Gigagampfa - Ernst Luger - E-Book

Gigagampfa E-Book

Ernst Luger

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Beschreibung

Schon Kleinkinder schaukeln gerne auf einer Gigagampfa (Wippschaukel), ein einfaches Spielgerät: Nur aufsitzen und los geht’s. Nach jedem Aufstieg kommt zwingend ein Abstieg ¬ und umgekehrt. Auch unser Leben lässt uns manchmal „gigampfen“: Einmal katapultiert es uns hoch hinaus, wir fühlen uns überragend, siegreich und wertgeschätzt. Ein andermal schlagen wir hart auf dem Boden der Realität auf, fühlen uns enttäuscht, gedemütigt und verloren. Bäckermeister Friedrichs Plan war auf keinen Fall die Trennung von seiner Familie, im Gegenteil: Er hatte noch viel vor mit vertrauten Menschen in seiner angestammten Heimat. Dann kam das Großdeutsche Reich und in seinem Leben blieb kein Stein auf dem anderen. Auf dem Hintergrund des zweiten Weltkriegs wächst die Angst vor dem Dienst an der Kriegsfront, wie auch vor Deportation in eines dieser KZs. Ein Familienroman, über die andauernden Kriegswirren, die zu Desertation und Migration führen.

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Seitenzahl: 146

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Impressum:

© Verlag Kern GmbH, Ilmenau

© Inhaltliche Rechte beim Autor

1. Auflage, Oktober 2024

Autor: Ernst Luger

Coverzeichnung: Andreas Luger

Layout/Satz: Brigitte Winkler

Lektorat: Heike Funke, Münchberg

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Sprache: deutsch

ISBN 978-3-95716-391-2

E-Book ISBN 978-3-95716-412-4

www.verlag-kern.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Übersetzung, Entnahme von Abbildungen, Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, Speicherung in DV-Systemen oder auf elektronischen Datenträgern sowie die Bereitstellung der Inhalte im Internet oder anderen Kommunikationsträgern ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags auch bei nur auszugsweiser Verwendung strafbar.

Ernst Luger

Gigagampfa

Moralische Flucht vor Hitlers Regime

Roman

Inhalt

Cover

Impressum

Titel

Einführung

1 Europa

Der Zweite Weltkrieg

Bloß keinen Ärger mit Nazideutschland.

2 Friedrich Jäger/Sommer

3 Esther Jäger/Frühjahr 1939 – Sommer

4 Friedrich/Sommer – Herbst

5 Esther/Sommer – Herbst

6 Friedrich/Herbst

7 Peter/Herbst

8 Esther/Sommer

9 Friedrich/Frühjahr

10 Peter/Herbst 1939 – Frühjahr

11 Esther/Herbst

12 Friedrich/Ende Sommer

13 Esther/Herbst

14 Friedrich/Herbst

15 Esther/Winter 1940 – Sommer

16 Friedrich/Herbst 1940 – Sommer

17 Esther/Herbst 1941 – Herbst

18 Friedrich/Herbst

19 Esther/ Herbst

20 Friedrich und Esther/Weihnachten

21 Kriegsende

Erklärungen

Weitere Werke von Ernst Luger

Einführung

Leben heißt sich bewegen, vorwärtsgehen. Wer oder was sich nicht bewegt, bleibt stehen. Stillstand. Schon als Kinder lernen wir, uns durch Bewegung zu verändern – meist spielerisch, später berechnend und effizient. Ein einfaches Spielgerät, das Veränderung verständlich widerspiegelt, ist die Wippschaukel oder auch Gigagampfa* genannt. Sie versinnbildlicht im übertragenen Sinn das Wechselspiel zwischen Höhen und Tiefen, guten Zeiten/schlechten Zeiten wie auch Freund und Feind. Ohne diese Wechselbeziehung würden wir vielem in unserem Leben wenig bis keine Bedeutung beimessen, weil zu einseitig, zu langweilig, zu alltäglich, zu banal, zu selbstverständlich. Erst die Polarität macht es für uns spannend, auch wenn sich dadurch Freud und Leid kreuzen.

