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Tim Blanning

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Beschreibung

Die Geburt des modernen Europas: ein Epochengemälde als »Sternstunde der Geschichtsschreibung« (Literary Review)

Tim Blannings Geschichte Europas erstreckt sich vom Ende des Dreißigjährigen Kriegs bis zum Wiener Kongress und zeichnet detailliert, höchst unterhaltsam und mit großer erzählerischer Kraft das Bild eines Zeitalters in tiefgreifendem Wandel – wirtschaftshistorisch, machtpolitisch, kulturell, militärisch. Neben großen Persönlichkeiten wie Louis XIV., Friedrich II., Napoleon, Voltaire oder Newton und den Eliten an Europas Höfen kommen immer wieder auch die Alltagssorgen und Nöte der niederen Stände in den Blick, die sich schließlich in der Französischen Revolution Bahn brechen sollten. Die Leichtigkeit, mit der Blanning die Perspektive zwischen den Kulturen wechselt, und die Fülle der verarbeiteten Fakten weisen den Autor als Meister seines Fachs und einen der bedeutendsten Historiker unserer Zeit aus. »Eine Sternstunde der Geschichtsschreibung« Literary Review

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Seitenzahl: 1454

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Buch

Tim Blannings Geschichte Europas erstreckt sich vom Ende des Dreißigjährigen Kriegs bis zum Wiener Kongress und zeichnet detailliert, höchst unterhaltsam und mit großer erzählerischer Kraft das Bild eines Zeitalters in tiefgreifendem Wandel – wirtschaftshistorisch, machtpolitisch, kulturell, militärisch. Neben großen Persönlichkeiten wie Louis XIV., Friedrich II., Napoleon, Voltaire oder Newton und den Eliten an Europas Höfen kommen immer wieder auch die Alltagssorgen und Nöte der niederen Stände in den Blick, die sich schließlich in der Französischen Revolution Bahn brechen sollten. Die Leichtigkeit, mit der Blanning die Perspektive zwischen den Kulturen wechselt, und die Fülle der verarbeiteten Fakten weisen den Autor als Meister seines Fachs und einen der bedeutendsten Historiker unser Zeit aus.

Autor

Tim Blanning war bis zu seiner Emeritierung 2009 Professor für Neuere europäische Geschichte an der Universität Cambridge. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Politik- und Kulturgeschichte Europas im 18. und 19. Jahrhundert (u. a. Das Alte Europa 1660 – 1789, 2006). Dabei widmet er sich auch immer wieder deutschen Themen wie in seiner gefeierten Biografie Friedrich der Große (2018), wofür er u. a. mit der British Academy Medal ausgezeichnet wurde.

Tim Blanning

Glanz und Größe

Der Aufbruch Europas 1648–1815

Aus dem Englischen von Richard Barth und Jörn Pinnow

Deutsche Verlags-Anstalt

Die Originalausgabe dieses Buches erschien 2007 unter dem TitelThe Pursuit of Glory. Europe 1648 – 1815 bei Allen Lane, London. Die Arbeit der Übersetzer am vorliegenden Text wurde gefördert vom Deutschen Übersetzerfonds. Richard Barth übersetzte die Kapitel 1 bis 4 und 10, Jörn Pinnow die Kapitel 5 bis 9 und 11 bis 13. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Copyright © 2007 by Tim Blanning Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe by Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München Covermotiv: Claude Lorrain, Hafen bei Sonnenuntergang (Bridgeman Images) Lektorat: Jonas Wegerer, Freiburg Satz und E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

Für Nicky, Tom, Lucy und Molly

Einleitung

Jede Geschichte Europas muss – wenn man nicht gerade den Versuch unternehmen will, die gesamte Geschichte der Menschheit seit dem Aufstieg des Homo sapiens zu erzählen – zu einem willkürlich gewählten Zeitpunkt einsetzen. Doch manche Zeitpunkte sind willkürlicher als andere. Dummerweise kommt es vor, dass eine Jahreszahl innerhalb einer bestimmten Epoche für ein Feld menschlicher Aktivität bedeutsam, für ein anderes dagegen weitgehend irrelevant ist. So glich 1789 auf dem Gebiet der Politik einem Donnerschlag, für die Musik und die bildende Kunst jedoch kaum dem Piepsen einer Fledermaus. Nicht anders sieht es mit 1648 aus. Auf den ersten Blick erscheint das als sinnvoller Ausgangspunkt, da in diesem Jahr der Westfälische Friede geschlossen wurde und damit ein Krieg sein Ende fand, der dreißig Jahre gedauert und in Europa mehr Verwüstung hinterlassen hatte als alle Konflikte zuvor. Zudem gelang mit ihm die Klärung von mindestens zwei großen Streitfragen, einigte man sich doch auf die Anerkennung der Unabhängigkeit der Vereinigten Niederlande von Spanien und auf eine Ordnung des deutschsprachigen Europa, die eineinhalb Jahrhunderte Bestand haben sollte. Noch wichtiger war, was der Einigung in diesen beiden Punkten zugrunde lag: die Erkenntnis, dass der konfessionelle Pluralismus von nun an ein Dauerzustand sein würde. Die Fanatiker unter Katholiken wie Protestanten mochten jeweils weiterhin vom Triumph des einzig wahren Glaubens träumen, doch das 1648 anerkannte Patt wurde nie wieder ernsthaft in Frage gestellt.

Für das Jahr, mit dem dieser Band einsetzt, gibt es also gute Gründe; man muss sich aber auch vor Augen führen, dass die Westfälische Friedensordnung ebenso viele Streitfragen offenließ wie beigelegt wurden. Der Krieg zwischen Spanien und Frankreich flackerte immer wieder auf, bis 1659 der Pyrenäenfriede geschlossen wurde, und ganz zu Ende war er im Grunde erst, als die Bourbonen 1714 international als Erben des spanischen Königsthrons anerkannt wurden. Im Norden und Osten waren die Dinge weiterhin in Bewegung, denn die Vormachtstellung Schwedens wurde bald von der einen, bald von einer anderen Großmacht in Frage gestellt, was zu einer verwirrenden Abfolge von Kriegen führte, die erst 1721 mit dem Frieden von Nystad endete. Die beiden Entwicklungen, die der internationalen Politik im Weiteren ihren Stempel aufdrücken sollten, waren der »Zweite Hundertjährige Krieg« zwischen England und Frankreich, der erst 1688 ausbrach, und die Expansion Russlands, die erst 1695 einsetzte. Die weitere innenpolitische Entwicklung war im Grunde noch ungewisser. In Frankreich begannen 1648 die Bürgerkriege (die »Fronde«), und in England wurde 1649 eine Republik ausgerufen, was zur Hinrichtung Charles’ I. führte. Die sehr unterschiedlichen Lösungen dieser Konflikte mussten bis zum Beginn der »Alleinherrschaft« Louis’ XIV. 1661 beziehungsweise bis zur »Glorious Revolution« von 1688 warten.

Es gab 1648 also unabgeschlossene Entwicklungsstränge, und 1815 sollte es nicht anders sein. Die folgenden Kapitel stellen den Versuch dar, die einzelnen Fäden zu einem Leitfaden durch das Labyrinth zusammenzuspinnen, der in sich stimmig ist, ohne ins Schematische zu verfallen. Eine übergeordnete Erzählung, wie Hegel oder Marx – oder auch die fortschrittsoptimistischen Whig-Historiker – sie ausgearbeitet haben, wird der Leser vergebens suchen, aber es werden doch bestimmte Entwicklungslinien erkennbar. In der Politik war die augenfälligste davon der unaufhaltsame Marsch des Staates Richtung Hegemonie. Im Jahr 1815 war der Anspruch des Staates, alleiniger Gesetzgeber zu sein und innerhalb seiner Grenzen Gefolgschaft einfordern zu können, in den meisten Teilen Europas, wenn nicht gesetzlich verankert, so in der Praxis doch unangefochten. Zwar gab es eine reiche Palette an Verfassungsformen, von der Demokratie bis zur Autokratie, doch zugrunde lag ihnen allen die Souveränität eines abstrakten Gebildes – des Staates. Politische Konstruktionen, die es nicht vermochten, das »Gewaltmonopol« (Max Weber) durchzusetzen, das einen Staat im Kern ausmacht – wie Polen und das Heilige Römische Reich –, wurden zur leichten Beute von Rivalen, die die Zeichen der Zeit besser erkannt hatten. Wesentlicher Bestandteil dieser Entwicklung war die Säkularisierung, die in katholischen Ländern die Verwahrung gegen jegliche Einmischung des Papstes umfasste und überall die Unterordnung der Kirche unter den Staat gebot. Doch das Blut, das durch die Adern des Staates strömte, war nur lauwarm und dünnflüssig. Zur Motivation der Staatsbürger bedurfte es einer Transfusion von etwas Inspirierenderem, und das war zunehmend der Nationalismus: eine weltliche Religion mit der Kraft, Hingabe und Hass von einer Leidenschaftlichkeit zu entfesseln, die sich problemlos mit jener messen konnte, mit der in einer früheren Epoche religiöse Konflikte ausgetragen wurden.

