Glück - Matthieu Ricard - E-Book
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Glück E-Book

Matthieu Ricard

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Beschreibung

Der bekannte buddhistische Weisheitslehrer verbindet auf einzigartige Weise neueste wissenschaftliche Erkenntnisse mit der spirituellen Praxis des Buddhismus. Glück ist kein Zufall, sondern jeder kann es lernen. Matthieu Ricard gibt revolutionäre neue Einblicke in das, was wir als Glück im Leben bezeichnen, und zeigt, wie wir den Geist so verändern können, dass wir tiefes Glück empfinden. Glück entsteht, wissenschaftlich messbar, aus einem inneren Gleichgewicht von Körper und Geist. Es ist das Resultat einer inneren Reifung, die ganz allein von uns abhängt und die wir Tag für Tag verfolgen können. Konkrete Übungen und Meditationsanleitungen am Ende jedes Kapitels weisen einen klaren Weg zu einem glücklicheren Leben. Das Vorwort schrieb Daniel Goleman, Autor der Bestseller "Emotionale Intelligenz" und "Die heilende Kraft der Gefühle".

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 428

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Matthieu Ricard

Glück

Mit einem Vorwort von Daniel Goleman

Aus dem Englischen von Christine Bendner

nymphenburger

Für Jigme Khyentse Rinpoche

Besuchen Sie uns im Internet unterwww.nymphenburger-verlag.de

© für die Originalausgabe und das eBook:

2012 nymphenburger in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten.

Schutzumschlag: Atelier Sanna, München

Schutzumschlagfoto: Matthieu Ricard © Marion Stalens

Lektorat: Michael Wallossek, Rösrath bei Köln

Satz und eBook-Produktion: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-485-06050-9

Das Glück fällt uns nicht einfach so in den Schoß. Es ist kein Geschenk, das Fortuna über uns ausschüttet und das uns durch eine Wendung des Schicksals wieder genommen wird. Vielmehr hängt es ganz allein von uns ab. Glücklich wird man nicht über Nacht, sondern indem man Tag für Tag geduldig danach strebt. Wir sind unseres eigenen Glückes Schmied. Das erfordert Bemühung und kostet Zeit. Um glücklich zu werden, müssen wir lernen, uns zu ändern.

Luca und Francesco Cavalli-Sforza› Hinweis

Inhalt

Vorwort

Einführung

1 Eine kurze Betrachtung über das Glück

2 Geht es im Leben darum, glücklich zu sein?

3 Die beiden Seiten des Spiegels – der Blick nach innen und der Blick nach außen

4 Falsche Freunde

5 Ist dauerhaftes Glück möglich?

6 Die Alchimie des Leids

7 Die Schleier des Ego

8 Wenn die eigenen Gedanken zu unserem schlimmsten Feind werden

9 Der Strom der Emotionen

10 Verstörende Emotionen und die entsprechenden Gegenmittel

11 Verlangen

12 Hass

13 Neid

14 Der große Sprung in die Freiheit

15 Eine Soziologie des Glücks

16 Glück im Forschungslabor

17 Glück und Altruismus: Sind wir gütig, weil wir glücklich sind, oder sind wir glücklich, weil wir gütig sind?

18 Glück und Demut

19 Optimismus, Pessimismus und Naivität

20 Goldene Zeit, bleierne Zeit, vergeudete Zeit

21 Eins mit dem Fluss der Zeit

22 Ethik als Wissenschaft vom Glück

23 Glücklich sein angesichts des Todes

24 Ein Weg

Noch ein paar Worte zum Schluss

Anmerkungen

Vorwort

Als ich Matthieu Ricard in einem Hinterzimmer des Klosters Shechen in Nepals Hauptstadt Kathmandu zum ersten Mal begegnete, beugte er sich gerade über den Monitor eines Computers. Aufmerksam beobachtete er die Arbeit einer Gruppe von Mönchen, die von langen, nach traditioneller Art mittels Holzmodeln bedruckten Textseiten eifrig jedes Wort in ein speziell für die tibetische Schrift ausgelegtes Computerprogramm eingaben.

Die riesigen Stapel vergilbten handgeschöpften Papiers zwischen handgeschnitzten Buchdeckeln wurden in ein elektronisches Speichermedium von der Größe einer Handfläche kopiert. Das digitale Zeitalter hatte auch ins Kloster Einzug gehalten. Jetzt können alle Menschen, die Zugang zu einem Computer haben, auf jene Texte zugreifen, die jahrhundertelang in den Einsiedeleien und Klöstern der abgelegenen Hochtäler Tibets wie ein Schatz gehütet wurden. So trug Matthieu dazu bei, die Weisheit früherer Zeiten für die moderne Welt zu bewahren.

Matthieu scheint die Idealbesetzung für diese Aufgabe zu sein. Seine Ausbildung gehört zum Besten, was die moderne Welt zu bieten hat. Der Titel »Doktor der Biologie« wurde ihm am renommierten Institut Pasteur verliehen, wo ein Nobelpreisträger sein wichtigster Mentor war. Dennoch verbrachte er mehr als ein Vierteljahrhundert als buddhistischer Mönch im Himalaya und lebte dort bei vollkommen verwirklichten tibetischen Meistern.

In jüngerer Zeit habe ich mit Matthieu im Kontext des »Mind and Life«-Instituts zusammengearbeitet, das den Dialog zwischen Naturwissenschaftlern und buddhistischen Gelehrten fördert. Dieser kontinuierliche Austausch hat zu erstaunlichen Ergebnissen geführt, die uns zeigen, wie Meditation die Restrukturierung des Gehirns in der Weise steuern kann, dass sie die für Mitgefühl und ähnlich positive Emotionen zuständigen Gehirnareale stärkt.

Auf diesem Gebiet ist Matthieu ein Experte, der seinesgleichen sucht. Ich hatte Gelegenheit, ihm bei der Arbeit mit Professor Richard J. Davidson, dem Leiter des Instituts für neurowissenschaftliche Untersuchungen emotionaler Zustände (Laboratory for Affective Neuroscience) an der University of Wisconsin in Madison zuzusehen. Damals arbeiteten die beiden gerade an einer Reihe von Testverfahren zur Untersuchung von Menschen mit fortgeschrittener Meditationserfahrung. Matthieu war nicht nur ein überaus kompetenter Mitarbeiter, wenn es darum ging, die sinnvollsten Testmethoden zu ermitteln, sondern auch die erste Versuchsperson.

Zu diesem Zweck legte sich Matthieu in die Röhre eines Magnetresonanztomografen (MRT), auch Kernspintomograf genannt. Bei den hochmodernen Geräten, die für dieses bildgebende Verfahren entwickelt worden sind, rotieren riesige Magnete um den Körper der zu untersuchenden Person. Ein Magnetresonanztomograf liefert exakte Abbildungen des Gehirns (oder anderer innerer Gewebsstrukturen und Organe). Viele Menschen begeben sich jedoch nur ungern in diese enge Röhre, und manche werden sogar von klaustrophobischen Panikattacken heimgesucht, weil sie sich in der monströsen Maschine gefangen fühlen. Matthieu hielt es dort insgesamt über drei Stunden aus und durchlief währenddessen verschiedene Stadien der meditativen Erfahrung: innere Sammlung, Visualisierung und Entwicklung von Mitgefühl.

Am Ende der strapaziösen Sitzung eilten wir ein wenig besorgt in den Untersuchungsraum, um zu sehen, wie Matthieu die Tortur überstanden hatte. Doch lächelnd und guter Dinge kletterte er aus dem Gerät. Sein Kommentar: »Das war wie ein kleines Retreat.«

Diese Reaktion auf eine Erfahrung, die von den meisten Menschen wohl als äußerst nervenaufreibend empfunden würde, zeugt von einem besonderen Geisteszustand, einer Fähigkeit, dem Auf und Ab des Lebens mit Gleichmut, ja sogar mit Freude, zu begegnen. Und über solche Lebensfreude verfügt Matthieu, wie ich feststellen konnte, in reichem Maß.

Der Psychoanalytiker C. G. Jung hat die Rolle eines »gnostischen Mittlers« einmal folgendermaßen beschrieben. Dies sei ein Mensch, der in die Tiefen der Seele ein- und dann wieder auftaucht, um uns vor Augen zu führen, welch immense Möglichkeiten ihr innewohnen. Genau darin besteht Matthieus Rolle.

