Girl vs. Girl - Sophie Gilbert - E-Book

Girl vs. Girl E-Book

Sophie Gilbert

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Beschreibung

Frauen gegen Frauen Warum gehen Frauen oftmals so negativ mit sich selbst und miteinander um? Dieser Frage geht Sophie Gilbert auf den Grund und identifiziert einen wichtigen Faktor: Die Popkultur der 90er- und frühen 2000er-Jahre. Sie analysiert so entlarvend wie erhellend, welche Mechanismen schleichend die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Frauen beeinflusst haben. Dazu gehört zum Beispiel die Darstellung von weiblichen Stars in den Medien, die von Objektivierung geprägt ist – Stichwort Reality-TV. Gilbert legt die unbewussten Wirkmechanismen hinter diesen Phänomenen offen und zeigt, was sich ändern muss.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Disclaimer: Im sechsten Kapitel geht es um sogenannten Torture Porn, es werden explizite sexuelle Handlungen beschrieben, die insbesondere die Degradierung von Frauen im Fokus und mitunter sadistische Züge haben.

© Piper Verlag GmbH, München 2025

Lektorat: Ariane Novel

Übersetzung: Britta Fietzke

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen:

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Motto

Einleitung

Eins Girl Power, Boy Rage:

Zwei Show Girl:

Drei Girls on Film:

Vier Girl Fight:

Fünf Beautiful Girl:

Sechs Final Girl:

Sieben Gossip Girls:

Acht Girl vs. Girls:

Neun Girl Boss:

Zehn Girls on Top:

Danksagung

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Motto

Für all die Girls, vor allem aber für Lily.(Und für Henry und John, die dafür sorgen, dass einfach alles Spaß macht.)

 

Einleitung

»Re-Vision – der Akt des Zurückschauens, eines Schauens mit neuen Augen, das Angehen eines Textes aus einer neuen kritischen Sichtweise – ist den Frauen mehr als nur ein Kapitel Kulturgeschichte: Es ist ein Akt des Überlebens. Solange wir die Voraussetzungen nicht kennen, in die wir verstrickt sind, können wir uns selbst nicht kennen.«

Adrienne Rich (1972)

 

»Frau wird nicht geboren, sie wird gemacht.«

Andrea Dworkin (1981)

 

Im Jahr 1999, im Jahr meines 16. Geburtstags, fanden drei kulturelle Ereignisse statt, die zu bestimmen schienen, wie man als junge britische Frau – als Mädchen – dem neuen Jahrtausend entgegenblicken würde. Im April wurde Britney Spears auf dem Cover des Rolling Stone abgedruckt, in pinkem Höschen und schwarzem Push-up, in der einen Hand einen Teletubby, in der anderen einen Telefonhörer. Im Mai wurde dann als Marketinggag eines Männermagazins ein achtzehn Meter hohes Nacktbild von Gail Porter, ihres Zeichens Moderatorin von Kindersendungen, auf den Londoner Palace of Westminster projiziert – in dem damals weniger als ein Fünftel der Abgeordneten weiblich waren. Und im September veröffentlichte DreamWorks Pictures American Beauty, einen Film, in dem ein Mann mittleren Alters immer wieder sexuelle Fantasien über die beste Freundin seiner Teenagertochter hegt. Der Film sollte später fünf Oscars gewinnen, unter anderem den für den Besten Film.

Aus heutiger Sicht scheinen alle drei Ereignisse von zwinkernder, postmoderner Ironie durchdrungen zu sein. (Fuchsienfarbene Satinbezüge? Ein Teletubby als Zeichen der Grenzüberschreitung?) Im Spears-Profil schwankt der Interviewer zwischen Lust – das Logo ihres BABY-PHAT-T-Shirts, so schreibt er, »spannte über ihrem üppigen Busen« – und der distanzierten Beobachtung, dass die Sexualität der Teenie-Idole zur Jahrtausendwende nur eine »sorgfältig ausgelegte« Falle sei, um Alben an leichtgläubige Dummköpfe zu verkaufen.[1] Die Projektion von Gail Porters Bild wurde von der Marketingagentur Cunning Stunts ohne ihr Wissen oder ihre Zustimmung ausgeführt. Sie wurde damals als riesengroßer, saukomischer Gag angepriesen und sollte bestätigen, dass Frauen gut genug waren für Softcore-Fotoshootings, aber nicht für die politische Arbeit. Lesters Fixierung auf eine Minderjährige wird in American Beauty als Paradebeispiel einer Midlife-Crisis dargestellt, obwohl der Film selbst Angelas Charakter zu nichts mehr als einer hocherotisierten Blumentischdeko verkommen lässt.

Ich nahm all das als Sechzehnjährige nicht bewusst wahr. Für mich war es nur allzu offensichtlich, dass Macht – zumindest die weibliche – sexueller Natur war. Es gab keine andere, oder zumindest keine wertvolle andere. Was aber noch entscheidender ist: dass die Art Macht, die in der Popkultur an der Schwelle zum 21. Jahrhundert fetischisiert wurde, nicht jene war, die man sich im Laufe seines Lebens aneignen konnte, etwa durch Bildung, Geld oder Berufserfahrung, sondern dass es um Jugend, Aufmerksamkeit und die Bereitschaft ging, mitzumachen – selbst wenn wir letztlich nur die Pointe sein durften.

Ich dachte bereits Anfang der 2020er-Jahre darüber nach, dieses Buch zu schreiben, als die Zeit nicht mehr linear wirkte, Fortschritt nicht mehr unabdingbar schien und jeder hässliche Trend, mit dem ich als Y2K-Teenagerin aufgewachsen war, seinen Weg wieder zurückgefunden hatte. Hillary Clintons gescheiterte Präsidentschaftskandidatur 2016, gefolgt von der Welle an Aussagen über sexuellen Missbrauch und Belästigung, die sich ein Jahr später in der #MeToo-Bewegung manifestieren sollte, verdeutlichten bestimmte Realitäten. Die Freizeitmisogynie der Nullerjahre war zurück, dieses Mal mit neuer Technologie und der Kulturfigur Andrew Tate an der Spitze, der einst in der Realityshow Big Brother teilnahm, während er parallel wegen Vergewaltigung unter Tatverdacht stand. Die Obsession der Klatschpresse mit Ehefrauen und Freundinnen wurde für TikTok neu erfunden, wo puppenhafte Frauen in affektlosen Monologen etwas über ihren finanziell abhängigen Traum eines »sanften, weiblichen Lebens« murmelten.[2] Die Body-Positivity-Bewegung, die alles dafür getan hatte, normalen Körpern in den Medien und im Einzelhandel den gebührenden Platz zu verschaffen, wurde schnell vom Aufschwung der Medikamente zur Gewichtsreduktion und einer neuen Frauengeneration mit schmalen Taillen und hervorstechenden Oberkörpern wieder verdrängt.

Alles Alte war nun wieder neu, fühlte sich aber dunkler und abgekoppelter denn je an. Die Aufhebung von Roe v. Wade 2022, des Abtreibungsrechts, bezeichnete den greifbarsten Rückschritt der Frauenrechte seit fünfzig Jahren. Aus kultureller Sicht konnte man dem Motiv der Stunde nicht entkommen, und es zeigte sehr genau auf, wie klein unser aller Ambitionen geworden waren. Erwachsene Frauen schenkten sich jetzt gegenseitig Freundschaftsbändchen und dechiffrierten Popsongs wie Codeknackerinnen für den Geheimdienst. Wir machten Mädelstrips, führten Mädelsgespräche, hatten die besten Mädelssommer unseres Lebens und stocherten in unseren Mädelsessen herum. Ich zog mir 2023 meinen besten millennialpinken Blazer an – den, den ich immer bei Podiumsdiskussionen trage –, um mich mit anderen Frauen vor einer erwachsengroßen Puppenschachtel anzustellen, alle gleichermaßen aufgeregt darüber, gleich Fotos von uns machen zu lassen, als könnte ein Augenblick der visuellen Solidarität den Verlust unserer reproduktiven Rechte wettmachen. Die Barbie-Welt, mit ihrem nur mit Frauen besetzten höchsten Gericht und der hegemonischen Weiblichkeit, verdeutlichte nur allzu sehr, dass wir immer noch nur mit ein paar mickrigen Brocken Macht herumspielten. Welche Frau würde da nicht gern, wenn sie die Wahl hätte, wieder ein Mädchen sein?

