Gesundheits- und Krankheitslehre für die Altenpflege - Susanne Andreae - E-Book

Gesundheits- und Krankheitslehre für die Altenpflege E-Book

Susanne Andreae

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Beschreibung

Dieses Buch beantwortet Ihnen alle Fragen zur Gesundheits- und Krankheitslehre beim alten Menschen: klar und verständlich, ohne unnötiges Detailwissen. Erfahren Sie alles Wissenswerte über - Anatomie und Physiologie der Organsysteme - die wichtigsten Erkrankungen im Alter - Infektionslehre - Arzneimittellehre - Schmerztherapie - Ernährungslehre und Ernährungsmedizin im Alter - Prävention, Rehabilitation und Palliation Profitieren Sie von zusätzlichen Inhalten für die Pflegepraxis: - zahlreiche Pflegetipps - ausführliche Pflegeschwerpunkte - alle aktuellen Expertenstandards verständlich an einem Fallbeispiel erklärt - Übersichten der wichtigsten Medikamente und worauf Sie achten müssen Das Plus: 35 Lehr-Videos zur Altenpflege Jederzeit zugreifen: Der Inhalt des Buches steht Ihnen ohne weitere Kosten digital in der Wissensplattform eRef zur Verfügung (Zugangscode im Buch). Mit der kostenlosen eRef App haben Sie zahlreiche Inhalte auch offline immer griffbereit.

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Seitenzahl: 1361

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Gesundheits- und Krankheitslehre für die Altenpflege

Susanne Andreae, Dominik von Hayek, Jutta Weniger

4. Auflage

700 Abbildungen

Vorwort

In unserer „Gesellschaft des längeren Lebens“, in der glücklicherweise immer mehr Menschen gesund, mit gewissen Einschränkungen oder auch krank und pflegebedürftig ein hohes Alter erreichen, bekommt die medizinische Versorgung und Pflege alter Menschen eine immer größere Bedeutung. Entsprechend dynamisch entwickeln sich neues Wissen und neue Konzepte in den Pflegeberufen und in ihrer wichtigsten Bezugswissenschaft, der Medizin. Dies möchten wir Ihnen nicht vorenthalten. Deshalb haben wir uns entschlossen, unser unverändert sehr beliebtes und in vielen Altenpflegeschulen verwendetes Lehrbuch schon nach vier Jahren umfassend zu überarbeiten und zu aktualisieren.

Wir haben in der aktuellen Auflage das Kapitel Demenz und Schmerztherapie deutlich ausgebaut, denn bei diesen beiden wichtigen Themen hat sich in den letzten Jahren einiges getan! Die Ausführungen zur gerichtlichen Betreuung und zu den Leistungen der Pflegeversicherung wurden entsprechend dem aktuellen Gesetzesstand aktualisiert. Außerdem haben wir das Frailty-Syndrom und die Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten neu in das Kapitel Ernährungsmedizin aufgenommen.

Dieses Buch enthält alle zum jetzigen Zeitpunkt verfügbaren Expertenstandards mit Abdruck der Standardkriterien des DNQP (Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege) und mit anschaulicher Darstellung der praktischen Umsetzung anhand von Fallbeispielen. Neu in unser Buch aufgenommen haben wir den Expertenstandard „Schmerzmanagement in der Pflege bei chronischen Schmerzen“, und ganz aktuell, den Anfang 2015 veröffentlichte Expertenstandard „Erhaltung und Förderung der Mobilität in der Pflege“. Selbstverständlich haben wir die bereits enthaltenen Expertenstandards wo es nötig war aktualisiert.

Wie gewohnt sind wichtige Fakten farblich und mit Symbolen unterlegt:

Definition: Alle Erkrankungen und Begriffe werden in dieser Box definiert.

Merke: Hier sind kurze essenzielle Fakten zusammengefasst.

Fallbeispiel: Zu vielen Erkrankungen werden passende Fallbeispiele gegeben. Anhand dieser kann das Gelernte überprüft werden. Sie sind, auch wenn sie teilweise „skurril“ klingen, alle wirklich passiert!

Pflegepraxis: Hier werden wichtige Hinweise für die Pflegepraxis gegeben.

Zusatzwissen: Hier sind zusätzliche Infos für Interessierte aufgeführt.

Lernaufgabe: Gezielte Lernaufgaben dienen dazu, das Wissen zu vertiefen.

Die in unserem Buch enthaltenen Informationen entsprechen dem Stand im April 2015. Sollte sich bis zum Erscheinungsdatum etwas geändert haben, so ist dies dem stetigen „Fluss“ der pflegerischen und medizinischen Erkenntnisse geschuldet.

Wir hatten das Glück, auch diese Auflage unseres Lehrbuchs wieder zusammen mit der unverändert kompetenten, freundlichen und stets zuverlässigen Redakteurin Frau Zimmermann überarbeiten zu dürfen. Ihr gebührt unser ganz besonderer Dank!

Ihnen, liebe Leserinnen und Leser wünschen wir einen großen Lernerfolg mit diesem Buch sowie viel Freude in der Arbeit mit alten Menschen!

Schramberg, Villingen-Schwenningen, München, im März 2015

Inhaltsverzeichnis

Teil I TEIL I Theoretische Grundlagen in das altenpflegerische Handeln einbeziehen

1  Grundlagen der Anatomie und Physiologie

2  Physiologie des Alterns

3  Ernährungslehre und Ernährungsmedizin im Alter

4  Allgemeine Krankheitslehre

5  Infektionslehre

6  Allgemeine Arzneimittellehre

7  Schmerztherapie

8  Prävention, Rehabilitation und Palliation

1 Grundlagen der Anatomie und Physiologie

Dominik von Hayek

1.1 Zelle als Grundbaustein

Definition

Die Zelle ist der Grundbaustein des Organismus, die kleinste lebensfähige Einheit aller Lebewesen.

Der Körper eines erwachsenen Menschen besteht aus bis zu 10 Billionen (= 10 000 000 000 000) Zellen. Um ihre speziellen Funktionen zu erfüllen, haben die Zellen ein sehr unterschiedliches Aussehen und schließen sich jeweils zu Zellverbänden, dem Gewebe, zusammen. Trotz ihrer unterschiedlichen Formen findet man bei allen Zellen aber gemeinsame Bestandteile (▶ Abb. 1.1).

Die Zellmembran grenzt die Zelle nach außen ab und umschließt das Zytoplasma, den Zellinhalt mit Zellwasser (Zytosol). Neben anderen Zellorganellen spielt der Zellkern eine wichtige Rolle: Er steuert den Zellstoffwechsel und die Vererbung.

Abb. 1.1Die Zelle. Darstellung einer Zelle mit Zellmembran, Zellkern und Zellorganellen

1.1.1 Zellmembran und Zytoplasma

Zellmembran Die Zellmembran bildet die Hülle um den Zellleib (▶ Abb. 1.2). Sie ist die Grundvoraussetzung für ein eigenes Zellleben. Sie trennt das Zellinnere vom „Außen“. Für die Funktion und das Überleben der Zelle ist es unerlässlich, dass diese Schutzhülle nicht starr und undurchlässig, sondern flexibel und für bestimmte Stoffe durchlässig ist. Sie besteht aus 2 Schichten mit Fettmolekülen (Phospholipiden) und enthält spezielle Kanäle (Carrier-Proteine), die je nach Bedarf Stoffe in die Zelle hinein bzw. wieder heraustransportieren. In der Zellmembran findet man auch Rezeptoren, an die sich nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip jeweils passende Botenstoffe (z. B. Hormone) binden können, siehe ▶ Abb. 1.12. Die Zelle kann so Informationen aus dem gesamten Körper erhalten und sich als Antwort darauf verändern. Das Hormon Insulin z. B. bindet an Rezeptoren in der Zellmembran und bewirkt eine Aufnahme von Zucker in die Zellen. Die Funktion der Zellmembran besteht also gleichzeitig im Schutz vor der äußeren Umgebung und der Verbindung der Zelle nach außen.

Zusatzwissen

Wird die Zellmembran beschädigt, so dringt unkontrolliert Flüssigkeit ein und gefährdet das Überleben der Zelle. Diese Tatsache macht man sich bei der Anwendung von Antibiotika zunutze, die die Bildung der Zellmembran von Bakterien stören und sie dadurch abtöten.

Zytoplasma Im Zellinneren (Zytoplasma) befindet sich neben den Zellorganellen die Zellflüssigkeit (Zytosol). Sie besteht zum überwiegenden Teil aus Wasser, in dem zahlreiche Moleküle wie Elektrolyte, Eiweiße, Fette und Kohlenhydrate gelöst sind. Das Zytoplasma dient dem Stoff- und Informationsaustausch innerhalb der Zelle. Durch die unterschiedliche Durchlässigkeit der Zellmembran und aktive Transportprozesse (z. B. „Elektrolyt-Pumpen“) können für viele Stoffe Konzentrationsunterschiede zwischen dem Zellinneren und der Zellumgebung aufrechterhalten werden.

