Tagträumereien - Ernst Luger - E-Book

Tagträumereien E-Book

Ernst Luger

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Beschreibung

Ein neuer Tag beginnt, es ist ruhig, noch scheint die Welt in Ordnung. Doch schon bald beginnen die Menschen ihr Tagwerk, und dann geht‘s rund auf dem Erdball. Da mischen sich Freud und Leid, Gut und Böse, Leben und Tod ein und wühlen den Alltag erst so richtig auf. Einige Ereignisse haben keine langen Vorgeschichten, entwickeln sich spontan. Erfreuliches löst positive Gefühle aus, negative Ereignisse hingegen verursachen oft Befürchtungen, Ängste, Schrecken oder gar Phobien. Die hier erzählten Geschichten entsprechen nicht der puren Realität, aber sind schon gar nicht realitätsfremd. Vorrangig wurden sie geschrieben, um den Leser zu unterhalten, jedoch auch, um seine Fantasie in Schwung zu bringen. Solche Geschichten beschäftigen Zuhörer wie auch Leserschaft nicht nur im Moment, nein, sie sind oft Auslöser, Hintergrund oder gar Motor ganz persönlicher Träume. Ernst Luger spielt dabei gewissermaßen den „Hofnarren“ und will mit seinen Erzählungen die Leserschaft nicht nur amüsieren, sondern versucht ihnen dabei ganz hintergründig einen Spiegel vorzuhalten.

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Seitenzahl: 197

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Ernst Luger

Tagträumereien

Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© Verlag Kern GmbH, Ilmenau

© Inhaltliche Rechte beim Autor

1. Auflage, Oktober 2021

Autor: Ernst Luger

Titelfoto: Ernst Luger

Autorenfoto: Privat

Umschlag/Layout/Satz: Ute Schmidt, Grafik-Design

Lektorat: Isabella Busch

Sprache: deutsch

ISBN: 978-3-95716-345-5

ISBN E-Book: 978-3-95716-364-6

www.verlag-kern.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Übersetzung, Entnahme von Abbildungen, Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, Speicherung in DV-Systemen oder auf elektronischen Datenträgern sowie die Bereitstellung der Inhalte im Internet oder anderen Kommunikationsträgern ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags auch bei nur auszugsweiser Verwendung strafbar.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Träumen mit offenen Augen

Prolog

Wir alle sind nur Menschen

Was für ein Tag

Ein ungebetener Gast

Malle und Ginkerl

Das Funzeng’schwader

Der arme Schinder

Der Büttel

Armin

Die Vogelscheuche Resi

Honks Zitronentag

Der Leidwerker hat zugeschlagen

Neues vom Lumpenpack

Narrenmarkt

Man erzählt sich

Aufregung im Dörflein Bimbam

Der Stiegenhocker

Die arglistige Wutz

Die rechte Hand des Teufels

Die Frau am Kreuz

Die Geschichte der Steinmännchen

Der Butz

Der anonyme Besucher

Die Underdogs auf Spionagetour

Die Suche nach dem Paradies

Zeitgeist

Der Schratt

Die Bubblegum-Hexe geht um

Die Müllmandln beobachten

Die Unbelehrbaren

Einfach zum Nachdenken

Ein kleiner Wunschtraum

Zahnrad der Wirtschaft

Pankraz und Kuzian die Allerweltszauberer

Besuch aus dem alten Rom

Kurioses

Was ist das?

Jedermanns (-frau) Lebenslotterie

Der Monodialog

Epilog

Bedeutungsbeschreibungen

Träumenmit offenen Augen

Prolog

Ein neuer Tag beginnt, es ist ruhig, noch scheint die Welt in Ordnung zu sein. Doch schon bald werden wir Menschen mit unserem Tagwerk beginnen und dann geht’s wieder rund auf dem Erdball. Da mischen sich Freud und Leid, Gut und Böse, Leben und Tod unter unseresgleichen und wühlen unseren grauen Alltag so richtig auf. Einige unserer Erlebnisse haben keine langen Vorgeschichten, entwickeln sich spontan und bereiten uns oftmals unvergessliche Nachwehen wie auch freudige Momente. Erfreuliches löst viele positive Gefühle aus, negative Ereignisse hingegen zeichnen oft verantwortlich für Befürchtungen, Ängste, Schrecken bis hin zu Paniken und Phobien.

