Glaubensspuren - Zentralrat der Juden in Deutschland (Hg.) - E-Book

Beschreibung

Die "Denkfabrik Schalom Aleikum" schaut auf der Suche nach Glaubensspuren durch ein selten geöffnetes Fenster: jüdische, muslimische und christliche Lebensrealitäten in Ostdeutschland. Wie spielt sich religiös-gesellschaftliches Leben ab in einer Region Deutschlands, in der die meisten Menschen keiner Konfession angehören und die Geschichte vieler Gemeinden zweifach unterbrochen wurde – durch die Schoa und die DDR? Juden, Christen und Muslime Ostdeutschlands haben oft eine andere Geschichte und auch eine andere Gegenwart als die in der restlichen Bundesrepublik. Das markiert nicht nur Probleme, sondern auch große Chancen für Deutschland. Was bedeuten multiple Zugehörigkeiten insbesondere für junge Erwachsene in einem Umfeld, das aktuell auch von antidemokratischen Aktivitäten geprägt ist? Die Autorinnen und Autoren führen diese Aspekte zu einer Frage des sozialen Miteinanders zusammen und entwickeln eine selten ausgeführte Perspektive.

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GLAUBENSSPUREN

Jüdische, muslimische und christliche Lebensrealitäten in Ostdeutschland

Denkfabrik Schalom Aleikum Buchreihe

Band II

Ein Projekt des:

Impressum

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de/ abrufbar.

Zentralrat der Juden in Deutschland K.d.ö.R. (Hrsg.)

Geschäftsführer des Zentralrats der Juden: RA Daniel Botmann

Leiter der „Denkfabrik Schalom Aleikum“: Dr. Dmitrij Belkin

Wissenschaftliche Gesamtkonzeption und Durchführung:

Collin Feuerstein, Magdalena Herzog

Redaktion: Lorenz Hegeler, Sophie Scheffe

Diagramme: Collin Feuerstein

Grafisches Konzept und Gestaltung: Gudrun Hommers

Druck: Westermann Druck Zwickau

Hentrich & Hentrich Verlag Berlin Leipzig

Inh. Dr. Nora Pester

Jahnallee 61, 04177 Leipzig

[email protected]

http://www.hentrichhentrich.de

1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

ISBN 978-3-95565-632-4

eISBN 978-3-95565-640-9

Redaktionsnotiz: Die Form des Genderns wird vom Zentralrat der Juden in Deutschland durch die binäre Schreibweise realisiert. Allen anderen Autorinnen und Autoren wurde die Wahl der gendergerechten Sprache überlassen.

GLAUBENSSPUREN

Jüdische, muslimische und christliche Lebensrealitäten in Ostdeutschland

Inhaltsverzeichnis

Grußwort Reem Alabali-Radovan

Staatsministerin beim Bundeskanzler

Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration

Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus

Grußwort Dr. Josef Schuster

Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland

Glaubensspuren in Ostdeutschland, Expertisen und Vertrauen. „Denkfabrik Schalom Aleikum“ in Krisenzeiten