Abb. 1.2Schematische Darstellung der Zellmembran. In der Phospholipiddoppelschicht sind Transporteiweiße (Carrier-Proteine) eingebaut, die verschiedene Stoffe in die Zelle transportieren können. Auf der rechten Seite wird ein Kanal durch die Bindung eines Botenstoffs an einen Rezeptor geöffnet.

1.1.2 Zellorganellen

Im Zellinneren befinden sich die Zellorganellen. Dies sind kleinste Zellorgane, die jeweils ganz bestimmte Aufgaben haben und je nach der Zellfunktion unterschiedlich verteilt sind. Man unterscheidet

Mitochondrien,

Ribosomen,

endoplasmatisches Retikulum,

Zytoskelett,

Golgi-Apparat,

Zellkern.

Mitochondrien Die Mitochondrien sind die Kraftwerke der Zelle. Sie stellen die für das Überleben jeder Zelle notwendige Energie bereit. Ihre äußere Form ist oval mit einer doppelten Hülle (Membran), deren innerer Anteil zahlreiche Auffaltungen aufweist (▶ Abb. 1.3). Die Energiegewinnung erfolgt hauptsächlich durch Sauerstoff verbrauchende Zuckerverbrennung (aerobe Glykolyse). Der von den Mitochondrien erzeugte Energieträger ist das ATP (Adenosintriphosphat), das für verschiedene Prozesse in der Zelle verwendet werden kann. Zellen mit einem sehr hohen Energiebedarf (z. B. Muskelzellen) besitzen sehr viele Mitochondrien, träge Zellen (z. B. Knorpel- oder Bindegewebezellen) dagegen nur wenige.

Ribosomen Ribosomen sind kugelförmige Eiweißkörper, die in großer Zahl im gesamten Zytoplasma vorkommen und für die Eiweißherstellung (Proteinbiosynthese) zuständig sind. Sie sind die „Arbeiter“, die – vom Zellkern gesteuert – aus einfachen Aminosäuren komplizierte Proteine zusammenbauen.

Endoplasmatisches Retikulum Dabei handelt es sich um ein kanalartiges Netzwerk von Röhren innerhalb der Zelle, also um das „Straßennetz“ der Zelle. Hier findet der Stoff- und Flüssigkeitstransport innerhalb der Zelle statt. Sind die Außenwände des Hohlraumsystems mit Ribosomen bedeckt, so spricht man vom rauen endoplasmatischen Retikulum. Es enthält von den aufsitzenden Ribosomen gebildete „Exportproteine“, die für den Transport aus der Zelle bereitstehen.

Zytoskelett Das Zytoskelett ist das Gerüst der Zelle. Es besteht aus zahlreichen fadenförmigen Eiweißstoffen und trägt zur Stabilisierung des Zellkörpers bei. Auch die für manche Zellen charakteristischen Ausstülpungen der Zellmembran (z. B. beim Flimmerepithel, s. u.) werden vom Zytoskelett gebildet und dann Mikrovilli genannt. Bei manchen Zellen können sich die Eiweißfasern des Zytoskeletts aktiv bewegen (z. B. Muskelzellen), sie werden dann als Mikrofilamente bezeichnet.

Golgi-Apparat Dabei handelt es sich um Stapel aus flachen, scheibenförmigen Membransystemen, die sich meist in der Nähe des endoplasmatischen Retikulums und des Zellkerns befinden. Hier werden die von den Ribosomen produzierten Exportproteine verändert und in Transportbläschen eingeschlossen, die aus der Zelle wandern können. Es handelt sich also um die „Vertriebsabteilung“ der Zelle, in der die Proteine „verpackt“ und „verschickt“ werden.

Zellkern Der Zellkern ist die größte Struktur der Zelle, er ist von einer durchlässigen Doppelmembran umgeben und enthält neben der Zellkernflüssigkeit die Chromosomen und ein oder mehrere Kernkörperchen (Nukleolus). Auf den Chromosomen ist die gesamte Erbsubstanz des Organismus gespeichert. Der Zellkern ist das „Gehirn der Zelle“. Er enthält die vollständige genetische Information über den Organismus und dient der Steuerung der meisten Zellvorgänge.

Abb. 1.3Mitochondrium. Im Querschnitt des Mitochondriums sind die äußere und innere Membran sowie deren zahlreiche Auffaltungen zu sehen.

1.1.3 Chromosomen

1.1.3.1 Aufbau

Menschliche Zellkerne enthalten 46 Chromosomen in Form von 23 Chromosomenpaaren. Je ein Chromosom jeden Paares stammt von der Mutter und eines vom Vater. Jedes Chromosom liegt also doppelt vor (diploider Chromosomensatz). In bestimmten Phasen der Zellteilung (Metaphase) sind die Chromosomen auch im Lichtmikroskop sichtbar, sie zeigen dann eine typische X-Form. An der Kreuzungsstelle des „X“ findet man eine Einschnürung, das Zentromer, von dem jeweils 2 lange und 2 kurze Chromosomenarme abzweigen (▶ Abb. 1.4a). Ansonsten verteilen sich die Chromosomen als lose Fäden mit einem Durchmesser von ca. 2/1 000 000 mm im gesamten Zellkern und sind nicht einzeln erkennbar.

DNA Die Chromosomenfäden bestehen aus der Substanz DNA (Desoxyribonukleinsäure), die einen komplizierten Aufbau ähnlich einer Strickleiter hat. Die „Leitersprossen“ werden aus 4 stickstoffhaltigen Basen (Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin) gebildet, die schraubenförmig ineinander verwundenen „Leiterstränge“ aus Zucker- und Phosphatmolekülen (▶ Abb. 1.4c). Durch die unterschiedliche Reihenfolge der Basen wird wie bei einem Morsecode die Information über die genetische Erbsubstanz verschlüsselt.

Abb. 1.4Aufbau des Chromosoms. a Kurze und lange Chromosomenarme mit der zentralen Einschnürung am Zentromer, b Detailvergrößerung der aufgewickelten DNA-Stränge, c Aufbau eines DNA-Stranges : „Strickleiterform“ aus Zucker- und Phosphatmolekülen (Z und P) mit den 4 stickstoffhaltigen Basen Adenin (A), Thymin (T), Cytosin (C) und Guanin (G) als Sprossen.

Geschlechtschromosomen 2 der 46 Chromosomen sind Geschlechtschromosomen (Gonosomen). Sie entscheiden darüber, ob der Organismus eine weibliche oder männliche Geschlechtsausprägung hat. Es gibt 2 Varianten von Geschlechtschromosomen: das X-Chromosom und das kleinere Y-Chromosom.

Merke

Durch die Kombination XX wird eine weibliche, durch die Kombination XY eine männliche Geschlechtsausprägung kodiert.

Autosomen Die übrigen 44 Chromosomen (22 Chromosomenpaare) werden Autosomen genannt. Sie enthalten zusammen mit den Geschlechtschromosomen die gesamte Erbsubstanz des menschlichen Organismus (▶ Abb. 1.5).

Abb. 1.5Menschlicher Chromosomensatz. a Typische X-Form der Chromosomen während der Metaphase, b Anordnung der Chromosomenpaare nach ihrem Aufbau (Karyogramm); als Letztes sind die Geschlechtschromosomen X und Y dargestellt.

1.1.3.2 Proteinsynthese

Die meisten der komplizierten Zellvorgänge bestehen in der Herstellung von Eiweißen (Proteinsynthese) und werden durch die „genetische Gebrauchsanweisung“ in den Chromosomen gesteuert. Dieser Prozess besteht aus 2 Teilen: Transkription und Translation.

Transkription Als Erstes wird der Nukleinsäurenkode vom Chromosom abgelesen und eine Kopie der jeweiligen Nukleinsäuresequenz (mRNA) erstellt. Man nennt dieses Abschreiben einer bestimmten genetischen Information Transkription (▶ Abb. 1.6a).

Translation Diese „Abschrift aus der genetischen Gebrauchsanweisung“ (mRNA) wird aus dem Zellkern geschleust und von den Ribosomen als Bauplan für das jeweilige Eiweiß benutzt. Sie arbeiten die „Blaupause“ ab, indem sie entsprechend der Kodierung verschiedene Aminosäuren zusammenfügen, sodass ein Eiweiß entsteht. Man nennt diesen Vorgang Translation (▶ Abb. 1.6b). Bei dem entstandenen Eiweiß kann es sich dann z. B. um einen Baustein für die Zelle, einen außerhalb der Zelle wirkenden Botenstoff (z. B. Hormon) oder ein auszuscheidendes Sekret (bei einer Drüsenzelle) handeln.

Gene Als Gen bezeichnet man eine Nukleinsäurensequenz, die für die Kodierung (Beschreibung des Bauplans) eines bestimmten Einweißes nötig ist. Meist erstreckt sie sich über eine Länge von 300–400 Nukleinsäuren. Insgesamt befinden sich auf den 23 Chromosomenpaaren nach dem derzeitigen Wissen zwischen 20 000 und 30 000 Gene.

