Glaube, Hoffnung und Gemetzel - Nick Cave - E-Book

Glaube, Hoffnung und Gemetzel E-Book

Nick Cave

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Glaube, Hoffnung und Gemetzel« ist ein Buch über Nick Caves Innerstes. Das Buch entstand während mehr als 40 Stunden persönlicher Gespräche zwischen Nick Cave und Sean O'Hagan und es zeigt, was Nick Cave wirklich antreibt. Es stellt die Fragen nach den großen Themen wie Hoffnung, Kunst, Musik, Freiheit, Trauer und Liebe und spannt den Bogen von der frühen Kindheit bis heute. 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 441

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nick Cave / Seán O'Hagan

Glaube, Hoffnung und Gemetzel

Aus dem Englischen von Christian Lux

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Nick Cave / Seán O'Hagan

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

1 Eine schöne Art von Freiheit

2 Die Nützlichkeit des Glaubens

3 Die unerreichbare Sphäre

4 Liebe und eine gewisse Dissonanz

5 Eine Art von Verschwinden

6 Zweifel und Staunen

7 Eine radikale Intimität

8 Ein Gefühl gemeinsamen Trotzes

9 Der erstaunliche Einfall

10 Eine Reihe ganz gewöhnlicher Gemetzel

11 Eine schöne, verzweifelte Welt

12 Anita hat uns hierhin geführt

13 Die Dinge entfalten sich

14 Der Gott in den Wolken

15 Absolution

16 Epilog

Nachwort

Danksagung

Register

Rechtenachweis

Inhaltsverzeichnis

Für meine Familie

N. C.

Für Keiran

S. O’H.

Inhaltsverzeichnis

Ein kleiner Knabe wird sie leiten.

(Jesaja 11,6)

Inhaltsverzeichnis

1Eine schöne Art von Freiheit

SEÁN O’HAGAN:

Ich bin überrascht, dass du diesem Interview zugestimmt hast, da du schon lange keine Interviews mehr gegeben hast.

NICK CAVE:

Na ja, wer gibt schon gerne Interviews? Interviews sind grundsätzlich beschissen. Ganz im Ernst. Die fressen einen auf. Ich hasse es. Die ganze Prämisse ist erniedrigend: Man hat ein neues Album draußen oder einen neuen Film, den man bewerben, oder ein Buch, das man verkaufen muss. Nach einer Weile nutzt einen die eigene Geschichte ab. Ich schätze, dass ich irgendwann einfach erkannt habe, dass jene Art Interview mir nichts bringt. Dass es mir im Grunde etwas raubt. Ich habe mich nach Interviews immer erst mal erholen müssen. Als hätte ich mich selbst erst mal wieder finden müssen. Also habe ich vor fünf Jahren einfach damit aufgehört.

Wie geht es dir dann mit unserem Vorhaben?

Keine Ahnung. Ich führe gern Gespräche. Ich rede gern, ich mag den Austausch mit anderen. Und wir haben ja immer schon große, weit ausgreifende Gespräche geführt. Als du das Interview also vorgeschlagen hast, war ich neugierig, wohin es uns führen würde. Schauen wir mal. Fangen wir an?

Als ich im März (2020) mit dir gesprochen habe, war deine Welttournee gerade wegen der Pandemie abgesagt worden. Und ich muss sagen, dass du damals bemerkenswert philosophisch klangst.

Es war zweifelsohne ein seltsamer Moment. Als COVID einschlug und mein Manager, Brian, mir sagte, dass wir nicht auf Tournee gehen würden, da war das für mich, als würde ich mit einem Schlag leer werden, als wäre die ganze Welt unter mir weggerutscht. Wir haben uns alle unfassbar viele Gedanken dazu gemacht, wie wir Ghosteen auf die Bühne bringen würden – wir hatten mit zehn Background-Sängern geprobt und eine visuelle Umsetzung für die Show geschaffen, die sich wirklich einzigartig und aufregend angefühlt hat. Viel Arbeit, gedankliche Energie und Aufwand. Als ich also erfuhr, dass es definitiv nicht stattfinden würde, war ich zunächst völlig entsetzt. Das hat mich im Kern meines Wesens erwischt, denn ich war ja nun mal dieses Ding, das auf Tournee geht. Das war es, was ich war.

Und was ich jetzt sage, werde ich mit großer Vorsicht sagen, da ich weiß, wie enttäuscht die Fans gewesen sind, aber um ehrlich zu sein, hat dieses Gefühl eines existenziellen Zusammenbruchs nur etwa eine halbe Stunde gedauert. Dann erinnere ich mich daran, im Büro meines Managers gestanden und leicht schuldbewusst gedacht zu haben: ›Fuck! Ich werde nicht auf Tournee gehen. Vielleicht das ganze Jahr nicht‹. Plötzlich war da diese außergewöhnliche Erleichterung, wie eine Welle, die durch mich hindurch rauschte, eine Art Euphorie, gleichzeitig jedoch auch etwas, das weit mehr war als das – eine verrückte Energie.

Vielleicht ein Gefühl für das Potenzial, das darin verborgen lag?

Ja, aber eben wirkliches Potenzial. Ironischerweise ein Potenzial der Machtlosigkeit. Nicht das Potenzial, etwas zu tun, sondern das Potenzial, etwas nicht zu tun. Mir wurde plötzlich klar, dass ich auch einfach mit meiner Frau Susie zu Hause bleiben konnte, und das war an sich schon wunderbar, denn wir haben unsere Beziehung stets in Bezug auf mein Weggehen und Wiederkommen definiert. Plötzlich konnte ich meine Kinder sehen oder einfach auf einem Stuhl auf dem Balkon sitzen und Bücher lesen. Es war, als hätte ich die Lizenz bekommen, einfach zu sein und nichts zu tun.

Während der Pandemie schien es, als wäre die Zeit aus dem Tritt geraten, die Tage flossen einfach ineinander. Hast du das auch so empfunden?

Ja, die Zeit schien verändert. Es scheint fast falsch, das zu sagen, aber auf einer bestimmten Ebene habe ich die seltsame Freiheit, die mir das verliehen hat, wirklich genossen. Ich bin morgens gern aufgestanden, um einen weiteren Tag vor mir zu haben, an dem ich einfach existieren konnte und nichts tun musste. Das Telefon klingelte nicht ständig, und meine Tage wurden sehr schnell wunderbar gleichförmig. Es war seltsamerweise ein bisschen, als wäre ich wieder ein Junkie – das Ritual, die Routine, die Gewohnheit.

Und ich sage das alles, obwohl die vorherige Tournee, bei der wir das Album Skeleton Tree aufgeführt haben, eine der prägendsten Zeiten meines beruflichen Lebens war – einfach jeden Abend auf der Bühne mit dieser wilden Energie, die vom Publikum ausging. Man kann das Ausmaß dieser außergewöhnlichen Verbindung kaum überbetonen. Es ist etwas Lebensveränderndes. Nein, eigentlich sogar lebensrettend! Gleichzeitig aber war es auch eine extreme Folter, körperlich wie geistig. Als also die anstehende Tournee abgesagt wurde, folgte der anfänglichen Enttäuschung ein Gefühl von Erleichterung und, ja, plötzlich war da dieses seltsame und unberechenbare Potenzial. Ich schäme mich etwas, das auch nur auszusprechen, weil ich weiß, was für eine Katastrophe die Pandemie für viele Menschen gewesen ist.

Aus den Chats, die wir damals führten, wurde mir deutlich, dass du sehr früh gespürt hast, dass der Lockdown auch eine Zeit der Besinnung wird.

Das habe ich instinktiv gespürt. Ich erinnere mich an das Gefühl, dass es mir wirklich nicht richtig schien, aus meiner Küche oder aus der Badewanne oder im Schlafanzug online Musik zu machen, oder was einige Künstler sich sonst so einfallen ließen – all diese kunstlosen und demonstrativen Zurschaustellungen gemeinsamen Empfindens. Für mich fühlte es sich an wie ein Moment innerhalb der sich abspielenden Historie, in dem man still sitzen und einfach nachdenken sollte. Es schien, als wollte mich die Welt zum Nachdenken bringen. Ich hatte eine seltsame, besinnliche Zeit in jenem COVID-Sommer. Ich werde nie vergessen, wie ich auf dem Balkon saß, viel las, viele neue Sachen schrieb und Fragen auf meiner Webseite The Red Hand Files beantwortet habe. Es war eine interessante Zeit, trotz des unaufhörlichen Hintergrundrauschens aus Angst und Schrecken.