Frieden – seit Menschengedenken ein unerreichtes Ziel – geht stets Feindschaft voraus, die für die einen eine vermeintlich gewinnbringende Chance, für die anderen meist den Untergang bedeutet. Hass wird geschürt, Gegenwehr in Form kriegerischer Auseinandersetzung folgt. Es ist eines jeden Mannes Pflicht, dabei zu sein. Wer den Befehl verweigert, der desertiert und ergreift die Flucht.

1 Europa 1939

Das Licht geht aus, die Öffentlichkeit verstummt, der Vorhang öffnet sich, es herrschen Blitz und Donner – ein Gewitter braut sich über der Bühne Europas zusammen. Die Bevölkerung schreckt auf und blickt angespannt zu ihren Volksführern hoch. Adolf Hitler und der italienische Diktator Benito Mussolini erscheinen und tauschen sich über ihre außenpolitischen Interessen aus. Der Duce ist anfangs gegen eine Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich, gibt jedoch schon bald seinen Widerstand auf. Als der österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg endgültig kapituliert, verkündet Hitler das Großdeutsche Reich.

Der Zweite Weltkrieg

Heimat ohne Seele: Die österreichische Bevölkerung bejubelt den Einmarsch deutscher Truppen. Die öffentliche Presse reagiert eingeschüchtert und lobpreist Hitlers Vorgehen. Unmittelbar nach dem Anschluss verbreiten sich regelrechte Hasstiraden gegen all diejenigen, die nicht der Vorstellung der Faschisten entsprechen. Hardliner wüten zügellos, überfallen deren Wohnungen, plündern ihre Geschäfte, lassen sie am Boden kniend Straßen, Gehsteige und Plätze säubern und finden es belustigend, wenn die Regimegegner öffentlich gedemütigt, verhöhnt und geschlagen werden. Offensichtlich haben Hitlers Parteigenossen seinen Plan als Ermächtigung zum Stehlen, Quälen und Töten verstanden. Einige können fliehen, andere begehen Selbstmord; die meisten jedoch werden rücksichtslos in eins der Vernichtungslager deportiert. Im Sommer 1938 kommt bereits der erste österreichische Jude in einem KZ um.

Flüchtlingskonferenz von Évian 1938: Die Zahl der Flüchtlinge steigt von Tag zu Tag, viele Staaten schließen ihre Grenzen, es kommt zu Einreisestopps und Zurückweisungen. Die Szenen im Niemandsland zwischen den Schlagbäumen sind Ausdruck undenkbaren Elends, Verderb und Tod. Roosevelts Vorschlag einer internationalen Flüchtlingskonferenz bringt keine Einigung, sondern beschleunigt lediglich das Elend der Vertriebenen. Delegierte aus 32 Ländern erheben sich nacheinander und erklären, sie würden gerne eine beträchtliche Zahl von Flüchtlingen aufnehmen; bedauerlicherweise seien sie derzeit nicht in der Lage dazu. Allgemeine Devise:

Bloß keinen Ärger mit Nazideutschland.

Auflösung der österreichischen Bundesregierung: Im Mai 1939 wird die österreichische Bundesregierung endgültig aufgelöst und die Verwaltung des Landes neu geregelt. Länder werden in Reichsgaue umbenannt, Landeshauptleute durch Gauleiter ersetzt und die Gebietszugehörigkeit wird neu definiert.

Beginn eines verbrecherischen Krieges: Am 1. September 1939 setzt Adolf Hitler seinen lang geplanten Kampf um mehr Lebensraum in die Tat um, marschiert in Polen ein und eröffnet den Zweiten Weltkrieg in Europa. Schon lange davor mussten alle wehrpflichtigen Männer Zwangswehrdienst leisten und viele österreichische Rekruten wurden gleich zu Kriegsbeginn an die Front beordert.