RA Daniel Botmann und Dr. Dmitrij Belkin

Jüdische, muslimische und christliche Glaubensspuren in Ostdeutschland

Eine Einführung in ein selten betrachtetes Feld

Magdalena Herzog

Zeig mir deine Welt – Leonid, Sultan, Elsa

Religiöse Stimmen junger Erwachsener in Ostdeutschland

Mit einer Einführung von Lorenz Hegeler und Akin Şimşek

Herausgeforderte Identitäten. Gläubig, demokratisch, engagiert

Igor Matviyets, Azim Semizoğlu und Mara Klein im Gespräch mit Jana Hensel

Junge jüdische Lebensrealitäten in Ostdeutschland heute

Dr. Olaf Glöckner

Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Ostdeutschland

Eine soziologische Untersuchung der inneren Verbundenheit religiöser Communities

Collin Feuerstein

Vielfältige Glaubensspuren in Ostdeutschland. Ein Ausblick

Magdalena Herzog

Grußwort Reem Alabali-Radovan

Foto: Integrationsbeauftragte / Krautz

Liebe Leser*innen,

Schalom Aleikum – das ist Pionierarbeit vom Zentralrat der Juden in Deutschland, von ihrem Beginn in 2019 an gefördert durch mein Amt. Es ist von unschätzbarer Bedeutung, dass hier Jüd*innen, Muslim*innen und Christ*innen außerhalb ihrer Religionsgemeinschaften zusammenkommen, sich austauschen, mehr Verständigung miteinander und Verständnis füreinander schaffen. Das war nie so wichtig wie heute. Denn in bewegten Zeiten, in denen Populismus und Hass auf dem Vormarsch sind, in denen der Terror der Hamas gegen Israel auch das Miteinander der Menschen in Deutschland erschüttert, sind etablierte Dialoge und starke Allianzen über Religionsgrenzen hinweg ein wichtiges Fundament – gegen Menschenfeindlichkeit, Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit; für ein friedliches Zusammenleben mit Respekt, Anstand und gleichen Chancen in unserer vielfältigen Gesellschaft.

Dafür setzt die „Denkfabrik Schalom Aleikum“ wertvolle Impulse, indem sie ein professionelles Netzwerk für den jüdisch-muslimischchristlichen Dialog auf- und ausbaut. Dabei stehen auch die Lebensrealitäten junger Menschen in Ostdeutschland im Fokus. Von Greifswald bis Görlitz müssen junge Menschen gleichberechtigt ihren Weg gehen und selbstverständlich ihren Glauben leben können. Das kann im mehrheitlich konfessionslosen Ostdeutschland besonders herausfordernd sein. Als Schwerinerin mit chaldäischkatholischen Familienwurzeln begrüße ich diesen besonderen Blick der Denkfabrik und wünsche größtmögliche Reichweite und viel Erfolg.

Ich danke dem Zentralrat der Juden in Deutschland und dem gesamten Team der Denkfabrik für das herausragende Engagement für eine offene, vielfältige und tolerante Gesellschaft in unserem Land. Davon brauchen wir mehr – jetzt und in Zukunft! Dafür werde ich mich weiterhin einsetzen. Allen Leser*innen wünsche ich inspirierende Lektüre!

Ihre Reem Alabali-Radovan

Staatsministerin beim Bundeskanzler

Beauftragte der Bundesregierung für Migration,

Flüchtlinge und Integration

Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus

Grußwort Dr. Josef Schuster

Foto: Zentralrat der Juden

Liebe Leserinnen,liebe Leser,

Juden, Muslime und Christen eint vieles, dennoch sind es häufig Gegensätze und Vorurteile, die im Licht der medialen Aufmerksamkeit stehen. Umso wichtiger ist der Austausch zwischen und mit ihnen, die Berücksichtigung ihrer Herausforderungen, Fragen und Lösungsansätze im direkten Gespräch.

Die „Denkfabrik Schalom Aleikum“ begleitet und fördert diesen interreligiösen Trialog, indem sie die gesellschaftlichen Realitäten von Menschen oder Gruppen, die selten gehört werden, analysierend beschreibt. Das bezieht sich nicht zuletzt auf Ostdeutschland, Gebiete unseres Landes, die bis heute amtlich etwas distanziert als „neue Bundesländer“ bezeichnet werden.

Die Denkfabrik stellt uns in diesem Buch Realitäten vor, denen oft unzureichende Beachtung geschenkt wird, untersucht sie, um ihrer Relevanz, die auf gesellschaftlicher und politischer Ebene fortbesteht, gerecht zu werden.

Für Jüdinnen und Juden sowie für Musliminnen und Muslime in Deutschland haben Einschnitte wie der gezielte antisemitische Anschlag in Halle oder die schreckliche Mordserie des NSU sowie die Vielzahl von Angriffen auf Moscheen oder Synagogen einen maßgeblichen Einfluss auf alltägliche Lebensrealitäten. Seit den brutalen Terrorangriffen der Hamas gegen Israel vom 7. Oktober 2023 ist die Gefährdung für jüdische Einrichtungen und Jüdinnen und Juden auch hier in Deutschland dramatisch angestiegen. Die Vernichtungsideologie der Hamas gegen alles Jüdische wirkt auch in Deutschland. Auf propalästinensischen Demos wurden die Ermordung und Verschleppung von Israelis gefeiert. Weltweit wurde am „Tag des Zorns“ zu Gewalt gegenüber Juden aufgerufen. Und auch in Deutschland gab es Hörige, die diesem Aufruf folgten. Auf Worte folgten Taten.