Neben außerordentlichem Gleichmut zeichnen ihn Scharfsinn und ein rasches Auffassungsvermögen in allen Situationen aus. Bei den Treffen des »Mind and Life«-Instituts, bei denen der Dalai Lama gemeinsam mit einer Gruppe von Experten jeweils ein bestimmtes wissenschaftliches Thema aus allen Blickwinkeln beleuchtet, konnte ich das miterleben. Bei diesen Anlässen erläutert Matthieu häufig die buddhistische Sichtweise mit einer ganzheitlichen Intelligenz, die spirituelle und wissenschaftliche Paradigmen mühelos miteinander verbindet.

Seine spielerische Leichtigkeit im Umgang mit der Welt der Wissenschaft und der Philosophie kommt in diesem Buch ebenso zum Ausdruck wie seine tiefe Vertrautheit mit den Weisheitsüberlieferungen des Buddhismus. Beide Strömungen gehen hier eine nahtlose Verbindung ein, und die daraus entstehenden Erkenntnisse sind nicht nur inspirierend, sondern zugleich von großem praktischem Wert. Die Auffassung von Glück, die Matthieu hier in großer Klarheit vor uns ausbreitet, bringt unsere Alltagsvorstellungen von Freude ins Wanken und spricht sich mit überzeugenden Argumenten dafür aus, nach einer Zufriedenheit zu streben, bei der es nicht in erster Linie darauf ankommt, »Spaß zu haben«; und sie befürwortet eine altruistische Haltung anstelle von ichbezogener Bedürfnisbefriedigung. Darüber hinaus macht Matthieu deutlich, wie jeder von uns die Fähigkeit entwickeln kann, solches Glück zu erfahren.

Andererseits bietet er uns keine Patentlösungen an, da er nur allzu gut weiß, dass die Schulung des Geistes viel Mühe und Zeit kostet. Stattdessen geht er jenen Zusammenhängen auf den Grund, von denen maßgeblich abhängt, ob wir glücklich sind oder leiden. Dabei gewinnen wir inspirierende Einblicke in die Funktionsweise des Geistes und können Strategien zum Umgang mit besonders problematischen Emotionen erlernen. Letztlich erhalten wir eine verlässliche Orientierung, die darauf abzielt, die Voraussetzungen für echtes Wohlbefinden zu schaffen.

Ein paar Tage, nachdem meine Frau und ich Matthieu zum ersten Mal begegnet waren, ergab es sich, dass wir am Flughafen von Kathmandu mehrere Stunden miteinander verbrachten, weil unser Abflug sich endlos verzögerte. Doch ehe wir uns versahen, waren die Stunden des Wartens vorüber. Dafür sorgte allein schon die Freude, in Matthieus Nähe zu sein. Er ist zweifellos einer der glücklichsten Menschen, die ich kenne – und Glück wirkt ansteckend.

Daniel Goleman

Einführung

Wenn ich frühmorgens auf der Wiese vor meiner Einsiedlerhütte sitze, habe ich über Hunderte von Kilometern hinweg die in den Himmel ragenden Gipfel des Himalaya vor Augen, die beim Sonnenaufgang erglühen. Die stille Schönheit der Landschaft wird ganz natürlich und übergangslos eins mit dem Frieden in mir. Hier bin ich wirklich weit weg vom Institut Pasteur, an dem ich vor fünfunddreißig Jahren über die Zellteilung geforscht und an der Kartierung von Genen auf dem Chromosom des Bakteriums Escherichia coli gearbeitet habe.

Das klingt nach einer ziemlich radikalen Kehrtwendung. Hatte ich der westlichen Welt entsagt? Entsagung ist, zumindest was den buddhistischen Sinn des Wortes angeht, ein vielfach missverstandener Begriff. Denn hier geht es nicht darum, etwas Gutes oder Schönes aufzugeben. Das wäre ja wirklich töricht! Vielmehr geht es darum, sich frei zu machen von unbefriedigenden Lebenserfahrungen, um sich stattdessen entschlossen in Richtung derjenigen Dinge zu bewegen, die wirklich wichtig sind. Es geht um Freiheit und Sinngebung – Freiheit von geistiger Verwirrung und den Problemen, die aus einer selbstbezogenen Haltung resultieren, und um Sinngebung durch Einsicht und Herzensgüte.

Als ich zwanzig war, wusste ich ganz genau, was ich nicht wollte – ein sinnloses Leben. Anderseits hatte ich keine Ahnung, was ich wirklich wollte. Meine Jugend war alles andere als langweilig. Ich kann mich noch genau an die Aufregung erinnern, als ich mit sechzehn die Möglichkeit hatte, mich mit einem meiner Freunde, einem Journalisten, und Igor Strawinsky zum Mittagessen zu treffen. Jedes Wort, das er sprach, habe ich aufgesaugt. Er schrieb mir ein Autogramm in eine Kopie der Partitur von Agon, einem seiner damals weniger bekannten Werke, das ich besonders gern mochte. Die Widmung lautete: »Für Matthieu – Agon, das ich selbst sehr gerne mag.«

In dem großen Kreis von Intellektuellen, in dem meine Eltern sich bewegten, herrschte an faszinierenden Begegnungen kein Mangel. Meine Mutter, Yahne Le Toumelin, eine bekannte Malerin voller Lebensfreude, Poesie und menschlicher Wärme, die später buddhistische Nonne wurde, war mit großen Persönlichkeiten des Surrealismus und der zeitgenössischen Kunst befreundet, darunter André Breton, Leonora Carrington und Maurice Béjart, für den sie viele Theaterkulissen gemalt hat. Mein Vater, der unter seinem Schriftstellerpseudonym Jean-François Revel zu einer der Säulen des intellektuellen Lebens in Frankreich wurde, organisierte unvergessliche Abendessen mit den großen Denkern und kreativen Köpfen seiner Zeit: zum Beispiel Luis Buñuel oder Emmanuel Cioran, dem verzweifelten Philosophen; Mario Suares, der Portugal vom Joch des Faschismus befreit hat; Henri Cartier-Bresson, dem »Auge des Jahrhunderts«, und vielen anderen.

Im Jahr 1970 schrieb mein Vater das Buch Uns hilft kein Jesus und kein Marx, in dem er seine Ablehnung von politischem wie religiösem Totalitarismus zum Ausdruck brachte. Dieses Buch hielt sich ein ganzes Jahr lang in den Bestsellerlisten der USA.

Ich begann meine berufliche Laufbahn im Jahr 1967 als junger Forscher am Institut Pasteur, und zwar im Zellgenetik-Labor von François Jakob, der erst kurz zuvor den Medizin-Nobelpreis verliehen bekommen hatte. Dort arbeitete ich mit den großen Namen der Molekularbiologie zusammen – unter anderem mit Jacques Monod und André Lwoff, die jeden Tag am Gemeinschaftstisch in einer Ecke der Bibliothek gemeinsam ihr Mittagessen zu sich nahmen, und vielen anderen Wissenschaftlern aus aller Welt. François Jakob betreute nur zwei Doktoranden. Er hatte einem gemeinsamen Freund anvertraut, mich habe er nicht nur aufgrund meines Universitätsabschlusses angenommen, sondern auch, weil er gehört habe, dass ich ein Cembalo bauen wolle: ein Traum, den ich letztlich nie verwirklicht habe, der mir aber zumindest einen Platz in einem der begehrtesten Labors eingebracht hat.

Meine anderen Vorlieben waren Astronomie, Skifahren, Segeln und Ornithologie. Mit zwanzig veröffentlichte ich ein Buch über Zugvögel und andere nomadisierende Tierarten.› Hinweis Das Fotografieren lernte ich von einem Freund, der professionell wild lebende Tiere fotografierte, und war so manches Wochenende mit dem Aufspüren von Lappentauchern und Wildgänsen in den Sümpfen von Sologne und an den Stränden des Atlantiks beschäftigt. Die Winter verbrachte ich damit, die Skihänge der heimischen Alpen hinunterzurasen. Und während des Sommers war ich viel auf dem Meer unterwegs: mit Freunden meines Onkels, dem Segler und Navigator Jacques-Yves Le Toumelin, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eine der ersten Weltumsegelungen auf seinem dreißig Fuß langen Segelboot unternommen hatte. Er stellte mir viele außergewöhnliche Menschen vor – Abenteurer, Forschungsreisende, Mystiker, Astrologen und Metaphysiker. Eines Tages wollte er einen seiner Freunde besuchen, fand allerdings an dessen Wohnungstür in Paris nur einen Zettel vor: »Muss dich dieses Mal leider versetzen; bin zu Fuß nach Timbuktu unterwegs.«

Mein Leben war also wirklich spannend, doch etwas Wesentliches fehlte einfach. So beschloss ich 1972 im Alter von sechsundzwanzig Jahren, als mir das Leben in Paris mal wieder zum Hals heraushing, nach Indien zu ziehen; genauer gesagt nach Darjeeling, am Fuß des Himalaya, um dort bei einem großen tibetischen Meister zu lernen.

