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Der feministische Selbstversuch für mehr Gleichstellung im Bett Wie sexuell befreit kann ich in einer Gesellschaft leben, in der Respekt gegenüber Frauen immer noch an der möglichst geringen Anzahl ihrer Sexualpartner*innen bemessen wird? Stehe ich überhaupt auf gleichgestellten Sex? Und wie bringe ich meine feministischen Überzeugungen mit meinem verinnerlichten Bild von Geschlechterrollen zusammen? In Gleichstellungnimmt uns Cleo Libro mit in ihr eigenes Sexleben. Sie schreibt über geheime Fantasien, aufregende Flirts und missglückte One-Night-Stands. Sie erzählt, wie hin- und hergerissen sie ist: zwischen dem Slutshaming der Millennials und der Tiktok-Aufklärung von Gen Z Zwischen ihrem Anspruch, Lust nach feministischen Prinzipien zu leben, und dem Reflex, den Weg des geringsten patriarchalen Widerstands einzuschlagen. Cleo Libro fragt sich stellvertretend für viele Frauen, wie feministisch ihr Sex wirklich ist. Was muss noch passieren, damit in den Betten endlich mehr Lust als Frust entsteht? Der unterhaltsame und lehrreiche Selbstversuch erkundet, wie sexuelle Befreiung aussehen kann.
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Seitenzahl: 333
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cleo Libro
Sex zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Ein feministischer Selbstversuch
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
»Weshalb sollten Szenen, in denen Konsensfindung beim Sex keine geringere Rolle spielen könnte, mich so stark anturnen, wenn ich wirklich so ein großer Fan von sexueller Selbstbestimmung wäre? Warum spielen Grenzverletzungen und Geschlechterklischees in meinen Sexfantasien eine tragende Rolle, wenn ich doch auch Bilder auswählen könnte, in denen Übergriffigkeit und Unterdrückung auf keinen Fall stattfinden? Wie viel Wert hat mein öffentliches Beteuern, dass Sex ohne Konsens kein Sex ist, sondern eine Vergewaltigung, wenn ich mir in meiner Fantasie ausmale, wie ich andere gegen ihren Willen berühre, und das als Sex verstehe? Bedeutet das, dass ich gar nicht wirklich hinter sexueller Selbstbestimmung stehe?«
In Gleichstellung geht Cleo Libro ihren sexuellen Fantasien und Überzeugungen auf den Grund: Je länger sie sich mit ihrer Sexualität auseinandersetzt, desto bewusster wird ihr, dass sie hin und hergerissen ist zwischen ihren politischen Überzeugungen und ihrer gesellschaftlichen Prägung. Wie kann man feministisch ficken? Und was brauchen Frauen noch, um sich wirklich sexuell befreit zu fühlen?
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Vorweg
Vorwort
Haben wir nicht schon genug über Sex gesprochen?
Wer spricht hier über Sex?
Was verstehe ich eigentlich unter »feministisch«?
Flirt
Tausend Mal berührt – jedes Mal gefragt?
50 Shades of Grenzverletzung
Reden ist Silber, Fragen ist Gold
Konsens ist kein Allheilmittel
Und was heißt das für die Praxis?
Fantasien
Meine Lieblingsfantasie: Massage mit Happy End
Stehe ich überhaupt auf gleichgestellten Sex?
Und was träumst du tags? – Worum sich Sexfantasien drehen
Früh übt sich – als ich lernte, worum es bei hetero Sex (nicht) geht
Sex und Erotik, Traum und Wirklichkeit – der kleine große Unterschied
Wenn die Fantasie wahr wird – ein (Alb-)Traum?
Fantasie ist nicht Politik, sie ist Safer Sex
Feuchtigkeit
Feucht ergibt erregt – die weitreichendste Fehlannahme über vaginale Feuchtigkeit
Nicht feucht ergibt versagt – Erregung als Bringschuld
Mach mich nass, am besten auf Knopfdruck
Körperflüssigkeiten willkommen, aber nur die geilen
Jede Feuchtigkeit hat ihre Zeit
Fick-Skripte
Was wäre, wenn PiV beim hetero Sex so gar keine Rolle spielt?
Sex ohne Penis – oder auch: Woher meine bi panic kommt
Das hetero Fick-Skript
Von der Angst, beim Sex nicht »die Frau« zu sein
Sex abseits vom hetero Skript – die Kunst der Verneinung
Penetration – immer öfter mal stecken lassen
Vergnügen
Baby, don’t hurt me no more
Die Augen größer als der Bauch
Masturbation – wie läuft’s im Solo?
Orgasmus, wieso hast du mich verlassen?
Wer besteht auf ihr Vergnügen?
Mein Happy End
Komm für mich!
Fake it till you make it out of there
Zwei Lügen und eine Wahrheit
Verbindlichkeit
Unverbindlicher Sex
»Etwas Lockeres« nur mit »leichten Mädchen«
Sie will nur ihn und er will nur Sex?
Das V in »Vögeln« steht für »Verantwortung«
Verhütung – eine einseitige Vielfalt
Große Auswahl an Verhütungsmethoden? Schön wär’s
Gleichgestellter Verhütungsfortschritt – a Hot Topic
Wenn alle Stricke und Kondome reißen
Verbündete werden
Verführung
Warum will ich verführt werden? – Die Sünde
Verführung als Fressfeind der Unschuld oder als ihre Schutzpatronin?
Warum will ich verführerisch sein? – Die Schönheit
I’m sorry, I’m a slut
Das verführerische Geschlecht
Verführende oder Verführter, wer hat die Macht? – Die Selbstbestimmung
Steh mir nicht zur Verfügung – erobert oder ermächtigt?
Selbstbestimmt verführt
Fazit
Meine Verantwortung – unsere Verantwortung
Aber mal ehrlich, wieso feministisch ficken?
Mein Dank geht an …
Lese-, Seh- und Hörempfehlungen
Bevor es losgeht, möchte ich darauf hinweisen, dass ich an manchen Stellen in diesem Buch auf Verhaltensweisen und Erlebnisse eingehe, die als sexuelle Übergriffe eingestuft werden können oder sogar als übergriffig wahrgenommen wurden.
Das trifft hauptsächlich auf den Inhalt des zweiten Kapitels »Fantasien« zu, in dem es um fantasierte, aber auch reale sexuelle Handlungen geht, die in der Grauzone zwischen dem Konsensuellen und dem Ungewollten stattfinden.
Zudem beschreibe ich in einem entsprechend betitelten Abschnitt im fünften Kapitel »Vergnügen« eine sexuelle Begegnung, bei der ungewollte körperliche Schmerzen im Vordergrund stehen.
