Gleich unter der Haut - Berthe Obermanns - E-Book

Gleich unter der Haut E-Book

Berthe Obermanns

4,0

Beschreibung

»Ich weiß manchmal nicht, ob ich die Person im Spiegel bin oder die davor und ob das überhaupt einen Unterschied macht«, sagt die dreiundzwanzigjährige Lou über sich selbst. Niklas fühlt sich von der ungewöhnlichen Frau angezogen. In den gemeinsamen Momenten lässt sie ihn sogar die Trauer um seine verstorbenen Eltern, die Eintönigkeit seines Alltags und die Pflege seiner demenzkranken Großmutter für Augenblicke vergessen. Doch Lou hat etwas zu verbergen. Warum verschwindet sie immer wieder, verändert von einem Moment auf den anderen ihre Stimme und ihren Charakter, was hat es mit ihren Erinnerungslücken auf sich? Und vor allem: Ist sie tatsächlich die Frau, die sie vorgibt zu sein? Niklas bittet Lou, ihm ihre Geschichte zu erzählen, aber seine Freundin schweigt, findet keine Worte für das Unaussprechliche. Und so sehr die beiden auch auf eine gemeinsame, eine bessere Zukunft hoffen: Die Erlebnisse der Vergangenheit lassen sich nicht ausradieren. »Irgendwann kommt der Punkt, an dem sich die Realität durch die Gedanken an den Tod verändert«, sagt Lou. Und ja, er kommt, der Punkt, und mit einem Mal scheint es nur noch einen einzigen Ausweg zu geben. Gleich unter der Haut erzählt die Geschichte zweier junger Menschen, die den Wunsch teilen, endlich alles hinter sich zu lassen. Ein Roman über das Ungesagte, das sie in ihrem Innern gefangen hält. Über das, was man nicht sehen möchte. Ein Roman, der seine Leser*innen miterleben lässt, wie schnell die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen und jeder Einzelne durch die äußeren Umstände zum Mörder werden kann.

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Gut verbrachte Zeit

"Unter der Haut" von Berthe Obermanns ist ein fesselndes Buch, das mich von Anfang bis Ende in seinen Bann gezogen hat. Die Autorin entführt die Leser in eine emotionale Achterbahnfahrt, die von tiefen Gefühlen, Geheimnissen und überraschenden Wendungen geprägt ist. Die Charaktere sind lebendig und vielschichtig, und ihre Entwicklung im Laufe der Geschichte ist beeindruckend. Die bildhafte Sprache vermittelt eine eindringliche Atmosphäre, die mich vollkommen in die Welt der Protagonisten eintauchen ließ. "Unter der Haut" ist ein bemerkenswertes Buch, das noch lange nach dem Lesen in Erinnerung bleibt. Absolut empfehlenswert!
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Berthe Obermanns

GLEICH UNTER DER HAUT

Roman

Osburg Verlag

Erste Auflage 2022

© der deutschsprachigen Ausgabe

Osburg Verlag Hamburg 2022

www.osburgverlag.de

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Ulrich Steinmetzger, Halle

Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg

Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-95510-291-3

eISBN 978-3-95510-301-9

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Ende

»Ich fragte mich, was ich ihr sagen sollte: Ich hatte nicht mal die richtigen Worte gefunden, um mich selbst zu trösten.«

Simone de Beauvoir, Die Unzertrennlichen

1

»Niklas, Niklas, Niklas!«

Immer wieder ruft sie, wie jeden Morgen. Durch die Ritzen des Rollladens scheint Licht ins Zimmer und zeichnet helle Linien auf ihren Körper. Sie reagiert nicht auf mich, bewegt nur ihre Hände durch die Luft. Gleitend, tänzelnd, wie Blätter im Wind. Es sieht aus, als würde sie malen. Ganz konzentriert ist sie.

»Komm, jetzt aber aufstehen!«

Sie fragt, wer ich sei.

»Niklas, Oma, ich bin Niklas«, antworte ich mit einer leisen Resignation. Es ist egal, was ich sage, sie vergisst es ohnehin.

Ich schiebe den Rollstuhl zur Seite, die Sessel ebenfalls, hebe die Decke vom Boden auf. Seit sie versucht, nachts aufzustehen, muss ich eine Barrikade vor ihr Bett bauen. Eingesperrt sieht sie aus, wie sie dort liegt, klein und zerbrechlich zwischen all den Möbelstücken, in dem viel zu großen Bett.

Ich fahre sie ins Badezimmer, helfe ihr auf, zwischendurch sackt sie zusammen. Mit einem Arm halte ich sie, mit dem anderen ziehe ich die Windel aus. Sie schämt sich schon lange nicht mehr. Nachdem ich sie auf die Toilette gesetzt habe, stelle ich ihr eine Schüssel mit Wasser auf den Schoß und drücke ihr die Zahnbürste in die Hand.

»So, Oma, Zähne putzen!«

Wahrscheinlich vergisst sie es.

Im Flur lehne mich an die kühle Wand und schließe die Augen. Die äußere Welt ist ganz still, nur in meinem Kopf ist es laut und unruhig, ich sehe die Bilder vor mir, spüre die Hektik wieder und den Schmerz im Knie.

Geräusche aus dem Badezimmer holen mich aus meinen Erinnerungen zurück. Oma hat die Zahnbürste in die Schüssel geworfen, alles ist nass. Ich wische das Wasser auf, putze ihren Po ab. Es stinkt nach Scheiße, nach ihr und nach diesem verfickten Leben.

Beim Frühstück erzählt sie, dass sie gerade von einem Ausflug zurückgekommen sei. Das Essen klebt an ihren Zähnen, ihr Mund voller kleiner weißer Stückchen, die Lippen rot von der Marmelade.

»Oma, ich muss gleich nochmal weg, um Nora vom Bahnhof abzuholen.«

Sie fragt nach Noras Eltern, wie es ihnen gehe. Ohne darauf zu antworten, drücke ich ihr die Regionalzeitung in die Hand. Sie nimmt sie entgegen, faltet sie auf und versteckt ihr Gesicht dahinter. Von außen betrachtet wirkt es, als könnte sie die Buchstaben entziffern. Sie kann es nicht, schon seit Jahren nicht mehr, sie tut nur so – um ein anderes Bild von sich zu haben vielleicht, um nicht wahrhaben zu müssen, dass sie längst nicht mehr lesen kann, längst nicht mehr versteht, um zumindest in ihrer Vorstellung noch Teil der Welt um sie herum zu sein.