Diesen Taten wohnen antidemokratische, religionsfeindliche und antiliberale Gesinnungen inne. Die Zunahme dieser Entwicklung wurde zwar durch gesellschaftliche Reaktionen auf die Fluchtbewegungen aus muslimischen Ländern ab 2015 erkennbar verstärkt, wie beispielsweise die Gründung der rassistischen und islamfeindlichen Pegida mit ihren Ablegern zeigt. Zugleich instrumentalisieren rechtsextremistische Parteien wie die AfD den Terror gegen Juden für ihre Anti-Asyl-Politik. Wir haben alle eine Verantwortung dafür, dass unschuldige tragische Opfer nicht für widerwärtige Terrorpropaganda auf der einen und rechtsextremistischen politischen Machtkampf auf der anderen Seite instrumentalisiert werden.

Doch kann all dies die zunehmende Radikalisierung bis in die Mitte unserer Gesellschaft ausschöpfend erklären? Eine Normalisierung von Hass und ein antidemokratisches Klima sind bereits seit den gesellschaftlichen Umbrüchen nach der Wiedervereinigung erkennbar, die insbesondere Ostdeutschland vor eine Vielzahl an Herausforderungen stellte und stellt. Sie gelangen vermehrt in das politische und gesellschaftliche Interesse und lenken dabei von positiven ostdeutschen Wirklichkeiten und Entwicklungen, wie zivilgesellschaftlichem Engagement und einem gesellschaftlichen Zusammenhalt, ab. Diese Prozesse werden im vorliegenden Buch differenziert bearbeitet, ohne dass es eindimensional wird. An ebenjener Stelle knüpft unsere „Denkfabrik Schalom Aleikum“ an den Themenschwerpunkt des letzten Jahres an: die Erweiterung um die christliche Perspektive.

In ihrer zweiten Buchpublikation agiert die „Denkfabrik Schalom Aleikum“ nun erstmalig trialogisch und wertet besonders und exklusiv Aussagen von jungen religiösen Mitgliedern des Judentums, Islams und Christentums aus Ostdeutschland aus. Erneut widmet sie sich einem aktuellen Thema, das für unsere Gesellschaft nicht nur relevant ist, sondern auch signifikant auf ihre Zukunft und das soziale Miteinander einwirken wird – ganz im Sinne einer „Denkfabrik“.

Die „Denkfabrik Schalom Aleikum“ legt Erfahrungen von religiös Praktizierenden der sogenannten Nach-Wende-Generationen und ihr Erleben von Verbundenheit, Gemeinwohlorientierung und sozialen Beziehungen in Ostdeutschland vor. Dies tut sie in einer Gegend, in der Konfessionszugehörigkeit und Religiosität historisch und kulturell wenig verankert sind. Das soziale Miteinander fand andere Wege, die zunehmend verblassen. Angesichts der großen gesellschaftlichen Herausforderungen gerade im Osten offenbart diese Situation auch eine gewisse Tragik. Im Anschluss an die deutsche Wiedervereinigung, die eine von der antireligiösen Politik der SED geprägte DDR mit einem Staat, in dem 1990 beinahe 85 % der Bevölkerung einer Konfession zugehörten, zusammenführte, waren unterschiedliche Ausgangslagen für Religion in den neuen und alten Bundesländern gegeben. Hier eröffnet sich die Möglichkeit, soziostrukturelle Bedingungen, die Gefahren antidemokratischer Strukturen und die Chancen interreligiöser Zusammenarbeit ins Auge zu fassen. Das alles ist besonders mit Blick auf das Wahljahr 2024 relevant, in dem in drei der ostdeutschen Bundesländer Landtagswahlen stattfinden werden.