2 Friedrich Jäger/Sommer 1939

Der frühe Morgen praktiziert jeden Tag von Neuem sein eigen Zeremoniell. Heute hascht keine Sonne nach den Baumwipfeln und kein Vogel eröffnet das Morgenkonzert. Trotz allem bleibt die Natur friedlich. Was wird das heute wohl für ein Tag werden?, fragt sich Friedrich Jäger beim Aufwachen, und im selben Moment stößt ihm sein Status quo sauer auf. Sein ursprünglicher Lebensplan war auf keinen Fall die Trennung von seiner Familie – im Gegenteil, er wollte zusammen mit seiner jüdischen Frau Esther die Bäckerei seines Vaters weiterführen und zum gegebenen Zeitpunkt erweitern. Friedrich wurde als einziges Kind von Johann Jäger und dessen Frau Elisabeth geboren und von ihnen liebevoll Fritz gerufen. Gleich nach der Geburt sorgte der Neuankömmling für eine kleine Aufregung im Stadtspital: An seinem rechten Fuß befanden sich nur vier Zehen, die kleine Zehe fehlte komplett. So etwas kommt äußerst selten vor und die Sensation war sogleich in aller Munde. Doch schon nach einem halben Jahr sprach kein Mensch mehr über seine kleine Missbildung und der kleine Fritz wuchs ganz normal mit den anderen Kindern auf.

Der Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich und der Einmarsch der Deutschen in seine Heimat durchkreuzten des Bäckers Zukunftsvisionen. Als die guten Tage der jüdischen Bevölkerung vorbei waren, verließ ihn bei Nacht und Nebel seine Frau Esther, zusammen mit ihrer siebenjährigen Tochter Debora. Anfänglich war Fritz fest davon überzeugt, die Nazis hätten seine Familie verschleppt, was seine vehementen Nachforschungen zu einem Spießrutenlauf werden ließen. Seine arische Abstammung war manifestiert, jedoch war es unrecht, das Verschwinden einer Jüdin zu hinterfragen oder ihr gar nachzutrauern.

In Zeiten wie diesen steht der Militärdienst an erster Stelle; nur wer wie Fritz wesentlich für den Lebensunterhalt der Bevölkerung beiträgt, bleibt vom Dienst verschont. Dank seiner Unnachgiebigkeit bezüglich des Verschwindens seiner Familie rückt er immer mehr ins Kreuzfeuer behördlicher Bespitzelungen. Erster Streich: Die Bäckerei, welche er von seinen Eltern übernommen hat, wird enteignet und gleich darauf folgt die Einberufung zum Wehrdienst. Harte Zeiten für den zurückgelassenen Familienvater und Geschäftsmann – Familie weg, Geschäft weg und der bevorstehende Krieg deutet klar in Richtung Abmarsch an die Front. Was ihm gerade noch gefehlt hat, ist der Besuch von Ortsgruppenleiter Scheglöck, scherzhaft auch Schneeglöckchen genannt. Begleitet wird er von zwei Kettenhunden*, die ihm unmissverständlich zu verstehen geben, dass seine Villa auf dem Stadtberg, ebenfalls ein Erbe seiner Eltern, konfisziert ist. Ab sofort diene diese als Amtssitz des Ortsgruppenleiters wie auch als Residenz des Gauleiters bei dessen Besuchen im Ländle*. Das Einzige, was ihm bewilligt wird, sind 24 Stunden, um seine Siebensachen zu packen und die Villa zu verlassen.

Zur gleichen Zeit erreicht den Bäckermeister ein Brief, in dem sich seine Frau Esther bei ihm für ihr eigenmächtiges Handeln entschuldigt. Sie konnte mit ihrer Tochter einen der letzten Züge von zu Hause über Deutschland nach Belgien erreichen. In weiser Voraussicht habe sie schon vorab die notwendigen Papiere für die Einreise in die USA besorgt und konnte gleich nach ihrer Ankunft in Antwerpen an Bord eines Dampfers nach Amerika ausreisen. Das benötigte Geld stammt von ihrer Mutter, die ihr Stillschweigen gelobte, da sie selbst nicht mitkommen wollte. Sie hat immer gesagt: Einen alten Baum soll man nicht verpflanzen. Wenn er im Weg steht, muss man ihn umsägen. Auch er selbst wäre niemals mitgekommen und hätte sie auch nicht alleine gehen lassen. Zum Glück haben die Nazis keinen Wind davon bekommen, sonst wäre sie an der Flucht gehindert und in eins dieser KZ überführt worden.