Zusatzwissen

Durch ein gemeinschaftliches, weltweites Forschungsprojekt, das „Human Genom Projekt“ ist es Wissenschaftlern mittlerweile gelungen, den gesamten genetischen Kode aller 46 Chromosomen zu entschlüsseln. Trotzdem sind noch viele Zusammenhänge über die normale Funktionsweise von Genen aber auch über die Auslösung von Krankheiten nicht genau erforscht.

Abb. 1.6Proteinsynthese. a Transkription: Der genetische Bauplan wird im Zellkern von der DNA auf eine Kopie (mRNA) übertragen. b Translation: An den Ribosomen wird die Nukleinsäuresequenz abgelesen und mithilfe von tRNA-Molekülen, die an einem Ende 3 Nukleinsäuren und am anderen Ende die durch sie kodierte Aminosäure tragen, in eine Aminosäuresequenz übersetzt.

1.1.4 Zellteilung

Die Fähigkeit der Körperzellen, sich zu teilen, ist nicht nur für die Fortpflanzung und das Wachstum eines Organismus notwendig, sondern auch, um im ausgewachsenen Organismus beschädigte oder zugrunde gegangene Zellen zu ersetzen. Zellteilung ist also ein lebensnotwendiger Prozess, der andauernd und in den meisten Teilen des Körpers stattfindet. Die Zellteilungsaktivität ist allerdings bei den einzelnen Geweben sehr unterschiedlich und nimmt im Alter immer mehr ab.

1.1.4.1 Mitose

Definition

Die Mitose ist die häufigste im Körper vorkommende Form der Zellteilung. Vor der Teilung in 2 erbgleiche Tochterzellen findet in der Mutterzelle eine Verdoppelung der Erbsubstanz (DNA) statt, da sonst in den entstehenden Zellen nur die Hälfte der Erbinformation vorhanden wäre.

Die Mitose ist unterteilt in 4 Phasen (▶ Abb. 1.7):

Prophase (Vorbereitungsphase): Die losen Chromosomenfäden im Zellkern verkürzen sich und nehmen Spiralform an. Die Kernhülle löst sich auf, die Zentriolen wandern zu den Kernpolen.

Metaphase (Mittelphase): Die in der Interphase (s. u.) verdoppelten Chromosomenhälften (Chromatiden) ordnen sich in der Mittelebene zwischen den beiden Zentriolen in ihrer typischen X-Form an.

Anaphase (Trennungsphase): Die Spindelfasern (Zentriolen) trennen die Chromatiden am Zentromer und ziehen sie auseinander in Richtung der Zellpole.

Telophase (Schlussphase): An beiden Polen befinden sich jeweils die identischen Chromosomensätze. Sie werden von einer neuen Kernhülle umgeben. Die Zellmembran schnürt sich in der Zellmitte ein und bildet so 2 getrennte, selbstständige Tochterzellen.

Interphase (Zwischenphase) Die Zellteilung stellt nur einen kurzen Zeitraum im Leben einer Zelle (zwischen 30 min und 1 h) dar. Dazwischen befindet sich die Zelle in der Ruhe- oder Zwischenphase, die einige Stunden bis viele Jahre anhalten kann. In dieser Phase findet die Verdoppelung der Chromosomen statt.

Abb. 1.7Mitose. a Prophase, b frühe Metaphase mit Auflösung der Zellkernmembran, c späte Metaphase : Zentriolen wandern zu den Zellpolen, d Anaphase : Die Chromatiden werden am Zentromer geteilt und von den Zentriolen zu den Polen hin auseinandergezogen, e–f endgültige Teilung der Zellen in der Telophase.

1.1.4.2 Meiose

Definition

Die Meiose (Reduktions- oder Reifeteilung) ist eine Sonderform der Zellteilung bei männlichen und weiblichen Keimzellen, bei der der Chromosomensatz halbiert wird (▶ Abb. 1.8).

Damit bei der Befruchtung durch das Verschmelzen von männlicher und weiblicher Keimzelle nicht 92 Chromosomen in der Zelle entstehen, muss der Chromosomensatz der väterlichen und mütterlichen Zellen jeweils vorher bei der Bildung der Keimzellen halbiert werden (haploider Satz).

Der Ablauf der Meiose unterscheidet sich von der Mitose dadurch, dass die DNA auf den Chromosomen vor der Teilung nicht verdoppelt wird. Die entstehenden Keimzellen besitzen so nur einen einfachen Chromosomensatz (23 Chromosomen). Außerdem wird die väterliche und mütterliche Erbsubstanz in der Keimzelle durch Austausch von Chromosomenstücken verändert („Crossing over“), sodass sich unterschiedliches Erbmaterial bilden kann.

Abb. 1.8Meiose. In der Prophase I können während des „Crossing over“ Bruchstücke zwischen den Chromosomen eines Paares ausgetauscht werden. So entsteht eine völlig neue Erbinformation. In der Metaphase I werden nicht – wie in der Mitose – die Chromatiden eines Chromosoms, sondern die beiden Chromosomen eines Paares am Zentromer auseinandergezogen. In der Anaphase I befinden sich deshalb an jedem Zentriol nur 23 Chromosomen. Die Trennung der Chromatiden erfolgt dann in der Anaphase II. Dadurch entstehen Keimzellen mit einem einfachen (haploiden) Chromosomensatz.

1.2 Chemische Zusammensetzung des Körpers

Der menschliche Körper ist aus organischen und anorganischen Bestandteilen zusammengesetzt.

Definition

Organische Stoffe sind chemische Verbindungen, die hauptsächlich aus Kohlenstoff- und Wasserstoffatomen bestehen. Sie bilden die wichtigste Voraussetzung für menschliches, tierisches oder pflanzliches Leben. Alle wichtigen Zell- und Körperbestandteile wie Fette, Eiweiße und Kohlenhydrate enthalten organische Verbindungen. Anorganische Stoffe enthalten keine oder einzelne Kohlenstoffatome. Typische Vertreter sind Salze, Wasser oder Gase wie CO2.

1.2.1 Anorganische Stoffe

1.2.1.1 Wasser

Alle Stoffwechselvorgänge sind auf Wasser als Reaktionspartner angewiesen, es ist ein wichtiger Baustein für viele Eiweiß- und Zuckermoleküle sowie viele Zellorganellen. Es dient als Lösungsmittel für die meisten organischen und anorganischen Substanzen oder Stoffwechselprodukte. Durch das Verdunsten von Wasser auf der Haut und den dadurch erzielten Kühlungseffekt wirkt Wasser als Wärmeregulator.

Flüssigkeitsbilanz Aufgrund dieser lebensnotwendigen Funktionen ist der Organismus auf eine ausgeglichene Flüssigkeitsaufnahme und -abgabe angewiesen, wobei der Wasserbedarf unterschiedlich sein kann (z. B. erhöhter Flüssigkeitsbedarf bei Fieber). Unter normalen Bedingungen versucht der Organismus, den täglichen Wasserverlust durch die entsprechende Aufnahme von Flüssigkeit zu ersetzen. Man spricht von einer ausgeglichenen Flüssigkeitsbilanz. Die Steuerung des Flüssigkeitshaushaltes erfolgt hauptsächlich über die Niere und wird in ▶ Kapitel 16 ausführlich dargestellt.

Flüssigkeitsräume Der Körper des Menschen besteht zu ca. 2/3 aus Wasser, wobei der Anteil mit dem Lebensalter abnimmt – von 75 % beim Neugeborenen auf unter 60 % beim älteren Menschen. Diese Flüssigkeit besteht wiederum zu 2/3 aus Zellwasser (intrazelluläre Flüssigkeit) und zu 1/3 aus extrazellulärer Flüssigkeit, die sich aus dem Blutplasma (flüssiger Blutbestandteil), der Zwischenzellflüssigkeit und den transzellulären Flüssigkeiten (z. B. Gehirn- oder Gelenkflüssigkeit) zusammensetzt. Vor allem über den Zwischenzellraum (Interstitium) findet ein reger Flüssigkeits- und Stoffaustausch zwischen den Zellen und dem Blutkreislauf statt (▶ Abb. 1.9).

Abb. 1.9Körperflüssigkeiten. Die Verteilung der Flüssigkeiten im Körper.

1.2.1.2 Mineralstoffe und Elektrolyte

Definition

Mineralstoffe sind lebenswichtige, anorganische Elemente, die dem Körper von außen zugeführt werden müssen. Häufig liegen sie als im Körperwasser gelöste Teilchen mit elektrischer Ladung vor. Man nennt sie dann Elektrolyte (umgangssprachlich „Blutsalze“).