Viel zu viel an diesem Unbehagen kam mir bekannt vor. Es gab einen Zeitpunkt zu Beginn des 21. Jahrhunderts, als sich der Feminismus genauso nebulös und träge anfühlte, erdrückt von einer kulturellen Explosion des witzigen Extrems und der grellbunten Objektifizierung. In diesem Umfeld wuchsen Millennial-Frauen auf. Es legte fest, wie wir uns in unserer Haut fühlten, wie wir uns gegenseitig wahrnahmen und was wir dem weiblichen Kollektiv zutrauten. Es prägte unsere Ambitionen, unsere Selbstwahrnehmung, unsere Beziehungen, unsere Körper, unsere Arbeit, unsere Kunst. Ich erkannte, dass wir uns nicht vorwärtsbewegen können würden, ohne nicht vollständig zu begreifen, wie sehr uns die Kultur der Nullerjahre geformt hatte.

Mit diesem Buch wollte ich aus einer Perspektive der Kritikerin herausarbeiten, wie und warum jede Unterhaltungsform der Nullerjahre – Musik, Film, Fernsehen, Mode, Magazine, Pornografie – Mädchen die gleiche Botschaft vermittelte, und mit welcher Vehemenz wir diese internalisierten. Ich wollte verstehen, wie eine ganze Generation zu der Überzeugung hatte kommen können, dass Sex unsere Währung war, dass Objektifizierung Empowerment bedeutete und Frauen eine Witzpointe waren. Warum konnte man uns so einfach von unserer eigenen Unzulänglichkeit überzeugen? Wer gab den Ton an? Warum orientierte sich, jahrzehntelang und sogar bis heute, fast jedes kulturelle Produkt so dermaßen am männlichen Verlangen und der männlichen Lust?

Ich ging nicht unbedingt davon aus, dass ich alle Antworten finden würde. Vielmehr wollte ich hauptsächlich die neuere Geschichte umdeuten, und das auf eine Weise, die möglicherweise auch meine eigene Perspektive erweitern würde. Jedoch wurde mir vor allem deutlich, wie sehr Kultur, Feminismus und Geschichte auf separat verlaufenden Gleisen fuhren, die sich dabei gegenseitig durchdringen, stören und sogar zum Entgleisen bringen. Zudem faszinierten mich die Echos – die Verbindungen, Wiederholungen und Trends im Laufe der Zeit und über Genregrenzen hinweg. Sie hallen noch immer nach, während wir weiterhin unberechenbar zwischen Fortschritten und Rückschlägen hin- und herschwanken.

 

Im Rückblick scheinen all diese Trends und die Kultur, für die sie standen, untrennbar mit dem Aufstieg des Postfeminismus zusammenzuhängen. Dieser entstand in den 1980er- und 1990er-Jahren, weniger als explizite Ideologie, sondern vielmehr als Mechanismus für die Medienaufmerksamkeit und den Kapitalismus, und war eine Reaktion auf den Frauenaktivismus, verstärkt von dem Gefühl, dass die zweite und dritte Welle des Feminismus unsere kollektive Freiheit irgendwie einschränken würden. Susan Bolotin beschrieb 1982 im New York Times Magazine ihre Beobachtungen, dass junge Frauen sich plötzlich vom Feminismus lossagen und jegliche Verbindung leugnen würden, obwohl sie im selben Atemzug dessen Erfolge anerkannten. Eine Hetzkampagne gegen die Frauenbewegung schien ihren Job gut gemacht zu haben; jüngere Frauen, so schrieb Bolotin, deuteten Feministinnen als »unglücklich« und »schrill«, und das, während sie die neuen Möglichkeiten, die diese Frauen auch für sie erkämpft hatten, mit offenen Armen begrüßten.[3]

Der Postfeminismus verlief schwammig; er schien sich primär als Gegenbewegung zu einem Schreckgespenst des Feminismus zu definieren, bei dem Frauen zu wahllosem Sex, hemmungslosem Geldausgeben und entweder stereotyper Mädchenhaftigkeit oder offenherziger Sexyness – ganz nach eigenem Belieben – angeregt wurden. All diese Punkte wurden mit Nachdruck als »Empowerment« verkauft, ein Wort, das mich noch heute äußerst argwöhnisch werden lässt, wenn ich ihm in freier Wildbahn begegne. Die postfeministischen Ideale durchzogen in den 1990er-Jahren langsam die gesamte Popkultur, und es war kein Zufall, dass das Jahrzehnt mit der erbitterten aktivistischen Energie der Riot Grrrls begann, um dann mit den hyperkommerzialisierten Spice Girls zu enden, deren Genialität darin lag, wie es die Journalistin Caity Weaver 2019 beschrieb, »die Vorstellung des Erwachsenseins eines jungen Mädchens darzustellen. […] Pyjamaparty-Sperenzchen als Karriere«.[4] Es ist eine reine Infantilisierung, wenn man jeglicher Ambitionen beraubt wird. Ein prägender postfeministischer Avatar war Carrie Bradshaw aus Sex and the City, eine puppengleiche Frau, völlig dem Konsum verschrieben, mit regenbogenfarbener Schuhsammlung und einer Wohnung in der Upper East Side, die einer großen Umkleidekabine gleicht. In der Literatur und später auch im Film bereitete Bridget Jones einem nachhaltigen neuen Frauenarchetyp den Weg: dem Wrack. (Das Buch, so merkt eine Besprechung der New York Times 1998 an, »fängt geschickt die Art ein, wie Frauen heutzutage zwischen der ›Ich bin eine Frau‹-Unabhängigkeit und dem jämmerlich-girlyhaften Wunschtraum pendeln, alles für alle Männer sein zu wollen« – das Paradox des Postfeminismus auf den Punkt gebracht.[5])

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Frauenbewegung an Fahrt aufgenommen. Unter anderem die Veröffentlichung von Susan Faludis Backlash – Die Männer schlagen zurück 1991 und der Schock über Anita Hills Aussage vor dem Senat während Clarence Thomas’ Bestätigungsverfahrung.[1] Im selben Jahr formierte sich die Dritte Welle des Feminismus, eine Bewegung, die wirklich inklusiv, sexpositiv und voller hoffnungsvollem Ausblick in die Zukunft sein wollte. Was mich während meiner Recherche zu diesem Buch richtig erstaunte, war die Effizienz, mit der diese aktivistische Energie von der Massenkultur abgedämpft wurde. In der Musikbranche wurden die wütenden Frauen des Rocks die gesamten 1990er-Jahre lang durch viel jüngere, deutlich weniger meinungsstarke Mädchen ersetzt. In der Modebranche wurden mächtige Supermodels, die die Bezahlung verlangten, die sie verdienten, und die sich gegenseitig bestärkten, zugunsten von schwachen, passiven Teenagerinnen ausgemustert. Der Feminismus wurde im Laufe der 1990er-Jahre stufenweise von der Kultur umdefiniert – vom kollektiven zum individuellen Kampf. Statt einer integrativen Bewegung, die die Intersektionalität von Race, Klasse und Gender anerkannte, bekamen wir selektive soziale Aufstiegsmöglichkeiten und ungezügelten Konsum. All diese Aspekte entwickelten sich im Laufe der kommenden Jahrzehnte weiter, beeinflusst vom Wirtschaftsfeminismus nach Lean in, der Girlboss-Bewegung und der »Ich will mir hier schließlich keine Freunde machen«-Erbarmungslosigkeit des Reality-TV.