Sie und Debora seien gesund in Boston, USA angekommen und konnten sogleich bei einer netten jüdischen Gastgeberfamilie unterkommen. Die Familie Grünbaum war schon in den Zwanzigerjahren von Wien in die USA nach Boston ausgewandert und hatte hierorts eine Privatbank gegründet. Dankenswerterweise habe sie im Sekretariat dieses Bankhauses Arbeit bekommen. Es gefalle ihnen sehr gut und Debora habe schon neue Freunde gefunden, vor allem die Enkeltochter der Gastgeberfamilie, die ein halbes Jahr älter sei als sie. Gemeinsam würden sie die zweite Klasse in einer deutschen Schule besuchen. Obwohl es ihnen hier sehr gut gehe, würden sie ihn sehr vermissen und hoffen, dass er ihre Eigenmächtigkeit entschuldige und sie nach den Kriegswirren wieder zu ihm nach Österreich zurückkehren dürften.

Was für ein grauenvoller Morgen, denkt sich Friedrich Jäger: aufzustehen in eine ungewisse Zukunft mit Aussicht auf Verderb und Tod. Auch wenn’s noch so schlimm ist, es bleibt ihm wohl nicht viel anderes übrig, als sich den Befehlen zu stellen. Alternativ könnte er wie seine Frau einfach abhauen, es ist ja nicht weit bis in die Schweiz. Aber was, wenn sie ihn auf der Flucht erwischen? Wehrdienstverweigerer werden gegenwärtig von den Nazis auf der Stelle erschossen. Fritz gerät ins Schwanken: Soll er das Risiko auf sich nehmen und einfach verschwinden? Oder soll er widerstandslos dem Einberufungsbefehl Folge leisten? So ein Scheißspiel. Wird er erwischt, erschießen sie ihn; meldet er sich zum Wehrdienst, droht ihm nach der Verlegung an die Kriegsfront das gleiche Schicksal. So oder so wird er wahrscheinlich seine Familie nicht wiedersehen. Gelingt ihm jedoch die Flucht in die Schweiz und schafft er es weiter über den Atlantik, wäre die Chance groß, seine Liebsten wieder in die Arme zu nehmen.

Friedrich ist am Verzweifeln, kommt sich vor wie auf einem Gigagampfa. Einmal ist er oben und hat das Gefühl, stark genug für die Flucht zu sein, dann wieder holt ihn der Gedanke an das Erschießungskommando von seinem Höhenflug herunter. Als Kanonenfutter sterben will er nicht – dann lieber abhauen. Aber klappt’s auch? Wird er’s bis zu seiner Familie schaffen? Geht nicht gibt’s nicht, und wer’s nicht probiert, der verschenkt eine Gewinnchance. Diese Hypothese stärkt seinen Widerstand gegen seine aussichtslose Situation. Mit eisernem Willen beschließt er, den Wehrdienst zu verweigern und seiner Heimat den Rücken zu kehren, um noch in derselben Nacht über den Rhein die Schweiz zu erreichen.

In der Villa auf dem Stadtberg gibt es im Keller einen geheimen Raum, der von außen nicht ohne Weiteres zu erkennen ist. In der Hoffnung auf bessere Zeiten packt er alle wichtigen Dokumente, Wertsachen und wertgeschätzte Heiligtümer seiner Familie zusammen und sperrt sie dort weg. Lediglich seinen Pass, der seine arische Herkunft bestätigt, und 2.000 Schweizerfranken, die er für schlechte Zeiten auf die Seite gelegt hat, verpackt er wasserdicht in einem Lederbeutel und bindet sich diesen um seinen Bauch. Den Schlüssel zu diesem Raum schiebt er in eine unscheinbare Mauernische im Heizraum.