Um Erfolg zu haben, mussten Staaten sich auch an gesellschaftliche Veränderungen anpassen. Nur jene Staaten, die es schafften, ihre Eliten zu integrieren, konnten gedeihen. Das konnte durch einen Hof geschehen, wie unter Louis XIV. in Versailles, durch eine Abgeordnetenversammlung wie dem englischen Parlament, durch einen Amtsadel, wie in Preußen oder Russland, oder durch eine Kombination von allen dreien, wie im Habsburgerreich. In allen Fällen war eine immanente Tendenz zu jener Verknöcherung zu beobachten, von der politische Institutionen offenbar unweigerlich befallen werden. Selbst die außergewöhnlich anpassungsfähige britische Lösung litt 1815 unter Arterienverkalkung. Unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Gestalt mussten sich alle europäische Staaten mit der Entstehung eines neuartigen kulturellen Raumes auseinandersetzen – der Öffentlichkeit. Angesiedelt zwischen der privaten Welt der Familie und der offiziellen Welt des Staates war die Öffentlichkeit ein Forum, wo vormals isolierte Individuen sich treffen konnten, um Informationen, Ideen und Kritik auszutauschen. Sei es, dass man durch das Abonnieren derselben Zeitschriften über große Entfernungen hinweg miteinander kommunizierte, oder dass man sich in einem Kaffeehaus oder in einer der neuen, freiwilligen Vereinigungen wie Lesegesellschaften oder Freimaurerlogen persönlich begegnete: Die Öffentlichkeit erhielt ein kollektives Gewicht, das über die Summe der einzelnen Mitglieder weit hinausging. Aus der Öffentlichkeit heraus entstand eine neue Autorität, die den Meinungsmachern des Ancien Régime ihre Rolle streitig machte: die öffentliche Meinung. Der Zeitpunkt dieses Wandels war in Europa natürlich regional unterschiedlich. Vorreiter auf diesem Gebiet waren Großbritannien und die Vereinigten Niederlande, da beide von vergleichsweise hohen Alphabetisierungs- und Verstädterungsraten sowie von einem ziemlich liberalen Zensurregime geprägt waren. Mutatis mutandis war es, am anderen Extrem und am anderen Ende Europas, in Russland vor dem 19. Jahrhundert nahezu unmöglich, Anzeichen für so etwas wie Öffentlichkeit oder eine öffentliche Meinung auszumachen. Wie wir sehen werden, konnte die öffentliche Meinung, effektiv genutzt, dem Staat zusätzliche Ressourcen und eine zusätzliche Autorität verschaffen. Wenn dieser sie hingegen ignorierte, falsch interpretierte oder gegen sich aufbrachte, wie in Frankreich, konnte das einen revolutionären Umsturz zur Folge haben.

Die Kräfte, aus denen die öffentliche Sphäre geboren wurde, fußten letzten Endes auf der Expansion Europas, der wirtschaftlichen wie der kolonialen. Nach den akuten, von Krieg, Rezession, Pest und Hungersnöten verursachten Problemen der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts verlief der Erholungsprozess langsam, stoßweise und ungleichmäßig, doch nach und nach zeigten die Indikatoren nach oben: Die Bevölkerung wuchs, die landwirtschaftliche Produktivität stieg, Handel und Produktion nahmen zu, die Urbanisierung schritt voran, und die koloniale Expansion wurde wieder aufgenommen. Im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts begann sich der Prozess zu konsolidieren und zu beschleunigen, wenn er auch immer noch von Rückschlägen unterbrochen wurde. Besonders wichtig waren die Verbesserungen im Bereich der Kommunikationswege; diese sind Thema des ersten Kapitels. Der Nutzen war ungleich verteilt. An erster Stelle unter den Nutznießern stand der Staat, dessen Hunger nach Steuereinnahmen zur Finanzierung der immer weiter wachsenden Streitkräfte vor dem Reichen in seinem Schloss ebenso wenig Halt machte wie vor dem Armen an dessen Pforte. Als Nächste kamen die Landbesitzer, die sich mit Freuden die »Preisschere« zunutze machten, die sich zwischen den steigenden Preisen, die sie für ihre landwirtschaftlichen Produkte erhielten, und den im Vergleich dazu sinkenden Kosten von Fertigwaren auftat. Wer Unternehmergeist besaß, konnte angesichts der Verdreifachung der Grundstückspreise und dem unverändert hohen Prestige, das mit Landbesitz verbunden war, fette Gewinne einstreichen. Eine Schlüsselposition hatten Pachtbauern inne, auf deren Konto ein Großteil der landwirtschaftlichen Innovationen dieser Ära ging. Florieren konnten auch die Financiers, vor allem jene, die sich auf dem Gebiet der Staatsfinanzierung etablieren konnten, und die Kaufleute, insbesondere jene, die mit Kolonialwaren handelten. Geschäftstüchtige Fabrikanten, die außerhalb der restriktiven Vorgaben der Zünfte aktiv waren, profitierten doppelt: vom wachsenden Angebot an Arbeitskräften und von der Konsumrevolution, die mit dem Fortschreiten des 18. Jahrhunderts Fahrt aufnahm.

Kurz: Das wirtschaftliche Wachstum des 18. Jahrhunderts brachte eine große und wachsende Klasse von Nutznießern hervor. Die vermutlich besten Voraussetzungen, die Chancen jenes Jahrhunderts für sich zu nutzen, hatte ein Magnat, der große Ländereien besaß, die reich an Bodenschätzen und gut an das Verkehrsnetz angebunden waren, und der – vielleicht am wichtigsten – die nötigen intellektuellen und persönlichen Voraussetzungen mitbrachte, um als Unternehmer zu reüssieren. In einer idealen Welt heiratete er – und es handelte sich unweigerlich um einen »er«, denn Frauen waren allerhand Benachteiligungen ausgesetzt – in eine Familie ein, die im Bereich Staatsfinanzierung, Anlagebankgeschäft und Überseehandel aktiv war. Sein Gewissen musste robust genug sein, dass er die unfreiwilligen Dienste ausblenden konnte, die jene sieben Millionen Sklaven leisteten, die im Lauf des Jahrhunderts aus Afrika in die Karibik verschleppt wurden. Außerdem war er gut beraten, Engländer und damit weitgehend gefeit zu sein gegen plötzliche Heimsuchungen durch die Nemesis eines Krieges oder einer Revolution, wie sie seine Kollegen auf dem europäischen Festland so häufig erlebten, vor allem nach 1789.

Doch die Vorteile waren höchst ungleich verteilt. Geographisch gab es ein steiles Gefälle zwischen dem wirtschaftlich hoch entwickelten Nordwesten Europas, wo die Industrialisierung 1815 bereits auf gutem Wege war, und dem unterentwickelten Osten, wo man wochenlang unterwegs sein konnte, ohne irgendetwas zu Gesicht zu bekommen, was man entfernt als Stadt bezeichnen hätte können, und wo die materiellen und gesellschaftlichen Verhältnisse sich – wenn überhaupt – zum Schlechteren verändert hatten. Leibeigenschaft, Armut und geringe Lebenserwartung waren hier 1815, nicht anders als 1648, nach wie vor die Norm. Selbst im Westen konnte das Wirtschaftswachstum mit der Bevölkerungsexplosion nicht Schritt halten. Die mangelnde Elastizität der Nahrungsmittelproduktion trieb die Preise in die Höhe, während die mangelnde Elastizität der Industrieproduktion gleichzeitig die Löhne drückte. Die Folge war die Verarmung jenes großen Teils der Bevölkerung, der sich nicht selbst versorgte. Eine neue Form von Armut entstand: keine plötzliche Heimsuchung durch eine Hungersnot, Seuche oder Krieg, sondern ein dauerhafter Zustand, der von Mangelernährung und Unterbeschäftigung geprägt war. Zudem handelte es sich um einen Teufelskreis, denn die Unterernährten waren nicht so elend, als dass sie keine Kinder hätten zeugen können, und diese perpetuierten ihr Leid. Und da der Kapitalismus die traditionelle Ständegesellschaft und ihre Werte erodierte, waren sie überdies zunehmend den Kräften des Marktes ausgeliefert.

Es ist verlockend, bei der Ausbreitung der neuen Werte eine rationalistische Teleologie am Werk zu sehen. »Das Zeitalter der Vernunft« oder »das Zeitalter der Aufklärung« sind derart populäre Etiketten für diese Ära, dass sie fast schon Klischees sind. Doch in jedem Klischee steckt ein wahrer Kern. Tatsächlich war dieses Zeitalter Zeuge von Rationalismus und Säkularisierung in einem in der Geschichte Europas nie da gewesenen Ausmaß. In diese Zeit fällt die Veröffentlichung von Newtons Principia, Lockes Versuch über den menschlichen Verstand, Humes Traktat über die menschliche Natur, Montesquieus Vom Geist der Gesetze und der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert – um nur eine Handvoll der bahnbrechenden Texte zu nennen, die die Erosion des althergebrachten, theozentrischen Weltbilds beförderten. Man könnte allerdings mit ebenso guten Gründen vom »Zeitalter des Glaubens« sprechen, war es doch von mehreren einflussreichen Erweckungsbewegungen geprägt, wie dem Jansenismus, dem Pietismus und dem Methodismus, und religiöse Literatur erfreute sich eines nie da gewesenen Zuspruchs. Auch war bei diesem mit Fortschreiten des 18. Jahrhunderts keinerlei Nachlassen zu beobachten, wie die große romantische Revolution zeigte. Wie ich im 10. Kapitel argumentieren werde, ist es sinnvoller, die kulturellen Entwicklungen nicht als eine lineare Progression vom Glauben hin zur Vernunft zu beschreiben, sondern als dialektische Wechselbeziehung von Gefühlskultur und Vernunftkultur. Die profundeste Erkundung dieses existenziellen Konflikts hat Goethe in seinem Faust unternommen, jenem gewaltigen, 12000 Verse umfassenden Poem, das ihn nahezu ein Leben lang immer wieder beschäftigte. Die folgenden Zeilen daraus stellen ein gutes Motto für dieses Buch dar:

Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,

Die eine will sich von der andern trennen;

Die eine hält, in derber Liebeslust,

Sich an die Welt mit klammernden Organen;

Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust

Zu den Gefilden hoher Ahnen.