Ich auch, will ich rufen, ich will auch anders sein, ein anderer Mensch, ein anderes Leben führen. Ich will tanzen und Freunde haben und Sex. Und nachts in Kneipen sitzen. Und dass das alles anders gekommen wäre.

Oma beginnt zu husten, ich nehme meine Jacke von der Garderobe. Alles sieht hier noch aus wie früher. Ich hatte immer meinen Platz auf der Eckbank. Da sitze ich auch heute wieder, jeden Tag. Wie sich Gewohnheiten festsetzen. Vielleicht ist die Ödnis das größte Problem.

Davonrennen. Am liebsten würde ich einfach losrennen – so schnell und so weit ich kann. Aber ich renne nicht, nie renne ich. Ich bleibe, wo ich bin; wo sie ist.

Am Bahnsteig ist es eisig kalt. Seit Tagen hängen die Wolken so tief und grau über der Stadt, dass sich das Licht kaum noch verändert, die Nächte viel zu hell sind und die Eintönigkeit jeden Moment bestimmt. November. Jetzt ist es schon fast ein Jahr her.

Unter der Anzeigetafel herrscht Gedränge: Ein Kind friemelt Fruchtgummi aus einer Papiertüte, ein Mann mit dickem Wollmantel leuchtet den Inhalt eines Müllbehälters aus. Seine Haare genauso farblos wie seine Kleidung. Zwei junge Frauen umarmen sich.

Endlich fährt der Zug ein und mit einem Mal bin ich aufgeregt, weil ich sie so lange nicht gesehen und Angst davor habe, dass sich Trauer potenzieren kann. In meinem Kopf tauchen gemalte Potenzzeichen auf. Fürs Studium sollte ich auch mehr machen.

»Hey«, ruft es von hinten. Noras Stimme klingt vertraut und gibt mir sofort ein Gefühl von Geborgenheit. Ich drehe mich um und bin erleichtert, dass sie aussieht wie immer. Sie lächelt mich an mit ihren traurigen Augen.

»Herzlichen Glückwunsch«, flüstere ich ihr ins Ohr, nehme sie in den Arm. An ihrem Rücken zwei Dellen, fast schon Löcher unter den Rippenbögen. Ich erschrecke ein bisschen: »Schön, dass du da bist!«

»Ja, finde ich auch«, sagt Nora.

Langsam gehen wir durch die Innenstadt. Nur wenige Menschen sind unterwegs, der Nebel hält sich hartnäckig in der Luft fest. Auf der Rheinbrücke bleiben wir stehen, schweigend, ohne uns anzuschauen. Ich lege meinen Arm um ihre Hüfte, ihr Kopf berührt leicht meine Schulter. Die Umgebung ist im Grau verschwunden, aber wir blicken trotzdem unentwegt auf den See, denn wir wissen, dass er da ist. Seine Geräusche legen sich tröstend über unsere Ohren: ein leichtes Rauschen, über uns die Schreie der Möwen, das Plätschern der Wellen, wenn ein Schiff einfährt.

Schon beim Aufschließen der Haustür dringen Omas Rufe durch den Flur. Wir gehen zu ihr, begrüßen sie, Nora gibt ihr einen Kuss auf die Wange.

»Wer sind Sie denn?«, fragt Oma.

»Oma, das ist doch Nora«, sage ich.

Sie schaut nur und nickt ganz leicht. Ein bisschen verlegen sieht sie aus in diesem Moment.

»Wie geht’s dir denn?«, fragt Nora.

Oma reagiert nicht, schaut uns nicht einmal an, greift nur schweigend nach einem Taschentuch, das vor ihr auf dem Tisch liegt, faltet es auseinander, legt es wieder zusammen. Immer wieder. Seite an Seite, die Ecken übereinander, immer hin und her, bis sie nur noch ein kleines Stück zerfleddertes Papier in den Händen hält.

»Jetzt zieht sie sich zurück. Wenn sie ihre Taschentücher faltet, verschwindet sie immer ein bisschen«, sage ich.

Leise stehen wir auf und gehen in das frühere Schlafzimmer von Oma und Opa.

»Schläfst du jetzt immer hier?«, fragt Nora.

»Ja, keine Ahnung. Als Omas neues Bett geliefert wurde, hatte ich keinen Nerv, alles umzuräumen. Deshalb steht es jetzt in Opas Arbeitszimmer, da war genug Platz. So geht’s ja auch. Und das neue Bett ist gut, da kann man alles verstellen.«

Nora geht durchs Zimmer, betrachtet die Bilder an den Wänden, sagt: »Alles noch wie früher.«

Ja, alles noch wie früher. Nur mit mir in dem riesigen Ehebett aus dunklem Holz, in dem miefigen Raum. Das pastellfarbene Bild an der Wand, der gekreuzigte Jesus, die gelblichen Gardinen vor dem Fenster. Alles noch wie früher.

Nora setzt sich aufs Bett und erzählt, dass sie überlege, sich von Britta zu trennen, weil sie sich nicht so fest binden könne im Moment.

Ob sie dann wieder herkommen werde, frage ich, obwohl ich ahne, dass sie mir nicht antworten wird. Ihr Schweigen gibt mir recht, und sofort tut es mir leid, dass ich schon wieder davon angefangen habe. So oft haben wir darüber gesprochen, die immergleichen Worte gesagt, die immergleichen Fragen gestellt, die immergleichen Antworten gegeben. Es führt zu nichts.

Für einen Moment schweige auch ich, bevor ich Noras Geburtstagsgeschenk aus dem Schrank hole – ein Arm einer Schaufensterpuppe, den ich vor einem Geschäft gefunden habe. Da lag er ganz traurig in einem großen Karton. »Zu verschenken« stand darauf, lieblos hingeschrieben mit schwarzem Filzstift. Nur der Arm lag in der Kiste. Ich wusste sofort, dass ich ihn Nora schenken und sie ihn mögen würde. Erst später habe ich bemerkt, dass die Hand falsch herum auf dem Arm sitzt. Vermutlich wurde er deshalb entsorgt. Ich habe ihn angemalt für Nora, ganz bunt ist er jetzt – bunt wie die Fahrradhelme, die wir als Kinder hatten oder wie Mamas Sommerkleider.

