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Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, welche Herausforderungen sich für die Gewerkschaften in Deutschland aus der Postdemokratisierung der Gesellschaft ergeben. Hierbei wird vom Begriff Postdemokratie nach Collin Crouch ausgegangen. In dieser Postdemokratie bestehen demokratische Institutionen formal fort, führen die gesellschaftlichen Gegebenheiten jedoch dazu, dass sich Partizipationsmöglichkeiten faktisch rückwärts entwickeln und ökonomisch privilegierte Machteliten wie global agierende Unternehmen ein Maß an Einfluss gewinnen, das an vordemokratische Zeiten heranreichen kann. Im Kontext dieser Gegebenheiten wird die Entwicklung der deutschen Gewerkschaften betrachtet. In ihrer Rolle als Tarifpartner und Vertreter der Interessen der Arbeitnehmer leisten sie einen wichtigen Beitrag zum sozialen Frieden in Deutschland. Die Gewerkschaften befinden sich jedoch in einer Abwärtsspirale aus sinkendem Einfluss, der als Effekt postdemokratischer Entwicklungen ableiten lässt, und abnehmenden Organisationsgrad, eben weil sie nur noch begrenzt ihre Forderungen zu Löhnen und Arbeitsbedingungen durch-setzen können. Den Stand dieser Entwicklung und möglicher Gegenbewegungen wird anhand aktueller Forschung und Literatur analysiert.
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Seitenzahl: 69
Veröffentlichungsjahr: 2022
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1. Einleitung
2. Stand der Forschung
2.1. Gewerkschaften im Blick der Wissenschaft
2.2. Forschungsstand zur Postdemokratie
2.3. Postdemokratie in Deutschland
3. Stand der Gewerkschaften in Deutschland
3.1. Ziele und Funktionen der Gewerkschaften
3.2. Rechtlicher Rahmen deutscher Gewerkschaften
4. Analyse
4.1. Veränderung der sozialen Klassen
4.2. Internationale Unternehmen
4.3. Veränderungen der Parteienlandschaft
4.4. Öffentliche Leistungen
4.5. Postdemokratisierung der industriellen Bürgerrechte
5. Fazit
6. Literatur
6.1. Internetquellen
„Selbstverständlich sind die Gewerkschaften ein wichtiger Kern der Demokratie. Eine Demokratie braucht die Gewerkschaften. Allerdings haben die Gewerkschaften einige Schwierigkeiten“ (Crouch Interview 2013).
Im Jahr 2008 forderte die IG Metall in der damaligen Tarifrunde eine achtprozentige Lohnerhöhung. Dieses ehrgeizige gesetzte Ziel konnte die Gewerkschaft jedoch nicht verwirklichen. Statt den geforderten acht, konnte die IG Metall nur eine Lohnerhöhung von 4,2 Prozent gegen die Arbeitgeber durchsetzen. „Doch wer mit einer Acht-Prozent-Forderung als Tiger in die Auseinandersetzung geht, sieht sich […] doch allenfalls als Kater auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt“ (Dörre 2008, S. 95) kommentiert der Wissenschaftler Klaus Dörre. Laut ihm liegt die Ursache hierfür in der strukturellen Schwäche der Gewerkschaften, deren Ursache die Postdemokratie nach Colin Crouch sei (Vgl. ebd. S. 95).
Crouch beschreibt die Postdemokratie als einen Zustand, in dem demokratische Institutionen formal bestehen blieben und zum Teil sogar ausgeweitet werden würden. Die demokratischen Verfahren und Regierungen entwickelten sich jedoch rückwärtig. So hätten sie im Verlauf der postdemokratischen Entwicklung der Gesellschaft Formen angenommen, welche typisch für vordemokratische Phasen der Geschichte seien. Demnach hätten privilegierte ökonomische Eliten politischen Einfluss gewonnen und die Macht globaler Unternehmen wachse stetig (Vgl. Crouch 2008, S. 13).
So stellte Crouch in einem Interview fest, dass das letzte Jahrhundert von der Trennung zwischen Politik und Wirtschaft geprägt gewesen sei. Im Gegensatz dazu vermische sich heute alles und die Grenzen zwischen eben diesen gesellschaftlichen Bereichen seien nunmehr fließend. In der Vergangenheit sei demnach die Politik viel unabhängiger von äußeren Einflüssen gewesen (Vgl. Crouch Interview 2013).
