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Ein Essay über Krieg und Frieden: Orientierung in einer ewigen Menschheitsfrage Da dachten wir, Krieg sei in Europa undenkbar: Wer Krieg verhindern will, muss aber fragen, unter welchen Bedingungen er moralisch gerechtfertigt wäre. Die Theorie des gerechten Krieges bietet hierbei, weiterentwickelt und neu interpretiert, einen überzeugenden Maßstab, die Illegitimität eines Krieges zu erkennen. Der Band wurde aus aktuellen Anlässen auf den neuesten Stand gebracht.
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Seitenzahl: 134
Veröffentlichungsjahr: 2025
Reinold Schmücker
Reclam
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RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962323
2025 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2025
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962323-8
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014596-8
reclam.de | [email protected]
1. Gibt es einen gerechten Krieg?
Wonach die Frage fragt
Warum das Nachdenken über die Legitimität von Krieg wichtig ist
Völkerrecht und Moral gebieten nicht immer dasselbe
2. Ist Krieg prinzipiell illegitim?
Krieg ist kein generell erlaubtes Mittel der Politik
Krieg ist nicht kategorisch verboten
Zwischenfazit
3. Kann ein Angriffskrieg moralisch erlaubt sein?
Die Aktualität der Theorie des gerechten Krieges
Sechs notwendige Bedingungen der Legitimität eines Angriffskrieges
Wann ein Angriffskrieg moralisch erlaubt sein könnte
4. Gibt es einen Grund, der einen Angriffskrieg rechtfertigen kann?
Ist die Bestrafung von Unrecht ein rechtfertigender Grund?
Ist die Gefährdung von Bürgern des eigenen Staates ein rechtfertigender Grund?
Ist Prävention ein rechtfertigender Grund?
Ist die Durchsetzung einer humanen Wertordnung ein rechtfertigender Grund?
Ist die Bestrafung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein rechtfertigender Grund?
Ist die Wiederherstellung eines Minimums politischer Ordnung ein rechtfertigender Grund?
Ist Nothilfe für Opfer von Menschenrechtsverletzungen ein rechtfertigender Grund?
Wann ein Angriffskrieg moralisch erlaubt ist
5. Ein Einwand gegen die Legitimität humanitärer Interventionen
6. Illegal, aber legitim?
Die Völkerrechtswidrigkeit der »Operation Allied Force«
Wem gebührt der Vorrang – dem Recht oder der Moral?
Wie Staaten ein Gewissen haben können
Die Unverzichtbarkeit gerichtlicher Kontrolle des Handelns von Staaten
Die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung des Völkerrechts
7. Wie die Bedingung der legitimen Autorität für demokratische Staaten interpretiert werden sollte
8. Kann ein Angriffskrieg moralisch geboten sein?
9. Ein Prüfstein: Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine
Russlands Krieg gegen die Ukraine: ein illegitimer Angriffskrieg
Ist Drittstaaten im Fall eines illegitimen Angriffs militärische Nothilfe erlaubt?
Sind Drittstaaten im Fall eines illegitimen Angriffs zur Nothilfe verpflichtet?
Sind Bürger zur Teilnahme an einem Verteidigungskrieg moralisch verpflichtet?
Grenzen des humanitären Völkerrechts?
Zum Autor
Gibt es einen gerechten Krieg? Wer so fragt, muss mit Skepsis rechnen: Kann man sich einen größeren Gegensatz vorstellen als den zwischen Gerechtigkeit und Krieg? Verweist nicht der Begriff der Gerechtigkeit auf eine faire Verteilung von Gütern und Chancen und ein Miteinander gleichberechtigter Individuen? Bezeichnet er nicht das Gegenteil von Unrecht und Unterdrückung, Benachteiligung und Gewaltherrschaft? Ist Krieg nicht demgegenüber untrennbar verbunden mit der Entfesselung von Gewalt, mit unermesslichem Leid und dem Tod einer Vielzahl von Menschen? Ist er nicht eines der furchtbarsten Übel, das uns treffen kann? Und ist es deshalb nicht absurd, Gerechtigkeit und Krieg zusammenzudenken?