Falls das Lesen dieser oder anderer Textstellen eine Herausforderung für dich darstellen sollte, weißt du sicherlich selbst am besten, welche Form der Unterstützung du brauchst, um gut damit umzugehen.
Am liebsten wäre es mir, ich hätte keines dieser Themen ansprechen müssen. Aber dann hätte es dieses ganze Buch auch nicht gebraucht.
Lass uns gemeinsam daran arbeiten, dass es irgendwann bald tatsächlich überflüssig wird!
Dieses Buch ist im Bett entstanden.
Ich vermute mal, dass das an sich kein Alleinstellungsmerkmal für ein Buchmanuskript ist. Schließlich sind Betten beliebte Plätze, um sich viele Gedanken zu machen. Aber dieses Buch ist nicht nur buchstäblich im Bett entstanden, sondern auch inhaltlich. Denn viele Erlebnisse und Erkenntnisse, die ich in den folgenden sieben Kapiteln beschreibe, entstammen den Erfahrungen, die ich in 15 Jahren sexueller Zusammenkünfte mit anderen Menschen gesammelt habe. Und diese Aufeinandertreffen spielten sich eben zum größten Teil in Betten ab.
Das schreibe ich auf die Gefahr hin, dass ich mich mit meinem »Im Bett hab ich immer noch am meisten Sex«-Geständnis als langweilig oute. Denn die allgemeine Erwartung an Menschen, die öffentlich über Sex sprechen und schreiben, scheint immer noch zu sein, dass sie ein besonders abenteuerliches und experimentierfreudiges Liebesleben führen müssten – zum Beispiel mit viel Sex an ungewöhnlichen Orten, also auf jeden Fall außerhalb des Bettes. Zum Beispiel unter der Dusche oder wo es sonst noch für Menschen wie mich zu ungemütlich ist.
Ich stehe dazu, dass ich lieber bequem liege, wenn ich gerade versuche, eine gute Zeit zu haben. Schließlich spielt Komfort keine unwichtige Rolle, wenn es um lustvolles Vergnügen geht (wer schon einmal zu lange hockend, auf einer billigen Isomatte liegend oder verrenkt auf dem Rücksitz eines Mittelklassewagens gevögelt hat, weiß, wovon ich spreche).
Übrigens habe ich den Verdacht, dass es gar nicht so wenigen Menschen ähnlich geht wie mir. Es würde mich jedenfalls wundern, wenn ich die Einzige wäre, die eine gewisse Langsamkeit, Entspannung und Gemütlichkeit benötigt, um beim Sex auf ihre Kosten zu kommen.
Und es ist genau dieses Gefühl – wahrscheinlich, hoffentlich –, nicht die Einzige zu sein in Sachen verschämter Unsicherheiten oder peinlicher Eingeständnisse über die eigene Sexualität, das mich dazu bewegt hat, dieses Buch zu schreiben. Eben diese unspektakuläre, relative Durchschnittlichkeit meines Sexlebens ist es, die es dir, liebe*r Leser*in, im besten Fall möglich macht, sich in meinen Erzählungen wiederzuerkennen und so etwas aus ihnen mitzunehmen.
Bevor ich dich aber dazu einlade, dir meine Gedanken zu unterschiedlichen Themen rund um unseren Sex und den politischen Kontext durchzulesen, in dem er auch in individuellen Schlafzimmern stattfindet, möchte ich erst noch ein paar Fragen beantworten.
Ich hoffe, dir auf diese Weise das Verständnis meiner Perspektive und meiner daraus folgenden Ansichten erleichtern zu können.
Wenn man mich fragt, lautet die kurze Antwort auf diese Frage: nein.
Meine lange Antwort beginnt am Anfang meiner eigenen sexuellen Geschichte. Also in einer Zeit, in der ich noch nie über Sex gesprochen hatte – in meiner Kindheit nämlich.
Ich habe meine Sexualität schon immer geliebt. Sie bildet eine Konstante in meinem Leben, sie unterhält mich, fordert mich heraus und tröstet mich. Ich besitze frühe Kindheitserinnerungen an meine Masturbation und erste Orgasmen. Daran, wie beides schon Teil meines Vorschulalltags war, lange, lange bevor ich diese Begriffe kannte.
Ich hatte Lust, bevor ich Worte für sie hatte.
Später dann folgten nach und nach die Begriffe für das, was ich da tat und fühlte, und mit ihnen kam auch die Scham. Dass ich mich für meine Freude am Wohlgefühl meines eigenen Körpers ungefähr ab Schuleintritt zu schämen begann, lag allerdings nicht an den Begriffen, sondern daran, dass mit dem neuen Wortschatz auch die Kommunikation mit anderen Menschen über Sex möglich wurde.
Über diese Brücke aus Worten kletterte die Scham der Älteren in mein Bewusstsein. Die Erkenntnis, dass das, was ich da mit so viel Leidenschaft betrieb, unbedingt versteckt gehalten werden musste, weil es alle taten.
Wenn wir uns unbeobachtet fühlten, lebten meine Grundschulfreundinnen und ich unsere Kleine-Mädchen-Lust aus, indem wir nachspielten, was wir im Fernsehen und bei älteren Geschwistern schon ganz genau beobachtet hatten. Niemand traut kleinen verträumten Kindern zu, wie viel sie wirklich mitbekommen. Und auch wenn wir nicht im Ansatz verstanden, was die oder wir da taten, wussten wir: Dieses seltsame Keuchen und Schmatzen der Erwachsenen bewegte die ganze Welt.
Durch diese Beobachtungen hatte ich eine bestimmte Wahrheit sehr schnell tief verinnerlicht. Nämlich, dass Sexualität zwar nur im Geheimen stattfindet, aber dass trotzdem alle wissen, dass sie Dauergast in beinahe jedem Leben ist. Schon wieder hatte ich also die Bedeutung eines Begriffs gelernt, bevor ich den Begriff selbst kannte. Und das war das Tabu.
Scham wegen und Tabus um Sex, legitime und illegitime Lust. Alles Dinge, die unsere heutige Gesellschaft glücklicherweise von sich abgeschält hat wie nasse Kleidung vom Körper. Denn wir sind sexuell befreit worden, ja, wir thematisieren Sexualität in ihrer Fülle und Diversität andauernd und überall. Unzählige Social-Media-Accounts, Rundfunkformate, Bücher und Podcasts widmen sich Themen rund um die Lust aller Geschlechter, debunken immer wieder dieselben ollen Mythen über queere Sexualität oder dieselben patriarchalen Glaubenssätze über hetero Sex. Ihre Urheber*innen kämpfen gegen das an, was Menschen und ihre Beziehungen hartnäckig in altverkrustete Schubladen steckt: mangelhafte Aufklärung über unsere Sexualität.