Teil Eins

Leben und Sterben

1. Kommunikation und Verkehr

Kommunikation und Interaktion sind für die menschliche Existenz grundlegend. Abgesehen von körperlichen Grundbedürfnissen wie Essen und Ausscheiden, Wachen und Schlafen gibt es nichts, was grundlegender wäre. Sei es in symbolischer Form, wie in der Sprache, oder in physischer Form, wie beim Reisen – das soziale Gefüge entsteht durch Interaktion: der Menschen untereinander sowie zwischen Menschen und Orten. Daher eröffnet die Frage nach Kommunikation und Verkehr den unmittelbarsten Zugang zur Vergangenheit. Ein Zeitreisender aus unseren Tagen empfände bei seiner Ankunft im 17. Jahrhundert keinen Aspekt des täglichen Lebens als befremdlicher. Für einen modernen Menschen, der aus einer Welt kommt, die sich in weniger als zwei Tagen mit dem Flugzeug umrunden lässt, wäre die zähe Immobilität, in der er plötzlich gefangen wäre, ein großer Schock. Selbst vergleichsweise geringe Entfernungen ließen sich nur mit einem erheblichen Aufwand an Zeit, Geld und Mühen überwinden. Und anstelle der beruhigenden Allgegenwärtigkeit universeller Symbole, Logos und Wörter wäre der Reisende unterwegs sehr rasch mit unverständlichen Dialekten und Mundarten konfrontiert. Wie wir sehen werden, waren Kommunikations- und Verkehrsprobleme die Wurzel zahlreicher charakteristischer Merkmale des Ancien Régime.

Straßen

Für die meisten Europäer des 17. und 18. Jahrhunderts wurden die Geschwindigkeit der Kommunikation und der Grad der Mobilität vom Zustand der Straßen diktiert. Diese »Straßen« waren fast überall unbefestigte Wege ohne Fundament oder Drainage und deshalb von tiefen Wagenspuren durchzogen. Bei Regen verwandelten sie sich in schlammigen Morast, bei Sonnenschein in Staubschleudern: »[Sie sind] eher ein Schlupfwinkel für wilde Tiere und Reptilien als für menschliche Füße«, wie es um 1700 ein Engländer ausdrückte. Selbst die Hauptstraßen jener Tage würden heute als Waldwege gelten. Die Straßen Europas waren im Wesentlichen die Straßen des Römischen Reiches – nach 1400 Jahren der Vernachlässigung. Ob in Galway oder Galizien: Die durchschnittliche Geschwindigkeit übertraf bei der großen Mehrheit der Reisenden kaum je Schritttempo. Ja, die durchschnittliche Geschwindigkeit konnte für die meisten Reisenden gar nicht höher sein, aus dem guten Grund, dass die einzige Fortbewegungsart, die sie sich leisten konnten, »auf Schusters Rappen«, »on Shanks’ pony«, »en el coche de San Fernando« etc. war. In den matten Worten des schottischen Dichters Robert Fergusson von 1774:

And auld shanks-naig wad tire, I dread,

To pace to Berwick.

(Und Schusters Rappe würd, so fürcht ich,

Auf dem Weg nach Berwick müd.)

Mit der Pferdekutsche zu reisen war exklusiver, etwas schneller, aber viel teurer und in gewisser Hinsicht strapaziöser, wie ein Beitrag mit dem Titel »Die Qualen in der Postkutsche« im London Magazine von 1743 deutlich macht. Seine Schilderung der verschiedenen Unannehmlichkeiten einer Reise von London nach York, zu denen die Abfahrt um drei Uhr morgens, das Rütteln und Holpern auf unebener Fahrbahn sowie das Ertragen der Mitreisenden gehörte, die nach Knoblauch rochen, gerne einen fahren ließen, schnarchten oder unablässig plapperten, fluchten und klagten, schloss der Autor:

If, of stages the boasted convenients be sung –

May I travel a foot, though it be on a crutch.

(Mögen auch prahlend die Annehmlichkeiten von Kutschen besungen werden –

ich reise lieber zu Fuß, und sei es auf Krücken.)

Selten wurde eine Reise dadurch beschleunigt, dass die Straße den kürzesten Weg von A nach B nahm. Das zeitraubende und mühsame Dahinschlängeln englischer Straßen ist nicht umsonst legendär. Dieses Mäandern bereitete Reisenden Unannehmlichkeiten, doch ein ausländischer Besucher, Pierre-Jean Grosley, sah darin 1771 auf seiner Reise von Dover nach London ein Symptom politischer Tugend:

Die Hauptstraßen verlaufen alles andere als schnurgerade; nicht, dass es in England keine Ingenieure gäbe, die eine gerade Linie durch ein Feld ziehen können; doch neben der Tatsache, dass die Grundstückspreise zur Vorsicht mahnen, ist Privateigentum in England etwas Heiliges, das die Gesetze vor jeglichem Eingriff schützen, nicht nur durch Ingenieure, Inspektoren und andere Leute dieses Schlages, sondern sogar durch den König selbst; hinzu kommt, wie wir im Artikel über Gärten sehen werden, dass gerade Linien nicht nach dem Geschmack der Engländer sind.

Auf dem europäischen Festland sah es auch nicht besser aus, eher im Gegenteil. Arthur Young stellte fest, dass die Postkutsche, die ihn 1787 von Calais nach Paris brachte, viel schlimmer und noch teurer war als ihr englisches Pendant. Federungen fanden vor 1800 nirgends Verbreitung. Niederländische Kutschen waren wegen ihres Mangels an Komfort berüchtigt. So warf ein Besucher aus England einen Blick auf das Gefährt, das ihn von Hoorn nach Enkhuizen bringen sollte, und weigerte sich einzusteigen. Er ließ sein Gepäck einladen, zog es selbst aber vor, die 21 Kilometer zu Fuß zurückzulegen. Wäre er weitergelaufen ins Heilige Römische Reich, so wäre es ihm dort nicht besser ergangen. Nach Ansicht von James Boswell war die durchschnittliche deutsche Kutsche eine einzige »Grausamkeit«, sei sie doch »nichts weiter als ein großer Wagen mit sehr hohen Rädern, der ungeheuer viel holpert. Er hat keine Plane, und drei oder vier quer daraufgelegte Bohlen dienen als Sitze.« Der Russe Nikolai Karamsin bestätigte 1789 dieses Urteil: »Die preußische sogenannte ›Postkutsche‹ weist keinerlei Ähnlichkeit mit einer Kutsche auf. Sie ist nichts weiter als ein langer Planwagen mit zwei Bänken und hat weder Gurte noch eine Federung.« Auch ihre Langsamkeit und Unzuverlässigkeit waren berüchtigt; ein Zeitgenosse klagte, die beste Methode, Geduld zu erlernen – abgesehen von der Ehe –, bestehe darin, durch Deutschland zu reisen. Auch nicht besser sah es südlich der Alpen aus, wo Arthur Young die Kutschen als »erbärmliche, offene, verrückte, holpernde, dreckige Mistkarren« beschrieb: »Plötzlich aus netter Gesellschaft in eine italienische voiture zu steigen ist ein Übel, das meine Nerven nicht aushalten.« Wie Nicolas Mesnager feststellen musste, als er 1708 als Sondergesandter von Louis XIV. nach Madrid fuhr, war im Auftrag des Königs unterwegs zu sein auch keine Garantie für Komfort oder schnelles Vorankommen. Aus Bayonne meldete er nach Versailles, aufgrund des schlechten Zustandes der Straßen und der ungenügenden Organisation des Postkutschensystems habe seine Reise bereits neun Tage in Anspruch genommen. Von der Entfernung her hatte er die Hälfte der Strecke bereits hinter sich; trotzdem schätzte er, dass er weitere 14 Tage unterwegs sein würde, weil es so schwierig war, Maultiere aufzutreiben.

Um eine Postkutsche zu ziehen, brauchte man vier bis sechs Zugtiere, die je nach Straßenzustand alle zehn bis zwanzig Kilometer gewechselt werden mussten. In England rechnete man auf gut instand gehaltenen Mautstraßen mit einem Pferd pro Meile (1,6 km). Für die 185 Meilen (300 km) von Manchester nach London mussten also 185 Pferde in Ställen bereitstehen und gefüttert werden, um die 17 Wechsel zu ermöglichen, die Postkutschen auf dieser Route benötigten. Für diese Pferde wiederum bedurfte es eines ganzen Heeres an Kutschern, Postillions, Stallwächtern, Stallknechten und Stallburschen. Da eine Kutsche nicht mehr als zehn Passagiere befördern konnte, waren die Fahrpreise entsprechend hoch und für die breite Masse der Bevölkerung unbezahlbar. Für eine Reise mit der Postkutsche von Augsburg nach Innsbruck, Luftlinie wenig mehr als 100 Kilometer, hätte ein Hilfsarbeiter allein für die Fahrkarte mehr als einen Monatslohn berappen müssen. Unmittelbar vor dem Siegeszug der Eisenbahn, nachdem die Preise aufgrund signifikanter Verbesserungen bei den Straßen und Kutschen spürbar gesunken waren, kostete eine Postkutschenfahrt von Paris nach Bordeaux noch immer so viel, wie ein Beamter im Monat verdiente. Der deutsche Sozialhistoriker Karl Biedermann schätzte Mitte des 19. Jahrhunderts, dass Reisen zwei Generationen zuvor noch vierzehnmal so teuer gewesen war. Erst die Einführung der Dampflokomotive, die einen Zug mit Hunderten Fahrgästen ziehen konnte, löste Skaleneffekte und damit eine Demokratisierung des Reisens aus.