Die „Denkfabrik Schalom Aleikum“ nimmt im zweiten Jahr ihres Bestehens eine Analyse vor, in deren Zentrum die Aussagen von Akteurinnen und Akteuren, Privatpersonen sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern stehen, die dank ihrer einschlägigen Erlebnisse und Expertisen zu dem Verständnis eines Themas von derartiger Tragweite und Komplexität beitragen können.

Ich freue mich daher, dass die „Denkfabrik Schalom Aleikum“ mit dem vorliegenden Buch ihre wissenschaftlichen Ergebnisse einem breiteren interessierten Publikum zugänglich macht. Es sind wertvolle Befunde eines bislang kaum erforschten Schwerpunkts, die es vermögen, den gesellschaftlichen Horizont zu erweitern und die Menschen im Osten unseres Landes sowie die gesamtdeutsche Gesellschaft zu bestärken.

Der Staatsministerin (beim Bundeskanzler) Frau Reem Alabali-Radovan, der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration sowie der Beauftragten der Bundesregierung für Antirassismus, danke ich herzlich für die weiterhin fördernde Unterstützung der „Denkfabrik Schalom Aleikum“.

Dr. Josef Schuster

Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland

Glaubensspuren in Ostdeutschland

Expertisen und Vertrauen. „Denkfabrik Schalom Aleikum“ in Krisenzeiten

RA Daniel Botmann

Geschäftsführer

Zentralrat der Juden

Dr. Dmitrij Belkin

Leiter

„Denkfabrik Schalom Aleikum“

Die Veranstaltung der „Denkfabrik Schalom Aleikum“ in Erfurt am 11. Oktober 2023 bleibt uns in Erinnerung. Aus der geplanten Gesprächsrunde über jüdische, muslimische und christliche Perspektiven und Ansichten in einem politisch wackeligen ostdeutschen Bundesland und seiner Hauptstadt wurde ein Gespräch über Perspektiven und Grenzen eines Dialogs nach dem Terror der Hamas in Israel, der in Deutschland stark resoniert. Das zeigt sich, um nur ein Ereignis zu nennen, am Brandanschlag auf die Synagoge in der Berliner Brunnenstraße in den Morgenstunden des 18. Oktobers 2023.

Der Veranstaltung ging eine Kundgebung in der Altstadt von Erfurt voraus – es ging um Israelsolidarität nach den gravierenden antisemitischen Terroranschlägen vom 7. Oktober 2023 im Süden Israels. Viele Gäste der stillen und würdevollen Kundgebung kamen nachher zu uns, um über den Dia- und Trialog in Thüringen zu diskutieren.

Die Frage, die im Veranstaltungsrahmen stand und die wir seitdem in diversesten politisch-medialen Kontexten nonstop gestellt bekommen, lautet: Hat der jüdisch-muslimische Dialog in Deutschland angesichts der hiesigen Resonanz auf den mörderischen islamistischen Antisemitismus der Hamas überhaupt noch eine Chance?

Wir können diese keineswegs triviale Frage nicht schlicht feierlich bejahen und zur Tagesordnung übergehen. Wir wollen diese Frage auch nicht eindeutig verneinen und die Türen des Gesprächs unwiderruflich schließen.

Die „Denkfabrik Schalom Aleikum“ ist ein Ort der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Innovation. Die Realität hinter einem solchen Anspruch will vor allem eines: Sie will wissenschaftlich und gesellschaftlich fundiert sein. Wir benötigen durchdachte, verifizierbare Aussagen hinter einem relevanten Thema. Wenn es brennt, wie zurzeit, schauen wir gemeinsam, wie und ob der Diskurs weitergehen kann.

Die 2024 anstehenden Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg und die für die dortigen demokratischen Kräfte momentan bitteren Prognosen machen den Diskurs über die ostdeutschen Bundesländer unseres Landes zu einem zentralen gesellschaftlichen Thema in der Bundesrepublik Deutschland.

Rund um dieses Thema gibt es aktuell viel rhetorisch-publizistischen Lärm. Das Feuilleton ist voll davon. Eine Liste der Publikationen und darin enthaltenen Äußerungen über das Phänomen Ostdeutschland wäre lang und würde aus nicht vielen positiv konnotierten Aussagen bestehen.