Ich erinnere mich, dass wir direkt zu Beginn der Pandemie telefoniert haben und du sagtest: »Das ist es jetzt, das ist der große Knall.«

Ja, ich glaube, ich hatte da gerade etwas gelesen, das mir die immense Wucht des Virus klargemacht hat und wie unglaublich verletzlich wir sind und wie wir als Gesellschaft vollkommen unvorbereitet waren. Du und ich, wir waren beide verängstigt von diesem unsichtbaren Ding, das da draußen vor der Tür lauerte. Alle waren das. Es hat sich wirklich angefühlt, als wäre die Endzeit gekommen, und die Welt war im Schlaf überrascht worden. Als hätte eine unsichtbare Hand tief hinabgegriffen und ein riesiges Loch in das gerissen, was wir für unsere Lebensgeschichte gehalten hatten.

Das lässt mich an die Vorstellung eines gestörten Narrativs denken, wovon du hinsichtlich deines Songwriting gesprochen hast: dass Thema und Bedeutung in deinen jüngeren Songs weniger direkt und schwerer zu erfassen sind.

Ja, genau. Meine Songs sind definitiv abstrahierender geworden, mir fehlt gerade ein besseres Wort dafür, und ja, sie sind weniger geprägt durch traditionelles Erzählen. Irgendwann war ich es leid, Songs in der dritten Person zu schreiben, die eine strukturierte Geschichte erzählen, die mit einem Anfang beginnen und sich dann brav auf einen Schluss zubewegen. Mir wurde die Form einfach suspekt. Es fühlte sich nicht richtig an, den Menschen ständig diese Geschichten zuzumuten. Es fühlte sich an wie eine Art Tyrannei. Fast so, als hätte ich mich hinter diesen netten, aufgehübschten Narrativen versteckt, weil ich Angst vor den Sachen hatte, die in mir vor sich hinbrodelten. Ich wollte Songs schreiben, die gewissermaßen mehr Wahrheit enthielten und authentisch meiner Erfahrung entsprachen.

Also deinen jüngsten Erfahrungen?

Ja. Und sie stellten einen Bruch dar, würde ich sagen – wie bei den meisten anderen auch. Doch aus einer rein persönlichen Perspektive ergab es kaum noch Sinn, mein Leben als sauber geordnete Erzählung zu leben. Als Arthur starb, hat das alles verändert. Dieses Gefühl einer Zerrüttung, eines zerrütteten Lebens, das alles durchzog.

Hinsichtlich dessen, was du und ich hier machen, fällt es mir schwer, darauf einzugehen, aber es ist auch wichtig, irgendwann darüber zu sprechen, denn der Verlust meines Sohnes definiert mich.

Das verstehe ich vollkommen. Es wurde dir also weniger wichtig, in einem Song eine gerade heraus erzählte Geschichte zu erzählen, unabhängig davon, wie dramatisch sie sonst sein mag?

Ja, aber dabei habe ich mich nicht von stark bildhaften Songs entfernt, es war eher so, dass die Storylines immer verworrener, verschlungener, verstümmelter wurden – die Form selbst wurde traumatischer. Meine Musik begann, das Leben so zu reflektieren, wie ich es sah.

Dennoch sind die Songs auf meinem letzten Album weiterhin narrativ, die Erzählungen sind jedoch durch einen Fleischwolf gedreht worden. Ghosteen beispielsweise erzählt durchaus eine Geschichte. Es erzählt sogar eine ausufernde, epische Geschichte von Verlust und Sehnsucht, doch das ist alles zerschlagen und versprengt.

Es ist sicherlich eine andere Form der Erzählung, weitaus ambitionierter, sogar konzeptuell.

Ja. Radikal anders. In diesen Songs ist nichts linear. Sie wechseln die Richtung oder zerreißen – oder schlimmer noch – atomisieren sich vor deinen Augen. Diese Songs existieren wirklich zu ihren eigenen freakigen Bedingungen.

Ich habe den Eindruck, dass manche Fans nicht so ganz glücklich damit sind, wohin sich deine Musik bewegt hat.

Ja, es gibt gewiss ein paar vergrätzte ältere Fans, die sich wünschen, dass ich wieder sogenannte »richtige« Songs mache, aber für die nahe Zukunft scheint mir das unwahrscheinlich. Es gibt eine tiefe Nostalgie für die alten Songs, und das verfolgt unsere Band wie ein schläfriger alter Hund. Ich nehme an, dass es die Bad Seeds schon so lange gibt und dass sie so viele Wandlungen durchlaufen haben, dass sich einige sehr mit der Vergangenheit, also genauer, mit ihrer eigenen Vergangenheit verbunden fühlen, mit der sogenannten guten alten Zeit. Somit erscheint ihnen die Vorstellung, dass wir eine andere Art Musik machen könnten, fast wie eine Art Verrat. Und ich verstehe das auf gewisse Weise, aber man darf nicht zulassen, dass nostalgische oder sentimentale Impulse gewisser langjähriger Fans die natürliche Vorwärtsbewegung der Band aufhalten. Dankenswerterweise gibt es sehr viele Menschen, die begeistert mit uns unterwegs sind, um dieses wunderbare Unbehagen und die Gefahr zu spüren, die damit einhergeht, etwas Neues zu probieren.

Mir schien im Nachhinein, dass bereits Push the Sky Away, das du 2013 veröffentlicht hast, mit gewissen Songs wie ›Higgs Boson Blues‹ und ›Jubilee Street‹ auf das, was kommen sollte, verwiesen hat. Würdest du da zustimmen?

Nun, das war sicher wichtig, denn das war die Zeit, als Warren und ich damit begannen, zusammen Songs zu schreiben. Rein kreativ war das ein seismisches Ereignis für mich und nichts, das ich je hätte ahnen können – einen wirklichen Mitstreiter beim Songwriting zu haben, mit dem ich einen tiefgehenden Gleichklang spüre. Das war eine radikale Veränderung, die aus meiner Frustration mit meiner bisherigen Art, Dinge anzugehen, hervorging, die schlicht darin bestand, einen Song zu schreiben und den dann der Band vorzustellen.

Können wir etwas über die Art sprechen, wie Ghosteen entstanden ist, besonders darüber, wie die Dynamik zwischen dir und Warren war?

Ich würde sagen, die größte Veränderung bestand darin, dass Warren und ich beim Schreiben von Ghosteen komplett improvisiert haben. Ich spielte Klavier und sang, und Warren spielte Electronics, Loops, Violine und Synthesizer, ohne dass einer von uns wirklich verstand, was wir da machen oder wohin das führen würde. Wir haben uns einfach in den Sound fallen lassen und folgten unseren Herzen und unserem Verständnis umeinander als Kollaborateure auf dem Weg in dieses unbestimmte Neue. Wir haben tagelang mehr oder minder nonstop gespielt. Dann folgten Tage, an denen wir alles durchgegangen sind und in all dem nach Dingen suchten, die uns interessant erschienen. Und in manchen Fällen war das nur eine einzige Minute Musik oder eine einzelne Zeile. Danach ging es wirklich darum, aus diesen schönen, unzusammenhängenden Einzelteilen Songs zu erschaffen. Unser Überarbeitungsprozess ähnelte zunächst einer Collage oder einer Art musikalischer Montage. Dann erst haben wir daran gearbeitet, Songs darüberzulegen.

Es klingt – darf ich das sagen –, als wären die Songs euch einfach so zugefallen.

Nein, das trifft es so nicht. Wir waren nicht einfach nur zwei Typen, die nicht wussten, was sie taten. Zwischen uns besteht ein tiefgehendes, intuitives Verständnis und außerdem sind da natürlich fünfundzwanzig Jahre gemeinsamer Arbeit. Das ermöglicht ein fundiertes Improvisieren, ein achtsames Improvisieren.