Doch obgleich der Siegeszug der Eisenbahn im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts zweifellos eine Verkehrsrevolution darstellte, sollte er uns nicht den Blick auf die erheblichen Fortschritte verstellen, die in den etwa einhundert Jahren zuvor erzielt worden waren. Eine Vorreiterrolle auf diesem Gebiet spielte Frankreich, wo Jean-Baptiste Colbert, wichtigster Minister Louis’ XIV. im Inneren, früh die Initiative ergriff. Eine seiner ersten Maßnahmen – gleich nachdem er 1661 dafür gesorgt hatte, dass sein Rivale Fouquet in Ungnade fällt – war die Zentralisierung der Verantwortung für den Straßenunterhalt. Im Jahr 1669 wurden den »Intendanten«, den ranghöchsten Beamten in den Provinzen, eigene »Kommissare für Brücken und Straßen« zur Seite gestellt. Als erster Schritt hin zu ihrem Ausbau wurden alle Straßen entweder als »königliche Straßen« (chemins royaux) mit einer Breite zwischen sieben und zehn Metern klassifiziert oder als Gemeinde- (chemins vicinaux) oder Nebenstraßen (chemins de traverse). Nach Colberts Tod 1683 geriet das Projekt zunehmend ins Stocken und fiel schließlich der generellen Lockerung der zentralen Kontrolle zum Opfer. Ende des Jahrhunderts wurde aus Flandern berichtet, die angeblich befestigte »königliche Straße« von Lille nach Dünkirchen sei mittlerweile an mehreren Stellen unpassierbar, so dass Händler gezwungen seien, ihre Ware von der Küste aus auf dem Wasserweg nach Ypern zu schicken und dann doppelt so viele Pferde wie üblich einzusetzen, um ihre Karren auf dem schlammigen Weg nach Lille zu ziehen. Alles in allem, befand Pierre Léon, war die Lage um 1700 nicht besser als 1660.

Deutliche Fortschritte gab es erst in den 1740er Jahren, als das Angebot neu organisiert und eine eigene Akademie eingerichtet wurde, um Ingenieuren die Kunst des Straßenbaus zu vermitteln. Das wachsende Interesse des französischen Staates lässt sich daran ablesen, wie viel Geld er zu diesem Zweck auszugeben bereit war. Pierre Léons Zahlen zeigen, dass Colbert 1668 im Budget lediglich 0,8 Prozent der Staatsausgaben dafür vorsah – wobei in den 1670er Jahren aufgrund kriegsbedingter Lasten nicht einmal diese Zielmarke erreicht wurde. Von durchschnittlichen Ausgaben von 771200 Livres zwischen 1683 und 1700 kam es in der nächsten Regierungszeit zu einem steilen Anstieg auf 3000 000 Livres zwischen 1715 und 1736, 4000 000 im Jahr 1770, 6900 000 im Jahr 1780 und 9445 000 im Jahr 1786; das entspricht einer Steigerung um 213 Prozent innerhalb eines Jahrhunderts. Zusammengenommen sorgten die Zunahme des Sachverstands und der Investitionen für den Bau von Hauptrouten, auf denen der Passagiertransport sehr viel schneller und zuverlässiger abgewickelt werden konnte als in der Vergangenheit. Die Verbesserungen lassen sich in Zahlen fassen: Dauerte es 1650 noch zwei Wochen, von Paris nach Toulouse zu reisen, so hatte sich die Reisezeit 1782 mehr als halbiert. 1664 nahm eine Reise von Paris nach Lyon zehn bis elf Tage in Anspruch, einhundert Jahre später nur noch sechs Tage. Brauchte man im 17. Jahrhundert von Paris aus mindestens drei Tage, um in das etwa 100 Kilometer entfernte Rouen zu fahren, so waren es am Vorabend der Revolution nur noch 36 Stunden. Die vielleicht spektakulärsten Fortschritte wurden bei der Reisezeit nach Bordeaux erzielt; diese sank zwischen 1660 und 1789 von 15 auf fünfeinhalb Tage. Daniel Roche zufolge gab es 1789 keine französische Stadt, die man nicht innerhalb von 14 Tagen erreichen hätte können. 1786 brach der Duc de Croÿ morgens um halb sechs in Calais auf und kam rechtzeitig für ein spätes Abendessen um acht in Paris an; somit hatte er die 280 Kilometer mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von nahezu 20 Stundenkilometern zurückgelegt.

Diese dramatische Zunahme des Reisetempos war die vielleicht beeindruckendste innerstaatliche Leistung des Ancien Régime. Seine bleibendste visuelle Würdigung erfuhr diese durch Joseph Vernet, in seinem großformatigen Gemälde La construction d’un grand chemin (heute im Louvre). Im Vordergrund baut eine Gruppe Arbeiter eine breite befestigte Straße. Der Vorarbeiter erstattet gerade einer Gruppe berittener Ingenieure Bericht, die elegante, goldbesetzte blaue Uniformen tragen. Die Straße schlängelt sich auf einer in den Abhang gehauenen Trasse einer dreifeldrigen Bogenbrücke entgegen, die sich, unter Einsatz zweier großer Kräne, ebenfalls noch im Bau befindet; das eigentliche Ziel ist die von einer großen Windmühle überragte Stadt auf einem Hügel. Aus dem ganzen Gemälde spricht die Zähmung einer feindseligen Natur durch menschliche Erfindungsgabe und Arbeit.

Auch an literarischen Zeugnissen herrscht kein Mangel. Der scharfe Blick und die beißende Feder von Arthur Young fanden an Frankreich viel zu kritisieren, doch die Straßen entfachten seine Begeisterung: Die Straße von Calais nach Boulogne-sur-Mer sei »vorzüglich«, diejenige von Limoges nach La Ville-au-Brun »wahrlich prächtig«, die nach Montauban »hervorragend angelegt und mit Schotter ausgebessert«, die Straßen im Roussillon »mit all der Stabilität und Großartigkeit gebaut, die französische Straßen auszeichnet […] phantastische Bauwerke […]. Diese Straßen sind geradezu aberwitzig meisterhaft […]. Es gibt eine einfeldrige Bogenbrücke und eine Rampe, die hinaufführt, wirklich großartig; von einer Straße wie dieser haben wir in England gar keine Vorstellung«, und so weiter.

Doch der Glanz der rasanten Personenbeförderung von Paris in die Provinzen kaschierte eine Reihe hartnäckiger Probleme. Der Frachttransport kam wie eh und je über eine Geschwindigkeit von drei bis vier Stundenkilometern nicht hinaus. Nach wie vor dauerte es gut zwei Wochen, ehe Leinen aus Laval (im Département Mayenne) in den Häfen der Bretagne und der Normandie ankam, und drei bis vier Wochen, ehe es Lille erreichte. Selbst auf den neuen Hauptrouten von und nach Paris übertrugen sich die Fortschritte im Bereich des Personenverkehrs nicht auf den Warentransport; Letzterer dauerte 1715 von Paris nach Lyon drei Wochen und 1787 nur fünf oder sechs Tage weniger. Auf den Querverbindungen zwischen den einzelnen Provinzstädten gab es keine spürbaren Veränderungen: Eine Reise von Amiens nach Lyon dauerte 1787 zwischen 25 und dreißig Tage, genau wie 1701. Adam Smith erkannte das Problem in Der Wohlstand der Nationen (1776):

Indes sind in Frankreich die bedeutenden Poststraßen, welche die Verbindung unter den wichtigsten Städten im Königreich herstellen, in der Regel in gutem Zustand, in einzelnen Provinzen sogar in einem weit besseren als durchweg die Mautstraßen in England. Doch die meisten Straßen auf dem Land, die wir Quer- oder Kreuzungsstraßen nennen, sind völlig vernachlässigt, vielerorts für schweres Fuhrwerk sogar einfach unpassierbar. In manchen Gegenden ist selbst die Reise zu Pferd gefährlich, so dass Maultiere das einzige Verkehrsmittel sind, dem man sich sicher anvertrauen kann.

Es sei typisch für das französische System, fügte Smith hinzu, dass ein Minister einer Straße, die mit hoher Wahrscheinlichkeit den Blick eines Höflings auf sich ziehen und ihm dessen Lob und Gunst einbringen konnte, jede Menge Aufmerksamkeit widmete und dafür weniger glanzvolle, aber nutzbringende Projekte vernachlässigte. Selbst in das Lob Arthur Youngs für die hervorragenden französischen Straßen mischte sich immer wieder die Beobachtung, dass es auf ihnen ausgesprochen wenig Verkehr gebe. Als er im Pariser Umland unterwegs war, schrieb er über die Straßen: »Im Vergleich zu jenen um London sind sie die reinste Wüste. Zehn Meilen lang trafen wir keine einzige Postkutsche oder Diligence, lediglich zwei messageries und ein paar chaises; nicht ein Zehntel dessen, was wir angetroffen hätten, wenn wir um diese Zeit aus London hinausgefahren wären.« Nach dem oben zitierten Lob für die Straßen im Roussillon merkt Young an: »Auf 58 Kilometern begegnete mir ein Cabriolet, ein halbes Dutzend Karren und ein paar alte Frauen mit Eseln. Wozu all die Verschwendung dieses Schatzes?«

Ins rechte Licht gerückt, und indirekt unterstrichen, werden Youngs Beobachtungen von einem grundverschiedenen Bericht über die Bedingungen auf den Straßen um London, den nur drei Jahre zuvor, 1784, ein französischer Reisender niederschrieb, der Naturforscher und Geologe Barthélemy Faujas de Saint-Fond. Als dieser das südliche Umland von London bereiste, um englische Wissenschaftler zu besuchen, nahm er Youngs Kompliment an sein eigenes Land vorweg, indem er englische Straßen als »so sorgfältig angelegt und so eben wie ein öffentlicher Boulevard« pries. Im Gegensatz zu Young jedoch war er vom hohen Verkehrsaufkommen überwältigt:

Die Straße war um diese Zeit [Sonntagabend] von zahlreichen Kavalkaden an Männern und Frauen bevölkert, mit allerhand Bediensteten im Gefolge. Kutschen aller Art, die meisten hochelegant, allesamt groß und komfortabel, und viele mit vorzüglicher Equipage, folgten einander ohne Unterlass und mit derartiger Schnelligkeit, dass der ganze Anblick wie Zauberei wirkte: In jedem Fall zeugte er von einem Reichtumsgrad und einer Bevölkerungsgröße, von der man in Frankreich keinerlei Vorstellung hat. Alles war Leben, Bewegung und Schnelligkeit; und zugleich, in einem Kontrast, wie man ihn nur hier zu Gesicht bekommt, war alles ruhig, still und geordnet.