Wer diesen Verdacht hegt, der stelle sich die Gegenfrage: Lässt sich über Krieg wirklich sprechen, ohne dass man Fragen der Gerechtigkeit und der Moral berührt? War es moralisch falsch, dass Großbritannien und Frankreich am 3. September 1939 Deutschland den Krieg erklärten, um es an der Unterwerfung Polens zu hindern? Und wäre es nicht vielleicht moralisch richtig gewesen, wenn militärisch hinreichend potente Staaten 1915/16 den Völkermord an den Armeniern oder 1994 den Völkermord an der Tutsi-Minderheit in Ruanda durch ein militärisches Eingreifen gestoppt hätten? Erschöpft sich Gerechtigkeit tatsächlich in einer fairen, die Interessen aller gleichermaßen berücksichtigenden Verteilung von Gütern? Erfordert sie nicht vielmehr auch den Schutz von Leib und Leben eines jeden Menschen, ja, vielleicht sogar den seiner Habe, vor ungerechtfertigten Übergriffen? Und hat sie nicht auch eine Dimension, die die Bestrafung und Wiedergutmachung von Unrecht betrifft?
Wie immer man diese Fragen beantworten mag – eines zeigen sie ganz klar: Der Einsatz militärischer Mittel wirft Fragen der Gerechtigkeit auf. Die Philosophie denkt deshalb seit der Antike über die Legitimität von Krieg nach. Dabei hat sich, insbesondere seit dem späten Mittelalter, eine Tradition kriegsethischer Reflexion herausgebildet, die in englischsprachiger Literatur meist unbefangener als im Deutschen als just war theory, als ›Theorie des gerechten Krieges‹, bezeichnet wird.1
Das vorliegende Buch greift Einsichten auf, die in dieser Tradition des Nachdenkens über die Legitimität von Krieg gewonnen worden sind, und versucht, auf die Frage, die es im Titel stellt, eine Antwort zu geben, die der Furchtbarkeit eines jeden Krieges ebenso Rechnung trägt wie der Unvermeidlichkeit kriegsethischer Reflexion. Mir ist bewusst, dass das kein leichtes Unterfangen ist. Die Überzeugung, dass es keinen gerechten Krieg gibt, lässt sich jedoch nicht dadurch als richtig erweisen, dass man die Frage tabuisiert. Nicht die Diskreditierung der Frage scheint mir deshalb geboten zu sein, sondern die Suche nach einer überzeugenden Antwort und eine nüchterne Analyse der Konsequenzen, die sich daraus für eine Friedenspolitik ergeben, die nicht unrechtsblind ist. Beides setzt zuallererst eine Klärung voraus, was genau die Frage eigentlich erfragt und warum das Nachdenken über die Legitimität von Krieg wichtig ist. Davon wird in diesem Kapitel die Rede sein.
»Gerechtigkeit« ist ein positiv konnotierter Begriff. Gerechtigkeit stellen wir uns zumeist als einen Zustand vor, der durch eine faire Verteilung von Gütern und die Bestrafung und Wiedergutmachung von Unrecht gekennzeichnet ist. Die Frage, ob es einen gerechten Krieg gibt, kann deshalb leicht so verstanden werden, als erfrage sie, ob Krieg mit einem solchen Zustand in Verbindung gebracht werden kann. Das wäre jedoch ein Missverständnis. Denn der Ausdruck bellum iustum (›gerechter Krieg‹), in dem der Aristotelische Gedanke eines polemos dikaios2 wiederauflebt, bezeichnet seit der Spätantike ein Kriegshandeln, das durch die Berufung auf göttliches oder natürliches Recht oder vernunftrechtliche Normen gerechtfertigt, d. h. als zulässig ausgewiesen werden kann. Die Frage »Gibt es einen gerechten Krieg?« zielt auf die Möglichkeit von Krieg ab, der in diesem Sinn normativ gerechtfertigt ist.
Als normativer Maßstab kam dabei, weil es universell geltendes positives Völkerrecht nicht gab, bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts nur ein nichtpositiver Maßstab in Betracht: das Natur- oder Vernunftrecht, in dem sich das von Natur aus bzw. von Vernunfts wegen Richtige artikulierte. Heute kann demgegenüber über die Zulässigkeit von Krieg auf der Grundlage von Pakten und Verträgen, d. h. von universell geltendem positivem Völkerrecht, juristisch entschieden werden. Die Möglichkeit der Bezugnahme auf einen nichtpositiven Maßstab normativer Richtigkeit hat dadurch aber nicht an Bedeutung verloren. Denn eine juristische Entscheidung über die Zulässigkeit von Krieg bezieht sich ihrer Natur nach stets nur auf dessen rechtliche Zulässigkeit. Die Bezugnahme auf die Moral, wie wir den nichtpositiven Maßstab normativer Richtigkeit heute meistens nennen, ist deshalb aus mehreren Gründen unverzichtbar. Sie dient
einer vom positiven Recht unabhängigen Beurteilung von Handlungen und Handlungsweisen,
der Kontrolle und Kritik des positiven Rechts und
der Begründung von Vorschlägen zu seiner Veränderung,
der Rechtfertigung rechtswidrigen Handelns sowie
der Begründung von Handlungserwartungen, die über das vom positiven Recht Verlangte hinausgehen.