»Hier, für dich«, sage ich, »ich dachte, dass du ihn irgendwo festmachen und Schals oder Schmuck dranhängen könntest.«

Nora nimmt den Arm entgegen, lächelt. »Schön, Niklas, der ist toll, danke! Oder ich lege ihn auf mich beim Schlafen, vielleicht fühlt es sich dann nach Umarmung an.«

Ich setze mich zu ihr aufs Bett, wir lassen unsere Oberkörper nach hinten fallen, schauen in die Sterne und erfinden Sternbilder, die es nur bei uns gibt, nicht am Himmel. Hasen, Vögel, Berge erkennen wir an der Zimmerdecke. Nora hat mir die Leuchtklebesterne geschenkt, vor einigen Monaten. Als Erinnerung an früher. Schweigend liegen wir nun da, nebeneinander, und während wir immer weiter an die Decke schauen, wobei mehr und mehr Bilder vor unseren Augen auftauchen, träume ich mich weit weg: an andere Orte, in fremde Welten, irgendwohin, wo es besser ist. Oder irgendwohin, wo es nur noch das Nichts gibt.

Am Abend frage ich Nora, ob sie heute auf Oma aufpassen könne. »Ich muss mal raus.«

»Ja klar, kein Problem.«

Eigentlich müsste ich mich jetzt freuen. Es ist ewig her, dass ich auf einer Party war oder überhaupt unter Menschen. Ich hole mein Fahrrad aus dem Schuppen. Der Garten wildert vor sich hin. Nur vereinzelt blühen noch ein paar Pflanzen, vermutlich Unkraut. Der Rasen ist lang, der Apfelbaum kahl. Es sieht traurig aus, wie er dort steht.

Schon vor dem Eingang der Bar höre ich die Musik, spüre die Bässe. Ich öffne die Tür und schaue mich um. Alles voller Menschen. Ich könnte mich unter sie mischen, mich unterhalten. Aber was sollte ich sagen? Es ist, als hätte ich vergessen, wie man spricht. Oder sprach. Früher. Vorher. Allein stehe ich in der Ecke, aus Verlegenheit hole ich mir ein Bier und trinke es viel zu schnell. Es ist unangenehm, wenn Einsamkeit sichtbar wird. Die Bässe bohren sich in meinen Bauch, eine stinkende Hitze liegt in der Luft.

Ich gehe in den Innenhof, um eine zu rauchen. Überall kleine Gruppen, einige Pärchen, zwei Typen schreien sich an. Nervös ziehe ich an meiner Zigarette, um beschäftigt auszusehen, schaue von links nach rechts, tue so, als würde ich jemanden suchen oder auf jemanden warten. Wenn man wartet, ist das Alleinsein in Ordnung, denke ich für einen Moment – aber nein, ist es nicht, nichts ist in Ordnung, gar nichts. All diese Menschen führen ein komplett anderes Leben als ich, ich passe nicht mehr hierher. Wie der Arm mit der Hand, die falsch herum darauf sitzt. Deplatziert. Ein Fremdkörper. Es passt nicht mehr.

Hastig drücke ich meine Kippe aus und gehe. Mein Fahrrad schiebe ich. Manchmal tut das Laufen gut. Die Stadt liegt ruhig im Nebel und sieht aus wie ein Stillleben auf Papier. Es wird immer kühler, ein kurzer Windhauch lässt mich frösteln. Die Luft riecht nach Veränderung, noch ein bisschen nach Herbstlaub, aber auch schon nach dem kommenden Winter. Es sind die Übergänge, die mir schwerfallen, diese Momente, in denen die Luft einen anderen Geruch annimmt – wegen der Erinnerungen, die jede Jahreszeit in sich trägt und die mich sentimental werden lassen. In meinem Kopf tauchen Bilder auf von Herbstspaziergängen mit Mama und Papa. Ich sehe vor mir, wie Nora und ich als Kinder in Laubberge gesprungen sind und danach – wieder zu Hause – kleine Figuren aus Kastanien gebastelt haben. Es fühlt sich so nah an: die Erinnerungen, der Unfall, die Kindheit, in der alles noch so unbeschwert war. Der einzige Verlust der Tod des Hamsters, irgendwann später ein gebrochener Arm, und dann war wieder heile Welt.

Immer weiter laufe ich durch die Stadt und schaue in meine Kindheit zurück. Niemand ist unterwegs, niemand kommt mir entgegen. Ich höre, wie in der Ferne ein paar Autos über den Asphalt fahren, ansonsten ist es vollkommen still.

Doch dann, in die Stille hinein, Schritte von hinten. Sie kommen immer näher, ich drehe mich um. Ein stämmiger Mann mit verkniffenem Gesicht rennt auf mich zu, wechselt auf die andere Straßenseite, als er mich bemerkt. Eine Frau ihm hinterher. Sie macht große, hüpfende Schritte, bewegt sich wie eine Raubkatze. Ihre Haare sind ein bisschen verfilzt und zu einem lockeren Zopf zusammengebunden, ihre Beine lang und dünn, die helle Haut sieht aus wie Pergament. Sie ist schneller als der Mann, schafft es, ihn einzuholen. Dann greift sie nach seiner Jacke, wirft sich auf ihn und ruft: »Fick dich, du Arsch!«

Das alles im Schein einer Straßenlaterne, das Licht fällt kegelförmig auf den Gehweg. Wie eine gut ausgeleuchtete Filmszene spielt sich das alles ab. Und ich schaue zu.

Der Mann richtet sich auf, brüllt etwas Unverständliches. Sie hängt noch immer an seinem Körper, versucht, ihn wieder zu Boden zu drücken, doch es gelingt ihr nicht. Er ist größer und kräftiger, dreht sich um, holt aus und schlägt ihr mitten ins Gesicht. Sofort fällt sie nach hinten, fängt sich mit den Händen ab. Blut tropft von ihrer Nase. Für einen Moment bleibt der Typ vor ihr stehen, dann dreht er sich um, ruft »Doofe Schlampe!« und läuft davon.

Obwohl die Frau nicht aussieht, als brauche sie Hilfe, bleibe ich stehen und schaue sie an.

Nach einer Weile rappelt sie sich hoch. Etwas muss aus ihrer Tasche gefallen sein, denn sie hockt sich auf den Boden und sammelt Dinge auf. Als sie wieder aufrecht steht, schaut sie mich an, ganz unvermittelt. Da ist ein Funkeln in ihren Augen, von dem ich nicht weiß, ob es mir Angst macht.