Man könnte sich zu Recht fragen, ob wir noch so viel über Sex sprechen würden, wenn wir tatsächlich schon alles darüber geteilt und erfahren hätten, wie oft moniert wird. Wäre dann nicht mittlerweile ein Lerneffekt eingetreten, der die ständige Wiederholung der immer gleichen Fragen (»Ist das normal?«, »Muss das so sein?«) und Irrtümer überflüssig machen würde? Und würde sich das neu gewonnene Wissen nicht von Generation zu Generation selbstständig erweitern?
Ich glaube schon, dass wir auf generationeller Ebene immer früher mit unterschiedlichen Glaubenssätzen über Sexualität in Berührung kommen und durch die schiere Masse der heutzutage verfügbaren Medien durchaus nicht nur tradierte Ansichten und Halbwahrheiten erlernen. Stattdessen ist der Zugang zu einer großen Menge fundierter Informationen oder authentischer Erfahrungsberichte über Sex in Deutschland noch nie so easy gewesen wie seit Instagram und Co. Gen Z hatte auf diese Weise schon in ihrer frühen Jugend ganz andere mediale Zugänge zu Informationen über Sex und Intimität, als die meisten Millennials (geschweige denn deren Eltern) sie im selben Alter hatten.
Allerdings ist die reine Verfügbarkeit von Informationen etwas anderes als ihr tatsächliches Verständnis. Und genauso unterscheidet sich das Verständnis von neuen Informationen vom tatsächlichen Verinnerlichen dieser Infos und von ihrer Umwandlung in neue Glaubenssätze über Sex. Und für diese Verinnerlichung benötigt es mehr Zeit, als ein TikTok oder Reel lang sind.
Erschwerend kommt hinzu, dass speziell in den sozialen Medien ein Überangebot an Informationen herrscht, das keinen besonders gut erkennbaren Unterschied zwischen Meinung und Wissenschaftlichkeit zulässt. Was nützt die reine Verfügbarkeit von Informationen, wenn den Newcomern auf dem Gebiet der Sexualität keine Orientierung angeboten wird?
Und so verfangen am Ende doch wieder die Ansichten, die seit Langem in unserer Gesellschaft weitverbreitet sind, weil eben diese traditionellen Ansätze der patriarchal geprägten Mehrheitsgesellschaft eine deutlich erkennbare Orientierung im Informationsdickicht bieten.
Anders lässt sich schwer erklären, wieso auch im Jahr 2024 und in einer Stadt wie Berlin immer noch viele junge Frauen unsicher in der gynäkologischen Sprechstunde danach fragen, wie sie ihre Vulvalippen verkleinern oder beim Sex mit ihrem Freund weniger Schmerzen haben können.
Als ich meiner Gynäkologin davon erzählte, dass ich dieses Buch schreibe, begann sie sofort, mir von ihrer Ratlosigkeit zu berichten. Darüber, wieso auch nach der sogenannten sexuellen Revolution in Deutschland und den aufklärerisch-feministischen Schriften und Meinungsbildern der 90er-Jahre, mit denen sie selbst aufgewachsen war, viele ihrer um die 20-jährigen Patientinnen keinen blassen Schimmer von ihrer eigenen Lust, Anatomie oder Sexualität hätten. Laut meiner Ärztin könnten die nämlich keine der Rückfragen beantworten, die sie ihnen stelle, um herauszufinden, ob die berichteten Schmerzen beim Vaginalsex von mangelnder Erregung (also Anspannung und vaginaler Trockenheit) oder doch einem Krankheitsbild herrührten. Aus dem einfachen Grund, dass sie gar nicht wüssten, was sie errege. Offenbar hat ihnen niemand glaubhaft vermittelt, dass ihre Lust genauso wichtig ist wie die ihres Partners.
Es wird erkennbar, dass auch ein Überangebot an Quellen und Gesprächen über Sex uns nicht näher an den Zustand einer wirklich sexuell aufgeklärten und dadurch selbstbestimmten Gesellschaft bringt, wenn das Wissen, das verfügbar ist, nicht verfängt. Dann beginnen wir Generation für Generation immer wieder von vorne. Also müssen wir nicht nur immer noch über Sex sprechen, wir müssen auch selbst aktiv unser Sexualverhalten anpassen, um neue Ansichten tatsächlich zu verinnerlichen.
Ich befinde mich mittendrin in diesem Prozess der Verinnerlichung. Genauso wie ich mich mitten zwischen den Generationen befinde. Im Jahr 1993 als weiße Tochter des Mittelstands in Köln geboren und in den frühen 2000ern zur Schule gegangen, oszilliere ich zwischen den Millennials und der Generation Z.
Dr. Sommer war bereits nicht mehr das, was er mal war, als ich die Bravo las, und Instagram war noch nicht verfügbar, als ich aufgeklärt werden wollte. Ich gehörte zu den Jahrgängen von cis Mädchen, die von Twilight vorgelebt bekamen, was Romantik (nicht) ist, die auf den Stufenpartys der katholischen Privatschulen lernten, dass man andere Mädchen nur zur Unterhaltung der Jungs küsst, und die von der ersten Staffel Germany’s Next Topmodel das Körperbild endgültig verhagelt bekamen.
Trotzdem oder gerade deswegen verstehe ich mich heute als Feministin und als sexuell aufgeklärt (wobei ich sagen muss, dass das erleuchtete Ende noch längst nicht in Sicht ist).
Für Zweiteres bin ich durch mehrere Schulen gegangen: die buchstäbliche Schulaufklärung in mehreren Altersklassen (in allen Fällen verbesserungswürdig) genauso wie awkwarde Elterngespräche und eher unfreiwillige Kollisionen mit dem Halbwissen anderer Halbwüchsiger meines Alters.
And then social media hit.
Das bedeutete unbegrenzte Möglichkeiten zur Fortbildung über Sexthemen und endlich auch über Feminismus – soweit das Auge, Verzeihung, der Algorithmus reichte. Und mit dieser, ja, politisch-sexuellen Bildung entstand bei mir langsam, aber sicher eine Grundlage, um mein eigenes Sexleben neu beurteilen zu können.