Manche dieser Episoden sind so skurril, kurios, sagenhaft oder rätselhaft, dass sie gerne in Form von Erzählungen an Dritte weitergegeben oder für die Nachwelt niedergeschrieben werden. Doch nicht alle diese Darstellungen entsprechen hundertprozentig der erlebten Realität. Einiges davon entsteht meist als reine Fiktion, um das Erlebte epochaler erscheinen zu lassen, oder auch nur um Mitmenschen zu amüsieren und zu begeistern. Manch einer nutzt auch solche Gelegenheiten, um die eigene Person in ein besseres Licht zu rücken oder seinen Bekanntheitsgrad zu erhöhen. Egal wie, eines haben die meisten dieser Erzählungen gemeinsam, sie beruhen auf einem wahren Kern und regen dadurch unsere Fantasie an. Sie beschäftigen uns nicht nur im Moment, nein, sie sind oft Auslöser, Hintergrund oder gar Motor unserer ganz persönlichen Träume.

Auch die folgenden Geschichten stellen einen Mix aus Erlebtem und Erdachtem dar, entsprechen darum nicht immer der Realität, sind aber auf keinen Fall realitätsfremd. Vorrangig habe ich sie geschrieben, um euch, liebe Leser, zu unterhalten, jedoch auch, um eure Fantasie etwas anzuregen.

Wer etwas Interessantes liest, der projiziert die gelesenen Szenen, ganz nach eigener Vorstellung, gern auf seine Kopfkinoleinwand. Das kommt einem Träumen mit offenen Augen gleich. Je bunter und lebhafter man sich dabei seine Traumwelt vorstellt, desto unterhaltsamer gestaltet sich das Lesevergnügen. Darum meine Bitte: Nehmt nicht alles allzu ernst, denn ich bin hier gewissermaßen als Hofnarr unterwegs, der euch mit seinen Erzählungen vornehmlich amüsieren und nicht euer Gewissen zusätzlich belasten will. Jedoch solltet ihr dabei auf keinen Fall vergessen, dass diese Geschichten nicht nur rein illusorische, sondern auch reelle Vorkommnisse aus unserem gemeinsamen „Tun und Lassen“39 widerspiegeln.

Bitte nehmt Platz in eurem Kopfkino und macht es euch gemütlich. Nun wünsche ich euch viel Vergnügen beim Träumen mit offenen Augen.

Ernst Luger

Wir allesind nur Menschen

Kleine Inspiration

Die wahre Lebenskunst besteht darin, im Alltäglichen das Wunderbare zu sehen. (Pearl S. Buck)

Alle leben wir unter dem gleichen Himmel, haben aber trotzdem nicht den gleichen Horizont. (Konrad Adenauer)

Überall auf der Welt sind wir Ausländer, nur in der Heimat sind wir nicht fremd. (Ernst Luger)

Was für ein Tag

Der Wecker holt Robert unsanft aus dem Schlaf. Als dieser seine Augen zaghaft öffnet, breitet sich über ihm ein Sternenhimmel aus. Robert hasst den Wecker. Nur aufstehen, um den ganzen lieben langen Tag an seinem Schreibtisch sitzend den Bürostuhl zu malträtieren, das kann’s doch nicht sein. Zudem fühlt er sich heute besonders schlecht, weil ihn zusätzlich zu seinen Gräuelgedanken noch eine Gewissensfrage quält: „Was war da gestern los, warum geht’s mir heute so schlecht? Oh Gott, mein Kopf, ich glaube, in meinem Kopf hat sich ein Wespennest angesiedelt.“