Diese Umkehrung des Protests war zugleich der Beginn der Nullerjahre. Das Kunststück der postfeministischen Massenmedien lag darin, wie Natasha Walter in ihrem Buch Living Dolls 2011 erörterte, dass sie Wörter wie Befreiung und Wahl zweckentfremdet hatten, um Frauen »eine bereinigte, hochgradig sexualisierte und immer begrenztere Vorstellung von Weiblichkeit zu verkaufen« – eine, in der von uns erwartet wurde, dass wir ein Leben wählen würden, in dem wir sowohl willige Objekte als auch leichte Ziele wären.[6]

 

Mir helfen diese sich verschiebenden kulturellen 1990er-Ideale des Frauseins bei meinem Verständnis dessen, warum die Nullerjahre so dermaßen grausam waren, denn die Ideale des Postfeminismus wurden zu Anweisungen, denen sich keine von uns wirklich entziehen konnte. Man konnte nur auf eine Art in der Öffentlichkeit existieren, und die stellte eine Falle dar. Der Druck auf die immer jünger werdenden Nachwuchsstars und -sternchen – »Es regnet eindeutig Teenager!«, so proklamierte 2003 ein berühmt-berüchtigtes Cover der Vanity Fair – stieg ins Unermessliche an, weil sie nun alle die wild voneinander abweichenden Eigenschaften für sich bestätigen können mussten, um erfolgreich zu sein.[7] Siebzehnjährige sollten nun also sexy Jungfrauen sein – Mädchen mit dem Aussehen von Pornosternchen, die aber Keuschheitsringe tragen – und sollten zudem jeder Zielgruppe alles Mögliche verkaufen. Das ist keine Gratwanderung, die allzu lang möglich ist, und je sichtbarer die Frauen im Laufe der 1990er-Jahre ihre Sexualität ausdrückten oder sich ihr unterwarfen, desto mehr wurde wiederum von uns als weibliches Kollektiv verlangt.

Ich habe dieses Buch chronologisch aufgebaut, von den 1990er-Jahren bis heute, um fassen zu können, was in der Kultur vor diesem geschichtlichen Hintergrund passiert ist. Und, wie ersichtlich werden wird, spiegelt fast jede Ära, Kunstform, jeder historische Moment, Trend und jede Ikone den Einfluss des Genres wider, das im Laufe der letzten 25 Jahre noch omnipräsenter geworden ist als jede andere Art der Unterhaltung. Der englische Titel dieses Buches, Girl on Girl, war ursprünglich als Scherz gemeint – es sollte auf ironische Weise alle Arten darstellen, auf die Frauen gegeneinander und sich selbst ausgespielt wurden, deren kollektive Kraft im Laufe meines Erwachsenenlebens behindert wurde. Je mehr ich jedoch recherchierte, desto mehr schien die Pornografie wirklich alle Massenmedien durchdrungen zu haben. Der Titel bekam also noch eine zweite Ebene.

Der pornografische Einfluss stürmt die Musik: im Intro von Lil’ Kims Hardcore, in Fiona Apples verstörendem Video zu »Criminal« und während der VMAs 2003, als Snoop Dogg mit zwei angeleinten erwachsenen Frauen erschien. Die Pornografie findet sich in der Kunst und in der Mode: in Jeff Koons’ sexuell expliziter Serie Made In Heaven, in David Baileys und Rankins Fotoserie von 2003, der sogenannten Pussy Show, in der Arbeit und dem Leben Terry Richardsons und in der Y2K-Besessenheit vom sichtbaren Tanga. Die Pornografie steckt hinter dem fast gänzlichen Verschwinden der Schambehaarung, der Ausbreitung des Hollywood Waxing und der Brazilian Butt Lifts und zumindest teilweise hinter der explosionsartigen Zunahme kosmetischer Eingriffe der letzten 25 Jahre. Er ist buchstäblich, wenn auch unscharf und dezent, in der Eröffnungsszene von American Pie zu sehen und thematisch in der Welle an Filmen zu finden, die diese Teenie-Sexkomödie imitierten. Pornografie steht hinter dem Arthouse-Filmtrend, der expliziten Sex mit emotionaler und körperlicher Gewalt verbindet. Sie lässt sich in den Upskirt-Bildern junger weiblicher Stars in den späten Nullerjahren wiederfinden und darin, wie Sexvideos von und mit jungen weiblichen Prominenten gestohlen und online geteilt wurden. Die Pornografie ist deutlich erkennbar in Hannahs und Adams verwirrender Liebesbeziehung in Girls. Und sie ist sogar in der Politik zu finden: Nur wenige Tage nach dem republikanischen Parteitag 2008 begann Hustler Video mit der Produktion des Hardcore-Films Who’s Nailin’ Paylin, mit den Parodien Sarah Palins, Hillary Clintons und Condoleezza Rice’.

Es kommen noch viele weitere Themen in den Betrachtungen der folgenden Kapitel vor: die einschränkende und rückschrittliche Darstellung von Frauen im Reality-TV, der Aufstieg der Autorinnen und ihrer Autofiktion, wie die Girlboss-Ära das individualistische Ethos des Postfeminismus zu Gold machte. Es faszinierte mich jedoch, wie viel sich dessen, was ich zu verstehen versuchte, auf Pornografie zurückführen ließ. Sie ist das prägendste Kulturgut unserer Zeit – das, was am meisten unser Denken über Sex und somit über einander beeinflusst hat. Denn »Pornografie informiert, überzeugt, diskutiert nicht«, schrieb Amia Srinivasan 2022 in ihrem Buch Das Recht auf Sex. »Pornografie trainiert.«[8] Sie hat eine ganze Menge der Popkultur trainiert – wie bei dieser Lektüre noch zu sehen sein wird –, um Frauen als Objekte zu sehen, als Sache, die man mundtot macht, eingrenzt, fetischisiert, brutalisiert. Und sie hat auch den Frauen geholfen zu trainieren. Die Sozialpsychologin Rachel M. Calogero fand 2013 in einer Studie heraus, dass Frauen deutlich seltener zum Aktivismus neigten und nach sozialer Gleichberechtigung strebten, je mehr sie zur Selbstobjektifizierung – der Kernbotschaft des Postfeminismus und der Pornografie gleichermaßen – tendierten.[9] In meinen Augen erklärt das schon viel dessen, was Frauen und der Machtverteilung im 21. Jahrhundert passiert ist.

Dieses Buch ist auf keinen Fall vollständig, denn ich habe thematisch mehr ausgelassen, als ich reinnehmen konnte, vor allem, weil ich zum größten Teil Verbindungen herstellen und Muster erkennen wollte. Der ausgewählte Zeitabschnitt war primär geprägt von Heteronormativität, Gender-Essenzialismus und einer starren Binarität – und all diese Punkte haben meine Möglichkeiten eingeschränkt, jenseits dieser Korsette schreiben zu können. Dies ist nur ein kleines Puzzleteil des viel größeren Projekts der Neubewertung. Immerhin ist es ein Ausdruck von Hoffnung, wenn man die Geschichte gemeinsam analysiert: Wir wollen und sollten all die Falschabzweigungen verstehen, damit wir uns einen anderen Weg in die Zukunft besser vorstellen können.

[1]Anm. d. Übers.: Trotz der Vorwürfe der sexuellen Belästigung wurde Thomas zum Richter des Supreme Court ernannt, während Hill öffentlich vernommen, der Falschaussage bezichtigt und später entlassen wurde.

Eins Girl Power, Boy Rage:

Musik und Feminismus in den 1990er-Jahren

»Ich habe mal jemanden sagen hören, dass man in der Musikbranche nicht mehr nach Menschen mit Talent Ausschau hält, sondern jetzt nach Menschen mit einem gewissen Aussehen und Kooperationswillen.«

Joni Mitchell (2004)

 

»Wann hört dieser Caveboy-Scheiß endlich auf?«

dream hampton (1991)

 

Die Musikkritikerin Jessica Hopper beschrieb 2003 in ihrem Essay »Emo: Where the Girls Aren’t« im Punk Planet, wie entfremdet sie sich von den meisten einflussreichen Kunstformen der Zeit gefühlt habe: »Die Mädels in den Emo-Songs der heutigen Zeit haben keine Namen. Unsere Handlungen werden einzig durch die detaillierte Darstellung der neurotischen Selbstverstrickungen des jungen Sängers abgebildet – unsere persönliche Macht ist lediglich unser Einfluss auf sein Liebesleben. Wir sind Gefäße, die vom Licht der Liebe eines Jungen erlöst werden. Auf einem Sockel, auf dem Rücken.«[10]

Viele von uns erahnten damals diese Dynamik, auch wenn wir es rational nicht ganz fassen konnten. Hoppers Aussage über Emo trifft auf einen Großteil der Musik in den Nullerjahren zu: Die bekanntesten Hymnen dieser Zeit waren bleierne Ohrwürmer, Stripclubsoundtracks voller abgedroschener Klischees über die männliche Potenz und hinterlistige, raffgierige Frauen. Ich tanzte in meinen späten Teenagerjahren und in meinen Zwanzigern zu Sisqós »Thong Song«, Christina Aguileras »Dirrty« und 50 Cents »P. I. M. P.«, ohne zu begreifen, dass sich etwas verschoben hatte. Man kann die Kultur während der Jahrtausendwende nicht ohne einen Rückblick auf die 1990er-Jahre analysieren, wo einzelne musikalische Spannungsfelder auf unheimliche Weise das Kommende vorhersahen und prägten. Musik war in diesem Jahrzehnt der Austragungsort der wohl wichtigsten Kämpfe über Sex, Macht und Feminismus. Dort spielten – und protestierten – die Provokateure und Rebellen. Die Frauen in der Musik der 1990er-Jahre waren wütend und grob und aufregend mächtig. Und dann, auf einen Schlag, waren sie weg – ersetzt durch Mädchen. Der sie verbannende Backlash hallte in allen Medienarten nach, und das so dermaßen unbarmherzig und überzeugend, dass den Menschen meiner Generation kaum auffiel, was wir gerade verloren hatten.