Bestätigt wurde sein Eindruck vom russischen Reisenden Nikolai Karamsin. Unmittelbar nach seiner Überfahrt aus Frankreich notierte dieser: »Überall Kutschen, Chaises und Reiter in großer Zahl sowie massenweise gut gekleidete Leute, denn wer von und nach London oder zu den Dörfern und Landsitzen unterwegs ist, fährt auf der Chaussee; überall Gasthöfe mit Reitpferden und Cabriolets zum Ausleihen. Kurz: Die Straße von Dover nach London gleicht der Hauptstraße einer Stadt mit vielen Einwohnern.«

Die beiden kontrastierenden zeitgenössischen Einschätzungen sind eine heilsame Warnung vor einer Sichtweise, wonach der Bau guter Straßen ausreicht, um den Weg in die Moderne zu ebnen. Nur ein verschwindend kleiner Teil der französischen Bevölkerung konnte in Postkutschen auf den »königlichen Straßen« umherreisen. Pierre Goubert zufolge spielte sich das Leben der meisten Bauern – also des Großteils der Bevölkerung – innerhalb eines Radius von lediglich sechs bis acht Kilometern ab, das heißt auf einem Areal, das durch ihre Familie, den Wochenmarkt, den Notar und den Hof des Grundherren abgesteckt wurde und auf dem sie sich zu Fuß bewegten. So hatten sie es 1660 gemacht, und so machten sie es auch noch 1815. Das Königreich Frankreich umfasste ein derart riesiges Gebiet (mehr als viermal so groß wie England) mit höchst unterschiedlichen Regionen, die vor der Erfindung des Autos so schwer zugänglich waren, dass die königlichen Fernstraßen in Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt kaum Wirkung entfalteten.

Wie Faujas de Saint-Fond nicht entging, war die Lage in Großbritannien Ende des 18. Jahrhunderts eine andere geworden. Wichtige Zentren waren näher aneinandergerückt, die Zeichen standen verstärkt auf Zusammenarbeit, die wirtschaftlichen Anreize waren größer, Kapital reichlicher vorhanden. In Kombination mit einer instinktiven Abneigung gegen zentral gesteuerte und finanzierte Initiativen wies all das den Weg zu einem anderen Lösungsansatz für das Problem des Straßenbaus und -unterhalts. Seit 1555 war jede Gemeinde verpflichtet gewesen, für den Unterhalt der Straßen auf dem Gemeindegebiet Arbeitskräfte und Werkzeuge zur Verfügung zu stellen. Da der mit der Beaufsichtigung der Arbeiten betraute »Aufseher« für seine Mühen nicht entlohnt wurde, den Auftrag nicht ablehnen und sich bei Vernachlässigung seiner Pflichten eine Buße einhandeln konnte, wurden die Arbeiten – so sie überhaupt in Angriff genommen wurden – langsam, widerwillig und mangelhaft ausgeführt. John Billingsley hielt 1798 in seiner Survey of Somerset fest: »Wird ein Bauer zum Frondienst aufgefordert, so führt er diesen stets mit Widerwillen aus und betrachtet ihn als vom Gesetz auferlegte Bürde, die ihm keinen Nutzen einbringt. Und auf die Knechte und Pferde scheint die Lethargie ihres Herrn abzufärben. Keine noch so große Anstrengung des Aufsehers vermag sie anzuspornen, und sie verrichten kaum halb so viel Arbeit wie sie sollten.«

In einer anderen zeitgenössischen Quelle wird geschätzt, dass man »mit drei Gruppen angestellter Arbeiter mehr schaffen könnte als mit fünf Fronarbeitergruppen, und mit fünf angestellten Arbeitern mehr als mit zwanzig anderen.« Angesichts des Produktivitätsunterschieds zwischen Frondienst und bezahlter Arbeit wurde es Gemeindemitgliedern durch die General Highway Acts von 1766 und 1773 ermöglicht, sich durch eine Geldzahlung vom Frondienst freizukaufen. Zu diesem Zeitpunkt war allerdings bereits eine andere Methode gefunden. Dabei handelte es sich um die »Turnpike«, ein Wort, das ursprünglich lediglich eine Schranke bezeichnete, die Plünderern den Weg versperren sollte. Zur Bezeichnung eines Ortes, an dem eine Maut zu entrichten ist, wurde das Wort erstmals in einem Gesetz von 1695 verwendet, das im Straßenbau eine neue Ära einläutete. Dieses machte sich das menschliche Gewinnstreben zunutze. Ein Unternehmer erwirkte die Verabschiedung eines Gesetzes, dass ihm die Erhebung einer Gebühr für das Befahren eines bestimmten Straßenabschnitts erlaubte; im Gegenzug hatte er für dessen Instandhaltung zu sorgen. Zum ersten, aber keineswegs letzten Mal begegnet uns hier ein auffälliges Merkmal britischer Politik: Bei der konkreten Durchsetzung von Gesetzen war man auf der Insel deutlich effektiver als viele »absolutistischen« Staaten auf dem Festland. Das lag daran, dass es eine erhebliche Schnittmenge gab zwischen den nationalen Gesetzgebern (den Abgeordneten des Parlaments) und den lokalen Vollstreckern dieser Gesetze (den Friedensrichtern). Obwohl die Einführung von Straßennutzungsgebühren auf heftigen, oftmals gewaltsamen Widerstand stieß, wurde an den sogenannten Turnpike Acts nicht gerüttelt. Ihr Nutzen wurde rasch spürbar.

Die Hauptprofiteure waren, wie Defoe klar herausgearbeitet hat, Gutsherren, die nunmehr schneller und komfortabler nach London fahren konnten, um im Parlament weitere Turnpike Acts zu verabschieden. Und das taten sie mit großer Begeisterung: In den 1730er Jahren wurden 25 entsprechende Gesetze erlassen, in den 1740ern 37, in den 1750ern 170 und in den 1760ern weitere 170. Im Jahr 1750 bewirtschafteten 143 Turnpike Trusts 5600 Straßenkilometer, 1770500 Trusts bereits 24000 Kilometer. Im Ergebnis führte dies innerhalb weniger Generationen zum Aufbau eines landesweiten Fernstraßennetzes. Dass die Turnpike Trusts ihren Aufgaben gerecht wurden, dafür sorgten weniger gesetzliche Bestimmungen als der Druck der Kunden. Was Letztere wollten, war Geschwindigkeit, und die bekamen sie auch. Die Reisezeiten zwischen wichtigen Zentren auf den Britischen Inseln halbierten sich innerhalb von einhundert Jahren zweimal. Eine Zeitungsanzeige aus dem Jahr 1754 verkündete: »So unglaublich es klingt, diese Postkutsche wird vier Tage nach der Abfahrt von Manchester in London eintreffen.« Dreißig Jahre später hatte der Konkurrenzdruck diesen »unglaublichen« Wert ein weiteres Mal halbiert. Die folgende Tabelle gibt an, wie viele Stunden die Fahrt von London in die Provinz dauerte.

Tabelle 1: Reisezeiten von und nach London, 1700–1800 (in Stunden)

1700

1750

1800

Bath

50

40

16

Edinburgh

256

150

60

Exeter

240

120

32

Manchester

90

65

33

Dieser Wandel war so einschneidend, dass er nicht unbemerkt bleiben konnte. In Richard Graves’ Roman Columella beispielsweise befindet der Titelheld, »dass das bemerkenswerteste Phänomen, das ihm in den vergangenen Jahren, während seines Ruhestands, aufgefallen war, der erstaunliche Fortschritt in der Kunst des Transports beziehungsweise der Beförderung von einem Ort an einen anderen gewesen war. ›Wer hätte es vor dreißig Jahren für möglich gehalten‹, spricht er, ›dass dereinst ein junger Mann fünfzig Kilometer mit einer Kutsche zu einem Abendessen fahren und unter Umständen noch am selben Abend nach Hause zurückfahren würde? Ja, wer hätte gedacht, dass tagtäglich Postkutschen zwischen London und Bath verkehren würden, in etwa zwölf Stunden, während man dafür vor zwanzig Jahren gut drei Tagesreisen eingeplant hätte?‹« Am spektakulärsten war die Beschleunigung beim Transport von Personen und – wie wir noch sehen werden – Post; doch auch die Fracht profitierte. Die besser befestigten Straßen konnten mit sehr viel schwerer beladenen Wägen befahren werden: Waren in den 1740er Jahren lediglich drei Tonnen Ladung zulässig, so hatte sich dieser Wert 1765 verdoppelt. Dank der besseren Straßenbefestigung bedurfte es weniger Zugtiere pro Tonne. Henry Homer schrieb 1767: »Der Transport von Getreide, Kohle, Handelswaren etc. erfolgt im Vergleich zu früher in der Regel mit etwas mehr als der Hälfte der Pferde.« Im Jahr 1776 warb Matthew Pickford für einen Lieferdienst von London nach Manchester, der täglich (außer sonntags) abfuhr und einen von ihm selbst erfundenen »Flugwagen« nutzte. Die Fahrt dauerte viereinhalb Tage, hatte sich 1815 jedoch auf 36 Stunden verkürzt.