Jeder durchzechten Nacht von Robert folgt ein scheiss Morgen mit immer derselben Gewissensfrage und demselben Murks, bis er es geistig und körperlich schafft, das Bett zu verlassen. Langsam kriecht er aus seinem Nachtlager und trottet benommen ins Badezimmer. Als er in den Spiegel schaut, gafft ihm seine Tagesmaske entgegen, die ihm unmissverständlich verrät, dass heute nicht unbedingt er der Schönste im ganzen Land ist. Duschen hilft da hoffentlich weiter, denkt er sich, wird aber enttäuscht. Aus diesem Grund lässt er das Frühstück sicherheitshalber sausen und macht sich geradewegs auf den Weg ins Büro.

An der Bushaltestelle angekommen, wartet dort bereits Schneewittchen ganz in Weiß auf den gleichen Bus wie Robert. Ihre sieben Zwerge, die sie dabeihat, tragen alle gelben Westen und sind verdammt laut, zu laut für Robert. Der Bus kommt, endlich, doch Robert muss erst warten, bis Schneewittchen ihre sieben Wichtel im Inneren des Busses verstaut hat – und das dauert ein Weilchen. Wie’s so ist, der eine will unbedingt am Fenster sitzen, ein anderer aber auch. Ein dritter muss dringend aufs Klo, ein anderer möchte wieder nach Hause. Schneewittchen hat Stress pur, Robert hingegen glotzt sie die ganze Zeit an, grad so, als ob sie eine Fata Morgana wäre. Dem holden Mädel entgeht das nicht und verärgert ruft sie ihm zu: „Was glotzt du mich so an, habe ich einen roten Pickel auf der Nase, oder was?“

„Entschuldige, ich war nur so in Gedanken. Nein, du hast keinen Pickel auf der Nase, ich bewundere nur deine Geduld mit diesen Rackern. Gehören diese Kinder alle dir?“

„Sag mal, spinnst du, so eine blöde Anmache habe ich schon lange nicht mehr gehört. Hör auf mich doof anzulabern, habe genug mit den Kleinen hier zu tun. Schau dass du weiterkommst und geh mir aus dem Weg.“

Robert versteht die Welt nicht mehr, darum lässt er Schneewittchen einfach Schneewittchen sein und steigt an der nächsten Haltestelle wieder aus. Er hat beschlossen zu Fuß weiterzugehen, um noch etwas auszulüften, damit später im Büro niemand was von seinem nächtlichen Ausrutscher merkt. Auf dem Weg dorthin sitzt plötzlich Rotkäppchen auf einer Parkbank. Das junge Mädchen trägt eine rote Mütze und hat einen Korb voller Sachen bei sich. Robert kann es nicht lassen, er muss sie einfach ansprechen: „Wohl auf dem Weg zur Großmutter, was?“

„Pass nur auf, dass dich kein Wolf frisst“, kontert couragiert das junge Mädchen. Doch Robert wollte sie nicht anmachen, er wollte lediglich lustig sein. Ist wohl nicht sein Tag heute, darum weicht er einem weiteren Wortwechsel aus und schreitet auf seinem Weg voran.

Später, als er an seinen Schreibtisch sitzt, schleicht sich ein Arbeitskollege in sein Büro. Jener hat schon lange auf Robert gewartet, denn er will unbedingt der Erste sein, der Robert die Hiobsbotschaft überbringt. „He Röbi (Kurzform von Robert), hast du das von Jasmine gehört?“

„Nein, aber sag’s mir nur, wenn’s wichtig ist.“

„Du kennst ja den neuen Mitarbeiter in der Buchhaltung, er soll Jasmin geschwängert haben.“

Robert glaubt nicht recht zu hören und kippt fast aus den Schuhen. Blind vor Wut und mit hochrotem Kopf läuft er ins Büro seiner Freundin. „Was erzählt man mir da, warum lässt du dich mit so einem Scheißkerl ein?“