Wie war ich an diesen Punkt gelangt? Die eindrucksvollen Persönlichkeiten, die meinen Weg gekreuzt hatten, verfügten alle über eine ganz spezielle Begabung. So wie Glenn Gould hätte ich gerne Klavier gespielt; oder Schach wie Bobby Fisher; oder Baudelaires poetisches Talent besessen. Auf der menschlichen Ebene hingegen wollte ich überhaupt nicht werden wie sie. Trotz ihrer künstlerischen, wissenschaftlichen und intellektuellen Fähigkeiten waren sie, was Selbstlosigkeit, Weltoffenheit, Entschlossenheit und Lebensfreude anbelangt, keinen Deut besser oder schlechter als jeder von uns.

Alles änderte sich, als ich ein paar bemerkenswerte Menschen traf, die ein lebendiges Beispiel dafür waren, wie ein erfülltes Menschenleben aussehen kann. Vor diesen Begegnungen hatten mich vor allem die Schriften von großen Persönlichkeiten wie Martin Luther King jr. und Mohandas Gandhi inspiriert, die allein durch die Kraft ihrer menschlichen Eigenschaften andere dazu bringen konnten, ihre Lebensweise zu ändern. Mit zwanzig hatte ich eine Reihe von Dokumentarfilmen meines Freundes Arnaud Desjardins über die großen spirituellen Meister gesehen, die nach dem skrupellosen Einmarsch der Chinesen aus Tibet fliehen mussten. Sie lebten jetzt als Flüchtlinge in Indien und Bhutan. Und etwas verschlug mir, als ich sie in diesen Filmen erblickte, regelrecht die Sprache: So unterschiedlich ihre physische Erscheinung auch sein mochte, strahlten sie doch alle eine verblüffend ähnliche innere Schönheit, tiefes Mitgefühl und Weisheit aus. Die Möglichkeit, Sokrates zu begegnen, Platons Dialogen zu lauschen oder zu Füßen des heiligen Franz von Assisi zu sitzen, hatte ich nicht. Doch unversehens tauchten da zwei Dutzend solcher Menschen direkt vor meinen Augen auf. Ich brauchte nicht sehr lange, mich zu entscheiden: Ich würde nach Indien fahren, um sie zu treffen.

Wie soll ich meine erste Begegnung mit Kangyur Rinpoche im Juni 1967 in einer kleinen Holzhütte, nur wenige Meilen von Darjeeling entfernt, beschreiben? Er strahlte eine solche Güte aus, wie er da mit dem Rücken vor einem Fenster saß, das den Blick auf ein Wolkenmeer freigab, aus dem die majestätischen Gipfel des Himalaya bis zu einer Höhe von über 7000 Metern aufragten. Um die unerschöpflich tiefe Weisheit, die Heiterkeit und das Mitgefühl zu beschreiben, die von ihm ausgingen, reichen Worte einfach nicht aus. Drei Wochen lang saß ich ihm von morgens bis abends gegenüber und hatte den Eindruck, ich täte das, was man im Allgemeinen meditieren nennt. Mit anderen Worten, ich sammelte mich einfach in seiner Gegenwart und versuchte zu erkennen, was hinter dem Vorhang meiner Gedanken lag.

Doch erst nach meiner Rückkehr aus Indien, während meines ersten Jahres am Institut Pasteur, begriff ich, wie wichtig diese Begegnung mit Kangyur Rinpoche gewesen war. Mir wurde bewusst, dass ich eine Wirklichkeit entdeckt hatte, die mein ganzes Leben inspirieren, ihm eine Richtung und einen Sinn geben konnte. Im Laufe meiner darauf folgenden Reisen nach Indien, die ich zwischen 1967 und 1972 jeweils im Sommer unternahm, stellte ich fest, dass ich jedes Mal, wenn ich in Darjeeling ankam, mein europäisches Leben komplett hinter mir ließ. Nach meiner Rückkehr ans Institut Pasteur eilten meine Gedanken dagegen das ganze Jahr über ständig in den Himalaya. Mein Lehrer Kangyur Rinpoche hatte mir geraten, meine Doktorarbeit fertigzustellen, und deshalb wollte ich nichts überstürzen. Doch obwohl ich mehrere Jahre wartete, fiel es mir nicht schwer, jene Entscheidung zu treffen, die ich seither nie bereut habe: dorthin zu gehen und da zu leben, wo ich wirklich sein wollte.

Mein Vater war ziemlich verärgert und enttäuscht, dass ich meine Karriere, deren Anfänge seiner Ansicht nach so vielversprechend waren, derart abrupt abbrach. Darüber hinaus nahm er als überzeugter Agnostiker den Buddhismus nicht besonders ernst, obwohl er einmal schrieb: »Ich hatte nichts gegen ihn, denn sein unverfälschter und geradliniger Ansatz hebt ihn positiv von anderen religiösen Lehren ab und hat ihm den Respekt einiger der anspruchsvollsten westlichen Philosophen eingebracht.«› Hinweis Obwohl wir uns jahrelang selten sahen – er besuchte mich in Darjeeling und später in Bhutan –, blieben wir einander nahe, und wenn ihn Journalisten nach mir fragten, sagte er: »Die einzigen Wolken, die jemals unsere Beziehung überschattet haben, waren die des asiatischen Monsuns.«

Was ich in den Lehren der buddhistischen Überlieferung fand, verlangte nie danach, sich blind einem Glauben zu ergeben. Vielmehr handelte es sich um eine facettenreiche, pragmatische Wissenschaft des Geistes, eine altruistische Lebenskunst, eine an Bedeutungsgehalt reiche Philosophie und spirituelle Praxis, die zu echter innerer Transformation führte. In den letzten fünfunddreißig Jahren habe ich mich nie im Widerstreit zur wissenschaftlichen Geisteshaltung befunden, wie ich sie verstehe – als empirische Suche nach der Wahrheit. Ich bin auch Menschen begegnet, die dauerhaft glücklich waren. Ja, es ging eigentlich über das, was wir normalerweise als »glücklich« bezeichnen, hinaus: Sie waren von ihrer tiefen Einsicht in die Wirklichkeit und die Natur des Geistes durchdrungen und begegneten zugleich ihren Mitmenschen und anderen empfindenden Wesen voller Güte und Wohlwollen. Zwar sind, auch das habe ich gelernt, manche Menschen von Natur aus glücklicher als andere, dennoch ist dieses Glück gefährdet und bleibt unvollständig – eine Lebensweise zu pflegen, durch die man dauerhaftes Glück erreicht, ist eine Kunst. Es erfordert ständiges Bemühen, eine unablässige Schulung des Geistes und die Entwicklung einer Reihe von menschlichen Qualitäten wie etwa Geistesruhe, Achtsamkeit und selbstlose Liebe.

Alles, was mir helfen konnte, einen Weg zu einem erfüllten Leben zu finden, kam hier auf stimmige Weise zusammen: eine tiefgründige, gesunde Denkweise und zugleich das lebendige Beispiel derer, die in Wort und Tat Weisheit verkörpern. Weit und breit nicht die geringste Spur von dieser »Tu nur, was ich sage, aber bloß nicht, was ich tue«-Attitüde, die so viele Suchende auf der ganzen Welt entmutigt.

Ich blieb weitere sieben Jahre in Darjeeling. Dort habe ich bis zu Kangyur Rinpoches Tod im Jahr 1975 in seiner Nähe gewohnt, studiert und meditiert; danach weiter in einer kleinen Einsiedlerhütte direkt oberhalb des Klosters. Ich lernte Tibetisch, das ich inzwischen im Alltag in Asien vorwiegend spreche. Damals lernte ich auch meinen zweiten wichtigen Lehrer kennen, Dilgo Khyentse Rinpoche, mit dem ich dreizehn unvergessliche Jahre in Bhutan und Indien verbrachte. Er war einer der großen Erleuchteten seiner Zeit. Von allen – vom König von Bhutan bis zum einfachsten Bauer – verehrt, wurde er auch zu einem Lehrer und Vertrauten des Dalai Lama. Als ein Mensch, dessen innere Reise zu den tiefsten Ursprüngen des Wissens geführt hatte, war er für alle, die ihm begegneten, eine Quelle der Güte, der Weisheit und des Mitgefühls. In einem nicht enden wollenden Strom kamen andere spirituelle Lehrer und Schüler zu ihm, um bei ihm zu lernen. Als ich also anfing, tibetische Schriften in westliche Sprachen zu übersetzen, traf ich immer Menschen, die wandelnde Schatzkammern des Wissens waren und mir bei unklaren Textstellen weiterhelfen konnten. Ich diente auch als Khyentse Rinpoches Dolmetscher und reiste mit ihm nach Europa und nach Tibet, als er nach dreißig Jahren im Exil zum ersten Mal in das Land der Schneeberge zurückkehrte. In Tibet standen nur noch Ruinen. Sechstausend Klöster waren zerstört worden, und viele Menschen, die überlebt hatten – und nicht wie eine Million Tibeter an Hunger und Verfolgung gestorben waren –, hatten fünfzehn oder gar zwanzig Jahre in Arbeitslagern zugebracht. Khyentse Rinpoches Rückkehr war wie ein Sonnenaufgang nach einer langen finsteren Nacht.