»Was willst du?«, schreit sie mich an. Ihre Stimme ist laut, überschlägt sich fast.

»Nichts, sorry, ich bin hier nur entlanggelaufen.«

»Und jetzt, jetzt willst du mich ficken, oder was?«

»Nein, Quatsch, ich stehe nur hier und wollte fragen, ob du Hilfe brauchst«, sage ich unsicher. Sie kommt auf mich zu, das Blut läuft von ihrer Nase, in einem feinen Strich, sie wischt es nicht weg, lässt es einfach in ihren Mund laufen und sagt: »Nein, alles gut.« In ihrem linken Auge ein kleiner, gelber Punkt. Ihre Augen blau oder grün oder grau. Von allem etwas. Und sie verändern ihre Farbe, je nachdem, wie der Mond sein Licht auf sie wirft.

»Hast du ’ne Kippe?«, fragt sie dann.

Sie macht mich nervös. Ich krame die Zigarettenschachtel aus meiner Hosentasche, halte sie ihr hin. Dabei berühren sich unsere Arme für einen Moment. Nur kurz, nur aus Versehen, dennoch bemerke ich es sofort, auch durch mehrere Schichten Kleidung hindurch. Ihre Hände zittern, als sie sich eine Zigarette anzündet. Kleine, helle Hände mit viel zu großen Knöcheln und kurzen Fingernägeln, die von blutigen Ringen umgeben sind. Wahrscheinlich knibbelt sie die Haut neben den Nägeln ab, bis es blutet. Die Fingerkuppen sehen aus wie kleine Hügellandschaften. An manchen Stellen ist die oberste Hautschicht abgezogen.

»Geht’s dir gut?«, frage ich. Sie antwortet nicht, raucht einfach weiter. Eine Weile bleiben wir schweigend voreinander stehen. Es ist hell, obwohl es Nacht ist und der Nebel sich längst wie eine Kuppel über die Stadt gelegt hat – hell wegen des Monds, der heute ungewöhnlich groß und klar am Himmel hängt, sein Licht beinahe gleißend.

»Ich muss gehen, mir ist kalt«, sagt die Frau. »Und danke für die Kippe!« Ihre Stimme jetzt zart. Laut und gleichzeitig sanft. Ein paar Blätter fliegen an uns vorbei, ein kurzer Windhauch, bevor alles wieder ruhig ist.

»Gerne!«, sage ich und möchte noch mehr sagen, weiter mit ihr reden, doch es ist, als versteckten sich die Worte vor mir. Die Frau dreht sich um und geht davon. Ich schaue ihr nach, bis sie hinter der nächsten Straßenecke verschwunden ist, dann blicke ich zum Himmel. Der Mond ist riesig und gelb und umgeben von einem unsymmetrischen Feld aus Dunst. Erst als er nicht mehr zu sehen ist hinter den Wolken, gehe ich nach Hause.

Ich kann nur kurz geschlafen haben, schrecke hoch, das Bettlaken ist nass von meinem Schweiß und klebt an meinem Körper. Nora liegt nicht mehr neben mir. Von den Händen dieser Frau habe ich geträumt. In meinem Traum war ich draußen, wollte irgendwohin und sah aus den Augenwinkeln den Mond am Himmel. Er war riesig, bestand aus mehreren Teilen und hing ganz nah über mir wie ein Mobile mit viel zu langen Schnüren. Ich hatte Angst, er könnte auf mich fallen, mich erschlagen, blickte unentwegt nach oben, und erst nach einer Weile erkannte ich, dass es nicht der Mond war, der über mir schwebte, sondern die Hände dieser Frau, diese schönen Hände mit den blutigen Fingerkuppen. In meinem Traum griffen sie nach mir, versuchten, mich zu fangen. Ich wollte vor ihnen weglaufen, spürte aber mein Bein nicht mehr – wie nach dem Unfall. Sie kamen immer näher, diese Hände, waren schon knapp über mir.

Mein Mund ist trocken, meine Kehle wie verklebt. Ich gehe in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken, habe keine Ahnung, wie spät es ist. Draußen ist es noch dunkel. Die Nächte geben mir Halt, weil dann alles still ist und ruhig und es sich anfühlt, als hätte die Welt für einen Moment aufgehört, sich zu drehen. Alles auf Pause.

Im Wohnzimmer brennt Licht. Nora sitzt im Schneidersitz auf dem alten Perserteppich, eine Kiste mit Fotos vor sich, ein Stapel Bilder links, einer rechts neben ihr.

»Hab ich dich geweckt?«, fragt sie, als sie mich bemerkt.

»Nein, gar nicht, alles gut, ich hab schlecht geträumt. Und du? Warum schläfst du nicht?«

Sie schaut mich nur kurz an, dann blickt sie wieder auf die Bilder.

»Weiß nicht, ich bin aufgewacht und konnte dann nicht mehr einschlafen.

« Ich setze mich zu ihr.

»Niklas?«

»Hmm?«

»Machst du mir eine Tasse Milch mit Honig? Wie Mama früher?«

»Na klar«, antworte ich und gehe in die Küche.

Dann trinken wir Milch, sitzen nebeneinander auf dem Boden und sehen uns Fotos an, lassen die Essenzen des Lebens vor unseren Augen ablaufen. Zimmerdecken in tristem Grau, Weihnachtsbäume mit flackernden Kerzen, Sonnenuntergänge, orange, lila, rot und mit grauen Ausläufern, Sommerkleider in leuchtenden Farben, Nora weinend, Oma und Opa in schwarz-weiß, Babyfotos von uns beiden.

»Ich hab sie nicht mehr angeschaut seit damals …«, sage ich.

Nora reagiert nicht, blättert die Bilder durch, als suche sie etwas.

»Schau mal, das war der erste Urlaub, an den ich mich erinnern kann«, sagt sie dann und hält mir ein Foto hin, auf dem wir gemeinsam in Frankreich sind. Nora auf Mamas Arm, ich daneben. Papa macht das Foto. Mama trägt eines der bunten, langen Sommerkleider. Mit Blumen drauf. Nora ist vielleicht vier oder fünf und schaut ein bisschen unzufrieden in die Kamera.