Aufgaben Mineralstoffe machen ca. 4 % des gesamten Körpergewichts aus. Sie werden über die Nahrung aufgenommen und über die Nieren und den Darm ausgeschieden. Sie sind im ▶ Kapitel 3 ausführlich beschrieben. Aufgrund ihres chemischen Aufbaus können sie im Wasser gelöst als geladene Teilchen (Elektrolyte) vorliegen und stellen die Grundlage für lebenswichtige Vorgänge wie Nervenreizleitung und Muskelerregung dar. Über die Konzentration der Mineralstoffe im Wasser wird der Teilchendruck sowohl innerhalb der Zelle als auch in den anderen Flüssigkeitsräumen des Körpers geregelt.

Die wichtigsten Elektrolyte sind:

Natrium (Na+): häufigstes Elektrolyt des Extrazellulärraums, dient zur Regelung der Flüssigkeitsbilanz; wichtiger Bestandteil der Nervenreizleitung

Kalium (K+): häufigstes Elektrolyt innerhalb der Zellen, wichtig für die Erregung von Nerven und Herzmuskel

Chlorid (Cl-): wichtig für die Bildung von Salzsäure im Magen und den Säure-Basen-Haushalt

Kalzium (Ca++): wichtig für die Erregung von Nerven und Muskeln, Knochenbaustein

1.2.2 Organische Stoffe

1.2.2.1 Kohlenhydrate

Definition

Kohlenhydrate sind organische Verbindungen, die vom Körper zur schnellen Energiegewinnung benutzt werden.

Aufbau Kohlenhydrate können als Einfachzucker (Monosaccharide) wie Traubenzucker (Glukose) oder Fruchtzucker (Fruktose) vorkommen. Sie werden im Verdauungstrakt sehr schnell aufgenommen und können in den Zellen rasch zur Energiegewinnung verbrannt werden. Neben den Zweifachzuckern wie Milchzucker (Laktose) existieren Mehrfachzucker wie die Stärke (Amylose), eine in Pflanzen vorkommende Speicherform der Glukose. Sie muss im Verdauungstrakt erst zerlegt werden und wird deshalb langsamer von den Zellen aufgenommen.

Aufgaben Kohlenhydrate werden in den Mitochondrien aller Zellen des Körpers zur Energiebereitstellung unter Verbrauch von Sauerstoff verbrannt. Die vom Körper nicht benötigten Kohlenhydrate werden zum einen in der Form des Speicherzuckers Glykogen in Leber und Muskeln gespeichert, zum anderen von der Leber in Fette umgewandelt und im Fettgewebe gespeichert. Außerdem stellen Mehrfachzucker wichtige Zellbausteine dar und tragen zum Teilchendruck im Körperwasser bei.

1.2.2.2 Fette

Definition

Fette (Lipide) sind langkettige organische Verbindungen, die eine schlechte Löslichkeit in Wasser und eine gute Löslichkeit in organischen Verbindungen besitzen. Sie werden vom Körper sowohl zur Energiegewinnung als auch zur Energiespeicherung verwendet.

Aufbau Die Fette sind eine umfangreiche Gruppe von organischen Verbindungen, die sowohl mit der Nahrung aufgenommen als auch vom Körper selber (z. B. Cholesterin) gebildet werden können. Ein typisches in der Nahrung vorkommendes Beispiel sind die Neutralfette (Triglyzeride), die aus Glyzerin und 3 Fettsäuremolekülen zusammengesetzt sind (▶ Abb. 1.10).

Aufgaben Fette haben folgende Aufgaben:

Energiequelle: Nach ihrer Zerlegung im Verdauungstrakt werden viele Fette in der Leber umgebaut, damit sie von den Zellen verbrannt werden können.

Energiespeicherung: Nimmt der Körper mehr Energieträger (Kohlenhydrate, Fette oder Eiweiße) auf als benötigt, so werden diese in Form von Fettgewebe gespeichert.

Baustein: Lipide sind wichtige Bausteine für alle Zellmembranen und das Nervengewebe. Cholesterin z. B. ist eine Vorstufe für die Gallensäure und viele Hormone.

Trägersubstanz: Viele für den Körper wichtige, fettlösliche Vitamine können nur in Anwesenheit von Fetten aufgenommen und transportiert werden.

Schutzfunktion: Fettgewebe dient als mechanischer Schutz und zur Wärmeisolation.

Abb. 1.10Triglyzeride. Sie setzen sich aus Glyzerin und 3 Fettsäuren zusammen.

1.2.2.3 Eiweiße (Proteine)

Definition

Proteine sind große organische Verbindungen, die aus mindestens 100 Aminosäuren gebildet werden. Sie sind wichtige Grundbausteine des menschlichen Körpers. Aminosäuren sind verhältnismäßig kleine organische Verbindungen mit einer gleichartigen Grundstruktur. Im menschlichen Körper kommen 20 verschiedene Aminosäuren vor, von denen der Körper 12 selbst produzieren kann. Die übrigen 8 sogenannten essenziellen Aminosäuren müssen mit der Nahrung aufgenommen werden.

Aufbau Die meisten Bestandteile der Zellen bzw. des menschlichen Organismus sind aus Proteinen aufgebaut. Sie werden in den Zellen von Ribosomen aus einzelnen Aminosäuren „zusammengebaut“ – gesteuert durch den Zellkern. Proteine können große und kompliziert aufgebaute Moleküle sein und sehr unterschiedliche, spezifische Aufgaben erfüllen (▶ Abb. 1.11).

Aufgaben Proteine haben folgende Aufgaben:

Enzyme: Proteine fungieren in Form von Enzymen als „Arbeiter“ der Zelle.

Transport: Viele lebenswichtige Substanzen können nur mithilfe von Proteinen im Blut bzw. in der Zelle transportiert werden (z. B. Eisen, Vitamine).

Baustein: Proteine sind Bausteine für alle wichtigen Zellstrukturen. Die aktive Beweglichkeit des Muskelgewebes beruht auf der besonderen Anordnung speziell geformter Proteine.

Teilchendruck: Proteine bilden einen wichtigen Bestandteil des Teilchendrucks im Blutplasma.

Immunabwehr: Die vom Körper zur Immunabwehr produzierten Antikörper bestehen aus komplizierten Proteinen.

Energiequelle: Sowohl das mit der Nahrung aufgenommene Eiweiß als auch die körpereigenen Proteine können zur Energiegewinnung verbraucht werden. Allerdings ist dieser Stoffwechsel sehr kompliziert und liefert nur wenig Energie.

Merke

Proteine sind an allen wichtigen Vorgängen des Organismus beteiligt.

Abb. 1.11Aufbau von Proteinen. a Proteine sind Knäuel aus Hunderten von Aminosäuren. b Die einzelnen Aminosäuren sind über Brücken (rot) miteinander verbunden. c Aminosäuren haben eine gleichartige Grundstruktur (blau) und einen variablen Rest (grün), der sie unterscheidet.

Enzyme

Definition

Enzyme sind lebenswichtige Proteine, die im gesamten Körper chemische Reaktionen beschleunigen, ohne dabei selber verändert zu werden.

Aufbau Enzyme sind sehr große Eiweißmoleküle, in deren Anwesenheit chemische Reaktionen beschleunigt werden. Ohne sie würden die meisten Stoffwechselvorgänge im Körper so langsam ablaufen, dass der Organismus nicht mehr lebensfähig wäre. Häufig wird ein Helferstoff, das Koenzym, benötigt, das sich während der chemischen Reaktion verändert bzw. abgebaut wird (▶ Abb. 1.12). Bei vielen Koenzymen handelt es sich um Vitamine, die zum großen Teil über die Nahrung aufgenommen werden müssen und aufgrund dieser Funktion lebenswichtig sind.

Aufgaben Jedes Organ und jedes Gewebe besitzt entsprechend seinen spezifischen Aufgaben bestimmte „eigene“ Enzyme, von denen sich die meisten im Blut laborchemisch bestimmen lassen. Damit lassen sich z. B. Organschäden oder Fehlfunktionen feststellen. Typische Beispiele für organspezifische Enzyme im Blut:

Kreatinkinase (KK-MB) im Herzmuskelgewebe

Transaminasen (Gamma-GT, GOT und GPT) in der Leber

Lipase in der Bauchspeicheldrüse

Abb. 1.12Enzymwirkung. a Das Substratmolekül bindet nach dem „Schlüssel-Schloss-Prinzip“ an das Enzym. Dabei wird mithilfe des Koenzyms eine chemische Bindung im Substratmolekül aufgebrochen. b Das Substratmolekül bindet nach dem „Schlüssel-Schloss-Prinzip“ an das Enzym. Dabei wird mithilfe des Koenzyms eine chemische Bindung im Substratmolekül aufgebrochen. c Die entstehenden Reaktionsprodukte trennen sich gemeinsam mit dem verbrauchten Koenzym wieder vom Enzym, das während des ganzen Vorgangs unverändert bleibt.

1.3 Gewebelehre (Histologie)

Definition

Gewebe sind Zellverbände, die eine gemeinsame spezielle Bauart und eine ähnliche Funktion haben.

Gewebetypen Man unterscheidet

Epithelgewebe,

Binde- und Stützgewebe,

Muskelgewebe,

Nervengewebe.