Meinst du mit »achtsam« etwas Meditatives? Oder etwas Überlegtes?

Ich finde, dass es zugleich intuitiv wie auch überlegt ist, wenn das Sinn ergibt. Bei den Texten fange ich nie bei null an. Das ist wichtig zu betonen. Nachdem ich lange über das Projekt gegrübelt habe, gehe ich ins Studio mit massenhaft Ideen und einer immensen Menge an aufgeschriebenen Texten, von denen übrigens der Großteil rausfliegt. Dennoch ist da immer das, was man auch textuellen Kontext nennen könnte, und darüber hinaus gibt es sicher einige dominierende und übergreifende Themen, die mich in den Wochen oder Monaten vor den Sessions beschäftigt haben. Es ist eine sehr befreiende Art und Weise zu arbeiten.

Um das noch mal deutlich zu machen, du improvisierst also nicht auf die Art, wie Jazzmusiker eine Melodie oder ein Thema improvisieren?

Nein, es ist eher so, dass wir versuchen, durch den beschwerlichen Prozess der Improvisation einen formalen Song zu erreichen, also durch ein musikalisches Abenteuer fast stolpernd zur Form zu finden. Das halte ich für den Schlüssel, dass wir wirklich eine Art gemeinsames Nichtwissen dazu nutzen, Songs sozusagen einzufangen.

Ich stelle mir vor, dass ein solcher Prozess in den falschen Händen fürchterlich schiefgehen kann.

Nun, oft geht es das auch. Aber man braucht nur zehn Songs, zehn schöne und atemraubende Unfälle, die ein Album ergeben. Man muss geduldig und für die kleinen Wunder empfänglich sein, die sich im Gewöhnlichen verbergen. Eines der einzigartigen Talente von Warren ist es, das Potenzial in etwas zu hören, das noch formlos und unausgereift ist. Er ist großartig darin. Er hört Dinge auf eine vollkommen eigene Weise.

Einer der Gründe, weshalb wir so gut zusammenarbeiten, ist, dass ich die Fähigkeit habe zu sehen, wie sich Wörter selbstständig um ungeformte Musik winden, sich zusammenknoten, Sinn daraus erzeugen. Es ist etwas Visuelles …, den Song vor Augen zu haben und ihm eine reiche, narrative Absicht zu geben.

Wenn du also auf diese Weise arbeitest, heißt das, dass du auch für die Texte viele Stunden im Studio verbringst, um diese akribisch zu überarbeiten?

Nein, nie. Wenn ich an den Songs zu Hause arbeite, kostet es mich viel Zeit, sie zu schreiben, dann sind bereits viele Überlegungen und Sorgfalt und Hingabe an die Form hineingeflossen. Sobald ich aber im Studio bin, bin ich ein Metzger, der kein Problem damit hat, ohne zu zögern, einem lieb gewonnenen Text die Beine abzuhacken. Auf gewisse Weise verlieren die Texte ihren konkreten Wert und werden zu Dingen, mit denen man spielt, die man auseinandernimmt und neu zusammensetzt. Ich bin sehr glücklich darüber, an einen Punkt gekommen zu sein, an dem ich jetzt eine vollkommen schonungslose Beziehung zu meinen Texten habe.

Ich muss sagen, dass das nach einer recht mutigen, waghalsigen Arbeitsweise für einen Songwriter klingt.

Nun, Improvisation ist im Grunde ein Akt akuter Verletzlichkeit. Sie ist aber auch ein Pfad zu kreativer Freiheit, hin zu wildem Abenteuer, bei dem das, was von wahrem Wert ist, oftmals durch musikalische Missverständnisse zum Vorschein treten kann. Unsere Improvisation ist nur selten harmonisch. Es ist oft ein Kampf um Dominanz, doch dann fällt alles für einen oder zwei Momente zusammen – ein bisschen wie bei Liebenden, die miteinander ringen.

Ich nehme an, dass ihr vom Temperament her sehr unterschiedlich seid.

Ja, aber wir sind normalerweise im Gleichklang, auch wenn wir uns den Dingen aus unterschiedlichen Richtungen nähern. Mich kann bereits eine Kleinigkeit stören und vom Song ablenken, Warren hingegen blickt immer auf das große Ganze. Er ist sehr viel instinktiver als ich. Er kann die Schönheit der Dinge früher erkennen, als ich es kann. Das ist eine großartige Gabe.

Du musst aber auch verstehen, dass Warren die Texte nicht so wichtig sind wie mir. Er ist eher an Emotion und Sound und Musik interessiert. Er kann sehr früh sagen: »Fuck, das klingt großartig!«, wohingegen ich bis zum letzten Moment unsicher bleibe. Ich brauche einfach viel länger, um zu einem Song zu finden. Irgendwie führt dieser Unterschied zu der richtigen Dynamik zwischen uns.

In Anbetracht der Tatsache, dass es dir so wichtig ist, die richtigen Worte zu finden, ist es da korrekt, wenn man sagt, dass dieser Prozess des Verwerfens – auch wenn er befreiend sein mag – für gewisse Songarten nicht richtig funktioniert – bei Balladen etwa?

Nun, mit einem Text von Hal David wäre das nicht möglich.

Oder auch mit manchen deiner eigenen Songs?

Das ist schon wahr. Aber ich habe über zwanzig Alben gemacht, und ich kann nicht immer wieder dasselbe tun. Man muss zumindest einen Teil der Zeit in der Welt des Rätselhaften agieren, sich unter diese großartige und Furcht einflößende Wolke künstlerischen Noch-nicht-Wissens begeben. Der kreative Impuls ist für mich eine Form der Verblüffung, und oft fühlt er sich dissonant und verstörend an. Das nagt an lieb gewonnenen Wahrheiten und reißt an deinem Gespür dafür, was akzeptabel ist. Es ist eine lenkende Kraft, die einen dahin führt, wo sie einen haben will. Es ist also nicht andersherum. Man selbst lenkt das nicht.

Das habe ich tatsächlich gespürt, als ich zum ersten Mal Ghosteen gehört habe. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber es hat mich wirklich überrascht, da das Album ein solch konzeptueller Sprung war.

Ich bin froh, das zu hören. Wir waren in einer wirklich intensiven, oftmals verrätselten Arbeitsweise vertieft, als wir es gemacht haben. Die Atmosphäre im Studio war extrem – wie soll ich sagen – konzentriert. Verstörend und seltsam. Ich weiß nicht, ob ich es wirklich zur Gänze beschreiben kann, aber ich glaube, dass die große Schönheit von Ghosteen letztlich mit dem unsicheren Griff zu tun hatte, den Warren und ich nicht nur hinsichtlich der Songs, sondern auch in Bezug auf unsere geistige Gesundheit hatten.

So klingt es auch, allerdings auf eine gute Weise.

Warren war damals in einer seltsamen Situation, geplagt von eigenen Problemen, und ich versuchte währenddessen, nun ja, keine Ahnung, Kontakt mit den Toten aufzunehmen. Es war eine seltsame, spukhafte Zeit – in der wir das Studio nie verließen, arbeiteten, versuchten zu schlafen, wieder arbeiteten und wieder versuchten zu schlafen – und aus dieser Verwirrung entstand eine seltsame, schöne, heilige Musik.

Diese spirituelle Intensität ist greifbar. Die Musik des Albums hat etwas Erhabenes, geradezu Überschwängliches an sich.

Da waren schon Geister in der Luft, so viel ist sicher. Ich wusste, dass wir etwas schaffen würden, das kraftvoll, ergreifend und außergewöhnlich ist. Da war ich mir sicher. Im Gegensatz dazu erschien mir Skeleton Tree kaum sinnhaft, selbst dann noch, als wir es zum letzten Mal im Studio ganz durchgehört haben. Der Tod meines Sohnes war noch zu nah, um etwas spüren oder klar denken zu können.

Das ist verständlich.

Ja, und es ist interessant, dass ich Ghosteen immer noch mit Begeisterung hören kann.