»Warum schaust du da so? Weißt du das noch?«

»Nein, keine Ahnung … Wenn sie noch da wären, könnten wir sie fragen. Sie wüssten es vielleicht noch.«

»Mama!«, ruft es von draußen. Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen. Bitte, schlaf einfach weiter! Und wieder ruft sie. Ich stehe auf, lasse Nora hier sitzen zwischen ihren Fotos, mit der Tasse Milch in der Hand, und gehe zu Oma.

Sie versucht, den Rollstuhl wegzuschieben, die Decke liegt schon auf dem Boden hinter ihrem Bett.

»Was ist denn?«, frage ich und decke sie wieder zu.

»Wer sind Sie? Hören Sie, ich muss jetzt gehen. Aber man lässt mich hier nicht raus. Ich muss doch zur Reinigung.«

Ängstlich sieht sie aus.

»Oma, ich bin’s doch, Niklas. Es ist mitten in der Nacht, du musst jetzt schlafen.«

»Nein!«, schreit sie energisch. »Meine Mutter soll kommen.«

»Oma, schlaf jetzt!«, brülle ich sie an.

Sie redet immer weiter, erzählt von der Reinigung und ihren Eltern, dass man ihrem ältesten Bruder die Stiefel bringen müsse, weil er die doch brauche für den Dienst. Er sei Offizier und es sei wichtig.

Ich höre nicht mehr zu, wende meinen Blick von ihr ab, betrachte die paar Staubflocken, die über den Boden huschen. Alles so staubig hier. Nichts als Staub, viel zu dunkle Möbel und diese vergilbten Gardinen. Und Oma dazwischen.

Nochmal brülle ich: »Schlafen, Oma!« Dann gehe ich aus dem Zimmer und schließe die Tür hinter mir.

Nora sitzt noch immer regungslos im Wohnzimmer. Ich kenne das: wenn es sich anfühlt, als könnte man den Körper nicht mehr bewegen, wenn alles wie gelähmt ist oder wie eingefroren.

»Und? Was macht sie?«, fragt Nora.

»Will nach Hause … Manchmal wird mir das alles zu viel.«

»Ja«, sagt sie und fängt – ganz plötzlich und unerwartet – zu weinen an. Ihre Augen voller Tränen, ihre Nase rot, und mit einem Mal wird sie wieder zu dem kleinen Mädchen, das geweint hat, weil es mit dem Fahrrad hingefallen ist.

Bei der Beerdigung haben wir beide nicht geweint, keine einzige Träne. Die Trauergäste standen um uns herum. Wie Insekten sahen sie aus in ihrer schwarzen Kleidung mit den großen dunklen Sonnenbrillen. Fassungslos standen sie am Rand, jeder für sich allein. Die Wintersonne brannte auf fahle Gesichter. Dann Händeschütteln: »Mein Beileid.« »Es tut mir ja so leid!« Dann Kaffee und Kuchen. Und wir blieben zurück. Zu zweit zwar, aber doch einsamer als je zuvor.

Nora rennt ins Badezimmer, ich gehe ihr nach. Sie hockt über der Toilettenschüssel, von nebenan höre ich Omas Rufe. Nora kotzt, ich halte ihr die Haare zusammen, streiche ihr über den Rücken, spüre die einzelnen Wirbel wie Stacheln eines Drachens aus ihrem Körper treten. Akkurat und präzise sind die Knochen angeordnet, einer nach dem anderen.

Irgendwann hört sie auf, sich zu übergeben, legt ihre Stirn auf die Toilettenschüssel. Sie hat nur Galle ausgekotzt, vermutlich hat sie nichts gegessen am Abend. Ich stehe auf, halte einen Waschlappen unters kalte Wasser und wische ihr damit übers Gesicht. Sie sieht erschöpft aus, ihre Lippen sind noch voller Spucke. Nach einer Weile schläft sie in meinem Arm ein. Und Oma ruft immer weiter.

Beim Frühstück erzähle ich Nora von meinem Traum und von der letzten Nacht. Am liebsten würde ich immer weiter über diese Frau sprechen, erzählen, wie irreal das Ganze wirkte, aber Nora unterbricht mich: »Was ist am schlimmsten für dich?«

Ständig möchte sie über damals reden, über Mama und Papa. Sie möchte erzählen, ich möchte schweigen, um zu vergessen. Auch jetzt sage ich nichts, kein einziges Wort. In der Stille ist vieles leichter.

Nora hält einen Moment inne, dann fragt sie leise: »Wollen wir noch zum Friedhof?«

»Ich nicht. Du kannst, wenn du magst.«

»Nein, allein gehe ich auch nicht.«

Ein Gärtner kümmert sich um das Grab, ich war nur bei der Beerdigung dort, danach nie mehr. Es ist mir suspekt, ich möchte mich nicht fragen, wie sie wohl aussehen jetzt, unter der Erde, was mittlerweile aus ihren Körpern geworden ist. Und ich mag keine Friedhöfe, möchte die Menschen nicht sehen, die ihre Trauer zur Schau stellen, indem sie Blumen abstellen auf den Gräbern, eines neben dem anderen, mit den Zeichen und Zahlen, als sei das alles, was vom Leben bleibt. Zahl, Strich, Zahl. Von bis. Und dann Ende.

Ich sage Nora, dass ich nicht begraben werden möchte, wenn ich tot bin, dass ich nicht so eingezwängt daliegen möchte zwischen anderen Toten. So viele Tote und diese hässlichen Grabsteine, Engel, Friedhofslichter und verwelkende Blumen.

»Ja«, sagt Nora, »wenn schon, dann diese Waldfriedhöfe, da gibt es dann nur den Baum und dich.« Ich weiß, dass sie sich das ausgemalt hatte für Mama und Papa. Sie wollte es eigentlich so, hat es aber nicht geschafft, sich darum zu kümmern.

In drei Stunden fährt ihr Zug. Ich wünschte, sie würde bleiben, spreche es aber nicht aus, frage sie nur, ob sie noch etwas essen wolle vor der Fahrt. Sie schüttelt den Kopf, und dann sitzen wir einfach so auf der Eckbank, schweigend aneinandergelehnt. Oma schläft im Rollstuhl. Irgendwann springt Nora auf. Ich helfe ihr beim Packen. Wir reden nicht dabei.