In Indien, und später in Bhutan, führte ich ein einfaches Leben. Ich bekam alle paar Monate einen Brief, hatte kein Radio und wusste wenig von dem, was draußen in der Welt vor sich ging. Im Jahr 1979 begann Khyentse Rinpoche mit dem Bau eines Klosters in Nepal, um das tibetische Erbe zu bewahren. Künstler, Gelehrte, Meditierende, Philanthropen und viele andere strömten scharenweise ins Kloster Shechen. Seit Khyentse Rinpoches Tod im Jahr 1991 habe ich fast ununterbrochen dort gelebt und seinem Enkel Rabjam Rinpoche, dem Abt des Klosters, geholfen, die Vision unseres Lehrers zu verwirklichen.

Eines Tages erhielt ich einen Anruf aus Frankreich und wurde gefragt, ob ich bereit sei, Gespräche mit meinem Vater zu führen und diese als Buch zu veröffentlichen. Ich nahm den Vorschlag nicht besonders ernst und antwortete: »Dagegen hätte ich nichts einzuwenden. Fragen Sie mal meinen Vater.« Damit sei die Sache erledigt, dachte ich, denn ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass mein agnostisch eingestellter Vater einem in Buchform veröffentlichten Dialog mit einem buddhistischen Mönch zustimmen würde, auch wenn der Mönch sein eigener Sohn war. Aber da hatte ich mich geirrt. Bei einem Mittagessen schlug die Verlegerin meinem Vater verschiedene Buchideen vor, die er prompt alle ablehnte, während er sich weiter den kulinarischen Genüssen widmete. Doch als die Verlegerin ihm beim Nachtisch den Dialog vorschlug, erstarrte er und antwortete nach ein paar Sekunden des Schweigens: »Das kann ich nicht ablehnen.« Von da an sollte es aus und vorbei sein mit meinem ruhigen, anonymen Leben.

Als ich von seiner Antwort erfuhr, war ich ein wenig beunruhigt, denn ich fürchtete, dass mein Vater, der dafür bekannt war, die Auffassungen anderer, die er für falsch hielt, gnadenlos zu demontieren, mich komplett auseinandernehmen würde. Zum Glück fand das Zusammentreffen in meinem Revier statt. Mein Vater kam nach Nepal, und wir verbrachten zehn Tage in einer Herberge im Wald über dem Kathmandu-Tal. Dort nahmen wir auch unsere Gespräche auf: anderthalb Stunden am Morgen und eine Stunde am Nachmittag. Den Rest des Tages streiften wir gemeinsam durch die Wälder. Mein Vater muss wohl etwas besorgt gewesen sein, die Debatte werde vielleicht nicht seinem intellektuellen Niveau entsprechen, denn am Ende des ersten Tages schickte er unserer Verlegerin Nicole Lattès ein Fax, um ihr mitzuteilen: »Es läuft gut.« Ich hatte meinerseits eine lange Liste von Themen zusammengestellt. Als er zum ersten Mal einen Blick darauf warf, rief er aus: »Aber das ist ja alles, worüber die Philosophen in den letzten zwei Jahrtausenden diskutiert haben!« Wie dem auch sei, wir machten weiter, die Tage vergingen, und bei unserer letzten Sitzung kam er mit der Liste an, auf der er noch ein paar unbehandelte Themen gefunden hatte, und sagte: »Sieh mal, darüber haben wir noch gar nicht diskutiert.«

Unser Buch mit dem Titel Der Mönch und der Philosoph war im Handumdrehen ein Erfolg. In Frankreich wurden über 350 000 Exemplare gedruckt, und es wurde in einundzwanzig Sprachen übersetzt. Ich wurde zu unzähligen Fernsehshows eingeladen und in einen Strudel von Medienaktivitäten hineingezogen. Einerseits war ich glücklich darüber, manche Ideen, die ich sehr schätzte und die mein Leben so sehr bereichert hatten, mit anderen teilen zu können. Zugleich machte mir diese Episode jedoch bewusst, in welchem Maß Berühmtheit etwas künstlich Herbeigeführtes ist. Ich war noch derselbe Kerl, plötzlich aber zu einer Person des öffentlichen Interesses geworden.

Allmählich dämmerte mir auch, dass ich bald über mehr Geld verfügen würde, als ich mir jemals vorgestellt hatte. Das war eine ziemliche Umstellung, nachdem ich all die Jahre in Indien mit 50 Dollar im Monat ausgekommen war. Da ich nicht vorhatte, mir ein großes Haus mit Swimmingpool zu kaufen, beschloss ich, alles Geld aus dem Erlös und den Rechten für dieses und alle folgenden Bücher einer Stiftung zu spenden, die humanitäre Projekte und Bildungsprogramme in Asien durchführt. Nach dieser Entscheidung fiel eine Last von mir ab. Humanitäre Projekte sind seither zu einem zentralen Thema in meinem Leben geworden. Zusammen mit ein paar engagierten ehrenamtlichen Freunden und großzügigen Gönnern ist es uns, inspiriert durch meinen Abt Rabjam Rinpoche gelungen, mehr als dreißig Kliniken und Schulen in Tibet, Nepal und Indien zu bauen und zu betreiben.

Und dann wandte ich mich wieder der Wissenschaft zu. Das geschah in zwei Schritten: Im ersten Schritt ging es um Physik und die Beschaffenheit der äußeren Wirklichkeit, im zweiten um die Kognitionswissenschaften und die Natur des Geistes.

Dem Vorschlag des berühmten Astrophysikers Trinh Xuan Thuan von der University of Virginia, einen Dialog über Buddhismus und Wissenschaft zu führen, konnte ich nicht widerstehen, da ich schon lange viele Fragen in Bezug auf die Natur der äußeren Welt – die Welt der Phänomene – gesammelt hatte, die ich gerne an einen Physiker richten wollte. Wir trafen uns schließlich 1997 in der Sommeruniversität von Andorra. Während langer gemeinsamer Spaziergänge durch die majestätische Landschaft der Pyrenäen führten wir einige höchst faszinierende Gespräche. Sind Atome »Dinge« oder lediglich »beobachtbare Phänomene«? Hält die Vorstellung von einem »Ursprung« des Universums einer gründlichen Analyse stand? Gibt es eine konkrete Wirklichkeit hinter dem Schleier der äußeren Erscheinungen? Ist das Universum ein Zusammenspiel aus »sich wechselseitig beeinflussenden Geschehnissen« oder besteht es aus »voneinander unabhängigen Entitäten«? Wir entdeckten verblüffende Ähnlichkeiten zwischen der Deutung der Quantenphysik im Sinn der Kopenhagener Schule und der buddhistischen Sicht der Wirklichkeit. Weitere Treffen folgten, und daraus entstand schließlich das Buch Quantum und Lotus.

Bei diesem Dialog ging es vorrangig um die philosophischen, ethischen und menschlichen Aspekte der Wissenschaft. Der nächste Schritt, mit dem ich immer noch voll beschäftigt bin, war dann die Mitarbeit an wissenschaftlichen Studien über den Kern der buddhistischen Praxis: die Umwandlung, oder Transformation, des Geistes.

Mein inzwischen verstorbener spiritueller Freund Francisco Varela, ein Pionier auf dem Gebiet der Neurowissenschaften, hatte mir stets gesagt, es gelte den Weg der Zusammenarbeit zwischen den Naturwissenschaften und den buddhistischen Meditierenden zu beschreiten. Denn darin liege ein ungeheures Potenzial – nicht nur für das Verständnis des menschlichen Geistes, sondern auch für die konkrete Durchführung wissenschaftlicher Experimente. Francisco hatte zusammen mit dem amerikanischen Geschäftsmann Adam Engle das »Mind and Life«-Institut gegründet, um in diesem Rahmen Begegnungen zwischen hochrangigen Wissenschaftlern und dem Dalai Lama, der von jeher großes Interesse an wissenschaftlichen Fragen hatte, zu fördern und zu organisieren.