Alle Organe des Körpers setzen sich jeweils in unterschiedlichem Maße aus diesen 4 Gewebetypen zusammen. Es ist vergleichbar mit einem Legobaukasten, der 4 grundsätzlich verschiedene Typen von Bausteinen enthält, aus denen man alle Organe „bauen“ kann.

1.3.1 Epithelgewebe

Definition

Epithelgewebe sind flächenhafte Zellverbände, die die Körperoberfläche nach außen, aber auch viele Hohlräume des Körpers nach innen bedecken. Es ist der häufigste Zelltyp im Körper mit sehr vielfältigen Funktionen.

Aufbau und Funktion Epithelgewebe können ein sehr unterschiedliches Aussehen haben (▶ Abb. 1.13), die Gemeinsamkeit besteht in ihrer Eigenschaft als Deckgewebe an einer Oberfläche. Auf der von der Oberfläche abgewandten Seite werden sie durch die Basalmembran von anderen Gewebetypen abgegrenzt. Die unterschiedliche Form des Epitheltyps entspricht seiner jeweiligen Funktion. So muss die äußere Haut Schutz gegen mechanische, chemische und thermische Beanspruchung geben. Deshalb ist sie mehrschichtig mit einer robusten Hornschicht an der Oberfläche versehen. Demgegenüber besteht das Endothel z. B. in einem Lungenbläschen (Alveole) aus einem feinen, einschichtigen Epithel, das durchlässig für Sauerstoff ist.

Abb. 1.13Epithelgewebe. Die Epithelgewebe sind je nach Funktion unterschiedlich aufgebaut.

1.3.1.1 Drüsengewebe

Abb. 1.14Drüsengewebe. Schematische Darstellung eines Drüsenepithels.

1.3.2 Binde- und Stützgewebe

Definition

Zum Binde- und Stützgewebe gehören sehr unterschiedliche Gewebetypen, deren Gemeinsamkeit die Funktion als mechanischer Schutz ist und deren charakteristischer Bestandteil langgestreckte Eiweißfasern (z. B. Kollagenfasern) sind.

Man unterscheidet

lockeres Bindegewebe (umhüllt Nerven und Blutgefäße, ▶ Abb. 1.15),

straffes Bindegewebe (z. B. Hirnhaut, Organkapseln, Muskelsehnen),

retikuläres (netzartiges) Bindegewebe (z. B. Gewebegerüst in Milz oder Leber),

Fettgewebe,

Knorpelgewebe,

Knochengewebe.

Abb. 1.15Lockeres Bindegewebe. a Mikroskopisches Schnittbild. b Schematischer Aufbau mit mehrschichtigen, gefalteten Kollagenfasern und vereinzelten elastischen Fasern.

Fettgewebe Spezialisierte Form des retikulären Bindegewebes aus kugelförmigen Fettzellen (Lipozyten, ▶ Abb. 1.16). In diesen Zellen kann bei Überschuss von Kohlenhydraten oder Fetten im Blut Energie in Form von Speicherfett gespeichert werden. Daneben dient Fettgewebe in bestimmten Regionen als Baufett zur Polsterung und Wärmeisolation (z. B. am Gesäß, im Nierenlager oder im Gesicht).

Abb. 1.16Fettgewebe. a Das Gewebe besteht aus zahlreichen kugeligen Fettzellen (Lipozyten), die jeweils einen Fetttropfen enthalten. b Elektronenmikroskopische Aufnahme.

Knorpelgewebe Es ist flexibel und sehr widerstandsfähig gegenüber Scherkräften und ist deshalb zur Abdämpfung von mechanischen Belastungen geeignet. Es ist schlecht durchblutet, wenig stoffwechselaktiv und daher bei Abnutzung und Verletzungen nur schlecht regenerationsfähig. Kennzeichnend für das Knorpelgewebe sind die abgerundeten Knorpelzellen (Chondrozyten), die in der Knorpelgrundsubstanz verteilt liegen (▶ Abb. 1.17). Vorkommen im Körper:

Skelettsystem: Gelenkknorpel über den Gelenkflächen, Zwischenwirbelscheiben (Bandscheiben), Gelenkzwischenscheiben (z. B. Meniskus)

Kopf: Ohrmuschel, Nasenscheidewand

Atemwege: Kehlkopf, Luftröhre (Trachealspangen)

Knochengewebe: Knorpel ist Vorstufe bei der Knochenentwicklung

Abb. 1.17Knorpelgewebe. Mikroskopischer Schnitt aus dem Rippenknorpel: gruppenförmige Anordnung (Chondron) der abgerundeten, ovalen Knorpelzellen (Chondrozyten) in der glasigen Knorpelgrundsubstanz.

Knochengewebe Knochengewebe ist ein sehr widerstandsfähiges Gewebe und besitzt hohe Druck- und Zugfestigkeit. Es ist das Baumaterial des Skelettsystems. Aufbau und Wachstum des Knochengewebes sind ausführlich im ▶ Kapitel 10 beschrieben.

1.3.3 Muskelgewebe

Definition

Muskelzellen können durch elektrische Reize erregt werden und sich als Reaktion darauf verkürzen (kontrahieren). Mit dem Muskelgewebe wird der Körper aktiv bewegt (▶ Abb. 1.18).

Abb. 1.18Muskelaufbau. a Querschnitt durch den Skelettmuskel, b Detailvergrößerung der Muskelfasern, c Aufbau der Muskelzelle.

Glatte Muskulatur Sie bildet einen großen Teil der Wände von Hohlorganen, z. B. in Magen-Darm-Trakt, Blutgefäßsystem oder harnableitenden System. Sie besteht aus spindelförmigen Muskelzellen in wenig geordneten Schichten mit einer Länge von bis zu 0,05 mm. Die Steuerung der Muskelkontraktionen erfolgt unwillkürlich (d. h. nicht bewusst) durch das vegetative Nervensystem. Die Muskeln ziehen sich meist wellenförmig (peristaltisch), langsam und sehr ausdauernd zusammen (▶ Abb. 1.19a).

Quer gestreifte Muskulatur Muskulatur des Bewegungsapparats und der Gesichts- und Schlundmuskulatur. Sie besteht aus gleichmäßig angeordneten, faserförmigen Muskelzellen mit zahlreichen Zellkernen pro Zelle und einer Länge von bis zu mehreren Zentimetern. Unter dem Mikroskop erkennt man durch die regelmäßige Anordnung der Eiweißfasern die charakteristische Querstreifung. Quer gestreifte Muskulatur kontrahiert rasch und kräftig und ist schnell ermüdbar (▶ Abb. 1.19b).

Herzmuskulatur Sonderform des quer gestreiften Muskelgewebes mit Eigenschaften sowohl der quer gestreiften als auch der glatten Muskulatur: rasche und kräftige Kontraktion und sehr ausdauernd. Mikroskopisch erkennt man eine regelmäßige Querstreifung mit zentralen liegenden Zellkernen (▶ Abb. 1.19c).

Abb. 1.19Muskelgewebe. a Glatte Muskulatur, b Skelettmuskulatur, c Herzmuskel.

1.3.4 Nervengewebe

Definition

Nervenzellen können über elektrische Erregungsleitung Sinneseindrücke weiterleiten, Informationen verarbeiten und Muskeln erregen. Da sich die spezialisierten Nervenzellen nicht selbstständig ernähren oder stützen können, gibt es eigene Nervenstützzellen, die Gliazellen.

Das Nervengewebe ist in ▶ Kapitel 19 ausführlich beschrieben.

1.3.5 Organe und Organsysteme

Der Körper besteht aus den verschiedenen Organen. Jedes Organ hat eine bestimmte Funktion und ist dementsprechend aus einer speziellen, passenden Kombination von unterschiedlichen Geweben aufgebaut. Die Hauptaufgabe des Organs Herz ist z. B. das „Pumpen“. Dementsprechend besteht es hauptsächlich aus Muskelgewebe und „Ventilen“ (Herzklappen aus Bindegewebe).

Als Organsystem bezeichnet man mehrere Organe, die zusammenwirken und eine bestimmte gemeinsame Funktion erfüllen. Damit der Körper mit Blut versorgt werden kann, braucht er zusätzlich zum Herzen ein Transportsystem: die Gefäße. Dieses Organsystem bezeichnet man dann als das Herz-Kreislauf-System. Weitere Beispiele für Organsysteme mit ihren Funktionen:

Verdauungstrakt: Verdauung von Nährstoffen und Ausscheidung von Stoffwechselendprodukten

Hormonsystem: Regulation wichtiger Körperfunktionen

Haut: mechanischer Schutz, Körpertemperaturregulation

Atmungssystem: Aufnahme von Sauerstoff, Abgabe von Kohlendioxid

Immunsystem: Abwehr von körperfremden Stoffen

Bewegungsapparat: ermöglicht sowohl Halt als auch Beweglichkeit des Körpers

Harntrakt: Flüssigkeits- und Mineralstoffausscheidung

Geschlechtsorgane: Sexualität und Fortpflanzung

Nervensystem: Bewusstsein, Sinneswahrnehmung, Steuerung der Bewegung

2 Physiologie des Alterns

Dominik von Hayek

2.1 Was ist Altern?

2.1.1 Alter

Definition

Nach Definition der Weltgesundheitsbehörde (WHO) gilt als „alt“, wer das 61. Lebensjahr begonnen hat. Es wird zwischen „jungem Alter“ (Menschen zwischen 60 und 74) und „höherem Alter“ (ab 75 Jahren) unterschieden.