Die Frage, ob es einen gerechten Krieg gibt, zielt nicht auf eine juristische Auskunft ab. Sie nimmt vielmehr Bezug auf die Moral als einen nichtpositiven Maßstab normativer Richtigkeit. Ich verstehe die Frage deshalb so, dass sie erfragt, ob überhaupt – und wenn ja: unter welchen Bedingungen – das Kriegshandeln einer Partei als moralisch erlaubt und insoweit gerechtfertigt angesehen werden kann.
Indem ich die Frage so verstehe, setze ich zweierlei voraus:
Zum einen gehe ich davon aus, dass die Frage auf die Beurteilung eines Handelns abzielt.
Zum anderen nehme ich an, dass sie auf die Beurteilung des Handelns einer bestimmten Art von Akteuren abzielt, nämlich von Kollektivpersonen.
Erstens interpretiere ich die Frage »Gibt es einen gerechten Krieg?« also so, dass sie sich nicht auf Krieg als ein Geschehen, einen Zustand oder einen Sachverhalt bezieht, sondern auf das mögliche moralische Recht einer handelnden Partei, Krieg zu führen. Unter Krieg wird dabei zwar grundsätzlich eine Form eines Konflikts verstanden, »an dem zwei oder mehr Akteure beteiligt sind«.3 Wo ich aber über Krieg als einen Gegenstand der moralischen Beurteilung spreche, verwende ich den Ausdruck »Krieg« als Bezeichnung für das Kriegshandeln jeweils einer Partei.
Verstünde man die Frage »Gibt es einen gerechten Krieg?« demgegenüber so, dass sie auf die moralische Beurteilung eines Geschehens oder eines Sachverhalts abzielte, dann ließe sich darauf kaum mehr erwidern als dies: dass Krieg ein großes Übel ist und deshalb nicht gerecht. Eine Antwort auf so konkrete Fragen wie die eingangs genannten, ob ein Staat, der dazu in der Lage gewesen wäre, das moralische Recht gehabt hätte, 1915/16 den Völkermord an den Armeniern oder 1994 den Völkermord an der Tutsi-Minderheit in Ruanda durch ein militärisches Eingreifen zu stoppen, ließe sich aus einer solchen Auskunft nicht ableiten.
Zweitens wird die Frage »Gibt es einen gerechten Krieg?« im Folgenden so verstanden, dass sie auf die Beurteilung der Handlungen von Kollektivpersonen abzielt.4 Denn in
seiner Kernbedeutung bezeichnet ›Krieg‹ […] die Austragung eines Konflikts zwischen Staaten und/oder hierarchisch verfassten Kollektiven (z. B. aufständischen oder revolutionären Bewegungen oder Teilpopulationen eines Staates wie beim sogenannten Bürgerkrieg), bei der sich mindestens eine Konfliktpartei militärischer Gewalt bedient.5
Es geht also nicht um die Kriegführung einzelner Personen, wie sie sich in Nachbarschaftskriegen oder in Ehe- und Rosenkriegen manifestieren mag, sondern um den Einsatz militärischer Gewalt durch Staaten oder durch Kollektive, die – wie zum Beispiel Guerillabewegungen – über eine interne Struktur verfügen, welche es ihnen erlaubt, als Kollektiv gleichsam wie eine Person zu handeln.
Die Bedeutung des Kriegsbegriffs war und ist zwar historischem Wandel unterworfen,6 und der Begriff bezeichnet heute keineswegs mehr nur die militärische Austragung »symmetrischer« Konflikte zwischen politischen Verbänden.7 Privatkriege zwischen Individuen werden jedoch nicht mit Hilfe militärischer Apparate geführt, und Gegenstand moralischer Beurteilung kann nicht das zufällige Zusammentreffen unkoordinierter Aktivitäten Einzelner sein, sondern nur das Handeln eines Akteurs, der sich auch für eine andere Handlungsweise entscheiden könnte oder hätte entscheiden können. Die Frage »Gibt es einen gerechten Krieg?« kann deshalb sinnvollerweise nur so verstanden werden, dass sie sich auf das mögliche moralische Recht eines Staates oder einer nichtstaatlichen Kollektivperson bezieht, Krieg zu führen.