An den Konferenzen des »Mind and Life«-Instituts in Dharamsala, dem Hauptaufenthaltsort des Dalai Lama in Indien, nahm ich im Jahr 2000 erstmals teil. Damals ging es um das Thema »destruktive Emotionen«. Es war ein wirklich faszinierendes Treffen mit einigen der führenden Wissenschaftlern auf diesem Gebiet, unter anderen Francisco Varela, Richard J. Davidson und Paul Ekman. Geleitet wurde die Veranstaltung von Daniel Goleman. Die fünftägige Gesprächsreihe war gekennzeichnet durch große Klarheit, Offenheit und den von Herzen kommenden Wunsch, diese einmalige Gelegenheit zu nutzen, um einen besonderen Beitrag zum Wohl der Menschheit zu leisten. Ich war gebeten worden, die buddhistische Auffassung zu den verschiedenen Möglichkeiten, wie man mit Emotionen umgehen kann, darzulegen. Ich fühlte mich wie ein Schuljunge vor einer Prüfung. Denn es machte mich ein wenig verlegen, dies in Gegenwart des Dalai Lama zu tun, der mit dem Thema hundertmal besser vertraut war als ich. Gut zehn Jahre lang hatte ich immer wieder einmal als Französisch-Dolmetscher für den Dalai Lama gearbeitet. Also schlüpfte ich im Geist in meine gewohnte Rolle des Dolmetschers, und indem ich mich auf das aus den Wissenschaftlern und mehr als fünfzig Zuhörern bestehende Publikum konzentrierte, versuchte ich die Essenz dessen zu vermitteln, was ich von meinen Lehrern gelernt hatte. Im Laufe der Konferenz zeichnete sich ab, dass ein gemeinsames Forschungsprojekt daraus hervorgehen würde. Wir planten, Menschen mit langjähriger Meditationserfahrung in Forschungslabors einzuladen, um an ihnen die Auswirkungen dieser langjährigen geistigen Schulung zu studieren. Wie würde sich ihre Fähigkeit, mit Emotionen umzugehen, und vielleicht sogar das Gehirn selbst verändert haben? Die praktische Umsetzung solcher Studien war schon immer einer von Franciscos Träumen gewesen. In Kooperation mit Richard Davidson und Paul Ekman wurde ein Plan für das weitere Vorgehen ausgearbeitet. Die Geschichte dieser fortdauernden Zusammenarbeit, in die ich inzwischen eng eingebunden bin, können Sie in Daniel Golemans Buch Dialog mit dem Dalai Lama – Wie wir destruktive Emotionen überwinden können und im Kapitel 16 des vorliegenden Buches nachlesen.

Es war schon ein aufregender Schritt für mich, nach nahezu dreißig Jahren wieder in die Welt der Wissenschaft zurückzukehren – noch dazu in Zusammenarbeit mit so herausragenden Wissenschaftlern. Ich war wirklich gespannt, zu erfahren, ob die neuesten wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden wohl Aufschluss darüber geben könnten, inwieweit verschiedene Meditationszustände wie das ruhige Verweilen in einsgerichteter Meditation oder das Entwickeln von Mitgefühl ihren unverkennbaren Ausdruck in den Gehirnstrukturen finden. Außerdem wollte ich sehr gerne herausfinden, ob die Resultate innerhalb einer Gruppe von erfahrenen Meditierenden ähnlich ausfallen würden und inwiefern sie sich von den Resultaten bei meditativ ungeübten Menschen unterscheiden würden. Seither habe ich die inspirierende, warmherzige Atmosphäre, in der die Zusammenarbeit hier erfolgt, in vollen Zügen genossen. Jetzt, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung erster wissenschaftlicher Dokumentationen zu diesen Studien, bin ich davon überzeugt, dass wir an der Schwelle zu bahnbrechenden Forschungsergebnissen stehen.

In den vergangenen Jahren habe ich mich außerdem immer intensiver mit der Fotografie beschäftigt und fünf Fotobände veröffentlicht. Ich schätze mich glücklich, die innere Schönheit derer, mit denen ich zusammenlebe, und die äußere Schönheit ihrer Welt durch Bilder mit anderen teilen und dadurch vielleicht ein wenig Hoffnung wecken zu können in Bezug auf die Möglichkeiten, die der menschlichen Natur innewohnen.

Weshalb also jetzt ein Buch über Glück? Am Anfang stand ein typisches Beispiel für die sogenannte »französische Ausnahme«. Einige französische Intellektuelle betrachten Glück mit Geringschätzung und vertreten ihre Meinung dazu sehr lautstark. Auf Anregung einer französischen Zeitschrift habe ich mich mit einem von ihnen auseinandergesetzt und anschließend gedacht, sollte ich je wieder ein Buch schreiben, dann würde es mindestens ein Kapitel zum Thema Glück enthalten. In der Zwischenzeit verbrachte ich mit Paul Ekman, Richard Davidson und Alan Wallace zwei Tage in der wilden Küstenlandschaft im Norden Kaliforniens, wo wir einen Artikel mit dem Titel »Emotionen und Wohlbefinden aus buddhistischer und psychologischer Sicht«› Hinweis verfassten. Dieses Thema, so war mir bewusst geworden, ist derart bedeutsam für das menschliche Leben, dass es eine umfassende Untersuchung verdient. Ein Jahr lang las ich alles über Glück und Wohlbefinden, was ich nur in die Finger bekommen konnte – in den Werken von westlichen Philosophen, Sozialpsychologen, Naturwissenschaftlern und sogar in der Regenbogenpresse. In Boulevardzeitungen werden häufig die Ansichten bestimmter Personen zum Thema Glück abgedruckt, wie etwa die einer französischen Schauspielerin, die sagte: »Für mich besteht Glück darin, einen Teller mit leckeren Spaghetti zu essen.« Oder etwa: »Spazieren gehen im Schnee unter sternenklarem Himmel«, und so weiter. Die vielen Definitionen von Glück, die ich fand, widersprachen einander häufig, und sie schienen mir reichlich vage oder oberflächlich. Inspiriert durch die analytische und kontemplative Wissenschaft des Geistes, die ich dank der Güte meiner Lehrer kennengelernt hatte, unternahm ich also den Versuch, zu klären, worin wirkliches Glück – und natürlich auch das Leid – besteht und wodurch beides zustande kommt.

Als das Buch in Frankreich erschien, löste es landesweite Diskussionen aus. Die oben genannten Intellektuellen bekräftigten, an Glück seien sie nicht interessiert, und verwarfen den Gedanken, dass es sich hierbei um eine Fertigkeit beziehungsweise eine Lebenskunst handeln könne, die man erlernen und in der man sich schulen kann. Ein Autor schrieb einen Artikel, in dem er mich aufforderte, die Leute nicht länger mit den »schmutzigen Machenschaften des Glücks« zu behelligen. In einer anderen Zeitschrift erschien ein Artikel mit dem Titel »Die Hexer des Glücks«. Nach einem schrecklichen Monat in Paris mit hitzigen Debatten und viel Medienrummel fühlte ich mich wie ein in seine Einzelteile zerlegtes Puzzle. Nur zu gerne kehrte ich wieder in die Berge Nepals zurück, wo ich die Teile wieder zusammenfügen und ganz werden konnte.

Mein Leben ist zwar hektischer geworden, aber das Kloster Shechen in Nepal bildet weiterhin meinen Lebensmittelpunkt. Nach wie vor verbringe ich zwei Monate pro Jahr in meiner Einsiedlerhütte mit Blick auf die Gipfel des Himalaya.

Vor mir liegt zweifelsohne noch ein langer Weg mit praktischen Übungen und manchen Mühen, bevor ich wahre innere Freiheit erlangen werde. Doch ich genieße diese Reise in vollen Zügen. Das Leben zu vereinfachen, um ihm seine Quintessenz abzugewinnen – das war für mich mit Sicherheit die lohnendste aller Unternehmungen. Und vereinfachen bedeutet nicht, aufgeben zu müssen, was tatsächlich gut für uns ist, sondern herauszufinden, was wirklich wichtig ist und uns dauerhaft Erfüllung, Freude, Gelassenheit, vor allem aber den durch nichts zu ersetzenden Segen selbstloser Liebe bringt. Es bedeutet, sich selbst zu verändern, um die Welt zu verändern.