Da dies eine willkürliche Festlegung ist, unterscheidet man zwischen dem chronologischen (biografischen) Alter in Lebensjahren und dem biologischen Alter, welches die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit sowie die gesundheitliche Situation eines Menschen beinhaltet. Biologisches und chronologisches Alter können auseinanderfallen (▶ Abb. 2.1): Unter den Begriffen „vorgealtert“ oder „greisenhaft“ versteht man Menschen mit einem höheren biologischen als chronologischen Lebensalter. Zum Beispiel einen 52-jährigen Mann mit langjährigem Alkoholmissbrauch und zahlreichen Organschädigungen. Mit den Begriffen „rüstig“ oder „jünger wirkend“ bezeichnet man Menschen mit einem niedrigeren biologischen als chronologischen Lebensalter. Zum Beispiel eine 88-jährige Rentnerin, die regelmäßig auf Reisen geht, längere Wanderungen unternimmt und eine vor 3 Jahren notwendig gewordene große Hüftgelenkoperation gut überstanden hat.

Merke

Altern ist kein exakt festlegbarer Begriff, sondern ein biologischer, psychischer und sozialer Prozess.

Gerade in den letzten Jahrhunderten haben sich die Vorstellungen über den Altersbegriff enorm verändert, unter anderem durch die extrem gestiegene Lebenserwartung der Bevölkerung, die gewandelten Lebensbedingungen und den erheblich veränderten Altersaufbau der Gesellschaft.

Abb. 2.1Alter ist nicht gleich Alter. Nicht das Alter hat den Menschen zu dem gemacht, was er ist, sondern das Leben.

(© iStock.com/Steve Cole – christie & cole stu)

2.1.1.1 Lebenserwartung

Definition

Die Lebenserwartung ist die durchschnittliche Lebensdauer für ein bestimmtes Ausgangsalter bei gegebener Sterblichkeit. Sie ist ein häufig gebrauchtes Maß zur Einschätzung des Alterns einer Bevölkerung, meist nach Männern und Frauen unterschieden.

Die mittlere Lebenserwartung in Deutschland ist von 47 Jahren bei Frauen und 44 Jahren bei Männern im Jahre 1900 auf 82,73 Jahre bei Frauen und 77,72 Jahre bei Männern im Jahre 2011 angestiegen. Dies hat nicht nur eine generelle Zunahme des Anteils an alten Menschen in der Gesellschaft, sondern auch Veränderungen in dieser Gruppe zur Folge. So wuchs die Gruppe der über 80-Jährigen (Hochbetagten) von 1,5 Mio. (entspricht 2 % der Bevölkerung) im Jahr 1970 auf über 4,3 Mio. (5,3 % der Bevölkerung) im Jahr 2010 bei ansonsten weitgehend gleich bleibender Bevölkerungszahl. Diese Entwicklung wird sich nach allen gängigen statistischen Prognosen fortsetzen, sodass im Jahr 2020 ca. 8 % der Bevölkerung also 6 Mio. älter als 80 Jahre sein werden, im Jahr 2050 ca. 15 % also 10,2 Mio.

2.1.1.2 Alterungsprozesse der Zelle

Der biologische Alterungsprozess, der sich an allen Organsystemen bemerkbar macht, hat seine Grundlage in den Veränderungen in jeder einzelnen Zelle des Körpers. Dieser Prozess ist bis heute noch nicht genau erklärbar und es gibt zahlreiche Modelle, die wohl nebeneinander wirken.

Theorie der „genetischen Regulation“ Durch die Aktivierung bestimmter Gene in den menschlichen Zellen werden die einzelnen Entwicklungs- und Alterungsphasen gesteuert. Der Alterungsprozess wird durch sog. Geronto-Gene verursacht.

Zellschädigungstheorie Bei den Stoffwechselprozessen in der menschlichen Zelle können Stoffe (sog. Radikale) entstehen, die die Zellhülle, Enzyme oder die Erbsubstanz (DNA) schädigen. Diese Zellschäden nehmen im Laufe der Zeit zu, können nicht ausreichend repariert werden und führen so zu einer Funktionseinschränkung der Zelle.

Funktionelle Reserven Im Erwachsenenalter besitzt der menschliche Organismus in allen Organsystemen erhebliche Reserven, um auf Belastungen zu reagieren; bei den meisten Organen liegen diese um das 2–5-Fache über der normalen Leistung. Diese Reserven sind durch den Alterungsprozess des Organismus als Erstes betroffen, weswegen sich Funktionseinbußen erst bei starken Belastungen bemerkbar machen. Für das Verständnis des Alterns ist es wichtig zu wissen, dass das Gleichgewicht des Organismus unter normalen Bedingungen nicht beeinträchtigt ist, der ältere Organismus aber gegenüber Schädigungen oder in extremen Lebensbedingungen empfindlicher und weniger anpassungsfähig wird. Die einzelnen Organsysteme sind sehr unterschiedlich von den Funktionseinschränkungen betroffen, der Unterschied von Individuum zu Individuum ist sehr groß.

Durchschnittliche Abnahme der Organfunktion bzw. der Organreserven bei 75- bis 80-Jährigen im Vergleich zu 30-Jährigen (= 100 %; nach Sloane):

Nervensystem: Abnahme des Gehirngewichts auf 56 %, Verringerung der Anzahl der Nervenfasern auf 63 %

Muskeln: Verringerung der Muskelmasse auf 70 %, Reduzierung der maximalen kurzfristigen Spitzenleistung auf 40 %

Herz-Kreislauf-System: Abnahme der maximalen Herzfrequenz auf 75 %, Rückgang des Herzschlagvolumens in Ruhe auf 70 %

Lunge: Verminderung der ▶ Vitalkapazität auf 56 %

Blut: Reduzierung der maximalen Sauerstoffaufnahme im Blut auf 40 %

Nieren: Abnahme der Anzahl der Nierenkörperchen auf 65 %

Wasserhaushalt: Verringerung des Gesamtkörperwassers auf 82 %

Merke

Der Prozess des biologischen Alterns stellt keine Krankheit dar, sondern einen natürlichen Prozess, der den menschlichen Organismus empfindlicher für Belastungen und Krankheiten werden lässt.

2.2 Veränderungen der einzelnen Organsysteme

Folgende Begriffe werden im Zusammenhang mit den Alterungsvorgängen der Organe und Gewebe häufig verwendet:

Degenerative Veränderungen: Mit dem Begriff degenerativ werden Veränderungen eines Organs bezeichnet, die durch Abnutzung oder eine schädigende Wirkung von außen auftreten. Diese Schäden können nicht ausreichend repariert oder kompensiert werden und haben Funktionseinbußen zur Folge. Typisches Beispiel sind die Abnutzungserscheinungen an stark belasteten Gelenken.

Zelltod: Auch wenn äußere Einflüsse eine große Bedeutung haben, irgendwann geht jede Zelle von alleine zugrunde. Man weiß heute, dass in den Chromosomen Vorgaben für die Lebensdauer der Zellen verschlüsselt sind (sog. Apoptose- oder „Selbstzerstörungsgene“). Je mehr Zellen eines Organs untergehen, desto mehr sinkt seine Funktionskraft.

Atrophie: Damit ist die Verkleinerung und Rückbildung von Organen oder Geweben gemeint. Ursache kann entweder ein Zelluntergang oder eine fehlende Inanspruchnahme (z. B. Muskelschwund bei Bettlägerigkeit) sein.

Fibrose: Eine andere Folge der Organschädigung kann der Umbau des ursprünglichen Gewebes in Bindegewebe sein. Das eigentliche Gewebe wird von Zellgiften, Entzündungen oder Überlastung geschädigt und wird durch Bindegewebe ersetzt, z. B. bei der Leberzirrhose.

2.2.1 Herz-Kreislauf-System

Die Altersveränderungen im Herz-Kreislauf-System haben ihre Hauptursache nicht im Herz selbst, sondern in der abnehmenden Elastizität der Arterien im Kreislaufsystem. Durch Ablagerungen in der Gefäßwand im Rahmen einer ▶ Arteriosklerose, die in unterschiedlichem Ausmaß bei allen Menschen auftritt, geht die Dehnbarkeit der Arterien zurück. Wie bei einem starr gewordenen Gartenschlauch steigt damit der Druck im Gefäßsystem (sowohl diastolisch als auch systolisch), gegen den das Herz das Blut durch den Körper pumpt. Als Reaktion kommt es zur Zunahme der durchschnittlichen Herzmuskeldicke in der linken Kammer (Ventrikel), was zu abnehmender Pumpleistung oder verminderter Blutversorgung durch die Herzkranzgefäße führen kann.