In Anbetracht der Tatsache, wie radikal anders Ghosteen im Vergleich zu dem war, was du vorher gemacht hast, stellt sich die Frage, ob du zu Beginn irgendwelche Befürchtungen hattest, wie es aufgenommen werden würde.

Man kann nie vorhersagen, wie Menschen reagieren, aber ich würde sagen, dass ich erwartet habe, dass es bis zu einem gewissen Grad umstritten sein könnte. Ich war auf Tournee, als wir auf YouTube eine Art Preview mit einigen sehr schönen Animationen veröffentlicht haben. Ich erinnere mich, dass ich dann begann, die Onlinekommentare zu lesen. Ich weiß nicht mehr, was ich gedacht habe, aber die waren unfassbar negativ! Ich meine wirklich übel – ›Das ist Scheiße!‹ und ›Nick Cave R. I. P.‹ und Kotz-Emojis, solche Dinge. Also dachte ich, dass das Album einfach in ein beschissenes schwarzes Loch fallen würde. Das war sehr schmerzhaft. Dann erschienen die Rezensionen, und das Blatt wendete sich. Es war, als würden die Leute ihre Meinung ändern, je mehr sie hörten und sich damit auseinandersetzen konnten. Und so ist es dann im Grunde geblieben. Von der Kritik wurde es sehr gut angenommen.

Es ist recht schwierig, die Atmosphäre dieses Albums zu beschreiben, ohne Wörter wie ›Staunen‹ oder ›Freude‹ zu verwenden, die es paradoxerweise irgendwie kleiner machen.

Textlich war es wirklich aufregend, dass ich in der Lage war, durch das Improvisieren im Studio Zeilen zu finden, die mir beim Schreiben in meinem Büro oder gar an meinem Schreibtisch nie möglich gewesen wären. Das war besonders schön.

Okay, gib mir mal ein Beispiel für eine Zeile, die dir nur auf diese Weise möglich war.

Nun, ein offensichtliches Beispiel wäre mein Sprechgesang bei ›Spinning Song‹, bei dem ich immer und immer wieder ›And I love you‹ wiederhole und darauf dann ›Peace will come‹ folgen lasse. So etwas hätte ich niemals auf ein Blatt Papier schreiben können, wobei es vielleicht mein Lieblingsmoment auf dem Album ist. Zuvor hätten es solche Zeilen nicht in einen Song geschafft. In einer Million Jahre nicht. Es hätte keinen Platz für sie gegeben, und wenn doch, glaube ich nicht, dass ich die Nerven und das Selbstvertrauen gehabt hätte, sie zu singen. Diese Zeilen sind so unmittelbar und roh.

Sie klingen auch nach spiritueller Ekstase.

Nun, anfänglich hatte ich eine sehr klare poetische Idee für das Album, die stark auf einer Reihe von ekstatischen Bildern basierte. Ich sah das Album als eine Abfolge hochvisueller, miteinander verbundener Bilder. Ich habe das wirklich gesehen.

Meinst du damit, dass sie dir als Vision erschienen sind?

Ich hatte ein anhaltendes gedankliches Bild von einem Mann, der an einem Strand steht und von panischen Tieren umgeben ist; die Dünen stehen in Flammen, während die schreienden Tiere hin und her rennen, Meeresgeschöpfe aus dem Ozean hervorspringen und eine Spirale aus Geisterkindern, die zur Sonne emporklettern. Es war eine wilde, sich wiederholende Halluzination, teils Horror, teils Glückseligkeit, die sich irgendwie in meine Vorstellungskraft eingenistet hatte. Ich lag nachts im Bett und sah diese Bilder, die sich aneinanderreihten, eins nach dem anderen.

War das vor oder nachdem du begonnen hast, die Songs zu schreiben?

Es kann sein, dass ich ein paar rohe Zeilen aufgeschrieben hatte, aber es war sicherlich, lange bevor ich das Album begonnen habe. Ich habe sogar einen langen, wild ausufernden Brief darüber an meinen Bruder Tim geschrieben, mit dem ich normalerweise nicht die Möglichkeit habe, kreative Ideen zu besprechen. Aber ich war aufgeregt! Ich erzählte ihm, dass ich das Album gesehen hatte und dass es sich um ein halluziniertes Bild von wilden Tieren drehen würde, die brannten und einen Strand auf und ab rannten, und um eine dunkle Kraft – teils Leviathan, teils Kind – unterhalb des Meeresspiegels und um Kinder, die in die Sonne aufsteigen. Er fand es irgendwie witzig, weißt du, diese wahnsinnige Ambition des Ganzen.

Hast du dann also im Grunde bei der Arbeit im Studio diese durch Visionen erhaltenen Bilder versucht zu beschreiben oder aufzurufen?

Ja. Für mich waren die Bilder wirklich der Ausgangspunkt für das Ganze, und sie sind für die Bedeutung des Albums zentral geblieben.

Es fasziniert mich, dass du eher von Bildern als von Worten ausgegangen bist, also eher vom Visuellen als vom Geschriebenen.

Ja, es scheint, als wäre in letzter Zeit das einzelne, leuchtende Bild anziehender geworden als das Erzählerische, das extrem lebendige Einzelbild im Kern eines Songs oder gar in mehreren Songs.

Stellst du deine poetischen Anliegen für den Hörer in den Vordergrund, indem du das zentrale Bild in mehr als nur einem Song zum Vorschein kommen lässt?

Jetzt, da du es erwähnst, ja! Für mich ist die Wiederholung eines Bildes oder einer Reihe von Bildern, die den Songs folgen und ihre Bedeutung abhängig vom Kontext verändern, ein wichtiger Grund dafür, dass das Album diese seltsame, unheimliche Atmosphäre verströmt. Es ist fast schon ein inneres Déjà-vu und eine Art Erschaffung von Intention. Die Songs scheinen miteinander zu kommunizieren. Was ich mit Ghosteen erreichen wollte, war aber eigentlich die Erschaffung eines einzigen Augenblicks, der von unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird. Das habe ich allerdings nicht ganz erreicht.

Was meinst du mit diesem einzigen Augenblick?

Ich bin mir nicht mal sicher. Vielleicht ist es eher so, dass da ein einzelner Impuls am Werk schien, und die Songs betrachteten diesen Impuls aus unterschiedlichen Perspektiven. Ich halte Ghosteen im Grunde für eine epische Geschichte, die aus einem eingeschlossenen Augenblick entstanden ist, den ich nur schwer beschreiben kann. Es ist eine ekstatische, spirituelle Deklaration, die einem gewöhnlichen Augenblick entspringt.

Okay, also eher ein gewöhnlicher Augenblick als eine irgendwie gelagerte Epiphanie?

Ja. Und vielleicht ist das zentrale Bild ein statisches – diese Zeile in ›Spinning Song‹, die lautet ›You sitting at the kitchen table listening to the radio‹[1]. Diese Zeile ist als Bild für sich genommen überhaupt nicht bemerkenswert. Aber für mich ist dieses Bild alles andere als gewöhnlich, weil es die letzte Erinnerung ist, die ich an Susie habe, bevor das Telefon klingelte und man uns sagte, dass unser Sohn gestorben ist. Es ist ein alltägliches Bild, aber für mich wirkt es transzendent, da es die letzte ungebrochene Erinnerung an meine Frau ist. Im Grunde ist Ghosteen aus diesem Augenblick des Friedens, der Ruhe, der Einfachheit entstanden, bevor alles zerbrach.

Ich verstehe. Das ergibt plötzlich eine Menge Sinn.

Es ist ziemlich schwer, das zu erklären, aber ich glaube, dass es dem nahekommt.

Es gibt Zeilen auf Ghosteen, bei denen die Bildwelt so lebhaft scheint, traumgleich und halluziniert, sodass es scheint, als würdest du unbewusste Gedanken und Träume übermitteln. Oder vielleicht einen anderen Bereich deines Bewusstseins betreten?