Als ich zwanzig war – das fällt mir ein, während ich ein Resümee ziehe in Bezug auf dieses Buch –, hatten die Worte Glück und Güte keine große Bedeutung für mich. Ich war ein typischer junger Pariser Student, der sich die Filme von Eisenstein und den Marx Brothers ansah, Musik machte, im Mai 68 in der Nähe der Sorbonne Barrikaden baute und demonstrierte, ansonsten gerne Sport trieb und die Natur liebte. Aber wie ich mein Leben führen sollte, davon hatte ich damals keine genaue Vorstellung; außer jeden Tag aufs Neue zu improvisieren. Ich spürte zwar irgendwie, dass in mir und anderen ein Potenzial vorhanden war, das sich auf fruchtbare Weise entfalten konnte, hatte allerdings keine Ahnung, wie ich dieses Potenzial verwirklichen sollte. Fünfunddreißig Jahre später liegt immer noch ein langer Weg vor mir, aber zumindest ist mir die Richtung klar, und ich genieße jeden Schritt auf diesem Weg.

Deshalb ist dieses Buch, obwohl von buddhistischem Geist erfüllt, kein »buddhistisches« Buch im Gegensatz zu einem »christlichen« oder »agnostischen« Buch. Ich habe es aus dem Blickwinkel einer weltlichen, »säkularen« Spiritualität geschrieben – ein Thema, das auch dem Dalai Lama sehr am Herzen liegt. Daher ist es auch nicht für die »Buddhismus«-Regale in den Buchläden bestimmt, sondern für das Herz und den Verstand eines jeden Menschen, der sich ein bisschen mehr Lebensfreude wünscht und zugleich möchte, dass in seinem Leben Weisheit und Mitgefühl den Ton angeben.

Kapitel 1

Eine kurze Betrachtung über das Glück› Hinweis

Jeder Mensch will glücklich werden; um das Ziel aber zu erreichen, müsste er zunächst wissen, was das Glück eigentlich sei.

Jean-Jacques Rousseau

Eine gute Bekannte aus den USA, als Fotoredakteurin sehr erfolgreich, hat mir einmal von einer Unterhaltung erzählt, die kurz nach der Abschlussprüfung an ihrem College im Freundeskreis stattfand. Alle stellten sich damals die Frage, was sie mit dem Leben anfangen sollten. Auf ihre Äußerung: »Ich will glücklich sein« hatte sich zunächst betretenes Schweigen breitgemacht. Dann fragte eine ihrer Freundinnen: »Wie kann es sein, dass sich jemand mit deiner Intelligenz nicht mehr vom Leben wünscht, als glücklich zu sein?« Worauf meine Bekannte erwiderte: »Ich habe nicht gesagt, wie ich glücklich sein will. Es gibt so viele Möglichkeiten, sein Glück zu finden: Man kann eine Familie gründen, Kinder bekommen, Karriere machen, Abenteuer erleben, anderen Menschen helfen, inneren Frieden finden. … Aber was ich letzten Endes auch tun werde, ich möchte wirklich glücklich werden im Leben.«

Das Wort Glück, schreibt Henri Bergson, »wird gewöhnlich verwendet, um ein komplexes und unbestimmtes Phänomen zu beschreiben, eine jener Vorstellungen, die wir Menschen absichtlich unbestimmt gelassen haben, damit jeder Einzelne sie auf seine ureigene Weise interpretieren kann«.› Hinweis

Ginge es um ein mehr oder weniger nebensächliches Gefühl, dann wäre es im Grunde ja einerlei, ob die Definition des Wortes »Glück« vage bleibt. Doch weit gefehlt: Hier geht es um ein Lebensgefühl, um einen Wirklichkeitsaspekt, von dem die Qualität jedes einzelnen Augenblicks in unserem Leben abhängt. Was genau ist also »Glück«? Soziologen definieren Glück als »den Grad, in dem ein Mensch die allgemeine Qualität seines gegenwärtigen Lebens insgesamt positiv bewertet, mit anderen Worten, wie sehr die betreffende Person das Leben mag, das sie führt«.› Hinweis Diese Definition unterscheidet jedoch nicht zwischen tiefer innerer Zufriedenheit und der bloßen Wertschätzung äußerer Lebensumstände. Für manche Menschen ist Glück nur »ein momentanes, flüchtiges Gefühl, dessen Intensität und Dauer von der Verfügbarkeit jener Ressourcen abhängt, die es ermöglichen«.› Hinweis Solches Glück muss zwangsläufig flüchtig und von Umständen abhängig sein, die sich nur allzu oft unserer Kontrolle entziehen. Für den Philosophen Robert Misrahi bedeutet Glück dagegen, »dass ein Mensch strahlt vor Freude über seine Existenz insgesamt oder über den lebendigsten Teil seiner aktiven Vergangenheit, realen Gegenwart oder vorstellbaren Zukunft«.› Hinweis Hierbei handelt es sich vielleicht um einen dauerhafteren Zustand. André Comte-Sponville sagt dazu: »Mit ›Glück‹ meinen wir jeden Zeitraum, in dem Freude uns unmittelbar möglich scheint.«› Hinweis

Ist Glück eine Fertigkeit, die uns, haben wir sie erst einmal erworben, durch die Höhen und Tiefen des Lebens trägt? Man kann sich tausenderlei Gedanken über das Glück machen, und unzählige Philosophen haben die ihren beigesteuert. Für den heiligen Augustinus ist Glück »ein Jubilieren in der Wahrheit«. Für Immanuel Kant muss Glück rational und ohne jede persönliche Färbung sein, während es für Marx mit Wachstum durch Arbeit zu tun hat. »Über die Frage, was Glück ist, lässt sich streiten«, schrieb Aristoteles, »aber die volkstümliche Vorstellung davon unterscheidet sich von derjenigen der Philosophen.«

Wurde das Wort »Glück« so überstrapaziert, dass die Menschen es inzwischen meiden, angewidert von den Illusionen und Banalitäten, die ihnen dabei in den Sinn kommen? Auch nur über die Suche nach Glück zu sprechen grenzt für manche Leute schon an Geschmacklosigkeit. Von ihrem Panzer intellektueller Selbstgefälligkeit geschützt, rümpfen sie die Nase, wie sie dies angesichts eines Kitschromans tun würden.

Was hat zu dieser Geringschätzung geführt? Ist sie die Antwort auf das künstliche Glück, das uns die Medien anbieten? Ist sie das Resultat unserer gescheiterten Bemühungen, wahres Glück zu finden? Sollten wir uns besser mit dem Unglück abfinden, anstatt einen echten und intelligenten Versuch zu wagen, das Glück aus dem Leid herauszuschälen?

Was ist mit dem einfachen Glück, das wir empfinden können – beim Lächeln eines Kindes oder bei einer guten Tasse Tee nach einem Waldspaziergang? Wie bereichernd oder tröstlich solche echten Glücksmomente auch sein mögen, sie sind zu stark an bestimmte Ereignisse oder Situationen gekoppelt, als dass in ihrem Licht unser ganzes Leben erstrahlen könnte. Glück kann nicht auf ein paar angenehme Empfindungen, ein intensives Vergnügen, ein Aufflackern der Freude, ein flüchtiges Gefühl von Heiterkeit, einen fröhlichen Tag oder auf einen magischen Moment reduziert werden, der uns unerwartet aus dem Labyrinth unseres Daseins heraushebt. Diese unterschiedlichen Facetten reichen, für sich genommen, noch nicht aus, um uns einen angemessenen Eindruck von jener tiefen und dauerhaften Erfüllung zu vermitteln, durch die sich wahres Glück auszeichnet.

Mit Glück meine ich hier das tief empfundene Gefühl eines auf innerem Reichtum, ja Überfluss beruhenden Wohlbefindens, das einem besonders gesunden Geist entspringt. Dieses ist nicht einfach nur ein angenehmes Gefühl, eine flüchtige Emotion oder Stimmung, sondern ein nicht zu übertreffender Seinszustand. Glück beinhaltet aber auch, die Welt auf eine bestimmte Art und Weise deuten zu können. Denn die Welt zu ändern mag schwierig sein, die Art und Weise, wie wir sie betrachten, können wir hingegen jederzeit ändern.

Ein Vorgeschmack von Glück

Obwohl Berta Young schon dreißig war, gab es in ihrem Leben immer noch Augenblicke wie diesen, wo sie lieber rennen möchte, anstatt zu gehen, über das Straßenpflaster hüpfen, einen Reifen drehen, etwas in die Luft werfen und wieder auffangen, oder stehen bleiben und – ohne Grund – lachen, einfach ohne Grund. …Was kann man machen, wenn man dreißig ist und beim Einbiegen in die eigene Straße unversehens von einem Gefühl der Glückseligkeit – absoluter Glückseligkeit! – erfasst wird, als hätte man plötzlich ein großes Stück von dieser leuchtenden Spätnachmittagssonne verschluckt, das in der Brust ein feuriges Gefühl hervorruft und einen kleinen Funkenregen in jede Zelle, jeden Finger und jede Zehe sendet?