Bevor er seine Zelte abbricht, besucht er noch seinen Nachbarn Kurt Grabner, von Kindheit an sein bester Freund, und weiht ihn in sein Vorhaben ein. Kurt horcht interessiert zu. Was Fritz jedoch nicht weiß: Sein Freund war schon längst der nationalsozialistischen Partei beigetreten. Für Kurt ist das ein gefundenes Fressen, um sich bei seinem Vorgesetzten beliebt zu machen, und gleich nachdem er sich bei seinem angeblichen Freund verabschiedet hat, informiert der seine Parteifreunde. Noch in derselben Nacht wird Friedrichs Haus umzingelt, doch diesmal war der Amtsschimmel nicht schnell genug. Schon vor dem Mittag räumt der Bäckermeister sein Anwesen, lässt noch einen Wecken Brot aus seiner enteigneten Bäckerei mitgehen, und ohne irgendwelche Habseligkeiten, außer seinen Lederbeutel, verlässt er fluchtartig, jedoch ohne großes Aufsehen zu erregen, seine Heimatstadt. Unauffällig spaziert er durch die Vorstadtdörfer und erreicht am späten Nachmittag die Aulandschaft direkt am Ufer des Rheins. Nahe einer Brücke, die in die Schweiz führt, bietet ihm das Unterholz genügend Schutz, um noch bei Tageslicht seine Fluchtroute auszukundschaften.

Die Nacht hat sich vollends im Tal einquartiert, der Rhein fließt ruhig, der Mond erleuchtet die Wiesen und ein kribbelnd-erregender Duft liegt in der Luft. Wie ein kleines Kind krabbelt Fritz aus dem Unterholz hervor und begutachtet die Lage, während er gierig die letzten Bissen von seinem Brot hinunterwürgt. Der Zeitpunkt scheint günstig, im Schatten der Brücke den Fluss zu queren; lediglich das helle Mondlicht könnte zum Knackpunkt werden. Egal was ist, es gibt kein Zurück, heute Nacht muss es passieren. Er ist voll angespannt, in Warteposition ausharrend, eine Wolke schiebt sich vor den Erdtrabanten – er rennt los, rennt um sein Leben. Überfliegt eine Wiese, stolpert über einen Stein, stürzt den Uferrand hinab und landet wie ein Holzklotz auf einer Sandbank. Kurz innehaltend, nichts rührt sich, alles still wie zuvor. Keine Zeit verlieren – er springt hoch, rennt weiter, durchwatet seichtes Wasser, stürmt über die nächste Sandbank hin zur Hauptströmung und stürzt sich wie ein Meisterschwimmer in die Fluten. Die Mitte des Flusses erreicht, plötzlich lautes Rufen von der Brücke herab. Gleichschon peitschen Gewehrkugeln knapp neben ihm ins Wasser. Die Flucht scheint aufgeflogen, die Angst sitzt ihm im Nacken. Er versucht vehement, dem sicheren Tod zu entrinnen, und taucht ab. In der Dunkelheit unter Wasser verliert er die Orientierung und wird von der Strömung in Richtung des österreichischen Staatsgebiets zurückgetrieben. Dem Abdriften entgegenwirkend taucht er erneut auf, doch fortwährender Kugelhagel von der Brücke hemmt ein schnelles Vorrücken. Bevor die Kräfte im kalten Wasser schwinden, steuert er auf Teufel komm raus kraulend das schweizerische Ufer an. Kurz vor dem Ziel streift eine Kugel seinen Oberarm, eine zweite erwischt das linke Ohr. Der Schmerz hämmert im Kopf. Nochmals holt er alles aus sich heraus, um sein banges Leben bis in die Schweiz zu retten.

Die Sonne scheint gnadenlos auf sein Haupt und der grelle Sonnenschein brennt in den Augen. Die Schmerzen im Arm quälen, der Kopf fühlt sich an, als würde sich ein Wespennest darin befinden – unmöglich, einen richtigen Gedanken zu fassen. Die Wunde am Ohr hat aufgehört zu bluten, die am Oberarm fühlt sich weniger gut an. Keine Ahnung, wo genau es ihn ans Ufer gespült hat. Rundum nur hohes Gras, die Brücke liegt ein ganzes Stück weiter flussaufwärts und in weiter Ferne sind höhere Berge erkennbar. Dem Rauschen des Wassers zufolge müsste sich dicht neben ihm die Uferböschung befinden. Um ein genaueres Bild der Umgebung zu bekommen, stemmt er den Oberkörper leicht hoch – schon ertönt vom anderen Ufer her erneut lautes Rufen. Gibt’s doch nicht, suchen die mich immer noch? Wenn die mich hier entdecken, knallen die mich von der anderen Uferseite her erbarmungslos ab. Was tun? Davonlaufen ist zu gefährlich, in der grellen Sonne liegen bleiben auch. Die Rufe werden immer lauter und schon fallen einige Schüsse. Ein lauter Schrei, dem beklemmende Stille folgt.