Ich bin froh, dass wir darüber sprechen, denn sie sind auch für mich rätselhaft, aber sie sitzen im Kern dessen, was ich jetzt tue als Songwriter. Wie ich schon sagte, hatte ich diese wilden, kraftvollen Bilder im Kopf, lange bevor ich Ghosteen gemacht habe. Als ich dann begann, zu Hause zu schreiben, haben sich andere, festere Bilder geformt: ein Typ, der seinen Wagen durch ein Feuer lenkt; eine Feder, die nach oben treibt; eine Erinnerung an ein Hotel in New Orleans, wo Susie und ich unsere Kinder gezeugt haben; Jesus in den Armen seiner Mutter; der Leviathan, der sich im Wasser bewegt. Das waren die Bilder, die hervorkamen, als Echo aufeinander wirkten, während ich schrieb. Wenn man sich meine Notizbücher anschaut, tauchen diese expliziten Vorstellungen immer und immer wieder auf – überfahrene Tiere, die aus ihrem eigenen Blut auferstehen, die drei Bären, eine Mutter, die die Kleidung ihres Kindes wäscht. Sie wurden zum Rahmen, in dem das Album aufgehängt wurde. Sie tauchen im Verlauf des Albums immer wieder auf, in der Idee eines wandernden Geistes, dem Ghosteen, der von Bild zu Bild, von Song zu Song schreitet und der sie auf diese Weise miteinander verwebt. Für mich wurde das Album eine imaginierte Welt, in der Arthur sein konnte.

Wo du vielleicht seinen Geist aufrufen konntest?

Nun, ich glaube, dass Ghosteen, also Musik wie auch Texte, ein erfundener Ort ist, wo Arthurs Geist eine Art Hafen oder Unterschlupf finden kann.

Seán, diese Idee ist fragil, und man kann das ohne Weiteres infrage stellen, aber für mich persönlich ist es so, dass ich glaube, dass sein Geist dieser Arbeit innewohnt. Und das meine ich nicht metaphorisch, sondern im Wortsinn. Das habe ich zuvor noch nirgends so formuliert, aber ich fühle ihn um diese Songs schweben.

Es ist also nicht nur eine projizierte Vorstellung, sondern mehr noch als das?

Genau, es ist keine Vorstellung im eigentlichen Wortsinn. Es ist eine eingeflüsterte Intuition und als Idee leicht auseinanderzunehmen. Keine Ahnung, es ist schwer, darüber zu reden.

Das kann ich verstehen. Für mich sind Songs wie ›Sun Forrest‹ und ›Hollywood‹ sehr nah an traumgleichen Songs.

Ja, das kann ich nachvollziehen, aber ich glaube nicht, dass sie irgendwie surreal wären, was ›traumgleiche Songs‹ für mich sofort evoziert. Selbst hinter den höchst fragmentarischen Bildern, die in die fertiggestellten Songs eingeflossen sind, steckt eine präzise Bedeutung. Und als Ganzes bilden sie eine Sammlung von Bildern, die eng miteinander verflochten sind, um eine Art ›unmögliche Sphäre‹ zu schaffen. Es ist mir also extrem wichtig, dass ich die Bedeutung hinter der Erscheinung eines bestimmten Bildes finde.

Somit kann eine Zeile oder ein ganzer Song seine Bedeutung auch erst am Schluss offenbaren?

Ja. Es ist nicht immer so, dass man sagen kann: ›Erst die Bedeutung, dann das Bild.‹ Heutzutage ist es sogar sehr oft andersherum. Es gibt immer wieder Momente, in denen ich eine Zeile singe, die ich geschrieben habe, und plötzlich werde ich von der Intention des Textes überwältigt. So in Richtung ›Okay! Darum geht es also‹. Das bedeutet aber nicht, dass ich ihm eine willkürliche Bedeutung verliehen habe. Die Bedeutung war dem Song immer inhärent und hat nur darauf gewartet, sich zu offenbaren.

Oft vertraust du also darauf, dass eine Zeile ihre Bedeutung irgendwann preisgibt?

Ja. Genau.

Eher noch, als wenn du deinen Song fertig geschrieben und aufgenommen hast?

Ja, viel eher noch. Und es hat mich einige Zeit gekostet, an diesen Punkt zu kommen, um das Selbstvertrauen zu haben, das zu tun. Es braucht einen gewissen Grad an innerer Überzeugung, einer Zeile zu vertrauen, die im Grunde ein Bild, eine Vision ist – das ist ein Sprung ins Ungewisse der Sphäre des Imaginären. Ich hoffe, dass das Bild mich an einen Punkt führt, der mehr offenbart oder wahrhaftiger ist, als die eigentliche Zeile es sein kann. Es ist eine Sache des Glaubens. Interessant ist auch, dass, wenn ich eine Zeile schreibe, die im Grunde ein Bild ist, es etwas Körperliches mit mir macht, wenn ich die Zeile niederschreibe, um das Bild auszudrücken. Ich habe eine körperliche Reaktion darauf, die auf die Bedeutung im großen Ganzen verweist.

Es macht etwas Körperliches mit dir?

Ja. Ich weiß, dass es eine wertvolle Zeile ist, wenn mein Körper entsprechend reagiert. Eine Art erotischer Zauber – als würde die Sonne plötzlich hervorbrechen! Gleichzeitig bin ich mir vielleicht nicht mal sicher, was sie bedeutet, es ist also eine Art Intuition. Irgendwann findet das Bild seine Bedeutung, selbst dann, wenn es etwas rein Emotionales ist. Es ist wichtig, dass sich die Zeile auf diese Weise verhält – dass sie ihre Intention sucht –, denn es ist sehr schwer, etwas Nacht für Nacht zu singen, das keinerlei emotionalen Wert hat. Eine unehrliche Zeile zerbröselt irgendwie nach mehrmaligem Singen; eine wahrhaftige Zeile sammelt Bedeutung hinzu.

Im Grunde musst du also die tiefere Bedeutung einer Zeile oder eines Songs verstehen, bevor du sie in die Welt hinausgibst?

Ja, andernfalls wird einen die falsche Zeile, die bedeutungslose Zeile immer überfallen, wenn man sie live singt. Jedes Mal, wenn ich dann auf der Bühne diesen bestimmten Song singe, denke ich: ›Fuck, jetzt kommt die scheiß Zeile!‹ Dasselbe Gefühl hat man auch, wenn man eine Zeile stiehlt – was wir alle hin und wieder mal tun. Oder vielleicht schreibt man die Zeile von jemand anderem ins eigene Notizbuch, weil man sie für cool hält, und so gerät sie in den Song. Dann denkst du: ›Das ändere ich später‹, machst es aber nicht. Wann immer du dann den Song singst, siehst du die Zeile wie einen Saboteur auf dich zukommen! Das lenkt immens ab. Es gibt nicht viele davon, aber ein paar, und sie lungern herum wie ein Fluch.

Kannst du mir ein Beispiel für einen Song mit einer solchen Zeile nennen?

Lass mich nachdenken. Auf Ghosteen gibt es im Song ›Fireflies‹ die Zeile ›the sky is full of momentary light‹[2]. Ursprünglich hatte ich da geschrieben ›the sky is full of exit wounds of light‹[3]. Ich habe diese Zeile wirklich geliebt, aber etwas daran störte mich, und dann wurde mir klar, dass ich es aus ›Night Sky with Exit Wounds‹ des wunderbaren vietnamesischen Dichters Ocean Vuong hatte. Einen Moment lang dachte ich: ›Fuck, das ist eine verdammt gute Zeile, und ich komme vermutlich damit durch‹, aber es machte mich nervös, sogar unglücklich. Also habe ich die Zeile im letzten Augenblick geändert. Songwriter holen sich ständig Inspirationen aus anderen Zusammenhängen, bewusst und unbewusst, aber man muss wirklich vorsichtig sein. Wenn man sich etwas Derartiges durchgehen lässt, kann das die eigene Beziehung zu dem Song dauerhaft beeinflussen. Ihm wird auf immer etwas Falsches anhaften.

Ich vermute, dass du beim Improvisieren einen Raum für unzählige Varianten schaffst, auch für glückliche Unfälle.

