxisch sein? Gott nicht, aber unser Gottesbild. Und hinter dem Gottesbild steht die Frage nach dem Schriftverständnis, unserer eigenen Prägung und vieles mehr. Irgendwann zerbricht unser mühsam zusammengebasteltes Gottesbild einfach. Durch Lebensumstände, durch Enttäuschung über Gott, durch Menschen, die meine Theologie begründet hinterfragen. Und ich sage: Wie gut! Und gleichzeitig: Wie heftig und belastend! Denn da bricht etwas zusammen, was mir jahrelang mehr oder weniger Halt gegeben hat. Für andere Christ*innen ist dieser Verlust eine Wohltat, eine Befreiung! Und auch da: Wie gut! Ein toxisches Gottesbild (und sei es noch so biblisch begründet) loszuwerden, ist immer gut. Und trotz der Befreiung wird eine Leerstelle bleiben. Und die Frage: Was kommt nach dem Verlust, was kommt nach der Dekonstruktion? Der reine Atheismus? Selbst das mag dran sein. Ich kann auch nach dem Abbruch einer toxischen menschlichen Beziehung nicht sofort in die nächste stolpern und dadurch das Loch in meiner Seele stopfen. Als Seelsorger würde ich hier dezent intervenieren und zur Geduld raten. Wir wiederholen allzu gerne Fehler aus unseren Prägungen heraus. Bevor wir heilsam und von mehr Erfolg gekrönt in eine neue Beziehung investieren können, ist es sinnvoll, erst einmal zu schauen, wie uns das passieren konnte, wie unsere Vergiftung stattgefunden hat.
Ein temporärer Atheismus ist also mehr als verständlich und kann auch ratsam sein, wenn der Abbruch des Dialogs mit Gott zu verletzend und radikal vonstatten gegangen ist. Habe Geduld mit dir. Die Zeit heilt keine Wunden, aber sie schafft Raum, um die Wunden zu verbinden, Wundenerzeuger zu eliminieren und vor allem besser für sich selbst zu sorgen. Irgendjemand hat ja auch zugelassen, dass Wunden geschlagen wurden.
Eine kleine Randbemerkung: Natürlich gibt es in menschlichen Beziehungen auch Verletzungen, in denen einer oder eine zu 100 Prozent Opfer ist. Dennoch haben selbst diese grausamen Geschehnisse eine Vorgeschichte. Ich will hier also niemandem eine Mitschuld an zum Beispiel erlittener körperlicher oder sexueller Gewalt geben! Ende der Randbemerkung.
Findest du bei dir eine Gebetsvergiftung vor? Hast du Gott als toxisch erlebt? Dann nenne das beim Namen: Es ist in Ordnung, und er hält auch das aus und will dich aus falschen Bildern befreien. Zweifelst du komplett daran, dass es diesen Gott gibt? Dann ist auch das gerade so und in Ordnung – ich kann ihn dir ja auch schlecht einreden … Aber vielleicht findest du ja in diesem Buch einen Wegbegleiter für deine aktuelle Lage. Zunächst will ich aber noch differenzierter hinschauen, denn es gibt nicht nur die Gebetsvergiftung, da wären noch zwei andere Varianten.
4. Von Gebetshäutungen und Gebetsentfremdungen
Gebet häutet sich immer wieder im Laufe des Lebens. Und wie bei einer Amphibie kommt dabei etwas Passenderes zum Vorschein, das aber durchaus das Alte wesen- und prozesshaft beinhaltet. Gesunde Wachstums- und Häutungsprozesse im Glauben verdammen nicht das Gewesene, das Vorherige – sie integrieren es und gehen darüber hinaus. Und damit sind wir bei einer zweiten möglichen „Diagnose“ (in mir sträubt sich etwas bei einem so technischen Begriff, aber er passt hierhin): der Gebetshäutung, die nicht selten Folge einer Glaubenshäutung ist.