Katherine Mansfield, Seligkeit› Hinweis

Bitten Sie eine beliebige Anzahl von Menschen, Ihnen einen Augenblick »vollkommenen« Glücks zu beschreiben. Einige werden von Momenten tiefen Friedens erzählen, die sie an einem schönen Ort in der Natur erlebt haben, dem Spiel von Licht und Schatten in einem Wald bei Sonnenschein, von einem am Horizont aufragenden Berggipfel, vom Ufer eines stillen Sees oder von einem nächtlichen Spaziergang durch eine verschneite Landschaft unter sternenklarem Himmel. Andere werden von einem lange herbeigesehnten Ereignis berichten: einem mit Bravour bestandenen Examen, einem triumphalen Erfolg im Sport, einer Begegnung, der sie entgegengefiebert hatten, oder von der Geburt eines Kindes. Wieder andere werden über einen Moment des friedlichen Beisammenseins mit ihrer Familie oder einem geliebten Menschen sprechen; oder über eine Situation, in der sie jemanden glücklich machen konnten.

Der gemeinsame Nenner bei all diesen Erlebnissen scheint die vorübergehende Abwesenheit von inneren Konflikten zu sein. Die betreffende Person fühlt sich im Einklang mit sich und der Welt. Bei einer solchen Erfahrung, nehmen wir als Beispiel einen Spaziergang durch stille, unberührte Natur, hegt man keine besondere Erwartung. Man begnügt sich mit dem schlichten Akt des Gehens. Man ist einfach, hier und jetzt, frei und offen.

Für wenige Augenblicke sind alle Gedanken an die Vergangenheit verschwunden. Von Zukunftsplänen unbelastet, weilt der Geist im gegenwärtigen Moment und ist nicht länger damit beschäftigt, Gedankengebäude zu errichten. Diese Atempause, dieser Moment, aus dem jedes Gefühl von Dringlichkeit, von emotionaler Bedrängnis, gewichen ist, wird als tiefer Frieden empfunden. Bei einem Menschen, der ein Ziel erreicht, eine Aufgabe gemeistert oder einen Sieg errungen hat, löst sich die innere Spannung, unter der er lange Zeit stand. Das darauf folgende Gefühl der Befreiung wird als tiefe innere Ruhe wahrgenommen, frei von jeder Erwartung oder Angst.

Aber diese Erfahrung ist lediglich ein Vorgeschmack auf das Glück, ein flüchtiger Augenblick, der nur aufgrund ganz bestimmter äußerer Umstände zustande kommt. Wir nennen das einen magischen Moment, einen Zustand der Gnade. Und doch ist der Unterschied zwischen diesen vorübergehenden Glücksmomenten und dem dauerhaften, keinem Wandel unterworfenen inneren Frieden des Weisen so groß wie derjenige zwischen dem winzigen Ausschnitt des Himmels, den man durch ein Nadelöhr sieht, und der grenzenlosen Ausdehnung des äußeren Raumes. Diese beiden Zustände unterscheiden sich in ihrer Tragweite, Dauer und Tiefe.

Trotzdem können wir etwas lernen aus diesen flüchtigen Momenten, diesen Atempausen in unserem endlosen Ringen. Sie können uns einen Eindruck vom Zustand wahrer Erfüllung vermitteln und uns helfen, zu erkennen, welche Umstände diesen begünstigen.

Ein Seinszustand

Ich erinnere mich an einen Nachmittag, an dem ich auf der Treppe zu unserem Kloster saß. Die Monsunstürme hatten den Vorplatz in eine Art Schlammsee verwandelt, und wir hatten einen kleinen Trampelpfad aus Ziegelsteinen angelegt. Nach einiger Zeit tauchte eine Bekannte am Rand der riesigen Wasserlache auf, betrachtete die Szenerie angewidert und beklagte sich, während sie herüberkam, über jeden einzelnen Ziegelstein. Bei mir angelangt, verdrehte sie die Augen und sagte: »Igitt! Und wenn ich nun in diesen widerlichen Dreck gefallen wäre? In diesem Land ist alles so schmutzig!« Da ich sie gut kannte, nickte ich freundlich, in der Hoffnung, sie mit meiner schweigenden Sympathiebekundung ein bisschen zu trösten. Ein paar Minuten später kam Raphaèle, eine andere Bekannte, und hüpfte über den Ziegelsteinpfad durch das morastige Gelände. »Hopp, hopp, hopp«, sang sie dabei vor sich hin, bis sie mit dem Ausruf: »Was für ein Spaß!« trockenes Land erreichte. Ihre Augen strahlten, als sie hinzufügte: »Das Großartige am Monsun ist, dass es dann keinen Staub gibt.« Zwei Menschen, zwei Sichtweisen; sechs Milliarden Menschen, sechs Milliarden Welten.

Viel ernster hatte mir Raphaèle einst von einer Begegnung erzählt, die sie 1986 bei ihrem ersten Besuch in Tibet mit einem Mann gehabt hatte, der während der chinesischen Invasion Schreckliches durchmachen musste. »Er lud mich ein, auf einer Bank neben ihm Platz zu nehmen, und bot mir etwas Tee an, den er in einer großen Thermoskanne dabeihatte. Zum ersten Mal überhaupt sprach er mit einem Menschen aus dem Westen. Wir lachten viel, wirklich ein zauberhafter Mensch. Immer mehr Kinder kamen herbei und starrten uns verwundert an. Und er stellte mir Fragen über Fragen. Dann erzählte er mir, dass die chinesischen Besatzer ihn zwölf Jahre lang gefangen gehalten hatten. Er war dazu verurteilt worden, Steine für einen Damm zu hauen, der seinerzeit im Drak-Yerpa-Tal gebaut wurde. Der Damm war vollkommen nutzlos, denn fast das ganze Jahr über führte das Flussbett kein Wasser! Alle seine Freunde, die dort mit ihm arbeiten mussten, starben einer nach dem anderen an Hunger und Erschöpfung. Doch trotz seiner furchtbaren Geschichte war nicht die geringste Spur von Hass in seinen Worten oder seinen Augen, die vor Güte strahlten. An diesem Abend fragte ich mich beim Einschlafen, wie jemand, der so viel gelitten hatte, so glücklich wirken konnte.«

Ein Mensch, dem innerer Frieden zuteil geworden ist, verzweifelt weder angesichts einer Katastrophe, noch verleitet Erfolg ihn zu Hochmut. Er kann seine Erfahrungen in großer Gelassenheit durchleben, denn er weiß und versteht, dass Erfahrungen flüchtig sind und es keinen Sinn macht, daran anzuhaften. Für ihn ist es kein »harter Schlag«, wenn die Dinge eine ungünstige Wendung nehmen und er mit Missgeschicken konfrontiert wird. Er verfällt nicht in Depressionen, denn sein Glücksempfinden ruht auf einem soliden Fundament. Ein Jahr vor ihrem Tod in Auschwitz schrieb die bemerkenswerte junge Holländerin Etty Hillesum: »Wenn man ein inneres Leben hat, spielt es mit Sicherheit keine Rolle, auf welcher Seite des Gefängniszauns man sich befindet. … Ich bin schon tausend Mal in tausend Konzentrationslagern gestorben. Das alles kenne ich. Es gibt keine Neuigkeiten, die mich beunruhigen könnten. Auf die eine oder andere Weise weiß ich schon alles. Und dennoch empfinde ich dieses Leben als schön und sinnvoll. In jedem Augenblick.«› Hinweis

Bei einer öffentlichen Veranstaltung in Hongkong stand einmal ein junger Mann auf und fragte mich: »Können Sie mir einen einzigen Grund nennen, warum ich weiterleben sollte?« Dieses Buch unternimmt einen bescheidenen Versuch, auf diese Frage zu antworten. Denn Glück besteht vor allem darin, das Leben zu lieben. Hat man jeden Beweggrund weiterzuleben verloren, bedeutet dies, dass sich ein Abgrund von Leid auftut. Wie einschneidend äußere Umstände auch sein mögen, Leid ist genau wie Glück im Wesentlichen ein innerer Zustand. Diese Einsicht bildet die Grundvoraussetzung für ein lebenswertes Leben. Die Frage lautet also: Welche Geisteszustände rauben uns Lebensfreude, welche hingegen nähren sie?