Ja. Es scheint mir, dass meine besten Ideen Unfälle innerhalb eines kontrollierten Kontextes sind. Man könnte sie auch wohlinformierte Unfälle nennen. Es geht darum, ein tiefgehendes Verständnis davon zu haben, was man macht, aber gleichzeitig frei genug zu sein, um die Würfel so fallen zu lassen, wie sie fallen. Es geht um Vorbereitung, aber es geht auch darum, Dinge geschehen zu lassen.

Ist es in alldem manchmal schwer, den ursprünglichen Impuls, die ursprüngliche Vision aufrechtzuerhalten?

Nun, es ist nicht so, als hätte man irgendeine echte Kontrolle über den kreativen Prozess, wenn man anfängt, im Studio zu improvisieren. Im Grunde ist es eher das Gegenteil: Man muss sich sozusagen ergeben und sich wirklich von den geheimen Forderungen des Songs führen lassen. Auf gewisse Weise ist es das Nichtwissen und nicht völlig die Kontrolle zu haben, was es so kraftvoll macht. Für mich ist dies das wirklich Schöne daran. Es scheint, als wäre die Tatsache, dass man dadurch, dass man offen ist, leitfähig für etwas anderes wird, für etwas Magisches, etwas Belebendes. Abgesehen davon müssen nun ein paar gewisse andere Dinge zusammenfallen, damit das Magische auftreten kann. Dazu reicht es nicht, dass ein paar Typen, die nicht wissen, was sie tun, zusammensitzen und irgendeinen Mist raushauen. Warren und ich sind zwei Leute, die im Gleichklang miteinander schwingen, die eine Art Expertise zu unfallartig entstehender Musik aufgebaut haben und die Vertrauen in diesen Prozess haben.

Es scheint, dass die Songs aufgrund der Tatsache, dass sie keine geradeaus gestrickte Geschichte erzählen und stärker auf Bildwelten und sogar Allegorien fußen, gar keine andere Möglichkeit lassen, als dass sie hinsichtlich ihrer Bedeutung schwerer zu fassen sind.

Ja, dabei ist es aber nie eine bewusste Entscheidung meinerseits, einen Song irgendwie kompliziert oder herausfordernder zu machen. Ghosteen ist ein komplexes Album, aber ich glaube nicht, dass es textlich kompliziert ist. Die Bilder sind klar und präzise.

Ich habe letzte Nacht erneut Stevie Smith gelesen, eine Dichterin, die ich über alles liebe, und ich kehre mit den Jahren immer wieder zu ihr zurück. Auf einer gewissen Ebene sind ihre Gedichte sehr simpel, fast ein bisschen kindlich, oft aber weiß ich nicht, worauf sie eigentlich abzielt. Da ist jedoch etwas an dieser Rätselhaftigkeit, das ihr Werk für mich anziehend und rührend macht. Ihre Wutstränge sind wirklich schockierend. Man wird immer einen Schritt kurz vor dem Verstehen auf Distanz gehalten. Eigentlich wird man sogar eine Stufe vor dem Wissen auf Distanz gehalten. Das trifft es besser.

›Vor dem Wissen‹ ist gut.

Ja, ›vor dem Wissen‹. Das gefällt mir auch. Weißt du, ich hoffe, dass die Leute die Songs hören und dabei auf eine Zeile oder einen Vers stoßen, der etwas mit ihnen macht, spirituell und unerklärlicherweise. Ich glaube, dass eine instinktive, rätselhafte Verbindung einen tieferen Einfluss auf die Psyche des Zuhörers haben kann. Es scheint, als würde eine andere Verbindung mit dem Zuhörer entstehen, als wären wir über den Song und seine implizite Bedeutung gemeinsam gestolpert. Es fühlt sich wie eine Entdeckung an, die man teilt und die verbindet, wodurch dieser erhabene und verblüffende Moment zwischen Künstler und Zuhörer entsteht. Ich hoffe zumindest, dass es so ist.

Inhaltsverzeichnis

2Die Nützlichkeit des Glaubens

Können wir uns nun grundsätzlich über das Spirituelle unterhalten?

Wo möchtest du anfangen?

Als ich mal deine späteren Songs hinsichtlich ihrer Form und ihrer Themen als ›spirituell‹ bezeichnet habe, hast du das sofort mit dem Wort ›religiös‹ gekontert. Ich fand das recht vielsagend.

Das Wort ›Spiritualität‹ ist etwas zu amorph für meinen Geschmack. Es kann alles Mögliche bedeuten, wohingegen das Wort ›religiös‹ einfach präziser ist, vielleicht sogar konservativ, es hat mehr mit Tradition zu tun.

Weil Religion eine stärkere Hingabe erfordert und an den Gläubigen spezifische Anforderungen stellt?

Religion ist eine mit Strenge einhergehende Spiritualität, nehme ich an, und ja, sie stellt Anforderungen an uns. Für mich bedeutet das ein Ringen mit der Idee des Glaubens – dieser rote Faden eines Zweifels, der sich durch die meisten glaubwürdigen Religionen zieht. Dieser Kampf mit der Vorstellung des Göttlichen bildet die Wurzel meiner Kreativität.

Vielleicht können wir das später etwas ausführlicher besprechen. Aber sagst du damit, dass du hinsichtlich deines Glaubens und deiner Überzeugungen in der Essenz konservativ bist?

Ja, das war immer schon so und nicht nur hinsichtlich meines Glaubens. Ich glaube, vom Temperament her bin ich eher konservativ.

Das ist ein recht aufgeladenes Wort.

Nun, für dich mag es aufgeladen sein.

Definitiv. Aber meinst du damit, dass du Traditionalist bist?

Okay, dann halt Traditionalist, wenn dir das Wort lieber ist. Ich bin nicht so sehr an den eher esoterischen Ideen von Spiritualität interessiert. Ich werde eher von dem angezogen, was man gemeinhin als traditionelle christliche Vorstellungen bezeichnen würde. Die Bibel fasziniert mich besonders und darin vor allem das Leben Christi. Das war auf die eine oder andere Weise von Anfang an ein wichtiger Einfluss auf meine Arbeit.

Und dennoch wird relativ wenig darüber gesprochen, wenn Kritiker über dein Werk sprechen. Glaubst du, Journalisten neigen dazu, dem Thema auszuweichen?

Oh Gott, ja! Na klar. Ich erinnere mich an ein Interview mit einer Musikzeitschrift, das etwa dreißig Jahre her ist, da hat sich der Journalist hingesetzt und gesagt: »Bevor wir anfangen … mein Chefredakteur hat mir gesagt: ›Frag ihn bloß nichts zu Gott!‹«

Geht dieses Interesse an traditionellen Aspekten der Religion auf deine Kindheit zurück?

Es gibt gewiss einige nostalgische Elemente dabei, das gebe ich zu, und das geht vermutlich auf die Zeit zurück, als ich das erste Mal diese Geschichten aus der Bibel gehört habe. Als ich jung war, war ich mehrmals wöchentlich in der Kirche, da ich Mitglied des Kirchenchors war. Und ich habe in der Kirche viel gelernt. Ich wurde vertraut mit den Geschichten der Bibel und habe sie wirklich geliebt. Die ganze Sache hat mich einfach angezogen. Ich erinnere mich, im Andenkenladen der Kirche ein kleines hölzernes Kreuz mit einem kleinen silbernen Jesus gekauft zu haben, um es am Hals zu tragen. Da war ich elf Jahre alt. Daran war ein Stück Papier befestigt, auf dem stand: »Hergestellt aus dem Holz des Wahren Kreuz Christi«, und ich dachte: ›Wow, das Wahre Kreuz.‹

Ah, schon damals also haben sie dich belogen!

Ha! Ja. Und ich fragte meine Mutter: »Mama, ist das aus dem echten Kreuz gemacht, an dem Jesus gestorben ist?« Und sie sagte: »Kann sein, Liebling«, und zwar sagte sie es so, dass ich wusste, dass es nicht stimmte, aber es weiterhin seine Aura des Mysteriösen behalten konnte.

Der springende Punkt ist, dass ich immer schon eine Veranlagung für diese Dinge hatte. Und später, als ich begann, mich für Kunst zu interessieren, waren es oft vor allem die religiösen Werke, mit denen ich mich beschäftigte. Ich hatte das Gefühl, dass sie über eine Art zusätzlicher Kraft verfügten, die über die Kunst selbst hinausging. Das war ein weiterer Zugang.