„Robert, war Norbert bei dir? Klar, da hat wieder dieser Münchhausen seine Finger im Spiel. Schon den ganzen Vormittag erzählt dieser Depp überall herum, ich sei schwanger – und du komischer Vogel glaubst ihm das auch noch. Hat’s bei dir eigentlich noch nicht geklingelt, heute ist der 1. April, es ist also nur ein Aprilscherz, du Scherzkeks.“

Heute scheint wirklich nicht Roberts Tag zu sein. „Entschuldige, aber diese Nachricht hat mich tief getroffen.“

Die Entschuldigung ist wohl nicht so angekommen, denn Jasmine lässt Robert eiskalt abblitzen. Der Vormittag zieht sich ohne weitere Komplikationen hin. Zum Mittagessen, da Jasmin nicht mitkommen will, geht Robert allein zum Chinesen ums Eck. Da er heute nicht gerade gut gelaunt scheint und allein sein möchte, setzt er sich an einen leeren Tisch. Nicht lange, da erscheint ein Fremder und fragt höflich, ob er sich dazusetzen darf. Da Robert einfach der Kopf brummt und er keine Konservation mit irgendwelchen fremden Leuten führen will, bleibt er dem Fremden die Antwort schuldig und offenbart seine Frustration, indem er ihn keines Blickes würdigt. Doch der Fremde hält nichts von Roberts Abweisung und sogleich entflammt ein verbaler Schlagabtausch, den Robert haushoch verliert. Eigentlich wollte er nur seine Ruhe, warum versteht dieses Rumpelstilzchen das nicht. „Was bin ich, ein Rumpelstilzchen?“ schreit der Fremde und holt schon aus, zieht Robert eins über und verlässt wutentbrannt das Lokal. Mit blutender Nase steht Robert nun da und weiß nicht mehr, wo links und wo rechts ist. Die anderen Gäste schauen ihn nur fragend an und schütteln den Kopf. Was wohl denken sich diese Leute, wahrscheinlich dass er ein ungehobelter Rüpel ist.

Robert bricht abrupt seinen ereignisreichen Mittagstisch ab und, um sich nicht noch mehr Stress einzuheimsen, nimmt er sich den Nachmittag frei. Zur geistigen Ablenkung versucht er im nahen Wald zu joggen. Die Idee scheint nicht so grandios zu sein, denn nach dieser durchzechten Nacht fehlt ihm nicht nur die Kondition, auch seine Motivation lässt zu wünschen übrig. Als Robert so dahinspaziert, begegnen ihm zwei Knaben, beide so sieben, acht Jahre alt. Sie weinen bitterlich und als er sie nach dem „Warum“ fragt, sagt der eine: „Wir haben unsere Mutter verloren und finden nicht mehr nach Hause.“

„Ja, da kann euch ganz sicher die Polizei helfen, die findet sicher schnell heraus, wo eure Mutter wohnt.“

Gesagt getan, nimmt er die beiden bei der Hand und begleitet sie zum nächsten Polizeirevier. Doch oh Schreck, genau vor der Eingangstür zum Polizeirevier reißen sich die zwei Bengel los, rennen weg und von Weitem hört Robert sie schelmisch lachen und „April, April“ rufen. Erneut steht er da wie ein begossener Pudel und ärgert sich über seinen beschissenen Tag. Warum müssen ihm Hänsel und Gretel genau am ersten April über den Weg laufen? Robert hat genug, geht geradewegs nach Hause, schließt sich dort ein, legt sich ins Bett und zieht die Bettdecke über den Kopf.