Madonna veröffentlichte Ende 1990 ein Video zu ihrer Single »Justify My Love«, das den Ton für das gesamte Jahrzehnt setzen sollte: unverfroren, wahnsinnig sexuell, ein wenig schelmisch. Das Lied war ein hypnotisches, trip-hoppiges Manifest an die Lust, das dazugehörige Video eine konzeptuelle, wahnsinnig sexuelle Erkundung von Fantasie und Begehren, das den öffentlichen Diskurs der Prä-Internet-Ära explodieren ließ. Man sieht Madonna, in Schwarz-Weiß gefilmt, wie sie, im schwarzen Regenmantel, über einen Hotelflur zu einer Verabredung läuft, dabei leicht humpelt und sich die Hand wie vor Schmerzen an den Kopf hält. Beim Vorbeilaufen an verschiedenen Türen bekommen wir flüchtige Einblicke in Zimmer mit Menschen, die uns betrachten, während wir sie betrachten. Zu dem Star gesellt sich ihr Lover (gespielt von ihrem damals tatsächlichen Freund, dem liebenswerten Muskelpaket Tony Ward); ein Mann schnürt das Gummikorsett einer Frau zu; ein Tänzer in einem Ganzkörperanzug windet sich in wechselnde Positionen; Ward beobachtet Madonna mit jemand anderem, seine Mimik ein Bild. Noch mehr Menschen erscheinen; Ward wird in Fetisch-Netzgewebe gefesselt; alle testen die fließenden Grenzen von Sexualität, Gender und Dominanz. Schließlich zieht Madonna ihren Mantel wieder an und geht lachend davon, erfrischt und beglückt, nun nicht mehr müde.

Die unverblümte, schamlos zur Schau gestellte Sexualität war Sinn und Zweck des Videos. Bis zum Ende des Jahre hatte die Aids-Epidemie über 120 000 Leben in den Vereinigten Staaten gefordert, davon ein Fünftel allein in New York, dem Zentrum von Mode, Kunst, Musik, Medien und Werbung.[11] Die kollektive Angst davor, dass Sex tödlich sein könnte, hatte in den Medien zu zwei völlig gegensätzlichen Denkrichtungen geführt. Die eine, der sogenannte »Neue Traditionalismus«, forderte ein Revival altmodischer Werte, bei denen Frauen lieber an den Herd gingen.[12] (Der Film Eine verhängnisvolle Affäre von 1987 machte diese Angst vor einer moralisch verkommenen amerikanischen Kultur in Form von Glenn Close’ Figur der sexuell abenteuerlustigen Karrierefrau, der Geliebten, die sich nicht abservieren lässt und aus Rache das Kaninchen kocht.) Die andere, der »Neue Voyeurismus«, fand Sex toll, aber verstand es eher als Zuschauersport. »Zu einer Zeit, in der Sex immer gefährlicher wurde, wurde es unumgänglich, ihn anzuschauen, zum Kopfkino zu machen und darüber zu lesen«, schreibt die Newsweek 1992 in einem Feature über Madonna.[13] »Durch Aids wurde der Voyeurismus von den sexuellen hinteren Reihen […] in die erste versetzt.«

Die Kultur sollte das restliche Jahrzehnt lang vom Spannungsfeld dieser beiden gegensätzlichen Mächte geprägt sein. Der Neue Traditionalismus und der Neue Voyeurismus schienen einander entgegenzustehen, aber letztlich versprachen sie den Frauen das Gleiche: dass sich Erfüllung und Wohlstand finden ließen, wenn man auf die Wünsche der Männer einging. In der Musik jedoch wehrten sich die Frauen. Das Video zu »Justify My Love« liest sich jetzt wie eine unverfrorene Bestätigung der sexuellen Freizügigkeit in turbulenten Zeiten. Jedoch mit einem Twist. Madonna ist das Subjekt des Videos, die Fantasien, die Bilder, die Lust sind alle ihre. Es war ihr egal, ob sie damit Männer oder das Massenpublikum vor den Kopf stieß. Das Video endete mit den folgenden abgebildeten Worten: »Poor is the man/Whose pleasures depend/On the permission of another.«

Madonna muss mit einer Entrüstungswelle gerechnet haben, und die hat sie auch bekommen. Sie stieß aber damit auch eine sexpositive Welle der Musik an, in der die weiblichen Gelüste an erster Stelle standen. Janet Jackson veröffentlichte 1993 ihr Album Janet – seidenweich, sinnlich, ganz im Zeichen der Lust. Das Video zur Single »Any Time, Any Place« spielt mit denselben voyeuristischen Reizen wie schon »Justify My Love«; Menschen spionieren einander durch Gucklöcher und Briefkastenschlitze aus, und ein benachbartes älteres Ehepaar schaut missbilligend zu, wie Jackson den Kopf ihres auf ihr liegenden Liebhabers nach unten schiebt – ein revolutionäres Bekenntnis zur eigenen sexuellen Macht und Gleichberechtigung, die später in Videos und Songtexten von TLC, Mary J. Blige und Lil’ Kim nachklingen sollten.

Damals waren Musikvideos noch eine neue Kunstform. Die Vorliebe für Voyeurismus in den 1990er-Jahren war nicht nur eine Reaktion auf Aids: Bilder wurden omnipräsenter und überfrachteter, weil Musik nun auch geschaut, nicht nur gehört werden konnte. Als MTV 1981 gelauncht wurde, veränderte der Sender das Wesen der Pop- und Rockstars. Über Nacht wurde das Aussehen genauso wichtig wie die Musik. Künstlerinnen wie Madonna, Cyndi Lauper und Tina Turner, deren einzigartige Ästhetik ihnen einen sofortigen Wiedererkennungseffekt im Fernsehen verlieh, gingen in dem neuen Medium völlig auf. Jedoch schienen Madonna und Jackson zudem erkannt zu haben, dass Videos Frauen nun auch zur Zielscheibe machten. Zwölf Tage nach dem MTV-Launch begannen Duran Duran mit der Produktion des sechsminütigen Videos für »Girls on Film«, in dem sich Models oben ohne Kissenschlachten lieferten, im Schlamm miteinander rangen, sich küssten, einander Champagner über die Brüste kippten und auf einem übergroßen, mit Rasierschaum bedeckten Pfahl ritten. Somit passten sie kitschige sexistische Bilder an ein neues technologisches Zeitalter an.

Madonnas und Jacksons Videos fochten offen die Anschauung an, dass Frauen zum Gefallen der Männer auftreten sollten. Madonna spielte 1986 in ihrem Video zu »Open Your Heart«, in dem auch ein riesiges Aktbild der polnischen Künstlerin Tamara de Lempicka vorkommt, eine Peepshow-Tänzerin vor einem Publikum, das sie anzüglich, aber emotionslos beobachtet. Im folgenden Jahr wurde in einer Studie festgestellt, dass »Rockvideos der erste richtige Beitrag des Kabelfernsehens zum Unterhaltungsprogramm« waren, jedoch der Großteil der Videos auf MTV Frauen als Sexobjekte oder zweidimensionale Stereotype darstellte.[14] Madonna war sexpositiver als möglicherweise jede andere Person auf diesem Planeten, aber für sie war Sexualität auch ein Synonym für Macht. Ihr 1992 veröffentlichter erotischer Bildband SEX war ein weiterer Ausdruck ihrer Fantasien: mal surreal, mal kinky, mal einfach nur komisch. Die Autorin Mary Gabriel argumentierte, dass es »möglicherweise das erste wichtige Buch mit sexuellen Darstellungen von Frauen war, das nicht zur Erregung eines heterosexuellen Manns veröffentlicht wurde«.[15] Und dennoch würde die Unterhaltungsindustrie nur eine Schlussfolgerung ziehen: dass es sich um Sex handelt – und sich verkaufte und verkaufte und verkaufte.