Je breiter diese Basis wurde, desto mehr dämmerte mir die Erkenntnis, dass ich meinen eigenen Sex größtenteils unter Anwendung derselben heteronormativen Glaubenssätze praktizierte, die ich in der politischen Theorie schon längst von mir wies. Also nahm ich mir mit Anfang 20 vor, es (mir) ab sofort anders zu machen, besser. Keine vorgetäuschten Orgasmen mehr, nie mehr Konsens auf Vermutungsbasis, keine Beschränkung mehr von Sex allein auf das gute alte Penis-in-Vagina-Spiel und – ganz besonders – keine Beschränkung mehr auf rein heterosexuelle Beziehungen. Ich wollte Sex als ein Mehr verstehen und erleben, abseits von den alten Prämissen der Heterosexualität, der Monogamie und der binären Geschlechterklischees.
Ich wollte nur noch feministisch ficken.
Mit über 30 ziehe ich in diesem Buch eine erste Bilanz dazu. Ist mein Sex feministisch(er) geworden? Oder bewege ich mich immer noch in den Grauzonen zwischen meiner Wunschvorstellung von selbstbestimmtem Sex und der fremdbestimmten Wirklichkeit? Zwischen dem reinen Wissen, wie ich’s inklusiv und unpatriarchal treiben könnte, und der tatsächlichen Umsetzung eines Sexlebens, in dem ich es nicht vermeiden kann, auf andere Menschen zu treffen, die immer auch ihre eigenen Vorstellungen von Sex und möglicherweise andere politische Ansichten mitbringen.
Meine Ansicht ist diesbezüglich, dass guter Sex selbstbestimmter Sex ist. Und den erreicht man am besten, indem man allen Beteiligten ermöglicht, sich auf Augenhöhe zu begegnen. Eine politische Bewegung, die für diese Augenhöhe in Form von Gleichstellung aller Menschen kämpft, ist der intersektionale Feminismus.
Ich war nicht immer Feministin. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich im Alter von 21 Jahren als Linguistik-Drittsemester-Studentin der festen Überzeugung war, Sprache habe nichts mit Politik zu tun. Ich glaubte, der Unterschied zwischen Genus und Sexus würde die Diskussion um gendergerechtes Deutsch als unsinnig entlarven, und generell fühlte ich mich nicht für mein Geschlecht diskriminiert.
Allerdings sollte ich in den darauffolgenden Jahren verstehen, dass es weniger privilegierten Menschen dahingehend ganz anders geht. Und dass ich die sexistische und queerfeindliche Unterdrückung, die ich doch auch selbst erfahre, schlicht für einen unveränderlichen Normalzustand gehalten hatte. Aber vor allem sollte ich verstehen, dass es beim Feminismus um die Freiheit aller Unterdrückten geht, nicht »nur« um die Gleichstellung einer weißen nicht-behinderten cis Frau wie mir.
Dabei bin ich mit dem Eindruck aufgewachsen, dass dieser Feminismus etwas ziemlich Nerviges und Überflüssiges sei. Als ich ein junges Mädchen war, taten die Menschen im Fernsehen das Thema immer nur als eine unnötige, da längst irrelevante Anspruchshaltung irgendwelcher unzufriedenen Emanzen ab, und die Menschen in meinem Umfeld gebrauchten nicht einmal dieses Wort – Feminismus.
Ich wusste also nicht viel über diese geschichtsträchtige politische Bewegung, ich wusste nur, dass ich keine sogenannte Emanze werden wollte. Schließlich schienen die sehr unbeliebt und auch irgendwie mindestens ein bisschen hässlich zu sein. Beide Eigenschaften galten in meinen Augen lange als sozial komplett unverträglich und deswegen als dringend zu vermeiden. Schließlich wollte ich gesehen werden – und das ging nach meinem eigenen Verständnis nur als normschöne Frau, die sich mit keinem anlegt, damit sie jedem gefällt.
Dass es aber gerade die feministische Bewegung sein sollte, die genau das für mich ermöglichen wollte – als die Person sichtbar sein zu dürfen, die ich tatsächlich bin, ungefährdet vom Urteil anderer –, wurde mir nur sehr langsam klar, lange nachdem meine Zwanziger bereits angebrochen waren.
Mein Verständnis der feministischen Maximen, die ich in den letzten Jahren kennengelernt habe, möchte ich an dieser Stelle einmal teilen. Denn diese Prinzipien bilden die Grundlage, auf der ich mein individuelles Sexleben, aber auch unser Handeln als politische Akteur*innen in einer von bestimmten Sexualnormen geprägten Gesellschaft ausmisten will.
Feministisch zu handeln, bedeutet in meinen Augen, Verantwortung für mich selbst und andere zu übernehmen. Um verbindliche Gemeinschaften zu bilden, die sich durch einen starken Zusammenhalt auszeichnen, den es braucht, um gegen einen ungerechten Status Quo anzugehen und den bereits erreichten Fortschritt zu erhalten.
Ich fühle eine feministische Einstellung in der Akzeptanz von mir selbst und anderen. Durch die Toleranz, die füreinander entsteht, wenn wir unterschiedliche Lebensrealitäten anerkennen und ihnen Raum zum Atmen geben, ungeachtet der Tatsache, ob wir sie verstehen können oder an ihnen teilhaben wollen oder nicht.
Feministisches Denken bedeutet meiner Ansicht nach, ein Bewusstsein für die unterschiedlichen Bedürfnisse verschiedener Menschen zu entwickeln, die aus eben jenen verschiedenen Lebensrealitäten erwachsen. Außerdem darauf aufbauend den Antrieb zu finden, gerade wegen unserer Unterschiedlichkeiten für alle die gleichen Chancen auf Lebenszufriedenheit zu ermöglichen sowie gesellschaftliche Teilhabe für alle herzustellen (besonders über freien Zugang zu Ressourcen wie Bildung, gesundheitliche Versorgung und Zeit).
Und nicht zu vergessen, betrachte ich die Unabhängigkeit von Wert und Würde eines Menschen von seinem*ihrem »Humankapital« als basal feministisches Verständnis von Zwischenmenschlichkeit. Soll heißen, die Frage, inwieweit unsere Gesellschaft oder ich selbst von der Macht, Arbeitskraft oder Attraktivität einer Person profitieren kann, sollte nicht beeinflussen, wie viel Respekt oder Empathie ich ihr entgegenbringe.
Diese vier Aspekte im Besonderen machen für mich das feministische Verständnis aus, das den Überlegungen in diesem Buch zugrunde liegt. Denn sie tragen Sorge dafür, dass der einzelnen Person ein selbstbestimmtes Leben zugestanden wird, ohne dass sie sich vereinzeln muss.