Mit dem Buchthema „Glaubensspuren. Jüdische, muslimische und christliche Lebensrealitäten in Ostdeutschland“ zeigen wir Großes durch das Kleine. Wir analysieren die Generation, die nach der Wiedervereinigung geboren ist, und ihre religionsgesellschaftlichen Ansichten in einer angeblich areligiösen Region Deutschlands. Die Frage lautet nicht: „Was glauben Juden, Muslime und Christen in Ostdeutschland?“, sondern vielmehr: „Wie füllen sie ihre Region, wie lesen sie die dortige Gesellschaft?“ und: „Wie leben sie in Ostdeutschland als junge Muslime, Christen und Juden?“

Der interreligiöse bzw. interkulturelle Trialog ist für uns kein rein theologisches, sondern ein gesellschaftlich öffnendes Thema.

Was kann ein jüdischer Interessenverband zu einem gesamtgesellschaftlichen Thema von einer solchen Diversität und Komplexität beitragen? Die Antwort ist einfach und zugleich kompliziert. Sie ist einfach, weil wir uns als politischer Verband und die jüdische Interessenvertretung in Deutschland selbstverständlich unserer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung jenseits der „rein jüdischen“ Themenbereiche bewusst sind. Sie ist kompliziert, weil die Frage das „Wie“, die Vorgehensweise und die Ziele, inkludiert. Wir wollen als Zentralrat der Juden einen Raum, einen gesellschaftlichen, politischen und intellektuellen Space, eine funktionierende vertrauensvolle Plattform von wissenschaftlichem und kommunikativem Niveau anbieten.

Unter dem Dach der Denkfabrik begeben sich Vertreterinnen und Vertreter der drei großen Religionen mit uns in einen Austausch über soziales Miteinander und religiöse Identitäten, sodass uns nicht nur ein Vergleich zwischen den Religionen, sondern eine insgesamt reichhaltige und umfangreiche Übersicht über die (ostdeutsche) Gesellschaft gewährt ist.

Selbstkritisch können wir sagen, dass der Fokus unserer Institution auf Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung bisher nicht immer von einer ausschlaggebenden Bedeutung war. Die Gründe hierfür sind vielfältig, ihre Auflistung würde den Rahmen einer solchen Einleitung sprengen. Hier genügt die Feststellung eines Verbesserungsbedarfs.

Umso wichtiger und erfreulicher ist es, dass die Denkfabrik im Zentralrat mit diesem Buch eine Pionierarbeit im Osten der Republik leistet.

Mit dem Thema „Glaubensspuren in Ostdeutschland“ knüpfen wir also auch in diesem Buch an aktuelle Entwicklungen und Geschehnisse an, indem wir jüdischen, muslimischen und christlichen Lebensrealitäten in Ostdeutschland intellektuell, wissenschaftlich und politisch begegnen und sie analysieren.

Spuren verschwinden nicht, sie erzählen uns etwas und müssen interpretiert werden. Spuren – auch Glaubensspuren – kann man folgen. Sie müssen auch nicht marginal sein – wobei sie durchaus nicht überdimensioniert groß sein müssen: Wir sind uns darüber im Klaren, dass die Religionen im Osten unseres Landes und inzwischen in Deutschland insgesamt nicht weiterwachsen, auch nicht florieren.

In Ostdeutschland sind religiöse Gemeinden in der Regel jung, viele ihrer Mitglieder erblickten nach der Wiedervereinigung das Licht der Welt oder erreichten Ostdeutschland im Zuge von Flucht und Migration. Ihre Strukturen sind neu, vor allem Moscheen und muslimische Gemeindezentren sind eine Seltenheit.