 

Auf gewisse Weise lässt sich die Geschichte der feministischen Bewegung der 1990er-Jahre entlang der Entwicklung eines einzigen Slogans erzählen: Kathleen Hanna befand sich 1991 in ihrem letzten Semester am College in Olympia, Washington, und arbeitete an ihrem Fanzine für ihre Punkband Bikini Kill. Hanna hatte einige der Publikationen der feministischen Psychologin Carol Gilligan über das Heranwachsen als Mädchen, über Selbstbewusstsein und Widerstand gelesen, und sie hatte mit Tobi Vail, dem Schlagzeuger von Bikini Kill, überlegt, wie ihr nächstes Fanzine heißen sollte. »Lass uns etwas Untypisches mit ›Girl‹ verbinden«, erinnert sich Hanna 2024 an ihren Vorschlag in ihrer Autobiografie Rebel Girl.[16]

»Power«, erwiderte Vail. »Girl Power.«

Zum Ende der 1990er-Jahre hin sollte Girl Power ein universell bekannter Slogan sein, aber je mehr er zitiert wurde, desto inhaltsloser schien er zu werden. Girl Power als Ideologie der frühen 1990er-Jahre war intensiv und bewusst politisch. Sie filterte die Wut des Punks durch gelebte Erfahrungen, verlangte mehr Raum und Respekt für Frauen bei Liveauftritten sowie in der gesamten Industrie und erschuf radikale Texte, die oft – dank ihrer Verwendung von Collagen, Zeichnungen und Großbuchstaben – denen eines Mädchentagebuches glichen. Ein Flyer, den Hanna für eine Show von Bikini Kill erstellte, featurte eine Liste von Imperativen, überschrieben mit »Die Revolution Beginnt Hier + Jetzt in Jeder von Uns«, und beinhaltete auch Aufrufe wie »Widersteht der Internalisierung des Kapitalismus, der Reduzierung von Menschen + sich selbst auf zum Konsum bestimmte Waren«.[17] Andere Zines der Zeit, assoziiert mit der aufstrebenden Bewegung, die später mit Riot Grrrl in Verbindung gebracht wurde, befassten sich mit Themen wie der Postmoderne, Bisexualität, Inklusion im Feminismus und der Arbeit des französischen surrealistischen Theaterautors Antonin Artaud.

Es gab kein politisches Teen Vogue in den 1990er-Jahren. Als Teenagerin im Vereinigten Königreich las ich Just Seventeen, eine hochgradig konsumorientierte, von Jungs besessene Zeitschrift, die nach einer Zeile der Beatles über das Daten von Teenagern benannt wurde. Darin las man über Bauch-Beine-Po-Übungen, den zwanzig Gründen, warum man seinen Schwarm anrufen sollte, bekam sogar explizite Sextipps, aber erfuhr nichts über Artaud oder die Kommodifizierung des Selbst. Die Schriftstellerin Olivia Laing, die auch in dieser Zeit in Großbritannien aufgewachsen ist, hatte da mehr Glück: Sie entdeckte die Riot-Grrrl-Bewegung dank einer glühenden Performance der Punkband Huggy Bear in der Sendung The Word auf Channel 4 und schickte sofort einen frankierten und adressierten Rückumschlag los, um ein Zine für sich zu bestellen. »Über Teenagerinnen lässt sich leicht herablassend urteilen – frivol, nichtssagend, oberflächlich –, aber wenn man sich diese heimlich geschriebenen Texte anschaut, dann bin ich beeindruckt von der Intensität der Gedanken«, schrieb sie 2018 im Guardian. »Die frühen Zines diskutierten, wie Mädchen empowert werden können, um auf sich aufzupassen, um die Straßen und die Moshpits zurückzugewinnen. […] Aber die potenzielle Selbstgerechtigkeit wird von der avantgardistischen Respektlosigkeit des Stils untergraben. Die Kultur des Mainstreams wird wortwörtlich zerhackt und neu angeordnet, als i-Tüpfelchen mit Kritzeleien von Pistolen und Sternen bestickt.«[18]

Ich habe mich immer gefragt, warum die Kinder- und Jugendjahre von Frauen als verwöhnt oder putzig abgewertet werden, wenn doch die Realität des Aufwachsens als junge Frau so roh, so voller emotionaler Gewalt und von Blut geprägt ist. Leiden die Mädchen nicht genug, um ernst genommen zu werden? Hanna erinnert sich in Rebel Girl an ihre Erfahrungen, die zu ihrem Punkaktivismus führten: ihr gewalttätiger Vater, den sie mit ihrer Schwester zusammen davon abhalten mussten, sie beide und sich selbst zu erschießen; eine ungeplante Schwangerschaft und Abtreibung, für dessen Bewilligung sie einen Aufsatz hatte schreiben müssen, weil sie noch minderjährig war; als ihr Exfreund die Universitätsbibliothek mit ihren Nacktfotos tapezierte; ihre Erfahrung als Ehrenamtliche in einem Frauenhaus, nachdem ihrer Mitbewohnerin von einem Fremden Gewalt angetan worden war; ihre Zeit als Tänzerin in einem Nachtclub; ihre Vergewaltigung durch einen engen Freund, dem sie vertraut hatte. Sie erinnert sich daran, dass die Art Feminismus, wie sie ihn suchte, nicht existierte. Der Name »Bikini Kill« war eine Referenz auf das Bikini-Atoll, ein Korallenriff, das Teil der Marschallinseln ist, wo die US-amerikanische Regierung nach der Zwangsumsiedlung der Einheimischen Atomwaffen testete. Hanna schreibt, dass das Militär »gegen den Willen von Rita Hayworth ein Bild von ihr auf eine der Bomben klebte, was ihr den Spitznamen ›Bombshell‹ verschaffte«.

Die Riot-Grrrl-Bewegung wurde von Anbeginn an von der Wut angetrieben, die solche Herabwürdigungen und Übergriffe auslösten. Der Punk gedieh Ende der 1980er-Jahre in Washington, D. C., und im Pazifischen Nordwesten, ließ aber wenig Raum für Frauen und Mädchen, die sich innerhalb der Musikbranche ausgegrenzt und in ihrem Alltag nicht sicher fühlten. Bands wie Babes in Toyland, Bikini Kill, Heavens to Betsy, Excuse 17, 7 Year Bitch und Bratmobile wuchsen dann Anfang der 1990er-Jahre zu einer heftigen, aber diffusen Bewegung zusammen. Hanna und Vail veröffentlichten 1991 das Riot Grrrl Manifesto, in dem sie Sichtbarkeit, Ermutigung und Sicherheit als Notwendigkeit für Künstlerinnen beziehungsweise deren Wachstum vorbrachten und in dem sie erklärten, dass eine »wütende Grrrl-Rock-Revolution« kurz bevorstünde, die »das psychische und kulturelle Leben der Mädchen und Frauen überall retten« wollen würde.[19] Die tourenden Bands verbreiteten die Idee im ganzen Land und es entstanden überall Riot-Grrrl-Ortsgruppen.

Der Chicago Reader befasste sich 1992 mit der Riot-Grrrl-Szene und hielt fest, dass eine der frühesten politischen Handlungen kein Lied gewesen sei, sondern eine Liste von Vergewaltigern, die an eine Toilettenwand im Evergreen State College gekritzelt worden war.[20] Die Geheimhaltung der Bewegung – gestärkt sowohl von öffentlichem als auch privatem Diskurs zwischen ihren Followerinnen – war ein wichtiger Aspekt ihrer frühen Popularität, führte aber auch zu ihrem Niedergang. Die Koalition war aufgesplittert, gänzlich ohne formelle Struktur, was sie angreifbar machte für Vorwürfe, kindisch, preziös und nicht inklusiv genug zu sein. Viele Punkfans fühlten sich ausgegrenzt: Die Musikerin Ramdasha Bikceem gründete mit fünfzehn Jahren ihr eigenes Zine, GUNK, in dem sie dann schrieb, dass sie sich doppelt ausgeschlossen fühle, sowohl von der von ihr so geliebten Musik als auch von der Riot-Grrrl-Szene, die sie als »weiße bürgerliche Punk-Grrrls« beschrieb.[21]

Bikini Kill, die frustriert waren von der Herablassung, mit der die Bewegung in den Medien dargestellt wurde, gaben ab 1993 keine Interviews mehr, was den Einfluss von Riot Grrrl stark einschränkte. Jedoch schuf Hannas »Girls to the Front«-Ethos auch außerhalb der Musikszene einen Raum für weibliche Punkfans und Nachwuchsfeministinnen, und der Geist der Zine-Kultur, also der Kreativität und des Bekenntnisses dazu, sollte in den kommenden Jahren online wiedergeboren werden. Bis 1996 hatten in gut einem Dutzend US-amerikanischen Städten (aber auch in Europa und Asien) unabhängige Riot-Grrrl-Versammlungen stattgefunden, als sich eine brandneue Girlgroup Tausende Kilometer entfernt den Slogan der Bewegung, »Girl Power«, zu eigen machte.