Heute nehmen wir den Bus, weil Nora Angst hat, ihren Zug zu verpassen. Mein Geschenk trägt sie vor ihrem Körper. Erst jetzt fällt mir auf, dass der Oberarm dünner ist als der Unterarm.

Auch während der Fahrt sprechen wir nicht miteinander. Es fühlt sich nicht gut an, zu schweigen, aber ich finde die passenden Worte nicht und will nichts Belangloses sagen. Vermutlich geht es Nora ähnlich, denn immer, wenn ich sie anschaue, wendet sie ihren Blick von mir ab. Auch ich sehe sie nicht mehr an, beide schauen wir nach draußen. Die Umgebung, die Bäume und Häuser, die Menschen und Autos ziehen in langen Schlieren an uns vorbei.

Vor dem Bahnhofsgebäude bleibt Nora stehen.

»Ich kaufe mir noch schnell eine Zeitschrift für die Fahrt, okay?«

Ich nicke und bin erleichtert, dass sie wieder mit mir spricht und das Schweigen endet. Sie geht in die kleine Buchhandlung, ich hole uns beiden einen Kaffee beim Bäcker.

Am Gleis treffen wir uns wieder, der Zug steht schon da. »Wir haben noch zehn Minuten«, sage ich und reiche ihr den Pappbecher.

Sie umarmt mich, hält ihr Geschenk noch immer vor ihrem Körper, der Ellbogen drückt sich in meinen Bauch.

»Kannst du bitte jetzt schon gehen?«, fragt sie, ganz nah an meinem Ohr.

»Okay«, antworte ich, löse mich aus der Umarmung, schaue sie an. »Tschüss Nora, es war schön.«

Dann drehe ich mich um und gehe.

»Ich vermisse dich jetzt schon!«, ruft Nora mir hinterher. Ich sie auch. Ich vermisse sie auch schon jetzt; und diese Frau von letzter Nacht, von der ich noch nicht einmal den Namen kenne. Ich hätte sie danach fragen sollen.

Mist, schon kurz vor eins. Jeden Montag um diese Zeit kommt der Arzt bei uns vorbei, um Oma zu untersuchen. Ich beeile mich, nach Hause zu kommen, den letzten Teil des Weges renne ich. Schon beim Einbiegen in unsere Straße sehe ich ihn vor der Tür stehen, die Hand an der Klingel.

»Hallo Holger, tut mir leid, ich habe Nora noch zum Bahnhof gebracht.«

»Kein Problem, ich bin eben erst angekommen. Wie geht’s Nora denn?«

»Gut«, nuschle ich, dann gehe ich vor ihm her ins Haus und durch den Flur. Er war ein Freund meiner Eltern, trotzdem kenne ich ihn kaum.

»Guten Tag, Frau Maier.« Holger setzt sich neben Oma auf einen Stuhl, macht ein paar Untersuchungen, misst ihren Blutdruck, ihren Puls, schaut sich die Stelle am Rücken an, die ihr immer mal wieder wehtut.

»Nein, das ist nichts Schlimmes. Wenn sie den ganzen Tag im Rollstuhl sitzt, drücken ihre Rippen nach unten, sie wiegt ja auch kaum noch was.«

Ja, sie wiegt kaum noch was, aber wenn sie steht und ich sie halten muss, wenn sie gar nicht mehr mitmacht, ihre Beine sie nicht mehr tragen können, fühlt es sich an, als wiege sie hundert Kilo und keine fünfzig.

Holger verabschiedet sich von Oma, ich bringe ihn zur Tür. Bevor er geht, fragt er mich, ob mir der Therapeut helfe.

»Ich gehe da nicht mehr hin.«

Er schaut mich an, als erwarte er eine Erklärung.

»Es hat mir nicht geholfen, bringt ja auch alles nichts.« Ich kann Holgers Gesichtsausdruck nicht deuten. Vielleicht ärgert er sich, dass seine Bemühungen umsonst waren, vielleicht kränken ihn meine Worte.

»Ich hab’s ja gleich gesagt«, schiebe ich hinterher.

Ich wollte zu keinem Therapeuten, habe Holger nicht danach gefragt, nicht darum gebeten, er kam von sich aus mit der Telefonnummer, als er nach ihrem Tod zum ersten Mal bei uns war. Einfach so, drückte mir die Nummer in die Hand und sagte, dass ich dort anrufen solle.

Wie sie alle meinen, zu wissen, was man braucht, was man zu tun, zu sagen, zu denken hat und was gut für einen ist. Wie sie sich in fremde Leben einmischen, ohne danach gefragt worden zu sein. Da waren Holger, der mir diesen Zettel in die Hand drückte, Margit, unsere Tante, die ständig anrief nach dem Unfall, um uns Ratschläge zu geben, eine Nachbarin, die uns Essen brachte. Tagelang. Immer wieder sehe ich sie vor mir, wie sie mit dieser riesigen Auflaufform in der Tür stand. Und wie sie dabei so mitleidig schaute, so traurig. Beinahe so, als sei ihr das alles passiert und nicht uns. Am nächsten Tag brachte sie Kartoffeln mit Gulasch, dann noch irgendetwas mit einer weißen, dicklichen Sauce. Das stand dann da und vergammelte.

Ich esse kein Fleisch mehr, seit ich im Fernsehen gesehen habe, wie sich die Schweine in ihren viel zu kleinen Käfigen gegenseitig auffressen. Sie knabbern sich die Füße an und die Schwänze ab, aus Verzweiflung oder aus Angst. Oder aus Langeweile. Was sollen sie auch sonst tun.

Eine Frau aus der Kirche kommt auch heute noch manchmal, setzt sich zu Oma und singt Kirchenlieder, erzählt mir etwas von Jesus und Gott und der Bibel und sagt: »Bis zum nächsten Mal«, bevor sie geht. Vielleicht kommt sie, um ein besseres Gefühl zu haben, vielleicht will sie mir den richtigen Weg weisen. Vielleicht hat der Pfarrer ihr auch erzählt, dass ich ihn angeschrien habe, als er hier war, um die Beerdigung mit uns zu planen. Wir wollten, dass es schön wird. Dann saßen wir da, ich noch im Rollstuhl, Nora auf ihrem Platz auf der Eckbank und dieser Pfarrer.