Mich erstaunt bei diesem Thema, dass er immer wieder geradezu tabuisiert wird in frommen Kreisen! Dann kommen noch fröhlich aus dem Zusammenhang gerissene Bibelverse dazu wie: „Zurück zur ersten Liebe!“ – und zack, fühlt man sich ganz elend, wenn sich der eigene Glaube vom „common sense“ wegbewegt und eben nichts mehr mit der ersten Liebe zu tun hat (und man das auch gar nicht mehr will). Kein Wunder, denn da geschieht die Entfremdung vom gemeindlichen Mainstream. Da jede Gemeinde neben der Bibel eine zweite Säule der Tradition ihrer Auslegung und Umsetzung eben dieser Bibel hat (ja, wirklich: jede!), dann ist nicht selten erst milde Irritation, dann Erstaunen und schließlich Hinterfragen bis hin zur Absprache des ernsthaften Glaubens die Folge. Ich halte es für ausgesprochen tragisch, dass viele Gemeinden die Spannung abweichender theologischer Standpunkte in sekundären Fragen nur schlecht aushalten. Da ließe sich von unseren jüdischen Geschwistern eine Menge lernen über die so wichtige Ambiguitätstoleranz. Ein schönes Wort zum Angeben – inhaltlich ist es jedoch so wichtig, Unsicherheit und Ungewissheit aushalten zu können und zu wollen. Haben wir Christus im Zentrum, dürfen wir einander in aller Unterschiedlichkeit annehmen und als Bereicherung betrachten und erleben. Ganz nach Jesus’ Worten im hohepriesterlichen Gebet. Eben dies ist aber häufig genug nicht möglich, und dann ist mit der Glaubenshäutung und der daraus folgenden Gebetshäutung nicht selten auch noch der Verlust von geistlicher Heimat zu beklagen. Du veränderst dich in deiner Sichtweise zur Schriftauslegung (Hermeneutik), der Ethik, der Rolle der Frau oder in deinem Gottesbild? Dann wird die Luft dünn. Und die Gemeinde, die eigentlich Schutzraum sein sollte, kann zur Wunden schlagenden lebensfeindlichen Umgebung werden – wie unendlich tragisch! Dasselbe erleben auch Hauptamtliche! Für die meist auch noch Einkommen und somit ihre Existenz daran hängt.
Dabei ist die Glaubens- und Gebetshäutung ein vollkommen normaler Prozess. Wir zitieren gerne Jesus’ Worte zum „So werden wie die Kinder“ und beziehen das meist auf blindes Vertrauen und kindliche Naivität in der Annahme schwer verständlicher „Glaubenstatsachen“. Tatsächlich zeichnet Kinder etwas ganz anderes aus: Der unausweichliche Drang nach Entdeckung der Welt, nach Wachstum, nach Bewegung, nach ungehindertem Ausprobieren und Fehler machen dürfen. Kinder entdecken, was funktioniert und somit trägt, und was nicht. Leider geschehen auf diesem Weg Fehlprägungen und Verletzungen, aber das ist grundsätzlich typisch kindlich! Stillstand? Nein! Niemals! Warum haben wir also so viel Angst davor, wenn sich Glaube verändert?
Wenn du das gerade so erlebst, dann fröhlich weiter so! Du bist nicht allein unterwegs – der Geist geht in dir und mit dir weiter! Und du darfst Fehler machen und Dinge ausprobieren. Nicht alles davon wird weise sein, aber okay: Das gehört dazu. Was du erlebst, ist vollkommen normal! Denn was wäre die Alternative? Wenn der Glaube und das Gebet so nicht mehr tragen, wie sie bisher angenommen und praktiziert wurden, muss man sie dann so lange wieder in die alten Schablonen pressen, bis es gerade wieder geht? Natürlich darf ich den Glauben nicht grenzenlos an das Leben anpassen; das wäre letztlich Beliebigkeit und wir haben es bei Gott immerhin mit einer Beziehung zu tun, die größer, tiefer und weiter als unser Leben ist. Aber andersherum gilt auch: Ich kann mein Leben nicht in einen Glauben hineinzwingen, wenn das einfach nicht mehr geht.
Ein Beispiel: Wenn man mir vermittelt hat, dass ich nur genug beten und fasten muss, damit meine an Krebs erkrankte Mutter gesund wird, aber sie stirbt – was dann? Habe ich dann zu wenig oder falsch gebetet? Wenn ich meinen Glaubensgrundsatz dann beibehalten will, laufe ich geradewegs in eine Glaubens- und Gebetsvergiftung hinein! Denn das ist leider die (einzige) Alternative zur Häutung. Doch Stopp, es gibt noch eine Alternative: Ich glaube offiziell weiter an meinen Grundsatz, im Inneren emigriere ich jedoch in die Bitterkeit und Enttäuschung. Das ist ein fataler Weg in leere Religiosität und fromme Fassadenbauerei. Bloß nicht! Geh einfach mutig weiter! Ich gehe gern ein Stück in diesem Buch mit.
Und dann ist da noch die Nummer drei, die Gebetsentfremdung bis hin zum Gebetsverlust. Das Gebet und du habt dabei das Schicksal so mancher Paare erlebt: Ihr habt euch auseinandergelebt. Du hältst vielleicht noch routiniert am Glauben fest, und ab und zu entfleucht dir ein Stoßseufzer gen Himmel. Du sprichst das Vaterunser in der Gemeinde mit und in Gebetsgemeinschaften bekommst du auch noch ein „korrektes“ Gebet auf die Reihe, aber puh – es ist echt langweilig geworden. Es fehlen die Erotik, die Sinnlichkeit, die Tiefe und das Faszinierende des Gebets.