Die Riot-Grrrl-Bewegung und die Spice Girls standen einander diametral entgegen: Erstere war organisch aus der Kunst erwachsen, die Frauen selbst machten, um als engagiertes, politisches Fandom Präsenz zu zeigen; die Spice Girls wurden wiederum von einem Vater-Sohn-Produzentenduo gegründet, das in einer Fachzeitschrift einen Aufruf für ein Vorsingen angekündigt hatte. Riot Grrrls waren eine kreative Erscheinungsform des Feminismus der dritten Welle; die Spice Girls wiederum Vorreiterinnen und Verkörperungen des Postfeminismus und dessen Botschaft: Der Feminismus war nun vorbei und hatte alles erreicht, was er erreichen musste, denn Frauen konnten jetzt anziehen, was sie wollten, und sich so schön machen, wie sie wollten; jede individuelle Entscheidung war nun empowernd, wenn sie dazu ernannt wurde; der Konsum war der Weg hin zur Selbstverwirklichung. Wenn das neu entstehende Popstarmodell der »sexy Teenager« war, dann waren die Spice Girls wie sexy Frauen, die sich auf einer Hochzeit wie Kleinkinder benahmen: Sie griffen wahllos nach Gegenständen, wirbelten im Kreis herum und warfen Essen auf den Boden. Sie verkörperten »Freiheit«, wenn man dieses Konzept als »Fehlen jeglicher Impulskontrolle« verstand. Sie brachten einen dazu, unbedingt sofort shoppen gehen zu wollen. Und sie sprachen häufig über Girl Power.

Die Spice Girls brachten 1997 ein Buch mit ebenjenem Titel raus, inklusive einem Text, der sich stark an der Zine-Ästhetik orientierte, nur eben mit glatterer Produktionsqualität. Darin definierten sie »Girl Power« als unter anderem »Du glaubst an dich selbst und bist Herrin deines eigenen Lebens« und »Du und deine Freundinnen erwidern ein Hinterherpfeifen mit ›Fick dich!‹«. Auf einer Seite wird Victoria Beckham (Posh Spice) mit dem Ausspruch zitiert: »Wir wollen in aller Munde sein. Wir wollen eine Marke sein wie Fairy oder Ajax.« Geri Halliwell (Ginger Spice) erklärte, dass die Spice Girls sich selbst als jeweils eigenen Typus bezeichneten, weil es ihnen um »Ausdrucksfreiheit [geht]. Wir wollen unsere eigenen Persönlichkeiten beibehalten.«[22] Es gab keine bestimmte Art, ein Spice Girl zu sein, weil Girl Power als Ideologie so formbar war wie Knete. Sie war für jede und jeden.

Wenn sich die Bewegung daher so anfühlte, als sei sie voller Möglichkeiten, so war es doch das Gegenteil, wie die Soziologin Jessica K. Taft 2004 argumentierte. Sie schrieb, dass die Version des »Girl Power« der Spice Girls so konstruiert gewesen sei, um den Feminismus zu neutralisieren – um ihn laut und vorsätzlich mit einer moderneren Alternative zu ersetzen –, aber »ohne Hinweis darauf, dass diese Alternative ein Modell für sozialen oder politischen Wandel [sein könnte]«. Taft interpretiert Girl Power als Bewegung mit vier ausgeprägten Grundsätzen: Antifeminismus, Postfeminismus, individuelle Macht und Macht der Konsument*innen. Die unnachgiebig vermittelte Positivität, die Idee, dass Frauen alles erreichen könnten, solange sie sich nur auf die richtige Art präsentierten und sich ins Zeug legen wollten, griff dem Girlboss-Momentum der 2010er-Jahre voraus und war ebenso kurzsichtig bezüglich der gesellschaftlichen strukturellen Ungleichheiten. Girl Power aber war unwiderstehlich. »Du kannst eine Anführerin sein, du kannst stark sein, du kannst selbstbewusst sein«, verkündete eine Werbung 1999 für die Weltraum-Abenteuer-Barbie und fing damit die Stimmung ein. »Mädchen können alles machen.«[23]

Marken eigneten sich fast sofort Girl Power an, denn sie sahen es als mächtige neue demografische Gruppe unter den Konsument*innen. Taft hielt fest, dass die Fortune-Dezemberausgabe 1997 einen Sechsseiter über Girl Power und Marketing beinhaltete, in dem erklärt wurde, dass 88 Prozent der Mädchen zwischen 13 und 17 »das Shoppen einfach lieben«. Den Millennial-Mädels wurde der Kauf von Dingen plötzlich als politischer Akt präsentiert – einer, der jeden anderen Aktivismus als unnötig deklarierte. Um es mit einem umgekehrten Zitat aus Der Report der Magd zu sagen, wollte die Riot-Grrrl-Bewegung, dass Frauen befreit werden von: sexueller Gewalt, Missbrauch und Übergriffen, Angst. Die Spice Girls verkörperten Freiheit als: Spaß haben, Geld verdienen, sich vergnügen. Es gibt keine Medaillen dafür, wenn man herausfindet, welche Ideologie sich leichter verpacken und verkaufen ließ.

In Josie and the Pussycats, einem meiner Lieblingsfilme, wurde schon 2001 schonungslos aufs Korn genommen, wie die Popkultur Jugendliche dazu manipulierte, ihr verfügbares Einkommen im Sinne der Ankurbelung der Wirtschaft für Konsumgüter auszugeben. In dem Film werden unterschwellige Botschaften in Popsongs versteckt, um Trends und Must-haves für den Konsum vorzugeben, und wenn ahnungslose Stars die Wahrheit entdecken, werden sie schnell mit Flugzeugabstürzen außer Gefecht gesetzt. In der Realität war nichts so derartig Hinterlistiges nötig. Nur achtzehn Monate nach dem Release von Wannabe unterschrieben die Spice Girls Werbeverträge mit Unternehmen wie Pepsi, Polaroid, Cadbury’s, Chupa Chups und Hasbro. Sie hatten zusammengenommen bis zum Jahresende 1997 rund eine halbe Milliarde Dollar verdient – mit Marketingverträgen allein. »Das Leben ist anders in Spiceworld«, schrieb David Plotz in Slate im selben Jahr. »Jedes Produkt für Zwölfjährige wird bis Thanksgiving auch in einer Spice-Girls-Variante im Kaufhaus erhältlich sein.«[24] Girl Power, wohin man auch blickte, in knallbunten Großbuchstaben, ohne tieferen Sinn.

 

Was Riot Grrrl und Janets Platten und Madonnas Erotica so radikal in den frühen 1990er-Jahren wirken ließ, lag teils daran, was sich Künstlerinnen jetzt zutrauten, und teils an dem, wogegen sie jetzt rebellierten: nicht nur die neuartige Frauenfeindlichkeit von »Girls on Film« und die sich in Musikvideos der Band Whitesnake auf Autos tummelnden Frauen, sondern auch gegen die aufkommende Vorliebe für hasserfüllte, gewalttätige und sogar gewaltverherrlichende Songs. Hip-Hop – eine Kunstform, die sich teilweise aus der Entrechtung und dem sozialen Protest heraus entwickelt hatte – gewann in den 1990er-Jahren rapide an kommerzieller Macht. Mit dem exponentiellen Wachstum des Geldes, das auf dem Spiel stand, brauchte aber die aufgeladene nonkonformistische Energie des Genres ein sichereres, profitableres Ziel.