»Mein Beileid«, sagte er. Wie sie das immer alle sagen. Immer diese zwei Worte. Dann sprach er weiter – von Hoffnung, Liebe und der Kraft des Gebets. Ich bemühte mich, seine Worte zu ignorieren, doch es gelang mir nicht. Er redete und redete, und mit jedem seiner Sätze wurde ich wütender. Ich wollte nicht hören, dass ihr Tod Gottes Plan gewesen sei, sie die Erlösung im Himmel fänden und jetzt vielleicht auf uns herunterblickten. Das wollte ich nicht hören, ich wollte hören, dass sie jetzt einfach weg sind und dass das scheiße ist. Niemand hat es ausgesprochen. Immer nur: »Vielleicht geht es ihnen jetzt besser. Sie schauen von oben zu, sind immer noch bei euch.« Und: »Sie leben in euren Erinnerungen weiter.«

»Fick dich!«, habe ich deshalb gebrüllt, als dieser Pfarrer da war. Er schaute konsterniert, Nora auch. Dann ist er gegangen, und mir tat es leid.

Bei der Beerdigung hat er irgendetwas erzählt, ein paar Verwandte und die beste Freundin meiner Mama haben Reden gehalten. Immer das Gleiche, wie sehr sie fehlen werden und dass sie jetzt an einem besseren Ort seien. Und ich wollte nur weg. Ich will es noch immer.

2

Es regnet in Strömen. Ich setze meine Kapuze auf, senke den Kopf. Zumindest nimmt der Regen der Luft den Geruch. Heute nicht mehr Kindheit und Erinnerung, sondern nur noch graues Nass. Der Himmel ist eine einzige helle Wolke. Kaum jemand kommt mir entgegen, nur ab und zu fährt ein Auto vorbei.

Im Supermarkt packe ich Dinge in meinen Einkaufskorb und gehe zur Kasse. Und da, vor mir in der Schlange, eine Frau, die aussieht wie sie – wie die Frau, der ich in der Nacht begegnet bin und deren Namen ich nicht kenne. Ich bleibe stehen, wie erstarrt, blende alles um mich herum aus: die Stimmen der Menschen, das Quietschen von Schuhen auf dem nassen Boden, die Regentropfen, die rhythmisch aufs Dach des Supermarktes fallen, den älteren Mann, der mich aus Versehen anrempelt.

Das alles hat keine Bedeutung mehr, die Welt um mich herum dreht sich weiter, und ich stehe hier, unbeteiligt, meinen Blick auf diese Frau gerichtet. Nur sie schaue ich an, sonst niemanden. Vielleicht ist sie es gar nicht, vielleicht täusche ich mich, ich sehe sie nur von hinten. Aber sie könnte es sein, trägt dieselbe blaue Jacke – zu dünn für die Jahreszeit, das war mir in der Nacht schon aufgefallen. Auf dem Kassenband neben ihr liegen drei Äpfel, akkurat nebeneinander, sonst nichts.

Ich stelle mich hinter sie, packe meinen Einkaufskorb aus, ohne dabei meinen Blick von ihr abzuwenden. Ob ich sie ansprechen oder mich sonst irgendwie bemerkbar machen soll? Sie geht ein paar Schritte weiter nach vorn, nachdem der Mann vor ihr den Kassenbereich verlassen hat. Dann bezahlt sie und steckt die Äpfel in ihre Jackentaschen. Dabei dreht sie sich zur Seite. Ja, sie ist es.

»Hey!«, rufe ich.

Sie schaut mich irritiert an, beinahe so, als hätten wir uns noch nie gesehen, hält für einen Moment inne. Doch noch bevor ich sie ansprechen kann, geht sie los in Richtung Ausgang.

»Warte mal!«, rufe ich, aber sie reagiert nicht, ist schon an der Tür.

Ich lasse die Dinge aus meinem Einkaufskorb auf dem Band liegen, sage »Sorry« zur Kassiererin, die mich verdutzt anschaut, dann gehe ich der Frau nach. Ohne Schirm oder Kapuze läuft sie durch den Regen, macht große Schritte. Nachdem ich sie eingeholt habe, berühre ich sie leicht an der Schulter. Augenblicklich dreht sie sich um und starrt mich an.

»Hey, erinnerst du dich nicht?« Meine Stimme zittert, es ist mir unangenehm.

»Nein, wer bist du denn?«

Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Sie scheint mich wirklich nicht zu erkennen. Der Regen läuft mir in die Augen, ich muss blinzeln.

»Äh, wir haben uns getroffen. In der Nacht. Vor ein paar Tagen.«

Links neben ihrer Nase, nah beim Auge, ist noch eine blaue Stelle zu sehen. Die Haare hängen ihr strähnig und nass vom Regen ins Gesicht.

»Ich kenne dich nicht, okay?« Ihre Stimme klingt hohl, ganz anders als bei unserer ersten Begegnung. Auch ihre Augen wirken verändert. Sie sind heller als in meiner Erinnerung, aber genauso schön. Am liebsten würde ich die Frau immer weiter anschauen, mir die Form ihres Gesichts einprägen, die Farbe ihrer Haare und ihrer Lippen, doch sie erwidert meinen Blick nicht, dreht sich um und geht weiter.

»Wie heißt du?«, rufe ich ihr nach. Es fühlt sich wichtig an.

»Jona. Vielleicht.«

Ich freue mich, dass ich zumindest ihren Namen kenne. Vielleicht. Ob sie mich wirklich nicht erkannt hat? Oder ob sie nur nicht mit mir reden wollte? Und warum habe ich schon jetzt das Bedürfnis, sie wiederzusehen, obwohl ich sie kaum kenne? All diese Fragen krallen sich in meinem Kopf fest, immerzu denke ich darüber nach, den ganzen Tag, bis in den Abend hinein, bis ich losgehe, um mich mit Max zu treffen. Wir haben uns ewig nicht gesehen, er ist nur kurz in der Stadt. Als er angerufen hat, dachte ich, dass es gut sei – mal rauskommen, Freunde von früher sehen, Bier trinken – und habe deshalb die Nachbarin gefragt, ob sie nach Oma schauen könne.

Wir sind in einer dieser Kneipen verabredet, wie sie jetzt alle aussehen. Mit wahllos zusammengewürfelten Second-Hand Polstermöbeln, Retrotapeten, Kerzenleuchtern aus Weinflaschen, an denen das Wachs heruntertropft, dämmrig müdem Licht. Max ist schon da. Wir begrüßen uns mit einer angedeuteten Umarmung, setzen uns, sofort kommt die Kellnerin an den Tisch. Ihr Gang betont lässig, in ihrem Blick eine aufgesetzte Langeweile. Sie trägt einen riesigen Dutt mitten auf dem Kopf. Es sieht aus, als säße ein Hamster auf ihr.