Am Herzen selbst nimmt die Empfindlichkeit für das Stresshormon Adrenalin und Noradrenalin ab, die maximale Herzfrequenz unter körperlicher Belastung sinkt von 200 pro Minute beim 20-Jährigen auf durchschnittlich 170 pro Minute beim 85-Jährigen. Deshalb muss bei Ausdauersport im Alter der Puls bei den Betroffenen beobachtet werden (▶ Abb. 2.2). Er sollte bei körperlicher Belastung nicht dauerhaft über 120 pro Minute ansteigen.

Eine weitere Folge ist die verlangsamte Reaktion des Kreislaufs auf Blutdruckabfall beim Aufrichten (orthostatische Dysregulation). Bei zu schnellem Aufrichten des Körpers aus der Horizontalen kann es zu Schwindel oder kurzen Ohnmachtzuständen kommen.

Abb. 2.2Sport im Alter. Sportliche Betätigung ist im Alter nichts Gefährliches, sondern hilft, z. B. die Arteriosklerose aufzuhalten.

(© MEV)

2.2.2 Atmungsorgane

Durch den Elastizitätsverlust des Lungengewebes und die zunehmende Starrheit des Brustkorbs kommt es zur Abnahme des Lungenvolumens und der ▶ Vitalkapazität. Insgesamt wird in den Lungen generell weniger Sauerstoff ins Blut aufgenommen, weshalb der Sauerstoffgehalt im Blut mit zunehmendem Alter immer niedriger wird.

Durch eine herabgesetzte Aktivität des Hustenreflexes und den Rückgang des Flimmerepithels im Bronchialsystem ist die Selbstreinigungsfunktion der Atemwege im Alter herabgesetzt, was bei allen Erkrankungen oder Infekten der Atmungsorgane beachtet werden sollte (Notwendigkeit für vermehrte Bronchialtoilette bei Atemwegsinfekten).

2.2.3 Nierenfunktion und Flüssigkeitshaushalt

Nieren Die Niere gehört zu den wenigen Organen des Menschen, bei denen es im Alter regelmäßig zu krankhaften Funktionseinschränkungen kommt, d. h. ältere Menschen haben keine normale Nierenfunktion mehr. Ab dem Erwachsenenalter nimmt die Zahl der Nierenkörperchen stetig ab und ist z. B. bei 80-Jährigen um ein Drittel gesunken. Aufgrund der enormen Reservekapazität der Nieren macht sich diese Abnahme der Nierenfunktion im Normalzustand noch nicht mit einer Zunahme der harnpflichtigen Substanzen im Blut bemerkbar.

Merke

Nieren mit einer eingeschränkten Funktion (also bei vielen älteren Menschen) reagieren extrem empfindlich auf Flüssigkeitsmangel. Schon nach wenigen Tagen mit Flüssigkeitsmangel (z. B. bei Dürsten, Fieber, Diarrhö) kann es zu einer akuten Niereninsuffizienz (Nierenversagen) kommen.

Flüssigkeitshaushalt Der Wassergehalt des Körpers sinkt von 60 % beim Erwachsenen auf unter 50 % beim älteren Menschen. Veränderungen im Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt machen sich also schneller bemerkbar. Neben der oben beschriebenen Abnahme der Nierenfunktion wird die Steuerung des Flüssigkeitshaushalts noch durch eine veränderte Durstregulation beeinträchtigt. Durch eine abnehmende Ausschüttung des Dursthormons ADH und eine herabgesetzte Empfindlichkeit dafür haben ältere Menschen generell bei Flüssigkeitsmangel ein vermindertes Durstgefühl (▶ Abb. 2.3). Und die Niere reagiert nur langsam mit einer verminderten Flüssigkeitsausscheidung. Insgesamt kommt es deshalb im Alter verhältnismäßig rasch und häufig zu gefährlichen Veränderungen im Elektrolythaushalt.

Pflegepraxis

Vorsicht: Im Gegensatz zum normalen Organismus kann beim älteren Patienten auch eine übermäßige Flüssigkeitszufuhr zu gefährlichen Komplikationen (z. B. Lungenödem bei einer bestehenden Herzinsuffizienz) führen, da die Niere in ihrer Ausscheidungskapazität eingeschränkt ist. „Viel trinken“ muss deshalb nicht immer ein guter Rat sein.

Harnwege Mit zunehmendem Alter nimmt die Ruhespannung der Harnblasenmuskeln zu und das Fassungsvermögen der Harnblase ab. Es kommt deshalb zu einem häufigeren – auch nächtlichen – Wasserlassen. Bei über 70 % der 70-jährigen Männer findet sich eine Prostatavergrößerung. Im Alter ist die Blasenentleerung generell verlangsamt und ihre Steuerung beeinträchtigt („Wasserlassen auf Raten“).

Abb. 2.3Flüssigkeitshaushalt. Ausreichendes Trinken ist im Alter besonders wichtig.

(©Jupiterimages)

2.2.4 Verdauungssystem

Im gesamten Verdauungstrakt kommt es im Alter zu einer Abnahme der Darmbewegungen und einer Verlangsamung des Transports im Verdauungstrakt, was letztendlich zu der im Alter sehr häufigen Verstopfung (Obstipation) führt. Durch die Rückbildung von Magen- und Darmschleimhaut werden weniger Verdauungssekrete gebildet. Die Nahrung wird deshalb weniger gut zerlegt, und zahlreiche Nahrungsbestandteile (wie Eisen, Kalzium, Vitamine) werden in geringeren Mengen aufgenommen. Durch die Abnahme der Stoffwechselleistung von Leber und Pankreas kann der ins Blut aufgenommene Zucker (Glukose) langsamer verarbeitet oder in die Zellen aufgenommen werden. Deshalb kann es häufiger zu Blutzuckerspitzen kommen.

Merke

Durch die herabgesetzte Entgiftungsfunktion der Leber im Alter ist der Abbau von Alkohol verlangsamt und seine Wirkung verstärkt!

2.2.5 Blut- und Immunsystem

Das blutbildende Knochenmark nimmt im Vergleich zu jugendlichen Erwachsenen beim älteren Menschen um ca. die Hälfte ab (▶ Abb. 2.4) und wird durch Fett bzw. Bindegewebe ersetzt. Beim gesunden älteren Menschen ergeben sich hieraus keine wesentlichen Veränderungen im normalen Blutbild. Allerdings ist die Antwort der körpereigenen Immunabwehr gegenüber Infektionen verlangsamt und herabgesetzt. Die bei Infektionen mit Bakterien typische Vermehrung der weißen Blutkörperchen (Leukozytose) kann bei älteren Menschen völlig fehlen, insgesamt wird der Körper anfälliger für Infektionen. Bei starken Blutverlusten werden die roten Blutkörperchen (Erythrozyten) langsamer nachgebildet, sodass eine Blutarmut (Anämie) schneller auftritt und länger anhält.

Abb. 2.4Knochenmark. Das blutbildende Knochenmark nimmt im Alter ab.

2.2.6 Bewegungsapparat

Muskulatur Die Muskelmasse nimmt vom Erwachsenenalter an stetig ab (bei 60- bis 70-Jährigen um ca. 30 %). Dadurch ergibt sich ein allgemeiner Kraft- und Leistungsverlust sowie die Neigung zu Fehlstellungen in den Gelenken, da die Stabilisierung durch die Muskeln geringer wird.

Knochen Durch Veränderungen im Knochenstoffwechsel kommt es zur Abnahme des Kalksalzgehalts der Knochen mit einer Verschmälerung des inneren Gerüsts der Knochen und einer erhöhten Knochenbrüchigkeit (Frakturgefahr; ▶ Abb. 2.5). Nach Frakturen benötigen Knochen im Alter mehr Zeit, um wieder auszuheilen. Durch das Versiegen der Östrogenproduktion in den Wechseljahren sind Frauen ab diesem Alter besonders von der Osteoporose (Knochenschwund) betroffen. Diese beiden Prozesse treten vor allem bei Ruhigstellung (Immobilisation) einer Extremität (z. B. durch eine Gipsschiene) sehr schnell und überaus häufig auf. An den Gelenken des Körpers kommt es sehr oft durch Abnutzungsprozesse zum Verlust des Knorpelüberzugs und damit zu einer schmerzhaften Funktionseinschränkung des Gelenks (Arthrose).

Abb. 2.5Frakturrisiko. Im Alter steigt das Risiko einer Knochenfraktur (hier des Oberschenkelhalses).

2.2.7 Haut

Das Unterhautfettgewebe (subkutanes Fettgewebe) bildet sich zurück. Die Haut wird schlaffer, weniger elastisch und empfindlicher für Verletzungen. Durch die Abnahme der Talgdrüsen ist die Haut des älteren Menschen trockener. An lichtexponierten Stellen kann es zu bräunlichen Pigmentflecken („Altersflecken“) kommen (▶ Abb. 2.6).