Wenn wir die Welt mit anderen Augen zu sehen beginnen, läuft das keineswegs darauf hinaus, dass wir den Widrigkeiten des Lebens einen blauäugigen Optimismus oder eine künstliche Euphorie entgegensetzen wollen. Solange wir Sklaven jener Unzufriedenheit und Frustration sind, die unserer inneren Verwirrung entspringen, ist es sinnlos, sich immer wieder zu sagen: »Ich bin glücklich, ich bin glücklich.« Genauso gut könnte man die Wand einer Ruine neu streichen. Bei der Suche nach dem Glück geht es nicht darum, das Leben durch eine rosarote Brille zu betrachten oder die Augen vor dem Leid und der Unvollkommenheit der Welt zu verschließen. Glück ist auch kein erhabener Zustand, den es um jeden Preis aufrechtzuerhalten gilt. Vielmehr verlangt es von uns, dass wir den Geist von toxisch wirkenden Einflüssen reinigen, etwa von Hass, Fanatismus und zwanghaften Vorstellungen aller Art, die ihn ansonsten im wahrsten Sinne des Wortes vergiften. Und es geht auch darum, zu lernen, wie man die Dinge relativieren und die Kluft zwischen den äußeren Erscheinungen und der Wirklichkeit verringern kann. Um das zu erreichen, müssen wir mehr über die Funktionsweise des Geistes und über die Natur der Dinge in Erfahrung bringen, ihre tatsächliche Beschaffenheit. Denn im Grunde geht Leid immer Hand in Hand mit einer falschen Wahrnehmung der Wirklichkeit.

Wirklichkeit und Erkenntnis

Was meinen wir mit Wirklichkeit? Im Buddhismus steht das Wort für die wahre Natur der Dinge, unbeeinträchtigt durch die gedanklichen Projektionen, mit denen wir sie überlagern. Letztere lassen eine Kluft zwischen unserer Wahrnehmung und der Wirklichkeit entstehen und führen zu einem Dauerkonflikt mit der Welt. »Wir interpretieren die Welt falsch und sagen, dass sie uns betrügt«, schrieb Rabindranath Tagore.› Hinweis Vergängliches betrachten wir als etwas Dauerhaftes, und Dinge, die zur Quelle von Leid werden, halten wir für Glück: das Verlangen nach Reichtum, Macht, Ruhm und die Befriedigung unserer Vergnügungssucht.

Mit »Wissen« meint der Buddhismus nicht die Aufnahme und Bewältigung einer Unmenge von Informationen, sondern eine Einsicht in die wahre Natur der Dinge. Aus Gewohnheit nehmen wir die Außenwelt als eine Reihe getrennter, autonomer Gebilde oder Begebenheiten wahr, denen wir Eigenschaften zuordnen, die ihnen nach unserer Überzeugung von Natur aus innewohnen. Unsere Alltagserfahrung sagt uns, dass Dinge »gut« oder »schlecht« sind. Und das »Ich«, das sie wahrnimmt, erscheint uns als ebenso konkret und real. Dieser Irrtum, der im Buddhismus Unwissenheit genannt wird, führt zu starken Reaktionen von Anhaftung und Ablehnung, die im Allgemeinen Leid zur Folge haben. Etty Hillesum bringt das mit wenigen Worten auf den Punkt: »Das große Hindernis ist immer die Erscheinung und nie die Wirklichkeit.«› Hinweis Bei der Welt von Unwissenheit und Leid – auf Sanskrit Samsara – handelt es sich keineswegs um einen Grundzustand des Daseins, sondern um ein geistiges Universum, das auf unsere fehlerhafte Realitätswahrnehmung zurückzuführen ist.

Die Welt der Erscheinungen wird durch das Wechselspiel unzähliger, sich ständig verändernder Ursachen und Bedingungen hervorgebracht. Wie ein Regenbogen, der sich bildet, wenn die Sonne durch eine Regenwand scheint, und sich wieder auflöst, wenn einer der für seine Entstehung maßgeblichen Faktoren verschwindet, existieren die Phänomene dieser Welt prinzipiell in Form eines wechselseitigen Bedingungsverhältnisses, in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander, sind weder eigenständig noch dauerhaft. Alles ist Beziehung; nichts existiert für sich und aus sich selbst, immun gegenüber den Kräften von Ursache und Wirkung. Wenn wir dieses Grundprinzip erst einmal verstanden und verinnerlicht haben, weicht die fehlerhafte Wahrnehmung der Welt einem angemessenen Verständnis, das sich auf die wahre Natur der Dinge und Lebewesen bezieht. So entsteht Einsicht. Mit Einsicht ist hier kein philosophisches Gedankengebäude gemeint. Vielmehr entspringt sie einer Grundhaltung, die es uns ermöglicht, nach und nach unsere geistige Blindheit und die durch sie hervorgerufenen störenden Emotionen – die Hauptursache unseres Leids – zu überwinden.

Jedes Wesen trägt das Potenzial zur Vervollkommnung in sich, so wie jedes Sesamkörnchen von Öl durchtränkt ist. Unwissenheit bedeutet in diesem Zusammenhang, sich dieses Potenzials nicht bewusst zu sein; wie ein Bettler, der nichts weiß von dem unter seiner schäbigen Hütte vergrabenen Schatz. Die Verwirklichung unserer wahren Natur, die Inbesitznahme dieses verborgenen Schatzes, ermöglicht uns ein sinnvolles, erfülltes Leben. Das ist der sicherste Weg zu innerem Frieden und echter Selbstlosigkeit.

Es gibt eine Ebene der Existenz, deren Abglanz sich in all unseren Gefühlszuständen zeigt, die all unseren Erfahrungen von Freude und Leid zugrunde liegt und sie zugleich in sich birgt: ein Glück, so tief, dass es, wie Georges Bernanos schrieb, »von nichts berührt werden kann – wie das gewaltige Reservoir stillen Wassers unterhalb einer sturmgepeitschten Oberfläche«.› Hinweis Das Sanskrit-Wort für diesen Seinszustand heißt sukha.

Sukha bezeichnet jenen Zustand dauerhaften Wohlbefindens, der sich einstellt, wenn wir uns von geistiger Blindheit und quälenden Emotionen befreit haben. Zugleich bezeichnet sukha die Weisheit, die uns die Welt sehen lässt, wie sie ist – ohne Schleier, unverzerrt; außerdem die Freude, sich der inneren Freiheit zu nähern, und schließlich die Güte, die von uns auf andere ausstrahlt.

Kapitel 2

Geht es im Leben darum, glücklich zu sein?

Wir müssen uns also kümmern um das, was Glückseligkeit schafft. Denn ist sie da, besitzen wir alles. Ist sie hingegen nicht da, dann tun wir alles, um ihrer teilhaftig zu werden.

Epikur› Hinweis

Wer will schon leiden? Denkt irgendjemand morgens beim Aufwachen: »Ach, könnte ich doch heute bloß den ganzen Tag leiden?« Bewusst oder unbewusst, gekonnt oder ungeschickt, voller Leidenschaft oder in aller Ruhe, auf der Suche nach Abenteuer oder inmitten unserer Alltagsroutine streben wir alle danach, glücklicher zu sein und weniger zu leiden. Dennoch verwechseln wir so oft echtes Glück mit der bloßen Jagd nach angenehmen Gefühlen.

An jedem Tag unseres Lebens finden wir tausend verschiedene Mittel und Wege, intensiv zu leben, Bande der Freundschaft und Liebe zu knüpfen, unser Leben zu bereichern, unsere Lieben zu schützen und diejenigen, die uns schaden könnten, auf Abstand zu halten. Wir investieren Zeit und Energie in diese Bemühungen, in der Hoffnung, dass sie uns und anderen Erfüllung und Wohlbefinden bescheren werden.

Aber auf welche Weise wir das Glück auch suchen, ob wir es nun Freude oder Pflicht nennen – ist nicht letzten Endes Glück das Ziel aller Ziele? Aristoteles bezeichnete es als das einzige Ziel, das wir stets um seiner selbst willen wählen und nicht als Mittel zu einem anderen Zweck. Wer Gegenteiliges behauptet, weiß im Grunde nicht, wonach er sucht. Er sucht sein Glück lediglich unter einem anderen Namen.

Der Harvard-Professor Stephen Kosslyn, einer der führenden Wissenschaftler im Bereich der Erforschung von Visualisierungsprozessen, hat einmal zu mir gesagt, ihn treibe, wenn er morgens die Augen aufschlage, nicht der Wunsch, glücklich zu sein, aus dem Bett, sondern sein Pflichtgefühl, die persönliche Verantwortung für seine Familie, seinen Mitarbeiterstab, seine Arbeit und die Menschheit allgemein. Das Wort »Glück«, so betonte er, komme in seinen Überlegungen überhaupt nicht vor. Aber denken wir ein wenig darüber nach: Die Befriedigung, die wir empfinden, wenn wir allen Schwierigkeiten und Hindernissen zum Trotz durch langfristige Anstrengung ein als lohnend erachtetes Ziel erreicht haben, weist zweifellos bestimmte Aspekte von wahrem Glück, sukha