Inmitten einer Region, in der eine Kultur der bewussten und nicht selten politisch betonten Konfessionslosigkeit vorherrscht und eine zureichende religiöse Infrastruktur fehlt, kommt interreligiöser Austausch zu kurz. Das tut im Übrigen auch gesellschaftlicher Austausch – und das in einer Krisenzeit, die nach einem gesellschaftlichen Dialog schreit. Verstärkt wird dies unter anderem durch ein Defizit an nichtchristlichem Religionsunterricht an öffentlichen Schulen. Seit einigen Jahren wird jüdischer Religionsunterricht in Sachsen und Thüringen als ordentliches Fach in allen Jahrgangsstufen und in Sachsen-Anhalt in Grundschulen gelehrt. Trotz eines im Vergleich zu Jüdinnen und Juden quantitativ erheblich höheren Anteils von Musliminnen und Muslimen in der ostdeutschen Bevölkerung bietet zum jetzigen Zeitpunkt keines der neuen Bundesländer islamischen Religionsunterricht in seinen öffentlichen Schulen an.

Die deutsche Wiedervereinigung und ihre Auswirkungen, vornehmlich die ihr folgenden innerdeutschen Entwicklungen, der Pfad zur Anpassung und die bestehenden Unterschiede zwischen Ost und West, sind seit 1989 wiederkehrende Themen des gesellschaftlichen und politischen Interesses. Aus ihnen leitet sich der beschwerliche und auf weiten Strecken ungewisse Weg einer für Deutschland bedeutenden Region ab, dessen Ende noch nicht erreicht ist.

Im öffentlichen Diskurs um Ostdeutschland wird meist die wachsende Popularität der rechten Parteienlandschaft betont. Spätestens seit dem 5. Juni 2023 und der Wahl eines Landrats mit rechtspopulistischer Parteizugehörigkeit richten Politik und Gesellschaft ein besonderes Augenmerk auf die politische Entwicklung in Ostdeutschland und blicken besorgt auf die drei dort anstehenden Landtagswahlen im Jahr 2024. Die deutlich spürbare Präsenz antidemokratischer bis rechtsextremer Positionen hat auch zur Folge, dass Freiheiten unabhängig von Religion und Herkunft, wie die Artikel 1 und 4 des Grundgesetzes sie garantieren, nicht jederzeit perspektivisch gewährleistet sind.

Sorgen in Hinblick auf die politische Zukunft Ostdeutschlands sind gewiss berechtigt – trotzdem drängt eine derart eindimensionale Wahrnehmung der Region zahlreiche weitere Aspekte der ostdeutschen Gesellschaft teilweise vollständig in den Hintergrund. Der Großteil der Zivilgesellschaft, der sich für einen gesellschaftlichen Zusammenhalt stark macht, hat häufig das Nachsehen, agiert er doch außerhalb des Scheinwerferlichts. Ebenjene Lebensrealitäten sind es, welche wir mit unserem Buch aufzeigen und unterstreichen wollen. Dabei analysieren wir, wie insbesondere junge Erwachsene ihren Bezug zur eigenen Religion und Herkunft in Ostdeutschland verstehen und wie sich das religiöse Leben in einem säkular geprägten Staat gestalten kann.

Dazu versammeln wir ein weites Spektrum an Perspektiven. Aufmerksame Leserinnen und Leser werden auf vielschichtige Nuancen stoßen, welche Erfahrungen, kommunikative und politische Herausforderungen, Chancen und Probleme von jüdischen, muslimischen und christlichen Akteurinnen und Akteuren, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Gemeinden und Gemeinschaften sowie Privatpersonen schildern. Sie regen dazu an, die Verbindung zwischen jungen Akteurinnen sowie Akteuren und Ostdeutschland thematisch aufzugreifen und werfen neue Fragen bezüglich ihrer Zukunft auf. Die gewonnenen Ansätze vermögen es, die gesellschaftspolitische Diskussion zu bereichern und zu ihrer Vervollständigung beizutragen.

Die Datenlage zur Religionszugehörigkeit und zu religiösen Lebensrealitäten in Ostdeutschland ist dünn. Für den vorliegenden Band haben wir deswegen eine Analyse auf Basis von selbstgeführten, exklusiven qualitativen Interviews mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie jüdischen, muslimischen und christlichen Gemeindemitgliedern durchgeführt. Wir bieten nicht das rohe Material an, vielmehr analysieren wir die Lage und zeigen auf, wie das Selbstverständnis, das soziale Miteinander, Gemeindestrukturen und Herausforderungen buchstäblich zu verstehen sind – wir arbeiten in diesem Band ohne Phrasen und stellen Aussagen in einen Kontext.