Auch schon vor dem Verbot von Madonnas »Justify My Love« bei MTV tobten die Debatten über die sexuellen Inhalte in der Musik. Nach der Moral Majority der 1980er-Jahre[2] erwuchsen die 1990er als neues Jahrzehnt der sexuellen Freiheit, in dem das Schauen erlaubt wurde, weil es so viel sicherer war als das Berühren. Doch der Akt des Schauens benötigt ein Objekt, und das waren zumindest in der Mainstream-Kultur Frauen. Die Rapband 2 Live Crew aus Miami veröffentlichte 1989 ihr drittes Album As Nasty As They Wanna Be – ein Album voller prahlerischer, erschöpfend expliziter Texte, das schnell eine moralische Panik auslöste. Ein Richter in Florida erklärte As Nasty As They Wanna Be offiziell als obszön, zitierte die »Gewalt« und »Perversion« des Albums und verbot danach den Verkauf.[25] Als die Band im Juni 1990 ein paar der Tracks in einem Club in Broward County spielte, wurden die Rapper festgenommen, was eine bundesweite Debatte über Zensur, Kunst, Rassismus und musikalische Tradition vom Zaun brach, die jedoch zu großen Teilen die wichtigen Details der musikalischen Darstellung von (vor allem Schwarzen) Frauen bei 2 Live Crew umging.

Die Rapper von 2 Live Crew wurden in der New York Times und nachfolgend auch vor Gericht von dem Akademiker und Historiker Henry Louis Gates Jr. verteidigt, der verkündete, dass sie einfach nur eine »ungeschickte Parodie [betreiben], die die Stereotypen der US-amerikanischen Schwarz-Weiß-Kultur auf den Kopf stellt«. Er argumentierte, dass sie »zu lebhafter Dance-Musik eine parodistische Übertreibung der uralten Stereotypen der sexbesessenen Schwarzen Frau und des Schwarzen Mannes darstellen«.[26] Weiterhin schrieb Gates, dass es schwierig sei, nicht daraus zu schließen, dass 2 Live Crew speziell dafür als Zielscheibe benutzt würden, weil sie Schwarz seien und daher als gefährlicher für die US-amerikanische Kultur angesehen würden als zeitgenössische weiße Rockmusiker oder Comedians, deren künstlerisches Schaffen mindestens genauso provokant sei.

Die meisten Intellektuellen, die öffentlich auftraten, stimmten dem zu. Und doch ignorierte Gates etwas Entscheidendes bei der Verteidigung von 2 Live Crew gegen den Vorwurf der Obszönität, wie die Rechtsprofessorin und Bürgerrechtlerin Kimberlé Crenshaw in der Boston Review konterte: die auffallende Frauenfeindlichkeit und sexuelle Gewalt in den Songtexten der Gruppe und auch das, was diese repräsentierten. »Ich war fassungslos, als ich mir 2 Live Crew das erste Mal anhörte«, schrieb Crenshaw. »As Nasty As They Wanna Be als ›sexuell explizite‹ Musik zu beschreiben, verfälscht das Thema. Denn Nasty ist viel mehr als das: Das Album ist äußerst frauenfeindlich, manchmal sogar gewaltverherrlichend. Schwarze Frauen sind Fotzen, ›Huren‹ und multifunktionale Schlampen: raggedy bitches, sorry-ass bitches, lowdown slimy-ass bitches. Guter Sex wird für Frauen oft als schmerzhaft und erniedrigend dargestellt.«[27]

Crenshaw hatte 1989 den Begriff der »Intersektionalität« geprägt, als Beschreibungsmöglichkeit dafür, wie Frauen of Color sich überschneidende Formen der Diskriminierung erlebten, die vom Mainstream-Diskurs oftmals übersehen werden; nur ein Jahr später bewies ein kultureller Krisenherd ihre These. Crenshaw schrieb im Boston Review, dass Schwarze Frauen das größte Ziel im Rap seien und nun aufgefordert würden, sich zwischen einer antirassistischen Verteidigung der Gruppe, die deren Misogynie ignorierte, und einer Anklage gegen den gewalttätigen Sexismus der Gruppe, der als rassistisch ausgelegt werden könnte, aufgefordert würden. (Sie war zudem »äußerst skeptisch gegenüber der Behauptung, dass die Crew – entweder absichtlich oder unabsichtlich – einen postmodernen Guerillakrieg gegen rassistische Stereotypen führte«, eine Zurückweisung der ironisch-sexistischen Verteidigung, die ihrer Zeit weit voraus war.)

As Nasty As They Wanna Be ist derb, komisch und in Bezug auf die Texte grotesk. Eine Stelle aus dem Song »Bad-Ass Bitch«, in dem Brother Marquis beschreibt, wie er mit zwei seiner Freunde eine Frau wie einen Spießbraten über einem Feuer brät, wirkt auf mich inzwischen genauso gewollt grausam und entmenschlichend wie auch Online-Pornos, wie technisch beeindruckend die Verrenkungen auch sein mögen. Es war aber auch charakteristisch für eine Veränderung, die der Rap Ende der 1980er-Jahre durchlaufen hatte, der sich von der US-amerikanischen Westküste aus schnell verbreitete. Manche Historiker*innen und Kritiker*innen haben die Theorie aufgestellt, dass die wichtigsten Labels von den Künstler*innen umso mehr eine Entpolitisierung ihrer Arbeit verlangten, je größer das Geschäft rund um Hip-Hop wurde. Infolgedessen wurden die Wut und Frustration, die sich einst gegen die Ungerechtigkeit in Amerika richtete, nun auf die Frauen gelenkt. Als 2 Live Crew vor Gericht erscheinen mussten, waren die Hardcore-Darstellungen von Sex dank der VHS-Technologie präsenter in der US-amerikanischen Kultur denn je, und ihre Popularität würde in den 1990er-Jahren nur noch weiter ansteigen. Es wurden 1985 ungefähr 75 Millionen Pornofilme in den USA ausgeliehen, die meisten aus Videotheken. Zehn Jahre später lag diese Zahl bei 665 Millionen.[28]

Künstlerinnen, die zu dieser Zeit bekannt wurden, vor allem im Hip-Hop, sahen sich nicht nur mit einer Kultur konfrontiert, die Frauen als Bitches, »Chickenheads« (verächtlicher Slang für eine Frau beim Oralsex, deren Kopf sich nach oben und unten bewegt) und geldgeil herabwürdigte, sondern auch einer Branche, die eingenommen war von Videos, die gleichermaßen die Sexualität und das Talent von Frauen hervorhoben. Die feministische Kulturkritikerin Michele Wallace schrieb 1990, dass der Rap von manchen Frauen damals als »eine Umkleidekabine mit Beat« angesehen worden sei.[29] Das war aber nicht immer so gewesen. Salt-N-Pepa war 1986 der erste weibliche Rap-Akt, der mit »Push It« Platinstatus in den USA erreichte, einem pulsierenden, ausgelassenen Track voller sexueller Kraft. (Jahre später berichtete Cheryl »Salt« James dem Guardian, dass sie von einem Aquarium gehört hatte, in dem die Haie immer anfingen, sich zu paaren, wenn ihnen »Push It« vorgespielt wurde.[30]) Das Album Lyte as a Rock der siebzehnjährigen MC Lyte brachte 1988 sowohl ihre Kraft als Künstlerin (»I Am Woman«) als auch ihre emotionale Verletzlichkeit (»Paper Thin«) zur Geltung.