War es also schon damals ein Zeichen für ein tieferes Interesse am Göttlichen, als du in deinen jungen, wilden Tagen biblische Bildwelten als Material verwendet hast?

Nun, ich war umgeben von Menschen, die null Interesse an spirituellen oder religiösen Themen hatten, beziehungsweise wenn sie es hatten, lag es daran, dass sie vehement antireligiös waren. Ich habe mich, um es milde auszudrücken, in einer gottlosen Welt bewegt, da war also keinerlei Nährboden für diese Ideen. Aber ich habe immer mit der Vorstellung von Gott gerungen und hatte gleichzeitig das Gefühl, an etwas glauben zu müssen.

Ich muss sagen, dass das nicht immer sofort ersichtlich war.

Nein, das war es wohl nicht! Aber ich glaube, dass die Menschen einfach sahen, was sie sehen wollten. Ich meine, die ersten Auftritte von Birthday Party waren auf ihre eigene Weise religiös, dieses Rollenspiel auf der Bühne, Dämonen austreiben und in Zungen sprechen. Das war altmodische, gottesfürchtige Religion! Oder zumindest eine Beschäftigung mit religiösen Themen. Aber ich hatte natürlich auch einen großen Hunger nach Chaos. Mein Leben war extrem chaotisch und meine Musik natürlich auch. Dennoch habe ich immer versucht, irgendeine Form von spirituellem Zuhause zu finden. Vielleicht war das Chaos einer der Gründe für meine darunterliegende Sehnsucht nach einer tieferen, substanzielleren Bedeutung, aber das weiß ich nicht genau. Die Vorstellung, dass es keinen Gott oder nichts Göttliches gäbe – keinerlei spirituelle Geheimnisse, über die man sprechen könnte, nichts, das über das hinausginge, was die Welt der Ratio uns zu bieten hat – das war eine Vorstellung, die ich nicht akzeptieren konnte.

Hast du also Religion als eine Möglichkeit gesehen, deinem Leben einen gewissen Grad an Ordnung zu verleihen?

Nein, ich glaube nicht, dass das stimmt. Ich hatte einen Riesenhunger nach Verwüstungen – aber ich hatte auch noch andere Dinge im Kopf, echte Sorgen und problematische Situationen. Ich konnte in Hotelzimmern aufwachen und umgeben sein von den Trümmern einer wilden Nacht – leere Flaschen, Drogenutensilien, vielleicht jemand Fremdes in meinem Bett – all diesen Mist –, aber eben auch eine aufgeschlagene Ausgabe der Gideon-Bibel mit unterstrichenen Passagen. So war es ständig.

Damals ging ich davon aus, dass die Bibel für dich einfach eine Inspirationsquelle für deine Songs war, so wie du auch zu Schriftstellern wie William Faulkner, Flannery O’Connor und der ganzen Tradition des Southern Goth hingezogen warst.

Ein großer Teil der Anziehung, die diese Autoren auf mich hatten, bestand darin, dass sie ebenfalls mit religiösen Ideen beschäftigt waren. Und die Bibel ist eine unglaubliche Quelle für Bildwelten und großes, lehrreiches menschliches Drama. Schon die Sprache selbst ist außergewöhnlich. Ich glaube, dass da immer schon eine Sehnsucht in mir nach etwas anderem war, nach etwas, das über mich hinausging und von dem ich mich ausgeschlossen fühlte. Selbst in den chaotischsten Zeiten, als ich mit meiner Sucht kämpfte, schienen mir immer jene bewundernswert, die eine religiöse Dimension in ihrem Leben hatten. Ich hatte eine Art spirituellen Neid, eine Sehnsucht nach Glauben angesichts der Unmöglichkeit zu glauben, was eine grundlegende Leere in mir ansprach. Diese Sehnsucht hatte ich immer schon.

Ich habe das Gefühl, dass du derzeit dieser Sehnsucht geradezu proaktiv nachgibst.

Hauptsächlich wohl deshalb, da ich nun, da ich älter geworden bin, erkannt habe, dass die Suche selbst die eigentliche religiöse Erfahrung ist – der Wunsch zu glauben und die Sehnsucht nach Bedeutung, die Bewegung in Richtung des Unbeschreiblichen. Vielleicht ist es das, was von wesentlicher Bedeutung ist, trotz der damit einhergehenden Absurdität. Oder vielleicht sogar aufgrund dieser Absurdität des Ganzen.

Im Kern ist Glaube vielleicht lediglich eine Entscheidung wie alle anderen auch. Und Gott ist möglicherweise die Suche selbst.

Der Zweifel ist aber weiterhin Teil deines Glaubenssystems, wenn ich es so nennen darf?

Zweifel ist eine Energie, ganz gewiss, und vielleicht bin ich eine Person, die sich niemals ganz der Vorstellung von der Existenz Gottes unterordnet, aber interessanterweise denke ich, dass ich es sein könnte oder dass ich diese Person immer schon gewesen bin.

Allerdings ist es zutiefst menschlich zu zweifeln, findest du nicht?

Das stimmt. Und die starre und selbstgerechte Gewissheit einiger religiöser Menschen – übrigens auch einiger Atheisten – ist etwas, das ich abstoßend finde. Die Hybris darin. Diese Scheinheiligkeit. Dafür kann ich mich nicht erwärmen. Je unbeweglicher die Überzeugungen einer Person sind, desto kleiner scheint sie mir zu werden, da so jemand aufgehört hat, Fragen zu stellen, und dieses Nicht-infragestellen geht bisweilen einher mit einem Gefühl moralischer Überlegenheit. Der selbstgefällige Dogmatismus der gegenwärtigen Kultur unterstreicht das geradezu. Ein bisschen Demut würde nicht schaden.

Verstehe ich das also richtig, dass du deine Zweifel gern hinter dir lassen und einfach mit ganzem Herzen an Gott glauben würdest, dein vernünftiges Selbst dir das aber ausredet?

Nun, mein vernünftiges Selbst scheint sich dieser Tage weniger sicher, weniger überzeugt. Dinge geschehen in meinem Leben, fürchterliche Dinge, große, alles vernichtende Ereignisse, durch die das Bedürfnis nach spirituellem Trost riesig und der eigene Sinn für das, was vernünftig ist, weniger kohärent wird und man sich selbst plötzlich auf wackligem Grund wiederfinden kann. Man erwartet von uns, dass wir an die Welt des Verstands glauben, wenn aber die Welt aufhört, Sinn zu ergeben, kann das Bedürfnis nach größerer Bedeutung die Vernunft möglicherweise einfach überschreiben. Und tatsächlich kann sie zum uninteressantesten, am stärksten vorhersehbaren und am wenigsten lohnenswerten Aspekt des eigenen Selbst werden. Das jedenfalls ist meine Erfahrung. Ich glaube, dass ich in letzter Zeit zunehmend ungeduldig mit meiner eigenen Skepsis werde; sie kann sich beschränkt und kontraproduktiv anfühlen, wie etwas, das einfach einer besseren Lebensweise im Weg steht. Ich spüre, dass es gut für mich wäre, das zu überwinden. Ich glaube, ich wäre glücklicher, wenn ich aufhören würde, nur mit den Zehenspitzen das Wasser zu prüfen und einfach ganz eintauchte.

Da würde ich sagen, Vorsicht mit dem, was du dir wünschst; Gewissheiten sind selten gut für die Kreativität.

Vermutlich nicht, aber wer sagt, dass Kreativität das einzig Wahre ist? Wer sagt, dass unsere Errungenschaften wirklich der einzig wahre Maßstab für das sind, was in unserem Leben wichtig ist? Vielleicht sind andere Lebenswege, andere Arten, in dieser Welt zu sein, auch lebenswert.

Hast du mal darüber nachgedacht, etwas anderes zu tun, als Songs zu schreiben und aufzutreten?