Die Chance, sowohl im eigenen Leben als auch erst recht im eigenen Sexualleben der Mensch sein zu dürfen, der man wirklich ist und sein will, ist das Ziel dieser sagenumwobenen »sexuellen Befreiung« gewesen. Die ja, wie gesagt, schon stattgefunden haben soll in unserer deutschen Gesellschaft. Aber wenn das so wäre, wie sähe dann ganz praktisch unsere kollektive normenbasierte und unsere individuelle Sexualität aus? Wirklich so wie jetzt oder vielleicht doch deutlich weniger dogmatisch und schambehaftet?
Wenn mir theoretisch erlaubt ist, ganz frei nach den oben genannten Prinzipien zu vögeln, warum scheitere ich dann praktisch immer wieder daran?
Ich beobachte an mir selbst und an anderen immer noch eine Trennung zwischen der theoretischen Überzeugung und dem praktischen Verhalten in Sachen gleichgestellter Sexualität. Aber wo genau entsteht dieser Zwischenzustand immer wieder? Und wer oder was muss sich noch bewegen, damit wir unsere Sexualität tatsächlich selbstbestimmt leben können?
Lass es uns gemeinsam herausfinden, let’s go!
Wann hast du das letzte Mal geflirtet? Denk mal kurz drüber nach, ich mach mit.
Und wenn du dich daran erinnern kannst, überleg mal, wie es genau war. Fand es digital oder analog statt? War es ein offensichtlicher Flirt mit neckischen Kommentaren und flüchtigen Berührungen? Oder ein verstecktes Tischtennisturnier der vielsagenden Blicke?
Hast du den Eindruck, dass es nur von dir ausging, oder hat dein Gegenüber mitgemacht? War es peinlich oder hattest du Spaß? Wart ihr euch fremd oder standest du zu diesem Menschen schon in einer Beziehung?
Flirts – auch die irgendwie peinlich berührenden – machen mir großen Spaß. Ich flirte gerne, besonders gerne mit Wort und Witz, und es gibt mir einen größeren Kick, je unsicherer ich mir bin, ob mein Gegenüber meinen Flirt erwidern wird. Umso süßer die Belohnung, wenn er*sie positiv auf meinen Annäherungsversuch reagiert oder sogar mit einsteigt.
Flirten ist eine kommunikative Methode des Kennenlernens. Ich halte quasi einen Zeh ins Wasser, um die Temperatur zu fühlen, wenn ich eine provokante Bemerkung mache. Ich möchte sehen, wie die Person, die mein Interesse geweckt hat, auf meine Worte reagiert. Entsprechend seltener wird meine Flirterei, je länger ich mit einem Menschen schon in intimer Beziehung stehe. Denn irgendwann erreiche ich den Punkt, an dem ich meine, diesen Menschen zu kennen. Und je besser ich meinen*e Partner*in kennen- und einschätzen lerne, desto leichter geht mir mit dem Flirt auch das spielerische Ertasten der Grenzen mithilfe dieser Art der Kommunikation verloren. Vielleicht, weil ich denke, dass ich ihn*sie nicht weiter kennenlernen muss?
Eigentlich schade und sicher kein seltenes Phänomen. Denn wenn die meisten Paare auch noch Jahre nach dem ersten Date viel miteinander flirten oder wenigstens anderweitig kommunizieren würden, gäbe es wahrscheinlich im Englischen nicht den Begriff talking stage für die initiale Phase einer Romanze oder Beziehung.
Meiner Erfahrung nach verändert sich die Art und Weise der Kommunikation zwischen zwei Personen, die ein intimes Verhältnis miteinander eingehen, fast immer über die Dauer ihrer Beziehung. Und nicht selten nimmt nicht nur der Flirt, sondern eben auch die Häufigkeit der Gespräche an sich ab, wenn man nicht aktiv dagegenhält.
Dabei tue zumindest ich das gar nicht aus böser Absicht. Aber wenn ich mich in einer Beziehung sicher fühle, dann fasse ich Vertrauen. Ich vertraue darauf, dass meine Bedürfnisse verstanden und beachtet werden und dass ich die Bedürfnisse meiner Partnerperson ganz genauso antizipieren kann. Und das größtenteils unbesprochen. Ja, wenn ich das so deutlich in Worte fasse, liest sich das auch für mich ziemlich optimistisch. Es ist einfach so: Maulfaulheit siegt, besonders in einem gemeinsamen Alltag. Weswegen also auch ich in der Vergangenheit in Langzeitbeziehungen und länger dauernden Verhältnissen nicht nur den Flirt schleifen ließ. Sondern auch eine andere Form der Kommunikation, die für mein Selbstverständnis als Feministin eigentlich sehr wichtig ist: das explizite Absprechen von Einvernehmlichkeit beim Paarsex, auch bekannt als »Konsens-Einholen«.
Dabei ist die geteilte Sexualität ein Aspekt von Partnerschaft, bei dem ich besonders darauf gedrillt wurde, die Wichtigkeit von nicht abreißender Kommunikation dringend im Auge zu behalten. Feminist*innen oder nicht – ausnahmslos alle (guten) Beziehungs- oder Sexratgeber, die ich in meinem Leben gelesen oder gehört habe, wiederholen ein Mantra in der einen oder anderen ähnlichen Form wie die Papageien (und das mit Recht): Communication is key! Jegliche Anbieter*innen von Tipps und Tricks für ein gelingendes Liebesleben erinnern uns ständig daran, wie wichtig es sei zu wissen, was wir beim Sex voneinander wollten, und dass wir auch in der Lage sein sollten, das klar und deutlich zu kommunizieren.
Aber als noch viel wichtiger wird es betrachtet, darüber Bescheid zu wissen, was wir auf keinen Fall wollen. Damit wir Grenzen setzen können, wenn wir gefragt werden, was mit uns im Bett (und auch anderswo) passieren darf oder nicht. Am besten sollten wir diese Frage sogar dann wie aus der Pistole geschossen beantworten können, wenn wir nachts um drei Uhr (höchstwahrscheinlich nicht konsensuell) geweckt werden.
Und ich schließe mich selbst nicht von der Schar der Gutmeinenden aus, die lange Zeit dachte, nach Konsens zu fragen und vor dem Sex über Lieblingsstellungen zu sprechen, würde all unsere Probleme lösen und Übergriffigkeit beim Sex quasi unmöglich machen. Dass das wohl doch nicht reicht, ist nicht nur mir, sondern auch vielen anderen Menschen spätestens in solchen Situationen klar geworden, in denen es trotz allem doch zur Grenzverletzung kam. Darum und um die Problematik, dass über ein zu simples Konsensprinzip die Verantwortung zur Verhinderung von grenzüberschreitendem Verhalten allein auf den Schultern der potenziell Geschädigten ruht, dreht sich die feministische Metadiskussion zum Thema »Konsensfindung beim Paarsex«. Aber dazu mehr zu einem späteren Zeitpunkt in diesem Kapitel.