Im Handumdrehen rasselt wieder dieser widerliche Wecker. Als er seine Augen öffnet, breitet sich über ihm kein Sternenhimmel aus. Trotzdem braucht es etwas, bis er so weit wach ist, dass er sich in die Realität einklinken kann. Erst jetzt bemerkt Robert, dass Jasmin neben ihm liegt. Ach ja, jetzt erinnert er sich wieder, gestern haben sie zusammen ihre Verlobung gefeiert. Wecker hin oder her, heute liebt ihn Robert und mit Elan schwingt er sich aus den Federn. Während er Jasmine das Frühstück ans Bett serviert, jubelte er laut vor sich hin: „Ach Gott, was für ein Tag, auch wenn’s der erste April ist, heute ist ganz sicher mein Glückstag.“

Ein ungebetener Gast

Jedes Jahr, wenn der Brand (Destillation) des Traubenschnapses abgeschlossen ist, lädt der Winzer traditionell alle Helfer zu einem Hoagascht15 im eigenen Haus ein. Aber nicht nur die Erntehelfer, auch Freunde, Nachbarn und die örtliche Prominenz sind stets gern gesehene Gäste im Haus der Winzerfamilie. Zur Unterhaltung der Besucher spielt wieder die Hausmusik der Familie auf, die wie schon alle Jahre zuvor das Publikum voll begeistern wird. Die große Stube ist bereits gut besetzt und in der Küche wird noch fleißig gewerkelt. Es ist ja kein Geheimnis, dass in diesem Haus nur Gutes aus Küche und Keller aufgetischt wird. Zudem ist es seit vielen Jahren Brauch, dass nach dem Brand die traditionelle Treberwurst36 serviert wird. Auch heuer wurde dafür extra ein Schwein, die sogenannte Hoagaschtsau, geopfert.

Wenn so viele Menschen zusammenkommen, gesellt sich auch gerne mal ein ungebetener Gast unter die Besucher. Heute könnte dies der hagere, schmuddelig gekleidete Typ sein, der es bis jetzt nicht geschafft hat, seine schäbige Mütze abzunehmen. Dieser Ungustl41 versucht gerade mit seiner Sitznachbarin ins Gespräch zu kommen. Die Betroffene, die Mutter des Winzers, ist schon weit über die 90, aber noch sehr rüstig und nimmt noch immer gerne am Alltag teil. „Wer sind oh Sie?“, fragt der illustre Gast neugierig die Greisin.

„Ich bin die Elsa vom Winzerhof hier, und wer bist du, ich habe dich hier noch nie gesehen?“

„Ja, ja, dass möchten immer alle wissen und wenn ich mich dann vorstelle, schaut jeder, dass er so schnell wie möglich aus meinem Aktionsradius verschwindet.“

„Soso, du willst mir also nicht sagen, wer du bist. Hier aber kennt jeder jeden, also verlangt es wohl der Anstand, dass auch du dich vorstellst.“

„Ja, wenn’s so ist, mich kennen die meisten nur unter dem Pseudonym Sensenmann oder auch Tod. Heute bin ich hier, um einen von euch abzuholen. Leider weiß ich noch nicht wer diesmal der oder die Auserwählte sein wird.“

„Dacht mir schon, dass du mir bekannt vorkommst, ich habe dich ja schon oft in meinen Träumen gesehen. Da ich hier wohl die älteste anwesende Person bin, bist du sicher gekommen, um mich abzuholen?“

„Nein, gute Frau, wie schon gesagt, weiß ich noch nicht, wer heute so in mein Beuteschema passt. Ich dachte mir, wenn ich mit den Leuten etwas ins Gespräch komme, dann fällt mir vielleicht der Entscheid etwas leichter.“

Gerade in dem Moment unterbricht ein musikalischer Einsatz der Hauskapelle das Gespräch mit der alten Winzerin. Alle lauschen mit Genuss den taktreichen Klängen, nur der Tod wartet ungeduldig die nächste musikalische Pause ab. Sogleich wendet er sich einem anderen Gast zu. Jener scheint auch schon etwas betagter zu sein, trotzdem muss er eine gewichtige Rolle im hiesigen Dorfleben innehaben. „Hallo guter Mann, wer sind Sie?“

„Und wer sind Sie, wenn Sie nicht einmal den Bürgermeister von hier kennen? Sie müssen wirklich von weither angereist sein.“

„Wie man’s nimmt“, meinte der Sensenmann. „Für die einen komme ich aus einer anderen Welt, den anderen bin ich stets zu nahe. Es jedem recht zu machen ist wohl eine unmögliche Sache, nicht?“