Dem Anschein nach hatte die Grenzwacht nicht ihn im Visier, sondern ein anderes armes Schwein, beruhigt sich Fritz selbst. Durchdringendes Schaudern treibt ihm den kalten Schweiß auf die Stirn. Er schiebt vorsichtig das hohe Gras etwas zur Seite und riskiert einen Blick den Fluss hinab. Ein scheinbar lebloser Körper treibt bewegungslos im Wasser, vermutlich ein Flüchtender, der einfach abgeknallt wurde. Zu gefährlich hier, er muss raus aus der Gefahrenzone. Er versucht, wie ein Hund robbend auf dem Bauch das nächstgelegene Gebüsch zu erreichen. Die Anspannung, die brennende Wunde am Arm und sein brummender Kopf lassen ihn erneut unter einem dicht belaubten Haselnussstrauch in einen tiefen Schlaf versinken.

Abruptes Donnergrollen beendet schlagartig seinen Tiefschlaf. Der Kopf fühlt sich leer an, krampfhaft sich zu erinnern versuchend, wird er sich seiner brenzligen Lage schnell wieder bewusst. Nicht genug, dass ein Gewitter aufzieht – auch scheint das Tageslicht wieder abzunehmen. Dafür ist’s auf der anderen Seite drüben wieder ruhig geworden. Noch fällt kein Regen. Zeit zum Aufbrechen, kurze Bestandskontrolle bezüglich seines Passes und Notgroschens – alles vorhanden. In fremden Gegenden kann man sich nur nach den eigenen Sinnen und Gefühlen orientieren und couragiert Schritt für Schritt vorwärts marschieren. Am Ufer des Grenzflusses ist’s zu riskant, daher versucht Fritz in Richtung Landesinneres zu fliehen. Gottlob erspäht er im restlichen Tageslicht einen Trampelpfad, der vom Ufer weg landeinwärts führt. Mit den Händen vortastend geht’s langsam vorwärts, und über kurz oder lang erreicht er den Waldrand, von wo aus ein paar Häuser in sicherer Entfernung erkennbar sind. Noch ist’s zu gefährlich, Fremden zu begegnen, darum sucht Fritz Schutz in einer halb verfallenen Riedhütte.

Der junge Tag hat die Nacht erfolgreich verdrängt, der Eindringling schläft immer noch weich gebettet auf einem alten Heuhaufen, eingerollt in einen alten Jutesack, als das Quietschen der Hüttentüre ihn aus dem Schlaf reißt. Eine ältere Mannsperson, die genüsslich an einem brennenden Zigarillo nuckelt, baut sich mit festem Tritt vor dem vermeintlichen Eindringling auf. „Was ist denn hier los? Was machst du Gwaggli* da in meiner Hütte?“

„Entschuldigung, ich bin die halbe Nacht herumgelaufen und war todmüde. Da habe ich mich einfach in dieser Hütte versteckt“, kommt prompt die ehrliche Rechtfertigung.

„So weit kommt’s noch! Das ist hier kein Unterschlupf fürPenner. Sag, bist du derjenige, den die gestern da drüben gejagt haben?“

„Denke schon. Als ich über den Rhein geschwommen bin, wurde plötzlich auf mich geschossen.“

„Das haben wir gehört, wie wild haben sie herumgeballert. Nicht nur in der Nacht davor, auch gestern Vormittag fielen Schüsse. Egal, da ist es zu gefährlich. Kommst jetzt sofort mit mir, sonst stöbern dich hier die Grenzer auf.“