Zuerst möchte ich nämlich eine wichtige Sache klarstellen: Konsens abzuklären, ist und bleibt essenziell im zwischenmenschlichen Umgang. Im geteilten Einverständnis mit meinem Gegenüber zu handeln, ist das Einzige, was sexuelle Handlungen zu Sex macht. Entgegen dem geteilten Einverständnis zu handeln, definiert einen Übergriff, verhindert eine selbstbestimmte sexuelle Erfahrung und stellt für mich damit unfeministisches (wenn nicht sogar illegales) Verhalten dar.
Sich des Konsenses aller Beteiligten zu versichern, ist also unerlässlich, wenn wir Sex miteinander haben wollen. Die meisten Menschen wissen das und wollen es auch intuitiv richtig machen. Schließlich geht es uns beim Sex meistens darum, Verbindungen mit Menschen einzugehen, die wir gut finden.
Der Wille ist also häufig da, aber wie steht’s um den Weg? Fühlt der sich so sicher an wie neuer Straßenbelag unter den Fahrradreifen oder doch eher so holprig wie der schlaglöcherige Feldweg?
Auch wenn ich es ungern zugebe, bin ich eher Team Feldweg. Für mich lief das mit der ergebnisoffenen Kommunikation vor, bei und nach dem Sex bei Weitem nicht immer glatt. Ich wage mal zu behaupten, dass ich mich fast genauso oft, wie ich in meinem Leben mit jemandem Sex hatte, durch die Sache mit dem Nach-Erlaubnis-Fragen und dem deutlichen Kommunizieren mehr so durchgewurschtelt habe. Höchstens vielleicht durchgenuschelt. Dabei weiß ich doch eigentlich, wie es besser, wie es feministisch gehen könnte, oder?
Um meine Erfahrungswerte mit der Konsensfindung wird es in diesem Kapitel genauso gehen wie um ihren allgemeinen Stellenwert für die sexuelle Selbstbestimmung in unserer Gesellschaft. Gemeinsam mit der offenbar nie endenden Diskussion darüber, dass dieser sperrige Konsens ja nur auf so unromantische Art und Weise einzuholen sei. Denn immer noch haftet der deutlichen Absprache von Einvernehmlichkeit in intimen Momenten der Ruf an, näher mit einem bürokratischen Akt verwandt zu sein als mit heißen Liebesschwüren. Und das stimmt sicherlich, wenn man so gar keine Kreativität aufwenden möchte. Ob das aber nicht auch anders geht oder ob Konsens-Absprachen überhaupt sexy sein müssen, um ihren Zweck zu erfüllen, möchte ich in diesem Kapitel einmal ganz unverbindlich hinterfragen. Und zusätzlich möchte ich darüber sprechen, was Flirten mit einer eben etwas kreativeren Art der Einvernehmlichkeitsabsprache zu tun hat und auf welche Weise diese potenziell peinliche und verletzliche Kommunikation nicht nur Spaß, sondern auch Lust machen kann.
Die Situationen, in denen ich eigentlich mit fester Stimme und ohne jegliche Angst vor einem Nein die Erlaubnis meines Gegenübers hätte einholen müssen, sind in meinem Sexleben bisher sehr unterschiedlich verlaufen. Manchmal war mir klar, ich sollte den Mund aufmachen, aber ich hatte nicht so wirklich Bock darauf (nicht, was du gerade denkst) und habe das mit dem Reden deshalb lieber unbeholfen mit Händen und Füßen versucht. Aber es gab auch Momente, in denen es mir überhaupt nicht einfiel, dass ich mich noch des Einverständnisses meiner Partnerperson versichern sollte, bevor ich buchstäblich auf sie zugriff. Wieso? Na ja, weil: »Das haben wir doch schon immer so gemacht«.
Eines ganz normalen Sonntagmorgens wache ich auf und spüre seinen warmen Körper neben mir liegen. Diesen Körper, dessen Wärme und Nähe ich so gut kenne. Seine Atmung klingt vertraut, und um uns herum riecht es nach dem ruhigen Schlaf unserer jahrelang gemeinsam geübten Geborgenheit.
Ich fühle mich neben diesem Menschen zu Hause. Diese Vertrautheit ist durch viele Lebenssituationen entstanden, in denen ich ihn über die Jahre unserer Beziehung beobachten konnte.
Zum Beispiel weiß ich, wie sich seine Augenbrauen zusammenziehen, wenn ihm ein Gedanke missfällt. Ich weiß auch, wie sich sein Mund bewegt, wenn ihm eine Mahlzeit besonders gut schmeckt. Ich kann außerdem an seiner Art und Weise, sich hinter dem Lenkrad seines Autos aufrecht hinzusetzen, erkennen, dass er jetzt zu einem Snack oder einem Schluck Wasser nicht Nein sagen würde, wenn ich ihm vom Beifahrersitz aus einen anböte. Was ich damit deutlich machen will, ist, dass es Menschen wie ihn gibt, bei denen ich mir eingebildet habe, einschätzen zu können, was sie wann wollen und was nicht.
Wie sich zeigte, liegt die Betonung dabei auf der Einbildung. Wenn es darum geht, wie gut jemandem das Essen schmeckt oder wie doof er*sie meinen letzten Musikvorschlag findet, mag ich im Laufe meines Lebens mit meinen Einschätzungen von Gesichtsausdrücken oft richtig gelegen haben. Aber es gibt eine Situation, in der ich meine Fähigkeiten zum Gedankenlesen wirklich immer wieder heftig überschätze. Und zwar, wenn es darum geht, einzuschätzen, ob mein Gegenüber jetzt gerade auch Bock auf Sex hat.
An diesem gemütlichen Sonntagmorgen drehe ich mich jedenfalls nicht noch mal in unserer Geborgenheit um, um für weitere fünf Minuten die Augen zuzumachen. Nein, ich fasse den Entschluss, mich näher an diesen vertrauten Menschen heranzukuscheln. Er wird durch meine Bewegungen kurz wach und nimmt mich in den Arm, was in mir in diesem Moment ein ganz anderes Gefühl als Gemütlichkeit weckt.
Ich will jetzt Sex mit ihm. Ganz plötzlich taucht die Lust an der Oberfläche meines Bewusstseins auf, und ich bin hellwach.