Die Mautstraßen brachten einer Gesellschaft, die zuvor vom Gegenteil charakterisiert war, Geschwindigkeit und Mobilität. Das war ein Kulturschock, der viele verstörte – vor allem, sobald die unteren Schichten sich aus ihren Dörfern aufmachten, auf die Straßen und in die Städte, und sich unterwegs allerhand aufsässige Verhaltensweisen angewöhnten. John Byng beschwerte sich 1781 bitterlich: »Ich wünschte von ganzem Herzen, die Hälfte der Mautstraßen im Königreich würden umgepflügt, denn sie haben Londoner Manieren importiert und das Land entvölkert – auf der Straße begegnen mir Milchmädchen, die gekleidet sind und aussehen wie Londonerinnen; und ich muss daran denken, dass jede Zeile in Goldsmiths Deserted Village düstere Wahrheiten enthält.« Der Verweis auf das Gedicht von Goldsmith aus dem Jahr 1770 ist aufschlussreich, handelt es sich doch um eine Elegie auf eine untergegangene Welt der ländlichen Unschuld und Harmonie, deren Bewohner von den Kräften der Modernisierung in die Arme städtischer Gesetzlosigkeit und Laster getrieben wurden.

Zu den weiteren unangenehmen Nebenwirkungen der Transportrevolution, die bei Zeitgenossen die Frage aufwarf, ob es das alles wert sei, gehörten Verbrechen und überfüllte Straßen. Genau wie Computer bei der Aufklärung von Straftaten behilflich sind, Kriminellen aber auch mehr Möglichkeiten eröffnen, erhöhten bessere Straßen einerseits die soziale Kontrolle, schufen für Verbrecher andererseits aber auch neue Gelegenheiten. An Zollposten konnte man nur mit klingender Münze bezahlen, und so wurden diese häufig ausgeraubt. Je mehr Reisende auf den Straßen unterwegs waren, desto öfter tauchten Wegelagerer auf, um sie zu erleichtern. Die Legenden, die sich um den 1739 in Knavesmire vor den Toren von York gehängten Dick Turpin und seine Stute Black Bess ranken, veranschaulichen die neuen Karrierechancen, die sich durch bessere Straßen boten. Da es sich nunmehr lohnte, eine Privatkutsche anzuschaffen, waren die Städte alsbald von Staus geplagt – vor allem London, auf das ungefähr ein Drittel der 20000 Kutschen entfiel, für die ab 1762 Steuern bezahlt wurden. Faujas de Saint-Fond warf ein Schlaglicht auf beide Phänomene, als er festhielt, er habe gezögert, um sieben Uhr abends das Haus von Sir Joseph Banks zu verlassen, da Wegelagerer um diese Zeit bekanntermaßen sehr aktiv seien. Ihm wurde allerdings versichert, dass er an einem Sonntagabend vergleichsweise sicher sein würde, da zahlreiche Londoner in ihren Kutschen von Tagesausflügen aufs Land heimkehrten.

Ungleich stärker gezögert hätte er, wenn sein Gastgeber nicht in London zu Hause gewesen wäre, sondern in Lissabon, Almería oder Palermo, von Warschau oder Moskau ganz zu schweigen. Vereinfacht gesagt gab es beim Zustand und der Sicherheit von Europas Straßen ein Nord-Süd- und ein West-Ost-Gefälle. Wo an der südlichen Peripherie gute Straßen anzutreffen waren, ließ sich das eher auf militärische oder repräsentative Erfordernisse zurückführen denn auf wirtschaftliche. Bei seiner Ankunft in Lissabon 1772 fand Richard Twiss eine wunderbare, befestigte Straße vor, die von der Hauptstadt aus zur königlichen Residenz in Sintra und zur Festung São Julião an der Mündung des Tejo führte. Als er sich jedoch auf den Weg nach Porto machte, musste er sich bald mit derart schlechten Straßen herumschlagen, dass seine zweirädrige Kutsche, damit sie nicht umkippte, auf jeder Seite von einem Diener gestützt werden und er selbst den größten Teil des Weges laufen musste. Der Anblick der abgetrennten, am Straßenrand auf Pfählen aufgespießten Köpfe von Wegelagerern trug nicht gerade dazu bei, die Stimmung zu heben. Auf seiner Weiterreise Richtung spanische Grenze brachte Twiss folgende anschauliche Schilderung der Unbilden zu Papier, die Reisende auf der Iberischen Halbinsel erwarteten:

Wir überquerten auf einer dreibogigen Brücke den Mondego. Zur Unterstützung der Mulis wurden zwei Ochsen vor die Kutsche gespannt, um sie hinaufzuziehen. Als wir oben ankamen, ließen wir die Mulis eine Stunde ausruhen; später überquerten wir eine einbogige Brücke, und danach wurde die Straße äußerst gefährlich, führte sie doch über lose Felsen, durch tiefen Morast und an rutschigen Abgründen entlang. Die Mulis fielen häufig hin, Speichen brachen, es regnete heftig, und es war vollkommen dunkel, als wir in Vinhós ankamen, wo wir im furchtbarsten Gasthaus übernachteten, das ich zuvor oder danach jemals betreten habe. Es gab nur einen einzigen Raum, und der war voller Menschen. In der Mitte hatten sie mit nassem Holz ein Feuer entfacht, und da es keinen Kamin gab, musste sich der Rauch einen Weg zu den Fenstern und die Tür hinaus ins Freie suchen. Ich besorgte mir etwas Stroh, verteilte es auf einer großen Truhe, rollte mich zusammen und schlief sofort ein, mit allen Kleidern an und den Kopf halb zu einem Fenster hinausgestreckt, um nicht zu ersticken.

Nach seinen Erfahrungen in Portugal war Twiss geneigt, dem, was er in Spanien antraf, mit mehr Wohlwollen zu begegnen. Besonders beeindruckte ihn die Straße von San Ildefonso nach Madrid, die breit genug war, dass fünf Kutschen nebeneinander fahren konnten, und die am Pass über die Sierra de Guadarrama die erste Mautstraße darstellte, die ihm begegnete, seitdem er England verlassen hatte. Die fünfzig Kilometer vom Escorial nach Madrid konnte man dank vierrädriger Postkutschen und Wechselstationen für die Maultiere in vier Stunden zurücklegen. Diese Verbindung lobte Twiss denn auch in den höchsten Tönen dafür, dass sie eine Geschwindigkeit ermöglichte, wie er sie von der Heimat her gewohnt war. Er war allerdings nicht der einzige Reisende, dem auffiel, dass diese Vorzeigestraßen angelegt worden waren, um der königlichen Familie und dem Hofstaat die Umzüge zu erleichtern: im Januar in den El Pardo, im April weiter nach Aranjuez, im Juni zurück nach Madrid, im Juli nach San Ildefonso, im Oktober in den Escorial und im November wieder nach Madrid zurück. Der Großteil des für den Straßenbau erübrigten Budgets war mit anderen Worten für die obersten Ränge der Elite reserviert. Ein Reisender aus Frankreich, der Chevalier de Bourgoing, schrieb über die Straße von Aranjuez nach Madrid, sie müsse den Vergleich mit anderen in Europa nicht scheuen (»eine Straße könnte gerader, besser befestigt und geschickter angelegt nicht sein«), fühlte sich aber bemüßigt hinzuzufügen, dass sie bis dato nicht zu einer wirtschaftlichen Belebung der Region insgesamt geführt habe. Als der Intendant der Provinz Cuenca sich 1769 über den desaströsen Zustand der Straße nach Madrid beschwerte, erhielt er zur Antwort: »Derzeit stehen für die Ausbesserung dieser Straße keinerlei Mittel zur Verfügung.«

Bereits fünfzig Jahre vor dieser Abfuhr hatte der erste Bourbone auf dem spanischen Thron, Felipe V., eine lange Verfügung unterzeichnet, die ein radiales Straßennetz vorsah, um die Hauptstadt mit den vier Ecken des Königreichs zu verbinden. Ein zweiter gesetzgeberischer Meilenstein war die Anordnung von Carlos III. aus dem Jahr 1767, »königliche Straßen« zu bauen – die ersten befestigten Straßen seit der Römerzeit. Gewisse Fortschritte gab es zweifellos. Ende des 18. Jahrhunderts war es beispielsweise möglich, mit der Postkutsche von Madrid nach Barcelona oder Cádiz zu reisen. Dem renommierten Wirtschaftshistoriker Jaime Vicens Vives zufolge war das Straßennetz bis zum Jahr 1800 insgesamt 10000 Kilometer lang, aber man fragt sich unwillkürlich, was mit »Straße« in diesem Kontext gemeint ist. Allzu zahlreich sind die zeitgenössischen Belege, wonach der Transport von Personen innerhalb Spaniens nach wie vor schwierig und der Transport von Waren nicht selten ein Ding der Unmöglichkeit war. Selbst der Optimist Bourgoing, stets bedacht, die Leistungen der Bourbonen herauszustreichen, gestand ein, dass die Straßen in Andalusien bei Regen schlicht unpassierbar waren. Weiter nördlich berichtete der Intendant von Burgos: »[D]ie Straßen, die ich gesehen habe, könnten in einem schlechteren Zustand nicht sein; es bedarf nur weniger Regentropfen, um sie unpassierbar zu machen.« Im Jahr 1774 kommentierte der fiktionale Marokkaner von José Cadalso: »Da sich die Straßen in der Mehrzahl der Provinzen Eures Landes in einem so schlechten Zustand befinden, überrascht es nicht, dass Kutschen stecken bleiben, Maultiere straucheln und Reisende Tage verlieren.« Ein weiteres Problem war die stete Gefahr, von Wegelagerern ausgeraubt zu werden. Zwar waren diese in allen europäischen Ländern anzutreffen, aber Spanien hatte einen besonders üblen Ruf. Das großartigste Bild aller Zeiten jedenfalls, das einen Straßenüberfall darstellt, stammt zweifellos von einem Spanier, Francisco de Goya.