Nun, ich denke, letztlich ist es eher so, dass man an einen Punkt kommt, an dem sich der Grund dafür, Kunst und Musik zu machen, verändert. Man stellt fest, dass das alles einem gänzlich anderen Zweck dienen kann. Man versteht, dass diese widerspenstige Energie, die man immer hatte, richtig genutzt, Menschen sogar helfen kann. Dass Musik die Menschen aus ihrem Leid herausziehen kann, selbst wenn es nur ein vorübergehendes Verschnaufen ist.

Musik ist für dich also nicht nur Realitätsflucht?

Nein, sie ist mehr als das. Ich glaube, Musik hat die Fähigkeit, all die beschissenen Muster, die wir uns angewöhnt haben, um mit der Welt klarzukommen, zu durchstoßen – all die Vorurteile und Parteilichkeiten und Agenden und Ausreden, die sich im Grunde zu einer Art aufgeschichtetem Leid zusammenfügen – und dass sie an den Punkt vorstoßen kann, der all dem zugrunde liegt und der die Essenz von uns allen ist, die rein und gut ist. Die heilige Essenz. Ich glaube, Musik ist von allem, was wir tun können – zumindest im Bereich der Kunst –, einer der besten Indikatoren, dass etwas vor sich geht, etwas Unerklärtes, da sie uns erlaubt, wahrhaftige Augenblicke der Transzendenz zu erleben.

Aber um deine Ausgangsfrage zu beantworten: Im Augenblick fühle ich mich sehr verbunden mit der Arbeit, die ich mache, ich denke also nicht darüber nach, etwas anderes zu tun. Ich empfinde echte Freude an den Dingen, mit denen ich zu tun habe. Ich spüre eine echte Verbindung mit anderen Menschen und auch ein Gefühl von Verpflichtung gegenüber den Fans, die so viel in die Band investiert haben. Ich fühle mich angespornt weiterzumachen, da ich meine Arbeit liebe und meine Beziehung mit meinem Publikum wertschätze. Aber was ich versucht habe auszudrücken, ist, dass wir letztlich vielleicht feststellen, dass zu unserer Überraschung unsere kreativen Unternehmungen nicht das entscheidende Element in unserem Leben sind. Sie sind vielleicht lediglich Mittel zum Zweck.

Hast du dir in deinem Fall mal überlegt, was dieser Zweck sein könnte?

Das ist es, was ich versuche herauszufinden.

Und teilt jemand unter den Menschen, mit denen du dich in deiner kreativen Arbeit umgibst, dein tiefes Interesse an Gott und Religion?

Das ist schwer zu sagen, aber vermutlich nicht.

Haben einige von ihnen je Bedenken gegenüber den religiösen Elementen in deinen Songs zum Ausdruck gebracht?

Nein. Nicht, dass ich wüsste. Es hat noch nie jemand gesagt: »Oh nein, nicht noch ein weiterer Jesus-Song.« Also nicht zu mir jedenfalls. Kann schon sein, dass sie es denken, aber sie haben es nie zu mir gesagt.

Nicht mal Blixa, der für seine harten Meinungen bekannt ist?

Nein, nicht mal Blixa! Blixa war jetzt nicht gläubig, soweit ich weiß, aber er diskutierte gern über Religion. Er ist neugierig auf das Leben, und er weiß, wovon er redet, mehr als die meisten anderen. Er hatte starre und schockierend extreme Ansichten zu gewissen Dingen, aber er war auch an Ideen interessiert. Das war meine Erfahrung mit ihm, auch wenn er sich vielleicht verändert hat. Das weiß ich nicht.

Mick Harvey hatte keine Zeit an organisierte Religion zu verlieren. Sein Vater war ein Pfarrer, Mick hatte die Religion also von innen erlebt und war in der Folge vehement antireligiös. Ich weiß nicht, ob sich seine Ansichten mit der Zeit etwas abgemildert haben. Ich bezweifele es.

Viele Menschen, die eine religiöse Erziehung durchgemacht haben, sind heute besonders gegen Religion eingestellt – bis zu einem gewissen Grad würde ich mich da einschließen.

Ja, leider ist organisierte Religion das größte Geschenk an den Atheismus.

Wie ist es mit Warren? Wie sieht er das alles?

Warren ist auf seine eigene Weise sehr spirituell. Er kommt über seine Musik dorthin, aber ich bin mir nicht sicher, ob er viel Zeit damit verbringt, mit der Vorstellung eines Gottes zu ringen. Nun ist es nicht so, dass ich je mit ihm darüber gesprochen hätte. Er ist sicherlich der Welt gegenüber sehr offen, und ich spüre, dass er sich auf seine eigene Weise spirituellen Dingen nahefühlt.

Er sieht auf jeden Fall so aus.

Ja. Wie Johannes, der Täufer. Sein Kopf sieht aus, als würde er auf ein Tablett gehören.

Kannst du noch etwas über das Spannungsfeld Zweifel und Glaube sagen, das du vorhin schon mal erwähnt hast? Ich weiß, dass das etwas ist, mit dem du dich schon eine Weile auseinandersetzt.

Etwas an dieser Dynamik interessiert mich, nicht zuletzt weil ich akzeptieren muss, dass ein Teil des Feuers und der Energie meines Lebens aus der Tatsache gespeist wird, dass ich einen signifikanten Teil meiner Zeit dem Nachdenken und Agonisieren über etwas gewidmet habe, das vielleicht gar nicht wirklich existiert! Auf gewisse Weise also sind es vielleicht der Zweifel, die Unsicherheit und das Geheimnis, die die ganze Sache beleben.

Aus einigen unserer Gespräche aus der Zeit, bevor wir dieses Buch angefangen haben, scheint mir deutlich geworden, dass du beginnst, diese letzte Skepsis abzustreifen und dich Gott immer stärker anzunähern.

Vielleicht. Es ist jedenfalls gut für mich, über diese Dinge zu sprechen, weil ich, wie gesagt, nicht dazu neige, das zu tun. Manchmal muss man das, was man denkt, laut aussprechen oder mit jemandem über die Ideen sprechen, die man hat, einfach nur um zu sehen, ob sie dem standhalten. Es hilft mir, die Dinge klarer zu sehen, wenn ich meine Überzeugungen rechtfertigen muss. Das ist in der Essenz der eigentliche Wert von Gesprächen, dass sie als eine Art Korrektiv wirken können.

Ich glaube, dass ich in letzter Zeit, und besonders während der Pandemie, die Möglichkeit hatte und auch das Bedürfnis spürte, mich dem Glauben und der spirituellen Hingabe zu widmen. Indem ich das tat, spürte ich, dass ich an einen Punkt kam, an dem meine Beziehung mit Gott etwas weniger aufgeladen war, könnte man sagen. Und für mich sind die Vorzüge sehr offensichtlich. Ich bin nun gewiss zufriedener geworden.

Das würde aber erfordern, dass man ohne Sicherheitsnetz losspringt – ein Sprung, der über das Vernünftige hinausgeht.

Vielleicht, aber die Wahrheit der Vernunft ist vielleicht nicht das Einzige, was man anstreben sollte. Ich hänge eher einer poetischen Wahrheit an oder auch der Idee, dass etwas ›wahr genug‹ sein kann. Für mich ist das wunderschön, menschlich formuliert.

Das ist es durchaus, aber für mich klingt die Vorstellung, dass die Existenz Gottes ›wahr genug‹ sein könnte, ein bisschen so, als wolltest du einfach deine Wettquoten verbessern.

Nun, die Idee einer poetischen Wahrheit oder einer metaphorischen Wahrheit, wie ich es mal gehört habe, die Idee, dass Dinge ›wahr genug‹ sein könnten – kann einen realen pragmatischen Vorteil bieten. Metaphorische Wahrheit, soweit ich das nachvollziehen kann, funktioniert auf Grundlage der Prämisse, dass, auch wenn etwas nicht buchstäblich oder empirisch wahr ist, es dennoch individuell oder auch evolutionär betrachtet von Vorteil für uns sein kann, daran zu glauben.

Inwiefern kann es von Vorteil sein, an etwas zu glauben, das buchstäblich oder empirisch unwahr ist?

Wenn man beispielsweise zu Narcotics Anonymous