Obwohl wir schon einige Jahre ein Paar sind, haben wir immer noch ein aktives Sexleben. Mir ist das viel wert, weil ich weiß, dass das in Langzeitbeziehungen nicht selbstverständlich ist. In die Qualität unseres Sexlebens spielt hinein, dass wir uns gut kennen und voneinander wissen, welche Griffe und Positionen es füreinander bringen und welche weniger. Sexy Routinen zu haben, hat eben zwei Seiten: Effizienz auf der einen und Vorhersehbarkeit auf der anderen.
Aber ist Lust etwas, das wirklich vorhersehbar ist?
Kennen wir nicht alle den Moment, wenn uns etwas präsentiert wird, das uns oft angemacht hat, aber wir dieses Mal feststellen, dass es nicht die erwartete Wirkung zeigt? Und ahnt der Mensch, der da vielleicht gerade versucht, uns in Stimmung zu bringen, dass es heute nicht klappen wird, oder wird es ihn*sie überraschen? Ich schätze, die Überraschung ist die wahrscheinlichere Reaktion, weil wir mit der neuen Unlust vom vorhersehbaren, da bekannten Muster abweichen. Das Einzige, was in dieser Situation noch verhindern könnte, dass die Beteiligten sich in ein großes Missverständnis verstricken und gegenseitige Grenzen verletzen, ist gelingende Kommunikation. Dann wollen wir doch mal sehen …
Mit geweckter Lust lasse ich meine Finger langsam über seinen Körper wandern, während mein Mund leise Küsse auf seiner Haut verteilt. Sein Dösen scheint das nicht zu stören. Ich höre zwar kein abweisendes Grummeln, habe aber auch nicht den Eindruck, dass er gleich selbst aktiv wird. Ich entscheide mich, erst mal weiterzumachen.
Eigentlich befinden wir uns in unserem Element. Lazy Sunday morning sex gehört seit Jahren zu unseren Spezialitäten, weil wir als Paar noch nie gerne früh aufgestanden sind, um zum Sonntagsbrunch mit Freund*innen zu joggen. Stattdessen kosten wir lieber die Gemütlichkeit in vollen Zügen aus, die so ein gemeinsamer Schlafplatz bieten kann. Inklusive aller Vorzüge der leichten Nachtbekleidung.
Während sich das Bedürfnis, mit meinem Partner zu schlafen, in mir immer breiter macht, lasse ich eine meiner Hände auf das Ziel los, das ihre Wanderung über seinen Körper angesteuert hat. Ungefragt und ohne länger zu zögern, greife ich in seine Unterhose. Jetzt reagiert er plötzlich, schlägt die Augen auf und schiebt mich ein Stück von sich weg. Alles in einer fließenden Bewegung, die gleichzeitig Ärger und Zurückweisung ausstrahlt. Mir wird erst in diesem Moment, also reichlich spät und ziemlich unvermittelt, bewusst, dass er das, was ich da anzustoßen versuche, offenbar überhaupt nicht will. Wie unangenehm! Also für mich vor allen Dingen. Ich fühle mich von der Ruppigkeit, mit der er sich seinen personal space von mir zurückerobert, vor den Kopf gestoßen und, ja, auch irgendwie bloßgestellt. Das alles ist mir plötzlich extrem peinlich.
Die Scham, die ich empfinde, verhindert erfolgreich, dass ich das Gespräch nun doch noch eröffne. Obwohl ich eigentlich gerne wissen will, was ich falsch gemacht habe. Bin ich mir vielleicht meines morgendlichen Mundgeruchs nicht bewusst? Oder bin ich aus Versehen zu grob vorgegangen, als ich nach seinem Schwanz griff?
»Ich will gerade einfach nicht«, ist seine Erklärung, nach der ich mich nicht zu fragen getraut habe. Wahrscheinlich hervorgelockt durch meinen irritierten Gesichtsausdruck.
»Oh, okay«, schaffe ich gerade noch zu sagen und »Sorry«.
Ich kehre an meinen ursprünglichen Platz in seinem Arm zurück. Enttäuscht versuche ich, es mir wieder gemütlich zu machen, aber es gelingt mir nicht mehr.
Klar, ich bin enttäuscht, dass meine Avancen so abrupt von ihm abgewürgt wurden, aber vor allem bin ich enttäuscht von mir selbst. Wieso habe ich einfach zugegriffen, anstatt meinen Freund zu fragen, ob er überhaupt Lust auf Sex hat? Nach wie vielen Malen Sex ist es für mich so selbstverständlich geworden, dass dieser Körper mir zur sexuellen Verfügung steht? Wie hätte es sich für mich angefühlt, wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre?
Tatsächlich war es mir bis zu diesem Tag nicht selten passiert, dass ein Mann, mit dem ich mich im Bett oder grob in der Richtung dorthin befand, ohne zu fragen, Dinge mit mir tat, die mir manchmal gefielen und die ich ein anderes Mal eher nur so mittel fand. Aber das waren alles Menschen gewesen, die mich nicht gut kannten. Könnte jemand, der mich und meine Präferenzen so gut einschätzen kann wie ein*e Partner*in, bei mir überhaupt so verkehrt liegen? Offenbar war das nicht unmöglich, denn ich hatte trotz meiner guten Kenntnis dieses Menschen neben mir gerade sehr daneben gelegen mit der Einschätzung seiner Bereitschaft für Sex.
Als ich an diesem plötzlich nicht mehr so gemütlichen Sonntagmorgen immer noch im Bett lag, nachdem mein Partner schon längst aufgestanden war, zerbrach ich mir den Kopf darüber, ob ich das Thema mit dem Konsens-Erfragen beim Sex überhaupt wirklich verstanden hatte.
Ich denke, in diesem Moment wurde mir die Existenz zwischen zwei unterschiedlichen, aber gleich wichtigen Aspekten von Einvernehmlichkeit erst wirklich bewusst:
Erstens, man sollte den Konsens des Gegenübers deutlich abfragen, wenn man sich gegenseitig noch nicht gut einschätzen kann. Aber genauso wichtig ist, zweitens, die Tatsache, dass das Einverständnis eines Menschen zu einer Sache nicht lediglich einmal erteilt wird und dann für immer gültig ist. Sondern dass man sich dieses Einverständnis immer wieder einholen muss, egal, wie gut man sich kennt.
Konsens kommt nicht im Abo. Es kann tatsächlich sein, dass ich 263-mal den Penis meines Partners ungefragt anfassen kann und er damit einverstanden ist, aber beim 264. Mal eben nicht.
Unterschwellig war mir dieser Aspekt vorher schon irgendwie bekannt gewesen. So als Konzept. Aber ich hatte offenbar nicht verinnerlicht, was das für mich persönlich, für meine eigene Bedürfnisbefriedigung und für meine Beziehung zu konkreten Partner*innen bedeutet.