„Wer dich so ansieht, der könnte meinen, dass du die Nächte auf einer Parkbank verbringst. Jedoch wenn ich dein blasses, knochiges Gesicht betrachte und deiner leisen Stimme folge, könnte man meinen, du seiest der Tod?“

„Da schau her, das erste Menschlein, das mich erkennt. Ich muss dir wirklich Respekt zollen.“ Und schon spielt die Kapelle ihr nächstens Stückchen. Wiederum steht der Tod auf und wechselt seinen Platz. Neben ihm sitzt nun ein junger Bursche, der begeistert der Musik folgt. In der darauffolgenden Pause spricht ihn der Sensenmann an: „Hallo, du scheinst ein begeisterter Musiker zu sein, kommst du von hier?“

„Ja, ich bin der Sohn des Winzers und studiere Musik und Weinbau in Wien. Leider reicht meine Zeit nicht, um in dieser Hauskapelle regelmäßig mitzuspielen.“

„Was, zu wenig Zeit? Wenn man so jung ist wie du, dann hat man doch alle Zeit der Welt, nicht?“

„Studium, Mitarbeit auf dem Hof, Freundin und meine Berg- und Kletterleidenschaft nehmen mich so in Anspruch, dass mir zu wenig Zeit zum Musizieren bleibt.“ Mit dieser Aussage hat der Tod genug über den Jungen erfahren und wendet sich der Frau auf der anderen Seite zu. Sie verfolgt die musikalischen Darbietungen mit einem verbitterten Gesicht. „Hallo, meine schöne Frau, warum so verbittert?“

„Ich bin nicht verbittert, was glauben Sie denn. Was ist das für eine Art, jemanden mit solchen Worten in ein Gespräch verwickeln zu wollen. Meine Sorgen gehen wohl niemanden was an, oder? Mein innerlicher Ärger hat nichts mit dem hier zu tun. Zudem, wer sind Sie eigentlich, ich beobachte Sie schon eine Zeitlang, wie Sie den Gästen hier die Wörter aus der Nase ziehen?“

„Warum fragt mich gleich jeder, wer ich eigentlich bin? Bin ich so fremd, hinterlasse ich so einen unwürdigen oder andersartigen Eindruck bei den Leuten? Zudem ziehe ich bestimmt niemandem etwas aus der Nase, ich will nur die Gäste hier etwas besser kennenlernen.“

„Nein, Sie sind nicht andersartig, aber Sie machen auf mich eher einen nicht so sympathischen Eindruck, wie als ob Sie gleich jedermann zum Mitgehen überreden möchten.“

„Da liegen Sie gar nicht so falsch“, meint der Sensenmann und beendet abrupt dies schiefgelaufene Gespräch. Erneut wechselt er seinen Platz und spricht den Lehrer der Dorfschule an: „Hallo, Sie scheinen echt Freude an der musizierenden Jungend zu haben.“

„Ja, das waren alles meine Schüler und ich habe ihnen die ersten Takte beigebracht. Heute spielen sie in dieser Kapelle mit und jeder von ihnen ist ein Teil des Erfolgs. Schön zu erleben, wenn eigene Arbeit so in einen Erfolg einfließt.“

„Ich nehme an, dass Sie hier im Dorf der Lehrer sind. Eigentlich sollten Sie in Jubelstimmung sein, warum klingen Ihre Worte dennoch so traurig?“

„Ich fühle mich krank und auch mein Arzt ist mit meiner Gesundheit gar nicht zufrieden. Doch warum fragen Sie mich das, wer sind Sie und woher kommen Sie?“

„Nun denn, so schlimm kann es wohl noch nicht sein, ansonsten wären Sie heute nicht hier. Aber ich werde es dann sehen, denn ich bin derjenige, der Sie abholt, wenn Ihre Krankheit Sie besiegt hat.“