Ich erzähle Max von Oma, dann von der Frau.

»Ach komm, die hatte keinen Bock auf dich, vergiss sie einfach, das hat doch keinen Sinn«, sagt er nur kurz, beiläufig, als sei es nicht wichtig. Dann redet er über sein Studium, den tollen Nebenjob und das Praktikum, das er in den Semesterferien machen werde. New York, wow! Wie sie alle ihre Leben planen.

Er erzählt immer weiter, lässt keine Pausen zwischen den Sätzen. Nun geht es um seine neue Freundin, dass sie die Frau fürs Leben sein könnte. Und dann werden sie heiraten, ein Haus bauen, jahrelang, mit viel Glas und ein bisschen Beton wahrscheinlich, so wie es alle tun. Dann noch Kinder, und dann hat man es geschafft. Dann kann man warten auf den Tod. Denke ich, aber sage ich nicht. Es kotzt mich an. Und ich langweile mich so sehr, dass ich es kaum ertrage.

Irgendwann kommt Tobias dazu, er ist Max’ Freund, ich kenne ihn kaum, habe ihn nur vor Jahren einmal auf einer Party gesehen. Ein bisschen erleichtert bin ich, dass er da ist. Die beiden reden über ihre Studiengänge, ihre Freundinnen, über Proteine, Partys, Belanglosigkeiten. Tobias erzählt, wie er seine Freundin im letzten Skiurlaub kennengelernt habe, erzählt von Sonnenschein, viel Schnee, guter Laune, Alkohol. Aus Bergisch Gladbach komme sie. Es hört sich an wie die Rückseite einer Postkarte. Ich sehe die Vorderseite vor mir: Berge, hellblauer Himmel, glitzernder Schnee. Schöne Tage im Klischee. Das perfekte Leben. Dazu meines im Kontrast.

Erstaunlich, wie sie so lange über Nebensächliches reden können, über Nichtigkeiten, und es schaffen, dass es dennoch wichtig klingt. Ich höre ein bisschen zu, bestelle mir noch einen Gin Tonic, trinke zu schnell, knibble das Wachs von der Flasche auf unserem Tisch, rauche zu viel, dann wird mir übel. Ich verabschiede mich, Max sagt, dass er sich gefreut habe, mich wiederzusehen und dass wir das wiederholen sollten, unbedingt. Jaja. Tschüss.

Vor der Kneipe setze ich mich auf den Bordstein und kotze auf die Straße. Davonrennen. Ich könnte einfach losrennen und dann immer weiter weg, bis es ganz still ist, bis nichts mehr da ist. Oma nicht, dieses trostlose Haus nicht, ich selbst nicht. Aber ich renne nicht, nichts tue ich, gehe nur irgendwann nach Hause.

Am Morgen wirkt Oma schwächer als sonst, ich schaffe es kaum, sie in den Rollstuhl zu heben. Immer wieder sackt sie zusammen, stellt ihre Füße nicht richtig auf den Boden. Nachdem ich sie auf die Toilette gehievt habe, wird mir schwindelig, weshalb ich mich vor sie knie und meinen Kopf auf ihre Beine lege. Sie fährt mit der Hand durch meine Haare. Vielleicht ist es ein Reflex, vielleicht möchte sie wissen, was da auf ihrem Schoß liegt, vielleicht erkennt sie mich auch.

Heute bin ich so erschöpft, dass ich alles andere ausblende, sogar die Tatsache, dass ich nicht mal ansatzweise einen Plan für mein Leben habe und manchmal gar nicht weiß, ob ich es überhaupt weiterführen möchte, dieses Leben. Hätte man mich nach dem Unfall gefragt, hätte ich »Nein, danke« gesagt; jetzt wahrscheinlich auch noch. Aber keiner kommt, um zu fragen. Sie fragen alle nur, wie es mir gehe. Und sie alle erwarten keine ehrliche Antwort. Eigentlich wollen sie »Gut« hören. Oder zumindest etwas wie: »Es geht so«, »Ich komme zurecht« oder »Es muss halt«.

Muss, ja, scheiße!

Auch die Nachbarin am Telefon fragt als Erstes, wie es mir gehe.

»Passt schon«, antworte ich. Und dann fängt sie an zu erzählen. Wir telefonieren über eine Stunde. Sie redet und redet, ich sage jaja, immer wieder. Von ihren Kindern erzählt sie und wie schwer es damals mit ihrem Vater gewesen sei, als er im Sterben gelegen habe. Ich will ihr nicht mehr zuhören, sage, dass ich noch einkaufen müsse.

»Ach so, dann will ich Sie nicht weiter stören«, sagt Frau Heier und redet dennoch immerzu, lässt keine Pausen zwischen ihren Worten, spricht immer weiter. Es wird mir zu viel, interessiert mich nicht, deshalb lege ich auf. Einfach so, ohne mich zu verabschieden.

Im Supermarkt halte ich Ausschau nach der Kassiererin vom letzten Mal. Zum Glück ist sie nicht da.

Vor mir schlendert ein Vater mit seinem Sohn durch die Gänge. Der Junge trägt diese blinkenden Schuhe. Mehrfarbig sogar. Jeder Schritt eine Farbe. Als Kind wollte ich sie unbedingt, habe gebettelt, jedes Jahr vor Weihnachten und meinem Geburtstag. Ich habe sie nicht bekommen, auch keinen Gameboy. Dafür hat Mama Jäckchen und Schals für unsere Kuscheltiere und Noras Puppe gestrickt. Alles selbstgemacht. Und wir hatten ein Puppenhaus, auch selbstgebaut, sogar die Möbel. Das gibt es noch, es steht bei Oma auf dem Speicher. Nora und ich haben es nicht geschafft, Mamas und Papas Wohnung auszuräumen, wir konnten da nicht mehr sein. Unsere Tanten und Onkel haben sich um alles gekümmert, uns nur die Dinge gebracht, die wir unbedingt haben wollten. Nora wollte das Puppenhaus, das war das Erste, was ihr eingefallen ist. Wahrscheinlich ist die Wohnung mittlerweile