Als ich mit einem Freund darüber sprach, dass Konsens zwar im Vorhinein theoretisch abgesprochen, aber danach zu jeglichem Zeitpunkt auch widerrufen werden könne, fragte er mich, wie er sich dann überhaupt davor schützen könne, die Grenzen bei seinen Sexpartner*innen zu übertreten.
Die Antwort ist, dass man das nicht kann. Eine routinierte Konsenspraxis bedeutet kein risikofreies Miteinander, weil eine zwischenmenschliche Annäherung an sich immer ein Risiko für Verletzungen birgt. Sich vorher den Konsens für bestimmte Praktiken einzuholen, ist kein präventiver Ablasshandel, durch den man für jegliches Fehlverhalten immunisiert wird. Und ein Ja legitimiert nicht uneingeschränkt jegliche Ausführung der angefragten Handlung.
Mich beschlich das seltsame Gefühl, dass das Achten der Grenzen anderer theoretisch total Sinn ergab, aber dass ich die längste Zeit nicht wirklich verstanden hatte, dass das auch mich selbst betraf. In Bezug auf die anderen. Ich konnte sogar die Grenzen eines Menschen ansatzlos überrennen, mit dem ich seit Jahren schon Sex hatte. Auch meine »guten Absichten« in der beschriebenen Situation mit meinem Partner ändern nichts daran, dass ich übergriffig gehandelt habe. Die Einsicht war mir beinahe peinlich, so naiv fühlte sie sich an.
Deswegen meldete sich direkt der Trotz in mir. Sollte ich jetzt etwa jedes einzelne Mal fragen: »Darf ich dich berühren? Dir einen Kuss zum Abschied geben? Eine unangekündigte heiße Nachricht auf deinem Telefon hinterlassen?« Das fühlte sich so unheimlich umständlich an. Wo blieb da das Vertrauen? Oder der Flirt? Ist es vielleicht sogar der Flirt, der mir hierbei weiterhelfen könnte?
Ich habe nicht mitgezählt, wie häufig es mir schon passiert ist, dass andere Menschen beim Sex meine Grenzen überschritten haben. Übertretungen dieser Art waren auch extrem vielfältig. Aber ein paar Klassiker der ebenso ungefragten wie unwillkommenen Aktionen gibt es schon: zum Beispiel der erste Kuss, der sich wirklich nicht angekündigt hat (Herrschaftszeiten, read the room!). Oder der spontane Schlag auf meinen nackten Hintern beim ersten Mal Sex im Doggystyle. Und nicht zu vergessen, der nonchalant nach meinem Anus tastende Daumen, der mal unverbindlich in Erfahrung bringen will, was ich so von gleitgelfreier analer Penetration halte (hätte ja sein können, dass mein lauter Aufschrei aus Freude war …).
All diese Aktionen könnte ich im Nachhinein als übergriffig einsortieren, weil sie gegen meinen Willen passiert sind. Und weil es den Männern, die sich mir gegenüber so verhielten, nicht in den Sinn kam, mein Einverständnis vorher abzufragen. Aber größtenteils habe ich Erlebnisse dieser Art nicht als Übergriffe verbucht. Einerseits waren diese Erfahrungen für mich zu normalisiert, um bemerkenswert zu sein (ja, wow), und andererseits haben sie mich nicht (nachhaltig) negativ beeinflusst.
Ich habe in meiner sexuellen Geschichte viele erlebte Grenzverletzungen also einfach sehr schnell beiseitegeschoben. Und mir ist heute bewusst, dass auch andere Personen mir jede Menge dieser Fehlgriffe an ihnen durchgehen ließen, ohne dass es eine Erwähnung fand.
Wofür ich an dieser Stelle Sensibilität schaffen möchte, sind gewisse Graustufen von sexueller Übergriffigkeit. Beim Paarsex passieren Grenzverletzungen häufig und sehr schnell, weil mindestens zwei Menschen versuchen, live and uncut ihr komplexes Wesen und ihre fluiden Bedürfnisse miteinander zu vereinbaren.
Aber nicht alle diese Grenzverletzungen wiegen gleich schwer. Schwierig wird es dann, wenn Grenzverletzungen – absichtlich oder unabsichtlich herbeigeführt – die betroffene Person stärker beeinträchtigen als für einen kurzen Moment des Ärgers über so viel Unsensibilität. Wo genau aber eine Grenze verletzt wird und wie schwerwiegend das letztlich ist, entscheidet jede*r für sich selbst. Niemand soll sich sagen lassen – weder von einer Institution noch von einer ferner oder näher stehenden Person und erst recht nicht von diesem Buch –, ein Erlebnis, das er*sie als Grenzverletzung wahrgenommen hat, sei »nicht schlimm genug« gewesen, um ein Übergriff zu sein.
Gleichzeitig möchte ich die Art der Übergriffigkeit im sexuellen Kontext, mit der ich in der Vergangenheit häufig in Berührung kam und die ich in diesem Kapitel bespreche, gerne in dem Bereich ansiedeln, der keine für mich schwerwiegenden Grenzverletzungen enthält. Es geht mir hier um die Momente der fehlgeschlagenen Kommunikation, wenn Sex oder ein geteiltes Interesse daran bereits im Raum stehen oder schon oft dort gestanden haben. Ganz so wie es bei Sexualität in einer Langzeitbeziehung eben der Fall ist oder im Moment kurz nach einer wilden Knutscherei bei einem heißen Date. Es geht mir um die Momente, in denen ich mich zu oft aus Bequemlichkeit und aus dem Wunsch heraus, nicht schräg und verkopft zu wirken, dafür entschieden habe, nichts gegen eine plumpe Annäherung zu sagen. Oder um die Situationen, in denen ich selbst einfach gehandelt und drauflosgefummelt habe, anstatt mir zuerst die Bestätigung zu holen, dass meine Fummelei willkommen ist.
Eigentlich bin ich der Ansicht, dass dieses verschämte Verhalten anstelle von offenherziger Kommunikation nicht feministisch ist. Denn mein feministischer Anspruch ist es doch, dass ich allein aus Respekt vor der sexuellen Selbstbestimmtheit meines Gegenübers (wenn nicht sogar schlicht aus Unwissenheit über dessen Präferenzen) bei ihm*ihr abfrage, was für ihn*sie in Ordnung geht und was nicht.
Aber wieso fiel es mir dann bis heute immer wieder so schwer, über meinen Schatten zu springen und das offene Gespräch zu suchen? Und was würde passieren, wenn der allseits gefürchtete worst case