„Sie sind also der Tod. Sie habe ich mir ganz anders vorgestellt. Jetzt, wo ich ein Gesicht zu Ihrem vorauseilenden Ruf habe, weiß ich, dass ich Sie noch lange nicht brauchen werde.“

Dem Lehrer reicht’s, er steht auf und wechselt seinen Platz. Trotz des kleinen Schocks strahlt er jetzt plötzlich viel mehr Lebensfreude aus. Zwischenzeitlich hat sich der Sensenmann mit dem Arzt in ein Gespräch von Mann zu Mann eingelassen, weil jener stets versucht, sein alkoholisches Problem vor den Gästen zu verbergen. Etwas später verwickelt er noch den Herrn Pfarrer in eine amoralische Debatte, die die zwei bis an den Rand ihrer Beherrschung treibt. Nicht lange und Hochwürden verlässt die gute Stube und zieht sich in die Küche zurück, wo bereits die Treberwurst zum Servieren bereitsteht.

Das Bemerkenswerte bei allen diesen Gesprächen ist, dass der Sensenmann jedem einzelnem Gesprächspartner gleich so vertraut scheint, dass einer nach dem anderen ihm bereitwillig seine verborgensten Geheimnisse ausplaudert. Nichtsdestotrotz nimmt der bunte Abend seinen Lauf und während die allseits erwartete Treberwurst serviert wird, spielt die Musikkappelle für die begeisterte Gästeschar ein Gustostückerl nach dem anderen auf.

Alles hat ein Ende, auch der Hoagascht beim Winzer. Es ist schon spät geworden und bevor sich die Besucher auf ihren Heimweg machen, loben sie noch die Gastgeberfamilie aufs Höchste. Jeder Gast bekommt noch ein Schnapserl mit auf den Heimweg und schon schwärmen die Gäste in alle Richtungen aus. Auch der Sensenmann macht sich auf den Weg, jedoch nicht alleine. Aber wer schreitet an seiner Seite?

Malle und Ginkerl

Hart wie die Schulbänke waren in den 50er-Jahren auch die Zeiten. Bei vielen Häusern schaute die Not zum Fenster heraus. Auch waren im Schulalltag Backpfeifen, Tatzenstock und Ohren langziehen eine selbstverständliche Erziehungsmaßnahme. Kein Mensch regte sich darüber auf, schon gar nicht die Eltern. Im Gegenteil: Wurde man vom Lehrer abgestraft, setzte es zu Hause noch zusätzlich eine Bestrafung. Doch nicht alles war schlecht oder tat weh, wir Kinder von damals hatten auch viel Spaß, denn wir durften noch draußen im Wald und auf den Wiesen spielen und herumtollen. Jene Buben im Dorf, die kein Bandenmitglied (eng befreundete Buben) waren und selbst keine eigene Hütte im Wald besessen hatten, wurden von den anderen verspottet und eiskalt ausgegrenzt. In unserem Dorf herrschten zwei Bubenbanden, die Raubritter und die Indianer. Wir Raubritter waren die Größeren und behaupteten unser Territorium im Dorfwald. Die Indianer waren die Jüngeren und mussten sich mit dem Dorfanger begnügen. Trotz verbitterter Feindschaft gab es auch Gemeinsamkeiten wie zum Beispiel, dass Mädchen in keiner Bande Mitglied werden durften. Sie durften aber bei den offen ausgetragenen Bandenkriegen zuschauen und ihre Geschwister und Freunde anfeuern. Auch wenn’s im Sommer zum See ging, war man sich einig und alle Kinder vom Dorf gingen gemeinsam zum Baden.

Eines Tages zog eine neue Familie in unseren Ort. Vater hatte den Chefposten in der örtlichen Sparkasse bekommen, Mutter war Hausfrau und putzte nebenbei in der Schule. Mit ihnen kamen auch zwei neue Kinder zu uns, zwei Jungs. Mario, der Ältere, war ungefähr zehn Jahre alt und ein unheimlicher Lausbub, darum wurde er von seinen Eltern nur Malefizian25 gerufen. Der achtjährige Bruder war eine lange, dünne Bohnenstange, hieß Paul und hatte überhaupt kein Sitzleder. Für seine Eltern war er nur das Springinkerl33. Neu in unserem Dorf zu sein bedeutete fürs Erste totale Isolation von uns Dorfkindern, denn wer hier Einzug halten wollte, der musste sich erst beweisen. Alles klar, aber was bedeutete das für die zwei?