Solange die spärlichen Mittel des spanischen Staates für ein sternförmiges Straßennetz aufgewendet wurden, das insbesondere zu den königlichen Palästen führte, war an einen landesweiten Wirtschaftsraum nicht zu denken. Es gab, wie John Lynch aufgezeigt hat, keine »spanische Volkswirtschaft«, nur ein »Archipel aus lokalen Produktions- und Konsuminseln, die durch Binnenzölle, Selbstversorgung, miserable Straßen und kümmerliche Transportmöglichkeiten seit Jahrhunderten voneinander abgeschnitten waren.« Da Naturalien, Rohstoffe und Erzeugnisse in der Regel ausschließlich auf den Rücken von Maultieren und Eseln transportiert werden konnten, war der Radius der lokalen Wirtschaftsräume entsprechend klein. In Almería war der Weizen beispielsweise doppelt so teuer wie im lediglich achtzig Kilometer entfernten Guadix. Also folgten die Bewohner dem Beispiel anderer Küstenstädte und importierten Getreide aus Frankreich, Italien oder sogar Afrika. Und am anderen Ende Spaniens kauften die Basken ihr Getreide in Frankreich, denn »obwohl es in Kastilien billiger ist, holen sie es nicht von dort, weil die Entfernung so groß und die Straßen in so schlechtem Zustand sind.«

In Italien war die Lage lokal sehr unterschiedlich, im Großen und Ganzen aber ähnlich. In der heutigen Zeit ist die Mittelmeerküste so überbevölkert, dass es einer gehörigen Anstrengung bedarf, sich in eine Ära zurückzuversetzen, in der sie weitgehend menschenleer war. Als Arthur Young im September 1789 in Toulon ankam, musste er zu seinem Erstaunen feststellen, dass es keine regelmäßige Postkutschenverbindung nach Italien gab: »Für jemanden, der an die endlose Zahl von Maschinen gewohnt ist, die einen in England in Windeseile in jede beliebige Richtung bringen, muss sich das schier unglaublich anhören. Zwischen stattlichen Städten trifft man in Frankreich nicht ein Hundertstel des Austausches und des Verkehrs an, wie man es von sehr viel geringeren Orten bei uns kennt: ein sicherer Beweis, dass es hier an Konsum, geschäftigem Treiben und Trubel mangelt.« Er war also gezwungen, per Schiff bis »Cavalero« (Cavalaire-sur-Mer) zu fahren, wo er einen fahrbaren Untersatz zu organisieren hoffte. Dort jedoch waren keine Maultiere aufzutreiben, nicht für Geld noch gute Worte, woraufhin der hilfsbereite Kapitän drei seiner Matrosen abstellte, um Youngs Gepäck in ein 16 Kilometer entferntes Dorf zu schleppen. Doch auch hier wurde Young enttäuscht; es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Esel einer alten Frau zu chartern, der seine Habseligkeiten trug, während er (ebenso wie die alte Frau) zu Fuß ging.

Trotz aller anglozentrischer Vorurteile war Young ein zu sehr um Unvoreingenommenheit und Objektivität bemühter Beobachter, als dass er aus Italien nichts Lobenswertes zu berichten gewusst hätte. Insbesondere im Norden gab es durchaus Straßenabschnitte, auf denen Kutschenräder bei nahezu jedem Wetter nicht stecken blieben. So bescheiden diese Errungenschaft erscheinen mag, war sie doch recht jungen Datums. Erst in der Regierungszeit von Vittorio Amadeo III. (1773–96) wurde eine Trasse über den Colle di Tenda angelegt, um eine Verbindung zwischen dem Königreich Piemont und seinen Besitzungen jenseits der Alpen, der Grafschaft Nizza, herzustellen. Weiter östlich sorgten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Habsburger für eine Verbindung zwischen Triest und Wien; die Straße wurde vom Grafen Graneri als »hervorragend, breit und sicher, wenn auch mit steilen, kraftraubenden Abschnitten« gepriesen: »Trotz der zurückzulegenden Entfernungen, natürlichen Hindernisse, jahreszeitlich bedingten Probleme mit Eis und Schnee sowie des unablässigen Nordwinds herrscht auf dieser Strecke gewaltiger, unablässiger Verkehr.« In einem anderen Habsburger Territorium, der Toskana, befand der Abbé Dupaty die Straße von Livorno nach Florenz für »ausgezeichnet«, fügte beim Verlassen von Siena allerdings hinzu: »Die Herrschaft der Natur und Leopolds scheint hier zu enden.« Das war natürlich eine Anspielung darauf, dass er nun den unter dem aufgeklärten Großherzog Leopold florierenden Staat verließ und die vorübergehenden Besitzungen des Papstes betrat, ein Synonym für Rückständigkeit: »Auf diesen Straßen, auf denen sich in der Antike Könige und Völker aus allen Ecken des Universums drängten, auf denen römische Armeen Staubwolken aufwirbelten und dem Reisenden Caesar, Cicero und Augustus begegneten, traf ich nur Pilger an und Bettler.«

Jenseits der Straße von Messina, auf Sizilien, gestalteten sich die Landwege noch primitiver. Abgesehen von ein paar Kilometern befestigter Straßen rings um die Hauptstadt Palermo boten einzig Saumpfade und die trazzere der Schafhirten Möglichkeiten, sich zu Lande fortzubewegen. Die Entfernung zwischen Trapani im Westen und Messina im Osten beträgt lediglich 350 Kilometer, zu Lande nahm die Reise in der Regel jedoch drei Wochen in Anspruch. Ja, nach heftigen Regenfällen war Messina von anderen Teilen der Insel aus nicht selten ausschließlich auf dem Seeweg zu erreichen. Ein englischer Reisender, Reverend Thomas Brand, notierte 1792: »Für etwa 30 Kilometer ist die Straße von Palermo aus dank eines Bischofs mit großem Reichtum und Gemeinsinn hervorragend – danach ist sie uneben und Abgrund oder Morast. Im ganzen Land findet sich kein einziges Rad, die Straßen sind bloße Pfade für ein einzelnes Maultier.« Einer der namhaftesten Erforscher der sizilianischen Geschichte jener Zeit, Denis Mack Smith, merkte einmal an: »[E]in vernünftiges Straßennetz hätte mehr dazu beigetragen, Wirtschaft, Politik und sogar Moralvorstellungen zu verändern, als jede andere Reform.« Das erkannte auch die Regierung und beauftragte in den 1770er Jahren einen Militäringenieur mit der Planung einer Straße von Palermo nach Catania. Die Aufgabe erwies sich indes als hoffnungsloses Unterfangen, da sowohl Städte als auch adlige Grundbesitzer Lobbyarbeit leisteten, auf dass die Straße durch ihr Gebiet führe. Ein Beobachter machte den zynischen Vorschlag, der Straßenverlauf lasse sich von den Namen der Landbesitzer ableiten, die in der beratenden Kommission säßen. Und so endete das 18. Jahrhundert wie es begann, »ohne dass es in Sizilien Straßen gab, die diesen Namen verdient hätten« (Mack Smith).

Ob Zeitgenossen wie Arthur Young und der Abbé Dupaty (und ihre Bemerkungen ließen sich beliebig replizieren) oder moderne Historiker wie Paolo Macry und Denis Mack Smith (dito) – in einer entscheidenden Hinsicht ist ihre verächtliche Abqualifizierung italienischer Straßen deplatziert: Der piemontesische Kaufmann, der an einem Flussufer geduldig darauf wartete, dass das Hochwasser zurückgeht, oder der sizilianische Bauer, der seine Oliven auf dem Rücken eines Esels zum Markt brachte, waren niemals in England gewesen. Sie hatten die Mautstraßen oder Postkutschen, die dort für die Halbierung von Reisezeiten sorgten und einen landesweiten Wirtschaftsraum schufen, nie zu Gesicht bekommen. Sie wussten nicht, dass sie rückständig waren. Und ist »Rückständigkeit« überhaupt eine angemessene Kategorie, um die Verhältnisse im 17. und 18. Jahrhundert zu beurteilen? Auch wenn wir uns sofort darauf einigen können, dass ein landesweites Straßennetz deutliche Fortschritte in Sachen Produktivität, Wohlstand und Lebenserwartung gebracht hätte, so sei die Frage doch gestattet, ob das die ganze Wahrheit ist. Wirft man in den oben zitierten Äußerungen einen Blick hinter den Snobismus Arthur Youngs oder die Nostalgie Oliver Goldsmiths, so finden ihre Zweifel an der Mobilität der Moderne in der frenetischen, übervölkerten, entfremdeten Welt des 21. Jahrhunderts vielleicht einen verständnisvollen Widerhall.