Mit den 1990er-Jahren ging aber auch ein merklicher Umschwung einher. Anita Hill sagte 1991 vor einem Justizausschuss des Senats aus – mit Crenshaw in ihrem Anwaltsteam –, dass Clarence Thomas sie sexuell belästigt habe, und der N. W. A.-Rapper und Produzent Dr. Dre plädierte bei der Anklage auf tätlichen Angriff der TV-Moderatorin Dee Barnes in einem Nachtclub in Hollywood auf »nicht schuldig«. (Der Rolling Stone titelte danach: »N. W. A.: Die Charts aufmischen«.) In einem Artikel für The Source im selben Jahr erörterte die Journalistin dream hampton – deren Beiträge im Laufe der 1990er-Jahre zentral für die Würdigung von Hip-Hop als Kunstform waren, aber auch dessen Versäumnisse aufzeigten –, dass die »Beschimpfungen und der seelische Missbrauch« gegenüber Frauen im Hip-Hop sich immer mehr in reale körperliche Gewalt verwandelte.[31] Als der Artikel erschien, war er so umstritten, dass ihr Spike Lee einen Bodyguard angeboten haben soll, wie sie dem Atlantic Jahre später erzählte.[32]

In den USA wurde 1992 zum »Jahr der Frau« ernannt, da nun Frauen in Rekordzahlen für Ämter kandidierten und gewählt wurden. Die Feministin Rebecca Walker schrieb in ihrem Artikel »Becoming the 3rd Wave« für die Ms., dass für sie »die Anhörungen [des Senats 1991] nicht die Klärung als Thema hatten, ob Clarence Thomas tatsächlich Anita Hill belästigt hatte, sondern um das Ausmaß der Glaubwürdigkeit und Macht von Frauen zu prüfen und neu zu definieren«.[33] Im Hip-Hop schienen die männlichen Künstler mit etwas Ähnlichem beschäftigt zu sein. Kathy Iandoli beschreibt in God Save the Queens, dass 1992 voller sexistischer und unverblümt hasserfüllter, aber wahnsinnig beliebter Songs gewesen sei: »13 and Good« von Boogie Down Productions (»That’s statutory rape/But she was GOOD«), »Bitches Ain’t Shit« von Dr. Dre (»Bitches ain’t shit but hoes and tricks/Lick on these nuts then suck the dick«), »Hoes« von Too $hort (»Who said that hoe ain’t old enough?/If she could bleed then she could fuck«). Diese Texte wurden von Plattenfirmen explizit gebilligt, denn Bilder sexuellen Missbrauchs von Frauen waren besser als die explosivere Sprache gegen die Polizei oder den Staat. Und der Erfolg dieser Tracks verdeutlichte eine Frage, die einst von der Autorin und Wissenschaftlerin bell hooks gestellt worden war: »Wie viele entmächtigte Schwarze Männer würden sich dem Ausdruck ansteckender Formen von Sexismus nicht hingeben, wenn sie wüssten, dass sie dafür mit noch nie erlebter Macht und Ansehen belohnt werden würden?«[34]

Michele Wallace beschreibt die Zwickmühle vieler Schwarzer Frauen in der New York Times folgendermaßen: »Feministische Kritik, wie so viele andere Formen der Gesellschaftsanalyse, wird meist als Teil der feindseligen weißen Kultur angesehen. […] Wenn eine Schwarze Feministin öffentlich die Misogynie im Rap anprangern würde, dann würde das gleich als polarisierend und kontraproduktiv angesehen werden«, was sogar zu Vorwürfen führen könnte, sie »würde mit der rassistischen Gesellschaft zusammenarbeiten«.[35] Aber die Musik an sich gab der Widersprüchlichkeit und dem Dissens auch mehr Raum. Queen Latifah veröffentlichte 1993 – dem Jahr, in dem Janet Jackson ihre eigene sexuelle Macht zur Geltung brachte – ihr Album Black Reign, inklusive dem Grammy gewinnenden Track »U. N. I. T. Y.«, der unverhohlen infrage stellte, wie Schwarze Frauen in der Popkultur verspottet, belästigt und misshandelt wurden. »Wen bezeichnest du hier als Schlampe?«, wollte sie wütend wissen. Im selben Jahr brachten Salt-N-Pepa »Shoop« heraus, ein fröhlicher, ausgelassener Song, der den Spieß beim Catcalling umdrehte, es auf Platz vier der Single-Charts schaffte und der Band zu über fünf Millionen verkauften Alben verhalf.

»Shoop«, Black Reign und Mary J. Bliges What’s the 411? bildeten mit anderen das, was die Autorin Joan Morgen später den »Hip-Hop-Feminismus« nannte: eine Bewegung rund um die Stimmen Schwarzer Frauen und ihrer Narrative, die die Intersektionalität von Race und Gender anerkannte, die für sexpositiv, lustpositiv stand, die sich der Zwiespältigkeit der Frauen bewusst war, die Musik machten, liebten, sich aber auch den Raum für gleichermaßen mögliche Förderung und Kritik wünschten. (Als Zeichen für die Schwierigkeiten der Genderdynamiken in der Branche wurde What’s the 411? von Sean »Diddy« Combs produziert, der 2024 unter anderem wegen der Anklage des Sexhandels verhaftet und danach mit über einhundert Klagen aufgrund mutmaßlicher sexueller Übergriffe, die bis ins Jahr 1990 zurückreichen, überschwemmt wurde.) »Ich brauchte einen Feminismus, mit dem wir weiterhin uns selbst und unsere Brothers lieben konnten, die uns wehtaten, ohne dass uns die Loyalität unserer Race gegenüber allzu früh ins Grab brachte«, schrieb Moran 1999 in ihrem Buch When Chickenheads Come Home to Roost: A Hip-Hop Feminist Breaks It Down.[36] Da es keine Weltanschauung gab, die dies unterstützte, erschuf sie selbst eine.

 

Ein großer Teil der Musik von Frauen, die Anfang der 1990er-Jahre entstand, reagierte auf und entfachte die Wut auf tatsächliche systemische Ungerechtigkeiten. Das Lied »Swimsuit Issue« der Band Sonic Youth, geschrieben von Kim Gordon, wurde von einer Klage aufgrund eines angeblichen sexuellen Übergriffs eines Managers bei Geffen Records (dem Label der Band) inspiriert und spielte auf Anita Hills Aussage vor dem Senat an. Gordon spie, vor einem Hintergrund der brachialen, scharfen Gitarrenakkorde, ins Mikro: »Don’t touch my breast/I’m just working at my desk.« Sinéad O’Connor zerriss 1992 im Protest gegen den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche inbrünstig, wenn auch mit leicht zittrigen Händen, ein Bild des Papstes vor laufender Kamera bei Saturday Night Live. Tori Amos schrieb »Cornflake Girl« nach einer Diskussion mit einer Freundin über weibliche Genitalverstümmelung. »Miss World« von Hole, »Supermodel« von Juliana Hatfield Three, »Dress« von PJ Harvey, »Just a Girl« von No Doubt und »Lil Red« von Bikini Kill wüteten gegen unterdrückende Schönheitsideale und anerkannte Merkmale der Weiblichkeit bei Frauen. Skunk Anansies Debütalbum Paranoid & Sunburnt klagte alles vom Rassismus über Kindesmissbrauch bis zu organisierter Religion und herablassenden Männern an. (»He tried to intellectualize my blackness […] Motherfucker don’t you lecture-ize me.«) Am Ende des Jahrzehnts lieferte Kelis 1999 mit »Caught Out There« einen der explosivsten Songs aller Zeiten über Untreue ab, inklusive schmerzdurchtränkter Expressivität und gelegentlicher Urschreie.

Die Wut dieser Aufnahmen war deutlich, und sie richtete sich gegen eine Branche und eine Kultur, die von Frauen Schönheit, Passivität und Machtlosigkeit verlangten. Die Musikkritikerin Ann Powers beschrieb diese Zeit wie folgt: »Ein Großteil dessen, was die 90er ausmachte, war diese riesige Frage: ›Wie können wir als Frauen mit einer Vorstellung von Weiblichkeit leben, ohne dass sie uns zerstört?‹«[37] Liz Phairs Exile in Guyville von 1993 war eine schlichte Antwort mit schlechter Aufnahmequalität auf Exile on Main Street der Rolling Stones, das den Sexismus der Musikbranche zu Kleinholz verarbeitete und in Songs wie »Explain It to Me« und »Flower« wieder ausspuckte. (»I want to fuck you like a dog/I’ll take you home and make you like it.«) Alanis Morissettes Jagged Little Pill, das von Madonnas Maverick Imprint produziert wurde, nachdem die meisten großen Labels es abgelehnt hatten, machte aus dem nahenden Zusammenbruch einer Frau einen Verkauf von 33 Millionen Platten und einen Gewinn von fünf Grammys.

Frauen brachten Musik über Abtreibungen, sexuelle sowie häusliche Gewalt auf den Markt. Sie beschrieben ausführlich, wie sehr sie sich als Künstlerinnen herabgesetzt und geschwächt fühlten, und das in einer Branche, in der es ein stillschweigendes No-Go war, zwei Songs von Künstlerinnen hintereinander zu spielen. Die Medien reagierten darauf mit einer Berichterstattung der anderen Art, wie dem Interview der NME 1992 mit Tori Amos und der Headline »Ginger Nut« oder dem Mai-Cover der Q 1994 mit PJ Harvey, Björk und Tori Amos: »Hips. Lips. Tits. Power.«