Diese Diagnose ist eine der Schwierigsten. Warum? Weil Gebet halt Routine geworden ist. Es hat sich so eingespielt. Schleichend. Wie eine gelebte Selbstverständlichkeit. Ab und zu bei einer Konferenz oder einem feurigen Prediger kommt kurz Hoffnung auf, du raffst dich auf zu einem neuen Anlauf zur Intimität mit Gott, aber dann bröselt wieder alles ab. Sich das nüchtern und ehrlich einzugestehen ist nicht einfach. Aber so wichtig! Da eine größere Zahl von Christ*innen so herumläuft bzw. -glaubt, stemmt sich dieser Diagnose eine ziemliche „Plausibilität des Faktischen“ entgegen, kurz: Wenn es vielen so geht, muss es wohl normal sein. Da ist ein Sich-Abfinden mit dem Mittelmaß, der geistliche Hunger ist verlorengegangen. Es ist eine traurige Diagnose, aber ich beobachte eine massive Krise der Spiritualität in unserer westlichen Christenheit. Dieser entkommen wir nicht durch Wegducken. Und natürlich – um den Einwand vorwegzunehmen – gibt es auch eine geistliche Unersättlichkeit, die immer mehr will und Gott nicht mehr im Alltäglichen, Gewöhnlichen entdecken möchte. Selbstverständlich. Aber hier geht es ja gar nicht um Ungewöhnliches oder gar Außergewöhnliches! Das Ziel dieses Weges miteinander ist es nicht, dass täglich die Bekehrten und Geheilten nur so von den Bäumen fallen und wir in Ekstase und geistlicher Verzückung in unser Büro schluffen! Unsere Sehnsucht darf aber sein, Gott wieder mehr zu erleben, Formen und Wege zu finden, in und auf denen echte Begegnung mit Gott möglich werden, die das Herz berühren, das Denken inspirieren und den Geist stärken. Eine echte Neubelebung des Bundes mit Gott. Vergleichbar einem partnerschaftlichen Neustart – auch da erwartet keiner Schmetterlingsgefühle wie beim ersten Verliebtsein! Das wäre überspannt und unrealistisch. Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss! Aber es geht um Tiefe, Intimität und die transformative Kraft der Begegnung zwischen Gott und dir. Und eben keine Langeweile, Erwartungslosigkeit und Routine. All das gehört zu einer Beziehung dazu, damit das Besondere geschehen kann, aber es darf nicht zum resignierten Grundrauschen werden!
Eine letzte Bemerkung: Ich werde dich hier nicht anfeuern wie von einer Kanzel herab oder auf einer Erweckungskonferenz, nach der man es dann nochmals versucht, um dann doch wieder zu scheitern. Dieses Anfeuern ist letztlich toxisch und nicht auf der Ebene einer gesunden Glaubensentwicklung. Paulus würde sagen: Es ist ein Appell an das „Fleisch“, die alte autarke Natur, das Ego, das falsche Selbst – wie auch immer du das nennen möchtest. Aber ich kann geistliche Intimität nicht mit menschlichem Willen und Wollen erlangen. Deswegen halte ich wenig von erhobenen Zeigefingern, Durchhalteparolen und feurigen Appellen, es nun endlich „anzupacken“ mit dem geistlichen Leben. Das Scheitern ist hier vorprogrammiert und damit ein noch tieferer Frust über das Leben mit Gott. Nein, wir müssen einen anderen Weg gehen, und der führt durch die Tiefe der Selbsterkenntnis. Aber keine Sorge: Hier wird keiner beschämt, kleingemacht und „ermahnt“. Es geht schlicht um Ehrlichkeit und um das Loswerden von Blockaden. Weiter geht’s!
Abteilung 2: Gebetsverlust oder -vergiftung – ein wenig Ursachenforschung
5. Mein Gebet ist stinklangweilig!
Stellen wir doch gleich einmal den ersten Elefanten in den Raum unserer Spiritualität. Und dieser Elefant hat es in sich, denn er ist schambesetzt. Aber lassen wir uns doch von dieser Scham an die Hand nehmen und zur Quelle der Langeweile begleiten! Das ist überhaupt immer eine hilfreiche Regel für den guten und achtsamen Umgang mit dem eigenen Herzen: Emotionen wollen wahrgenommen werden. Sie sollen uns nicht regieren, aber sie haben eine wertvolle Botschaft, und wenn wir sie befragen, können sie uns helfen, weiter und tiefer im Herzen zu werden. Also: Wo steckt hier die Scham?