Die ersten Tage zogen sie alleine durchs Dorf und erkundeten alle Plätze. Da gab’s zum Beispiel den Dorfplatz, der anscheinend ein beliebter Treffpunkt für Alt und Jung war. Im Moment war gerade niemand vor Ort, so setzten sich die zwei Brüder dort auf eine Bank. Als Mario einen Schluck Wasser trinken wollte, bemerkte er, dass der Brunnen im Inneren stark verschmutzt war. Spontan meinte er zu seinem Bruder: „Komm, Paul, lass uns den Brunnen reinigen, vielleicht lassen uns dann die anderen Kinder hier mitspielen.“

Gesagt, getan. Also schlichen sie nach Hause und ließen dort eine Flasche Haarshampoo mitgehen. Wieder zurück am Brunnen, schüttete man einen ordentlichen Schluck davon ins Wasser. Ob sich die Schmutzränder lösten, konnten sie nicht mehr feststellen, denn sofort quoll eine Unmenge Schaum über den Brunnenrand und überflutete den ganzen Dorfplatz mit Seifenschaum. Springinkerl bekam es mit der Angst zu tun und sagte zu Malefizian: „He, bevor man uns hier erwischt, wäre es besser wir hauen ab.“

Nachkommende Passanten waren verwundert und schlugen sofort Alarm. Als später die Feuerwehr die Sache wieder in Ordnung gebracht hatte, fanden alle diesen Lausbubenstreich zum Lachen, aber nicht die Eltern, da kam so einiges auf die zwei Brüder zu. Auch wir anderen Kinder fanden die Aktion nicht so lustig, darum mussten Malefizian und Springinkerl weiterhin alleine durchs Dorf ziehen. Ein paar Tage später war ihnen immer noch recht langweilig. Da kamen sie auf die Idee, man könnte doch den verflixten Geldbörsentrick spielen. Flugs wurde eine alte Geldbörse an einen festen Zwirn gebunden und mitten auf den Bürgersteig gelegt. Selbst legte man sich hinter dem Thujenzaun auf die Lauer. Ging nicht lange und der erste vermeintliche Finder fiel auf den Trick herein. Der lachte noch über den Schabernack, aber schon beim nächsten Kandidaten, der darauf hereinfiel, hagelte es wüste Schelte. Als dann auch noch der Bürgermeister des Weges kam, war dieser von diesem Dummejungenstreich nicht gerade entzückt und zog den zwei Bengeln die Ohren lang. Dumm gelaufen, zudem langweilte dieser Spaß uns Kinder vom Dorf noch viel mehr als der Brunnenstreich.

Mit der Zeit wurden Malefizian und Springinkerl von der Langeweile regelrecht geplagt. Als sie an einem Samstag-abend auf dem Nachhauseweg an der örtlichen Kirche vorbeikamen, wollte Karl unbedingt das Gotteshaus von innen begutachten. Man war alleine, so konnten sich die zwei jeden Winkel dieser Kirche genauer anschauen. Als sie auf der Empore die Orgel entdeckten, hatte Malefizian eine Idee. Schwups organisierten sich die zwei Lausbuben das benötige Material und schon stand die Überraschung für die sonntägliche Messfeier parat. Als am nächsten Morgen die Orgel zum Einzug in die Kirche erklang, strömten plötzlich aus verschiedenen Orgelpfeifen eine Unmenge von Seifenblasen und tänzelten auf das Volk nieder. So einen Kircheneinzug gab’s im Dorf noch nie, im Gegenzug handelten sich Malefizian und Springinkerl zwei Wochen Hausarrest ein.