Wir bezweifeln es keine Minute, dass es sich auch hierbei um genuine Aufgaben des Zentralrats der Juden und seiner Denkfabrik handelt. Denn eine sachliche, unaufgeregte Erledigung dieser Aufgaben stärkt gesellschaftlichen Zusammenhalt und erklärt uns eine wichtige Region Deutschlands – eine solche fundierte Öffnung der Perspektive kann nur im Sinne einer Repräsentanz der jüdischen Community im Osten und Westen unseres Landes sein.

Allen Autorinnen und Autoren des Buches, dem wissenschaftlichen und redaktionellen Team der „Denkfabrik Schalom Aleikum“ sowie dem Verlag Hentrich & Hentrich, die nicht müde werden, uns auf immer wieder spannenden und gesellschaftlich relevanten Reisen zu begleiten, danken wir an dieser Stelle.

Die Konstanz solcher wissenschaftlich-gesellschaftlichen Produktionen der Denkfabrik im Zentralrat wollen wir unbedingt beibehalten – unserer unruhigen Zeit tun sie, so unsere Überzeugung, gut.

Wir wünschen eine anregende Lektüre und freuen uns auf Ihr anschließendes Feedback – in einer politischen und gesellschaftlichen Krisenzeit, die wir gemeinsam verstehen sollten und hoffentlich auch meistern werden.

Jüdische, muslimische und christliche Glaubensspuren in Ostdeutschland

Eine Einführung in ein selten betrachtetes Feld

Magdalena Herzog

Die „Denkfabrik Schalom Aleikum“ schaut in diesem Buch auf der Suche nach Glaubensspuren durch ein selten geöffnetes Fenster: jüdische, muslimische und christliche Lebensrealitäten in Ostdeutschland. Wie spielt sich religiös-gesellschaftliches Leben ab in einer Region Deutschlands, in der die meisten Menschen keiner Konfession angehören und die Geschichte vieler religiöser Gemeinden zweifach unterbrochen wurde – durch die Schoa und die DDR? Jüdinnen, Christen und Muslime Ostdeutschlands haben oft eine andere Geschichte und auch eine andere Gegenwart als diejenigen in der restlichen Bundesrepublik. Das markiert zahlreiche Herausforderungen für die ostdeutsche Gesellschaft, die zeitgleich als positive Möglichkeiten der Veränderung zu sehen sind. Was bedeuten multiple Zugehörigkeiten – in religiöser und ethnischer Hinsicht – insbesondere für junge Erwachsene in einem Umfeld, das aktuell auch von antidemokratischen Aktivitäten geprägt ist? Die Autorinnen und Autoren bündeln diese Aspekte zu einer Frage des sozialen Miteinanders und des gesellschaftlichen Zusammenhalts und entwickeln damit eine selten ausgeführte Perspektive. Gesellschaftlicher Zusammenhalt meint jedoch keinen Zustand, sondern vielmehr einen „stetig politisch-sozialen Prozess“ (Brand, Follmer, Unzicker 2020: 16 f.). Ostdeutschland verstehen wir als die Region des Gebiets der ehemaligen DDR; wir setzen den Fokus auf die Flächenländer und lassen das frühere Ostberlin als Teil des heutigen Stadtstaats Berlin außen vor.