Wenn ich dort, wo ich auf ein solches moralisches Recht Bezug nehme, abkürzend auch von der Legitimität eines Krieges spreche, ist damit immer die moralische Erlaubtheit des Einsatzes militärischer Mittel durch jeweils eine Partei gemeint. Auch dort, wo ich danach frage, ob das Führen von Krieg (oder eine andere Handlung) rechtfertigbar oder gerechtfertigt ist, zielt die Frage auf die moralische Erlaubtheit von Kriegshandlungen ab.
Im Übrigen bezeichne ich mit dem Ausdruck »Ethik« nicht nur eine Teildisziplin der Philosophie, sondern vor allem die Theorie der Moral und das systematische Nachdenken über moralische Maßstäbe und moralische Fragen; mit dem Ausdruck »politische Philosophie« beziehe ich mich auf diejenige Teildisziplin der Philosophie, die politische Prozesse und politisches Handeln ethisch-moralisch reflektiert.
Die Vorbehalte, auf die das Nachdenken über die Legitimität von Krieg bei vielen Menschen stößt, sind durch eine bloße Erläuterung der Frage natürlich noch nicht ausgeräumt. Auf drei Vorbehalte, die weit verbreitet sind, sei daher in diesem Abschnitt näher eingegangen. Wir können sie den Begünstigungsverdacht, den Apologieverdacht und den Nutzlosigkeitsverdacht nennen.
(1) Im Begünstigungsverdacht artikuliert sich der Argwohn, dass jedes Nachdenken über die Legitimität von Krieg ebenjenen denkbarer und damit auch wahrscheinlicher macht. Redet, wer nach der Legitimität von Krieg fragt, den Krieg nicht geradezu herbei? Trägt nicht, wer so fragt, zur Entstehung eines politischen Klimas bei, in dem Krieg nicht mehr schlechthin als Unrecht begriffen, sondern als ein unter Umständen eben doch moralisch erlaubtes Mittel der Auseinandersetzung aufgefasst wird? Und wird das nicht letztlich dazu führen, dass die Entscheidung zum Einsatz militärischer Mittel immer leichtfertiger und bedenkenloser getroffen werden wird?
Meines Erachtens ist das eine verständliche, aber unbegründete Sorge. Es lassen sich nämlich nur schwer empirische Belege dafür finden, dass die philosophische Reflexion über die Legitimität militärischer Mittel deren Einsatz gewissermaßen herbeigeredet hätte. Der breite Zweifel an der Legitimität beispielsweise des Vietnamkrieges hat vielmehr gezeigt, dass die öffentliche Erörterung von Maßstäben für die Legitimität des Einsatzes militärischer Mittel es den Regierenden erschweren kann, freiheitlich-demokratischen Gesellschaften jedweden Militäreinsatz als legitim zu ›verkaufen‹ – sosehr die häufig genug wiederholte Vorbringung einer Behauptung schon allein aus psychologischen Gründen Überzeugungen zu wecken und zu stabilisieren vermag.
Auch in der jüngeren Vergangenheit gibt es Beispiele dafür, dass das Nachdenken über den Krieg in freiheitlich-demokratischen Gesellschaften die Begründungslast für Militäreinsätze erhöht. So hat der Kosovokrieg der NATO 1999 in Europa eine kontroverse Debatte über die Möglichkeit und Zulässigkeit von militärischen Interventionen ausgelöst, die zumindest primär humanitären Zielen dienen; in einem Rückblick auf das Jahr 1999 bewertete sogar die deutsche Tagesschau die Intervention der NATO als verfehlt.8
Ein weiteres Beispiel bietet die Kritik an dem 2003 von den USA begonnenen Irakkrieg, die selbst unter dem Eindruck des scheinbar raschen militärischen Erfolgs auch in denjenigen europäischen Gesellschaften nicht verstummte, deren Regierungen sich, wie diejenigen Großbritanniens, Spaniens und Polens, für eine Beteiligung entschieden hatten.