Abb. 2.6Altershaut. Durch Abnahme des Unterhautfettgewebes wird die Haut im Alter „schlaffer“. Gut zu erkennen sind auch die Altersflecken.

2.2.8 Nervensystem

Mit zunehmendem Alter kommt es im gesamten Nervensystem zum Verlust von Nervenzellen. Auch beim gesunden älteren Menschen treten die für die Alzheimer-Demenz typischen veränderten Nervenzellen („Alzheimer-Fibrillen“) auf, wenn auch im geringeren Ausmaß. Auch das Hirngewicht nimmt um 40–50 % ab (Altersatrophie), dafür nimmt der Gehalt an Wasser (Liquor) im Gehirn zu. Trotzdem ist ein Nachlassen der intellektuellen Fähigkeiten nicht alterstypisch, allerdings nimmt durch eine verzögerte Nervenleitgeschwindigkeit das Reaktionsvermögen ab. Die Folge sind langsamere Entscheidungen in unübersichtlichen Situationen, verzögerte Orientierung oder erschwerte Gedächtnisbildung.

2.2.9 Sinnesorgane

Augen Die durchschnittliche Sehschärfe nimmt aufgrund der Veränderungen an Augenlinsen, Hornhaut und Netzhaut im Alter ab. Ab dem 50. Lebensjahr kann es zur Altersweitsichtigkeit (Presbyopie) kommen. Auch die Lichtempfindlichkeit der Netzhaut sowie die Reaktionsfähigkeit der Pupillen lassen nach, was zu einer verzögerten Anpassung des Sehens im Dunkeln führt.

Gehör Die Fähigkeit, hohe Frequenzen wahrzunehmen, geht laufend zurück (Presbyakusis). Betroffen sind hierbei die höheren Töne und der obere Sprachbereich (Türklingel, Musik; ▶ Abb. 2.7).

Geschmack Es kommt zu einer Abnahme von Geruchs- und Geschmacksfähigkeit (vor allem für „salzig“), weshalb alte Menschen oft über den „langweiligen“ Geschmack des Essens klagen und nur mangelhaften Appetit zeigen. Das Durstempfinden ist herabgesetzt, sodass auch bei erheblichem Flüssigkeitsmangel nur wenig getrunken wird.

Abb. 2.7Altersschwerhörigkeit. Sie betrifft vor allem die höheren Frequenzen der Töne und Geräusche.

(© Photo Disc)

2.2.10 Hormonsystem

Die normalen Altersveränderungen im Hormonsystem betreffen bei beiden Geschlechtern in erster Linie die Geschlechtshormone. Diese Veränderungen haben Auswirkungen auf zahlreiche Organe, aber auch auf das subjektive Verarbeiten des „Älterwerdens“. Bei Frauen lässt zwischen dem 45. und 60. Lebensjahr die Bildung der Geschlechtshormone Östrogen und Progesteron in den Eierstöcken nach. In der Folge bleibt die Periodenblutung aus und die Fortpflanzungsfähigkeit endet. Die fehlende Wirkung des Östrogens kann noch andere Auswirkungen haben, z. B. eine Beckenbodenschwäche, eine Harninkontinenz sowie einen Anstieg des Risikos für Osteoporose oder Herzinfarkt. Im Rahmen dieser „Wechseljahre“ (Klimakterium) können weitere Symptome wie Hitzewallungen, Schwitzen, Schlafstörungen oder Kopfschmerzen auftreten, aber auch massive psychische Probleme wie Nervosität, Stimmungslabilität oder Depressionen. Häufig sind diese Beschwerden nicht nur rein hormonell begründet, sondern stark durch die individuelle Verarbeitung und die Ängste vor diesem neuen Lebensabschnitt beeinflusst.

Aber auch bei Männern gibt es zwischen dem 45. und 65. Lebensjahr „Wechseljahre“ mit hormonellen Veränderungen und ihren Auswirkungen auf Körper und Seele! Durch das Nachlassen der Testosteronproduktion in den Hoden kommt es häufig zu einer Prostatavergrößerung, nachlassender sexueller Lust und Erektionsstörungen. Sinkt der Testosteronspiegel stark ab, können Osteoporose, Fettgewebezunahme, Blutarmut oder Muskelabbau auftreten, aber auch Hitzewallungen, Stimmungsschwankungen oder Depressionen. Es ist sehr schwierig, den Krankheitswert eines erniedrigten Testosteronspiegels zu beurteilen, weil es bei allen Männern im Alter zu einem natürlichen Absinken kommt, ohne dass solche schwerwiegenden Symptome auftreten. In der Öffentlichkeit allerdings wird diesem Thema große Bedeutung zugemessen, siehe ▶ „Anti-Aging“.

Hormonersatztherapie Man hat schon vor 30 Jahren begonnen, bei Frauen in den Wechseljahren das Nachlassen der Östrogenproduktion durch die dauerhafte Gabe von Östrogen zu ersetzen. Ziel war eine Linderung der „Wechselbeschwerden“ und Senkung des Osteoporoserisikos. Leider hat sich in großen Studien gezeigt, dass das Brustkrebsrisiko durch diese Therapie stark ansteigt, sodass sie nur noch in Einzelfällen eingesetzt wird. Auch bei Männern gibt es verschiedene Ansätze, den Testosteronmangel durch die dauerhafte Einnahme von Testosteronabkömmlingen (DHEA) oder anderen Hormonen (Wachstumshormon, Melatonin) zu ersetzen und so die „Wechselbeschwerden“ zu lindern. Bis jetzt haben diese Ansätze nur selten einen wissenschaftlich nachweisbaren Erfolg gezeigt. Die Vorstellung, dass man den Prozess des Alterns durch die Einnahme von Hormonen aufhalten könne, scheint weder realisierbar noch den physiologischen Grundlagen des Organismus zu entsprechen.

Auch bei vielen anderen Hormonen lässt die Wirkung im Alter natürlicherweise nach, sei es durch die Abnahme der Empfindlichkeit für ein Hormon (z. B. beim Adrenalin) oder durch eine verminderte Ausschüttung durch die Hormondrüsen (z. B. bei der Schilddrüse). Die Auswirkungen sind allerdings nicht so schwerwiegend wie bei den Geschlechtshormonen.

2.2.11 Anti-Aging

Seit einigen Jahren nimmt dieser Begriff in der Öffentlichkeit einen großen Raum ein. Er gründet auf dem Bedürfnis vieler Menschen, den natürlichen Vorgang des Alterns, aber auch die gar nicht so natürlichen Verschleißerscheinungen des täglichen Lebens aufzuhalten oder sogar rückgängig zu machen. Dafür gibt es ein riesiges Angebot von verschiedenen Maßnahmen, die zwar energisch vorgeben, den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu entsprechen, einer neutralen Überprüfung in der Praxis aber selten standhalten. Am weitesten verbreitet sind spezielle Zeitschriften oder Rubriken, die mit bestimmten Diäten oder Trainingsmethoden den Alterungsprozess verhindern wollen.

Daneben hat sich mittlerweile ein ganzer Geschäftszweig etabliert, der mit medizinischen Methoden individuelle Hilfe im Kampf gegen das Alter verspricht. Leider haben die meisten der teuren Laboruntersuchungen wenig Aussagekraft, ihr wichtigster Nutzen liegt im finanziellen Ertrag des Untersuchers. Noch problematischer sind die angebotenen medizinischen Therapien mit Hormonen, Nahrungsergänzungsmitteln oder andere Methoden. Bis jetzt haben alle noch so verlockend klingenden Ansätze, eine sinkende Hormonproduktion zu ersetzen, häufig erhebliche Nebenwirkungen zur Folge. Oder sie haben wie bei den Nahrungsergänzungsmitteln keinen Vorteil gegenüber einer ausgeglichenen Ernährung, siehe ▶ Kapitel 3.

Als größtes Problem des Anti-Aging-Gedankens wird allgemein die unzureichende Auseinandersetzung mit dem Altern gesehen. Die Vorstellung vom Altern als einer Aneinanderreihung von Defiziten und Mängeln lässt außer Acht, dass die Altersveränderungen keineswegs mit Krankheiten gleichzusetzen sind, sondern nur eine Verminderung der Organreserven und damit der Anpassungsfähigkeit zur Folge haben. Trotzdem lassen sich Interessen und Aktivitäten verwirklichen, in manchen Bereichen wachsen die Kompetenzen in diesem Lebensabschnitt sogar an. Grundsätzlich ist für beide Geschlechter eine aktive Auseinandersetzung mit den Veränderungen des Körpers und den Herausforderungen der Umwelt von großer Bedeutung.

Merke

Wer folgende einfache Grundsätze beherzigt, bleibt „fit im Alter“:

Ausgewogen essen und ausreichend trinken!

Sportlich unterwegs sein!

Geistige Herausforderungen suchen!