Hierdurch werde die Egalität der Gesellschaften mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert, da sie gegen diese Vorgänge wehrlos erscheine (Vgl. Crouch 2008, S. 13). So würden in postdemokratischen Gesellschaften zwar weiterhin Wahlen abgehalten und Regierungen gebildet. Die Wahlkämpfe würden jedoch von professionellen Public Relations-Fachleuten und Medienberatern derart kontrolliert werden, dass sie zu reinen Medienspektakeln verkämen. So würden nur Inhalte im Wahlkampf behandelt, die zuvor von den Experten selektiert wären. Den meisten Bürgern käme in der Postdemokratie eine stumme oder apathische Rolle zu. Sie würden zunehmend passiv werden und reagierten lediglich auf die Signale, die ihnen gegeben werden, ohne diese kritisch zu hinterfragen oder eigene Interessen zu verfolgen. Dabei entstehe eine politische Inszenierung, die wirkliche Politik werde „hinter verschlossenen Türen gemacht“ (Crouch 2008, S. 10). Hier triefen sich die Regierungen und die Eliten, welche sich besonders für wirtschaftliche Interessen einsetzen. Crouch betont, dass sein Modell der Postdemokratie eine Übertreibung sei (Vgl. ebd.).
Crouch beschreibt die Entwicklung der modernen Demokratie als eine Parabel. Ihren Scheitelpunkt habe diese parabelförmige Entwicklung der Demokratie erreicht als „populäre Bewegungen und Parteien, geführt von charismatischen durchsetzungsfähigen Persönlichkeiten“ existierten (Reese-Schäfer 2012, S. 215f.). Der politische Stil dieser Personen habe dabei nicht immer dem von vorbildlichen Demokraten entsprochen, sie wurden jedoch von einer lebhaften und engagierten Massenbewegung getragen, die egalitaristisch geprägt gewesen sei. Seit diesem Zeitpunkt wandele sich die moderne Demokratie in ihrem parabelförmigen Verlauf und nehme eine negative Entwicklung an. Demzufolge wird davon ausgegangen, dass die Demokratie in westlichen Staaten bereits ihren Scheitelpunkt erreicht habe. Weiterhin könnten sich Elemente direkter demokratischer Beteiligung zwar noch ausbreiten und die innerparteiliche Demokratie gestärkt werden, die Idee der egalitären Umverteilung in der Gesellschaft würde jedoch zunehmend vernachlässigt werden. Ursachen hierfür seien zum einen der Rückgang des Anteils der Industriearbeiter an der Gesamtbevölkerung, sowie eine immer weiter globalisierte Wirtschaft. Dies führe dazu, dass sich Unternehmen nicht mehr durch national-staatliche Organe kontrollieren ließen. Ferner sei ein Rückgang der Mitgliedschaften und des Engagements in Organisationen mit politischen Zielen zu erkennen und die Wahlbeteiligung sei rückläufig. Beides seien Kennzeichen für ein wachsendes politisches Desinteresse der Bevölkerung (Vgl. ebd. S. 216).
Es gäbe jedoch auch Entwicklungen, die dieser Diagnose widersprechen. Hierzu würden die vermehrte politische Kommunikation über soziale Netzwerke, politisiertes Einkaufsverhalten sowie die Forderungen nach mehr Bürgerentscheiden und Meditationsverfahren zählen. Durch das Verständnis der Postdemokratiethese und ihrer Unterscheidung zwischen aktiven und passiven Bürgern entstehe durch diese Entwicklungen ein anderer Eindruck. So führten diese Forderungen zu einer Steigerung der postdemokratischen Tendenzen in der Gesellschaft. Grund hierfür sei, dass beispielsweise die Beteiligung an Volksabstimmungen noch stärker vom sozialen Status einer Person abhinge als dies bei üblichen Wahlen der Fall sei. So gelte, dass Personen mit einem höheren Bildungsgrad sowie Einkommen eher an einer Volksabstimmung partizipieren als Personen mit geringerem Einkommen oder einer geringeren Bildung. Dies gelte ebenfalls für andere alternative Formen der politischen Partizipation (Vgl. Eberl, Salomon 2017, S. 3). So entstünden durch die Einführung von Volksabstimmungen mehr und vor allem direktere Partizipationsmöglichkeiten, aber faktisch nehmen diese nur Personen wahr, die sowieso schon über einen privilegierteren sozialen Status verfügen. Durch die Einführung solcher direkteren Verfahren würde sich das Einflussungleichgewicht also noch weiter verschieben.