(2) Ein ähnliches Bedenken spricht der Apologieverdacht aus: Läuft politische Philosophie, die sich kriegsethischen Fragen widmet, nicht Gefahr, Regierenden auch für illegitime Kriegshandlungen eine Rechtfertigung zu soufflieren, die es ihnen erspart, die wahren Motive ihres Handelns offenzulegen? Dient ethisches Räsonnement so nicht letztlich immer rechtfertigenden, apologetischen Zwecken?
Auch dieser Verdacht scheint mir nicht gegen die Erörterung von Maßstäben für die Legitimität des Einsatzes militärischer Mittel zu sprechen. Es trifft zwar zu, dass kriegführende Parteien sich häufig auf die Moral berufen, und es dürfte unstrittig sein, dass dies oft geschieht, ohne dass die Berufung auf die Moral begründet erschiene. Das spricht aber nicht dafür, auf die ethische Reflexion politischen Handelns gleich ganz zu verzichten – im Gegenteil. Denn ohne kriegsethische Reflexion ließen sich Fälle, in denen die Moral ohne zureichenden Grund zur Rechtfertigung von Kriegshandlungen in Anspruch genommen wird, gar nicht von solchen Fällen unterscheiden, in denen die Berufung einer kriegführenden Partei auf die Moral begründet erscheint. Ohne eine systematische Analyse der Triftigkeit der Argumente, die für die Legitimität von Kriegshandlungen ins Feld geführt werden, ließe sich deshalb die Berufung kriegführender Parteien auf die Moral in keinem Fall plausibel zurückweisen. Auch der Apologieverdacht vermag das Nachdenken über die Legitimität des Einsatzes militärischer Mittel deshalb nicht zu diskreditieren. In der Auseinandersetzung mit ihm zeigt sich vielmehr einmal mehr dessen Wichtigkeit.
(3) Der Nutzlosigkeitsverdacht bringt eine grundsätzliche Skepsis gegenüber der moralischen Reflexion von Fragen zum Ausdruck, die das Handeln von Staaten betreffen. Wenn selbst der auch von Deutschland ratifizierte Briand-Kellogg-Pakt den Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen nicht verhindert hat, wenn also selbst geltendes Völkerrecht den Zweiten Weltkrieg nicht zu verhindern vermochte: Ist es dann nicht völlig naiv, anzunehmen, dass ein moralisches Urteil irgendeine positive Wirkung auf das Handeln von Staaten haben kann? Kommt es nicht auf der Ebene der Beziehungen zwischen Staaten allein auf den Ausgleich konfligierender Interessen, auf Konfliktmoderation und intelligentes Krisenmanagement an? Bedarf es dazu nicht des Rechts als eines unverzichtbaren Steuerungsinstruments und der Politik als der Kunst des klugen und angemessenen Einsatzes von Macht? Und ist dazu von moralischen Überlegungen nicht am allerwenigsten ein Beitrag zu erwarten?
In Fragen wie diesen, die dem Nutzlosigkeitsverdacht Ausdruck verleihen, artikuliert sich ein instrumentalistisches Missverständnis der Aufgabe von Ethik und politischer Philosophie. Die systematische, dem unparteilichen Standpunkt der Moral, dem sogenannten moral point of view, verpflichtete ethische Reflexion, die Aufgabe dieser philosophischen Disziplinen ist, kann zwar unter Umständen auch zu moralischem Handeln motivieren. Zunächst aber sucht sie – und zwar auch dann, wenn sie Fragen der internationalen Politik betrifft – zu ermitteln, welches Handeln moralische Intuitionen, die alle oder zumindest außerordentlich viele Menschen teilen, gebieten und welche Handlungsweisen ihnen zufolge unerlaubt sind. Die Annahme, sie wäre nur dann sinnvoll, wenn sie in der politischen Praxis unmittelbare Wirkung zu entfalten vermöchte, verkennt daher das primäre Ziel der philosophischen Suche nach überzeugenden Maßstäben, an denen sich unser moralisches Urteil orientieren und positives Recht gemessen werden kann.
Ethik und politische Philosophie sollten sich andererseits aber auch vor allzu großer Kleingläubigkeit hüten: Wäre die Moral in politischen Fragen tatsächlich so kraftlos und ohnmächtig, wie es jener politikwissenschaftliche »Realismus« glauben machen will, der mit nimmermüdem Eifer die »Vergeßt Kant!«9