Jüdinnen und Juden, Muslime und Musliminnen, Christinnen und Christen wurden im öffentlichen Leben der vergangenen Jahre selten zusammen benannt – zu groß sind oder scheinen die Unterschiede ihrer Lebensrealitäten. Häufig sind Jüdinnen, Juden, Musliminnen und Muslime von Antisemitismus bzw. antimuslimischem Rassismus betroffen, während viele der Christinnen und Christen zur Mehrheitsgesellschaft gehören. Sie können ihren Glauben und ihre Identität weitestgehend unbehelligt leben, sich unbehelligt dafür oder dagegen entscheiden. Sie finden vergleichsweise etablierte Strukturen der großen Kirchen vor und können sich ohne Weiteres kritisch mit ihnen auseinandersetzen. Und das, obwohl diese Strukturen im Abbau begriffen sind. Dass sich das Feld auch für Christinnen und Christen komplexer auffächert, ist einer der Aspekte, die wir in diesem Buch zeigen werden, denn es wird auch um zwei der orientalisch-christlichen Gemeinschaften gehen, namentlich um die Armenisch-Apostolische Kirche und am Rande um die Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien. Mit einem verstärkten Blick auf junge Erwachsene zwischen 18 und 27 Jahren, also die nach der Wende Geborenen, schauen wir darauf, wie eine Generation, die die DDR nicht erlebt oder keine familiären Bezüge zu ihr hat, die ostdeutsche Gesellschaft wahrnimmt, die doch krisenhaft anders geprägt ist als die westdeutsche Gesellschaft. Krisenhaft geprägt ist die ostdeutsche Gesellschaft hinsichtlich des politischen Systemwechsels 1990 und der daraus resultierenden Verschiebungen und sozialen Verwerfungen. Entscheidend für unsere Fragestellung des sozialen Miteinanders in Ostdeutschland ist die gegenüber Westdeutschland fundamental andere, defizitäre Ausgangslage für religiöse Gemeinschaften, die bis heute ihre Wirkung zeigt. Wir wollen daher erfahren, wie junge Erwachsene die unterschiedlichen Aspekte ihrer Identität changieren und wie sich ihr Selbstverständnis formt: wie sie Judentum praktizieren und Ostdeutschland erfahren; wie Musliminnen religiös und hochengagiert in der Integrationsarbeit, jedoch an keine Gemeinde gebunden sind, weil die Angebote keine Passung aufweisen; wie junge Erwachsene christlich-evangelisch gläubig sind, geprägt von der Ausgrenzungserfahrung der Eltern als Christen in der DDR, und doch mit der etablierten Kirche kaum noch etwas anfangen können und nach neuen Formen gelebten Christentums suchen; und wie es um armenische und syrischorthodoxe junge Christinnen und Christen in Ostdeutschland steht. Wir fragen nach den Spuren des Glaubens – so der Titel des Buches –, denn nur wenige Personen sind streng religiös oder gänzlich säkular, oft nehmen sie ein Platz im Dazwischen ein und verändern diesen im Laufe ihres Lebens. Es geht um eine Bezüglichkeit zu Religion und Religiosität, die mal mehr, mal weniger über Praktiken im Kontext einer Gemeinde gelebt wird. Und diese Bezüglichkeit zur Religion ist insbesondere im jüdischen Kontext an eine Identität gebunden, an eine familiäre und historische Tradition. Das Jüdisch-Sein, es steht gewissermaßen nicht zur Auswahl. Eine Rolle spielt dabei auch, dass die Reaktion der sozialen Umwelt auf Jüdinnen, Juden, Musliminnen und Muslime deutlich anders ist als bei evangelischen und katholischen Christinnen und Christen. Dies wirkt sich auch auf das Selbstverständnis sowie auf den Bezug zur eigenen Community aus.

Die religiösen Haltungen, so viel lässt sich sagen, sind eng an die vor Ort gegebene Gelegenheitsstruktur gebunden. Sie stehen ebenso in enger Verbindung mit der jeweiligen Community und wie sich die Personen darin eingebunden fühlen. Religion hat also einen ganz klaren lebensweltlichen Bezug. Wie dieser Bezug eingebettet ist in einen ostdeutschen Kontext, steht in unseren Betrachtungen im Vordergrund.

Kultur der Konfessionslosigkeit und die Präsenz von Antisemitismus und Rassismus

Nach religiösen Gemeinden und Communities wird Ostdeutschland in der öffentlichen Debatte gegenwärtig selten befragt.1 Wir erkunden die vorhandenen Strukturen für die religiöse Praxis – diese dünne Gelegenheitsstruktur –, zeigen die Herausforderungen und Leerstellen auf, sowie die Möglichkeiten, die sich aus Leerstellen ergeben können – für die Communities und damit für die Region insgesamt. Denn ein gemeinsam getragener Aspekt ist das Verhältnis zu einem Umfeld, das mehrheitlich, zu 68,3 %, konfessionslos ist (vgl. bpb 2020).2