Die größte negative Beeinflussung durch postdemokratische Entwicklungen scheinen Arbeitnehmer zu erleiden. Durch die wachsende politische Macht ihrer Arbeitgeber, würden jene immer mehr Mitspracherecht bei der politischen Gestaltung des Arbeitsmarktes und des Sozialstaats gewinnen. Dies geschehe zu Lasten der Arbeitnehmer. So werden durch die Postdemokratie soziale Ungleichheit und politische Ungleichheit zu Synonymen voneinander (Vgl. Eberl, Salomon 2017, S. 2).
Als Vertreter der Interessen von Arbeitnehmern spielen Gewerkschaften in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle. Ihnen obliegt es, den Arbeitgebern gegenüber, die Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten und durchzusetzen. Somit sind sie ein wichtiger Akteur, wenn es um postdemokratische Entwicklungen in Deutschland geht, da wie dargelegt, die Unternehmen an Einfluss gewinnen und die Arbeitnehmer am stärksten von dieser Entwicklung betroffen sind. Als solcher Akteur stehen sie in ihrer Funktion als Interessenvertreter durch die Postdemokratisierungstendenzen vor besonderen Herausforderungen.
Wie am Zitat zu Beginn dieser Arbeit deutlich wird, erkennt Colin Crouch die Bedeutung der Gewerkschaften für die Demokratie an. So gäbe es laut ihm viele Probleme in postindustriellen Gesellschaften, die ohne Gewerkschaften nicht von der Politik behandelt würden. Crouchs dystopische These zeichnet ein problembehaftetes Bild der aktuellen Demokratieentwicklung. Doch wenn die Gewerkschaften von einer so großen Bedeutung sind, welche Herausforderungen ergeben sich dann für sie aus der Postdemokratisierung?
Ziel dieser Arbeit ist, jene Herausforderungen der deutschen Gewerkschaften in einer postdemokratischen Gesellschaft aufzuzeigen.
Nachfolgend wird zuerst der Forschungsstand zu den Themenkomplexen Gewerkschaft und Postdemokratie dargelegt. Anschließend wird die aktuelle Lage der Gewerkschaften beschrieben. Dabei wird auch auf den rechtlichen Rahmen, in dem sie handeln erläutert. Im Anschluss daran wird analysiert, welchen Herausforderungen sich die deutschen Gewerkschaften durch die Postdemokratisierung stellen müssen.
Der Forschungsstand zu dieser Arbeit setzt sich im Wesentlichen aus zwei Themen zusammen, die so bisher noch kaum miteinander verknüpft wurden. Diese sind die Gewerkschaften und das Konzept der Postdemokratie. Zum einen wird auf den Forschungsstand zum Thema Gewerkschaften eingegangen. Anschließend wird der Forschungsstand zur Postdemokratie dargelegt.
2.1. Gewerkschaften im Blick der Wissenschaft
Wie bereits dargestellt, spielen Gewerkschaften für postdemokratische Entwicklungen in Deutschland eine besondere Rolle. Grundsätzlich handelt es sich bei Gewerkschaften um
„autonome Verbände (Koalitionen) von Lohnabhängigen, die sich zur Wahrnehmung und Durchsetzung ihrer Interessen sowohl im Betrieb wie allgemein in Wirtschaft und Politik zusammengeschlossen haben. Sie sind mit der Durchsetzung der kapitalistisch-industriellen Produktionsweise entstanden, gelten als die ursprüngliche Form der Arbeiterbewegung und stellen bis heute eine ihrer organisatorischen Säulen.“ (Lösche bei Esser 2014, S. 86)