Hätten sich die Kritiker des Zustands der südeuropäischen Straßen an die östliche Peripherie des Kontinents aufgemacht, so hätten sie jede Menge Zeit gehabt, sich noch wüstere Beschimpfungen auszudenken. Selbst die besten russischen Hauptstraßen bestanden aus mit Sand oder Kies bedeckten Baumstämmen und waren bei Regen praktisch unpassierbar. Das galt auch für die größte Leistung Peters des Großen auf diesem Gebiet: die ab 1718 gebaute Direktverbindung zwischen Sankt Petersburg und Moskau. Selbst an guten Tagen betrug die Geschwindigkeit, die auf Rädern erreicht werden konnte, nicht einmal Schritttempo. Eine befestigte Straße suchte man in jener Zeit im gesamten, riesigen Zarenreich vergeblich. In seinem epischen Roman Reise von Petersburg nach Moskau schrieb Alexander Nikolajewitsch Radischtschew: »Als ich mich in Petersburg auf den Weg machte, schmeichelte mir der Gedanke, dass ich auf der besten aller Straßen unterwegs sei. Denn als solche galt sie jedem, der sie im Gefolge des Zaren befahren hatte. Und das traf einst auch zu, aber nur für kurze Zeit. Die Erde, die die Straße bedeckte und sie bei trockenem Wetter eben machte, verwandelte sich durch den sommerlichen Regen in einen schlammigen Sumpf und ließ sie unpassierbar werden.«

Ähnliche Klagen trifft man im gesamten Jahrhundert über die Bedingungen im Heiligen Römischen Reich an. Es gibt aber auch Belege für Fortschritte. Zumindest einige Fürstentümer begannen, Vorschriften für den Unterhalt der Hauptstraßen zu erlassen: Baden 1733, Württemberg 1737, Hessen-Kassel 1746, das Kurfürstentum Trier 1753, die westfälischen Gebiete des Kurfürstentums Köln 1769, Sachsen-Weimar 1779, Kursachsen 1781 und Bayern 1790. Auffällig ist, dass Preußen auf dieser Liste durch Abwesenheit glänzt; dort soll Friedrich der Große sich auf den Standpunkt gestellt haben, je länger Reisende gezwungen seien, sich in seinem Herrschaftsgebiet aufzuhalten, desto mehr Geld würden sie der lokalen Wirtschaft zuführen. Noch 1816 gab es in sämtlichen preußischen Territorien westlich der Elbe nur wenig mehr als 300 Kilometer an Straßen. Auf diesem Feld waren die Österreicher ihren Rivalen im Norden unbestreitbar voraus, denn Karl VI. (1711–40) und seine Tochter Maria Theresia (1740–80) verwendeten einiges an Zeit und Mühen darauf, ein System von Hauptrouten aufzubauen, das Wien mit Prag, Linz, Triest und Preßburg (Bratislava) verband. Andere Strecken, die besonderes Lob einheimsten, waren Aachen-Köln, Mülheim-Düsseldorf und Bruchsal-Augsburg-Salzburg-Innsbruck. Es gab sogar Zeitgenossen, die nicht nur über die Unannehmlichkeiten des Reisens klagten. Der Vielschreiber Friedrich Karl von Moser blickte 1784 voller Nostalgie auf seine Jugendtage zurück, als das Reisen noch so viel gemächlicher vonstattenging. Seiner Meinung nach hatte es gut zu den phlegmatischen Deutschen gepasst, sich Zeit zu lassen; ihre fiebrigen französischen Nachbarn seien es gewesen, die dazu verdammt waren, im Eiltempo zu denken, zu marschieren, zu schießen, zu jagen, zu essen, zu gehen und zu reisen. Jetzt aber sei all das in den Osten herübergeschwappt, lamentierte Moser. Kürzlich habe man ihn mit solcher Geschwindigkeit über eine dieser neuen Chausseen kutschiert, »daß mir Hören und Sehen haben vergehen mögen«.

Wasserstraßen

Die Reibungskräfte, die das Vorwärtskommen mit Wägen und Kutschen so mühselig machten, fielen weit geringer aus, wenn man sich statt zu Land zu Wasser fortbewegte, konnte man dabei doch Gezeiten und Strömungen nutzen und sich mit Segeln Winde dienstbar machen. Frei von unangenehmen Erschütterungen und endemischen Gefahren konnten zu Wasser Reisende ihrem Ziel in Schiffen oder Kähnen entgegengleiten, die groß genug waren, um gewisse Annehmlichkeiten zu ermöglichen (nicht zuletzt eine gewisse Ellenbogenfreiheit gegenüber Mitreisenden) und Skaleneffekte zu erzielen. So weit die Theorie. Die Praxis war häufig weniger erquicklich. Die Straße von Dover ist lediglich 34 Kilometer breit, doch Passagieren kam die Überfahrt meist wie eine halbe Ewigkeit vor. Als George Ayscough 1777 von London aus zu seiner Grand Tour aufbrach, kam er zunächst gut voran und erreichte nach nur neun Stunden um vier Uhr morgens Dover. Nachdem die Reisegesellschaft gut, aber unklugerweise gefrühstückt hatte, begab sie sich an Bord des Paketschiffs, das um acht Uhr die Segel Richtung Frankreich setzte. Nach neun elenden Stunden, in denen sämtliche Passagiere seekrank wurden, kam endlich Calais in Sicht. Leider war gerade Ebbe, so dass das Paketschiff die Küste auf- und abfahren musste. Irgendwann kam ein von sechs Ruderern angetriebenes Boot herausgefahren, um die Passagiere und ihr Gepäck abzuholen, doch die Wellen waren so hoch, dass das Umsteigen nur mit erheblichen Schwierigkeiten und unter großer Gefahr bewerkstelligt werden konnte. Nach einer endlos scheinenden, furchterregenden letzten Etappe, auf der das Ruderboot ständig zu kentern drohte, fühlten sich Ayscough und seine Reisegefährten beim Erreichen der Küste mehr tot als lebendig – nur um dort sofort von einem Heer »Fratzen« belagert zu werden, die ihnen das Gepäck tragen wollten. Das war keine ungewöhnliche Erfahrung; Arthur Young hielt am 5. Juni 1789 lakonisch in seinem Tagebuch fest: »Überfahrt nach Calais; 14 Stunden zum Nachdenken in einem Vehikel, das einem keinerlei Chance zum Nachdenken lässt.« Ein anderer Reisender, Edward Wright, machte die umgekehrte Erfahrung. Er überquerte den Ärmelkanal auf der Heimreise seiner Grand Tour in fünf Stunden ohne Zwischenfälle – nachdem er in Calais vier Tage lang auf günstige Winde hatte warten müssen. Es hätte schlimmer kommen können: Richard Twiss wartete 1772 in Falmouth 18 Tage, bis der Wind nachließ und das Paketschiff nach Lissabon in See stechen konnte.

Hier lag das Problem bei Seereisen: Zeit und Gezeiten warten auf keinen Menschen, wie der Engländer sagt, doch nicht selten musste der Mensch auf Zeit und Gezeiten warten. Eine Schiffsreise von Nantes an der Westküste Frankreichs nach Danzig an der Ostsee war, bei idealen Bedingungen, in gerade einmal 18 Tagen zu bewältigen, dauerte durchschnittlich einen Monat lang und konnte sich im Winter, wenn der Wind auf Osten drehte und das Schiff in einem Hafen Zuflucht suchen musste, einhundert oder sogar 150 Tage hinziehen. Kurz: Eines der wichtigsten Merkmale des modernen Reisens – der Fahrplan – glänzte durch Abwesenheit. Reisende verbrachten im 18. Jahrhundert unvorhersehbar viel Zeit mit dem Warten auf Winde, die einfach nicht wehen, und Schiffe, die einfach nicht kommen wollten. Abhilfe, zumindest in puncto Planbarkeit, versprachen Binnenwasserstraßen. 1789 gab es von Paris aus, im Sommer um sechs Uhr, im Winter um sieben Uhr, regelmäßige Verbindungen per »Wasserkutsche« (coche d’eau) nach Sens (montags), Montargis und Briare (dienstags und donnerstags), Auxerre an der Yonne (mittwochs und samstags) und Nogent (sonntags). Wenn das Wetter mitspielte, kann es keine angenehmere Art zu Reisen gegeben haben.

Die beste Annäherung an ein modernes Verkehrssystem für die Personenbeförderung jedoch fand sich in den Niederlanden, mit seiner Fülle an natürlichen und von Menschen geschaffenen Wasserstraßen. Der niederländische Wirtschaftshistoriker Jan de Vries hat eine Reise rekonstruiert, die Mitte des 17. Jahrhunderts von Dünkirchen, damals Teil der Spanischen Niederlande, nach Amsterdam in den Vereinigten Niederlanden führte. Da Frauen sehr selten und niemals allein reisten, darf man davon ausgehen, dass der Reisende ein Mann war. Ein trekschuit, ein von einem Pferd gezogener Kahn für die Personenbeförderung, machte sich (üblicherweise) bei Tagesanbruch auf den Weg und brachte ihn auf einem jüngst fertiggestellten Kanal nach Passchendaele bei Ostende. Nachdem er in ein weiteres Boot umgestiegen war, das in der anderen Schleusenkammer wartete, traf er rechtzeitig für ein spätes Abendessen in Brügge ein; insgesamt hatte er an diesem Tag 67 Kilometer zurückgelegt. Am nächsten Tag nahm er um elf Uhr ein Boot nach Gent, das der englische Tourist Thomas Nugent als »den bemerkenswertesten Kahn seiner Art in ganz Europa« bezeichnete, denn er sei »ein vollendetes Gasthaus, aufgeteilt in mehrere Räume, mit einem vorzüglichen Menü mit sechs oder sieben Gängen und allerhand Weinen zu vernünftigen Preisen«. Von vier Pferden gezogen, benötigte er für die 44 Kilometer nach Gent nicht mehr als acht Stunden. Von dort hätte er per Kahn und Segelschiff nach Rotterdam weiterreisen können; schneller und planbarer war es jedoch, mit einer ganz normalen Kutsche nach Antwerpen zu fahren. Dort stieg er in eines der täglich verkehrenden Schiffe nach Dordrecht, eine Strecke von 93 Kilometern, die etwa 24 Stunden in Anspruch nahm. Nun musste er einige Ungewissheit in Kauf nehmen, denn die Abfahrtszeiten der vier Segelschiffe, die zwischen Dordrecht und Rotterdam verkehrten, war von den Gezeiten abhängig. Doch da die Stadt einen Stadtschreier beschäftigte, der dafür sorgte, dass potenzielle Fahrgäste die Abfahrt nicht verpassen, erwischte er das letzte Schiff nach Rotterdam, wo er am Ende des vierten Tages auf Achse (beziehungsweise auf dem Wasser) anlangte. Er nahm den Kahn um fünf Uhr, die erste Verbindung einer Linie, die jede volle Stunde nach Delft verkehrte, stieg dort um nach Leiden, wo er noch einmal umsteigen musste, ehe er um 18:15 Uhr schließlich in Amsterdam eintraf.