Goethe, Schiller, Chinakohl - Thomas Spitzer - E-Book

Goethe, Schiller, Chinakohl E-Book

Thomas Spitzer

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Beschreibung

Was passiert, wenn ein deutscher Poetry Slammer nach China reist, um dort an Schulen und Universitäten Workshops zu geben? Noch dazu unter der Aufsicht des ehrwürdigen Goethe-Instituts? Als Thomas Spitzer klar wird, auf was er sich eingelassen hat, ist es zu spät: Im Laufe weniger Wochen erlebt er einen Culture Clash nach dem anderen. Er knabbert Hühnerfüße und Heuschrecken, verirrt sich in einer 13-Millionen-Stadt, besucht eine Pandabären-Aufzuchtstation, klaut einen Bierkrug beim taiwanesischen Oktoberfest und wird unfreiwillig Teil der Regenschirm-Revolution in Hongkong.

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Inhalt

CoverÜber den AutorTitelImpressumZitatKarteGuruNichtsIch kann nicht rappenIch schenk dir die WeltWer ist der Typ?UnspektakulärSchwein seinSinnloses LiedAlles nur geklautKein LiebesliedSo viel Spaß für wenig GeldMein PortemonnaieVergammelte SpeisenDu spinnst dochUngesundBlaues BlutKleines HerzBetriebsdirektorThema Nr. 1Alles mit’m MundHose runterMeine WeltMillionärShampoo & ConditionerMüdeLass es rausPech gehabtBombeMein bester FreundLocker bleibenBesoffen vor GlückBackstagepass ins HimmelreichErsatzDeutschlandGeh bitte raus (aus meinen Träumen)Tschüssi – macht’s gutUns sind die Sterne egalAllein gemachtMein FahrradEs ist, wie es istBe Cool, Speak DeutschZurück ins ParadiesDanksagungen:Das kleine Einmaleins der großen ZusammenhängeAnmerkungen

Über den Autor

Thomas Spitzer wurde 1988 in Freiburg im Breisgau geboren. Neben dem Studium der Mathematik, Volkswirtschaftslehre und Philosophie begann er als Poetry Slammer und freier Autor zu arbeiten. Seit 2009 ist Thomas Spitzer auf deutschen Slambühnen aktiv und hat seitdem über 200 Wettbewerbe in Deutschland, der Schweiz, Österreich, Luxemburg und Liechtenstein gewonnen. Er schreibt regelmäßig für taz und Titanic und freute sich über den Erhalt des Preises »Ungewöhnlichster Buchtitel des Jahres 2014« für die Essaysammlung Wir sind glücklich, unsere Mundwinkel zeigen in die Sternennacht wie bei Angela Merkel, wenn sie ­einen Handstand macht.

Thomas Spitzer

Goethe, Schiller, Chinakohl

Als Humorbotschafter im Land des Lächelns

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Stefan Lutterbüse

Titelillustration: © ZERO Werbeagentur, München

Titelfoto: © Alexander Urban

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-3080-9

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

»Wenn meine Furcht nicht so groß wäre, so würde ich mich damit trösten, dass es nicht unmöglich ist, alles anders zu sehen und doch zu leben.«

– Rainer Maria Rilke

Alle Geschehnisse in diesem Buch sind rein fiktiv.

Oder wirklich so passiert.

Guru

Also am Flughafen Taipeh sahen auf einen Schlag alle Menschen asiatisch aus. Es war, als hätte man eine große Tube Soße über meinem Sichtfenster ausgekippt. Es gab keine Buchstaben mehr, überall steckten Schriftzeichen, die fett waren wie ein Kind, dem man zu oft Schokolade schenkt. Fehlte eigentlich nur noch, dass als Willkommensschild in der Gepäckausgabe stand: Hello, Kitty! Ich fühlte mich, als hätte jemand vor meinen Augen diesen irren Trick gemacht, in dem das Tischtuch so schnell unter dem gedeckten Tisch weggezogen wird, dass alles noch an Ort und Stelle stehen bleibt: Alles war genau wie Europa. Nur ohne den Westen. Und die Westler. Und die westlichen Sprachen.

Beim Vorbeigehen an einer verspiegelten Metallwand prüfte ich mein Erscheinungsbild. Waren das Geheimratsecken? Nach der fast zwanzigstündigen Reise war mein Gesicht ein Zerrspiegel seiner selbst. Ein Nichtgesicht. Abgetragen und ausgeleiert durch den zehnstündigen Flug von Amsterdam, der so strapaziös war, dass ich auch mit dem Fahrrad hätte kommen können. Dazu kam eine schier unerträgliche Hitze. Und ein beißender Geruch.

Es roch nach Instantnudeln, Jodoform, Angst. Wie bei uns damals in den Fluren des Studentenwohnheims, wenn der einzige Asiate groß aufkochte.

Im Bereich der Gepäckausgabe standen lauter freundlich lächelnde, asiatisch aussehende Menschen, die jemanden abholen wollten. Ich lief vorbei an einem Schilderwald von in die Höhe gestreckten Namen. Hoffentlich hatten sie meinen nicht in chinesischen Schriftzeichen geschrieben, dachte ich. Erst jetzt fiel mir auf, wie wenig ich über die Organisation dieser Reise wusste. Ich pupste nervös – ein letzter Gruß aus der Airline-Küche –, sah aber im gleichen Moment ein Schild, auf dem mein Name stand. Alles war gut.

»Hallo«, sagte die zu dem Schild gehörende europäische junge Frau, »mein Name ist Hedwig. Ich bin deine Ansprechpartnerin.« Und ich dachte – ganz ohne Ironie: Na wunderbar! Ein Hoch auf das Goethe-Institut! »Jetzt fahren wir dich erst mal zum Hotel«, erklärte sie, und ein kleiner Asiate befreite mich lächelnd von meiner Last.

»Willst du irgendwas über Taiwan wissen?«, fragte sie während der vierzigminütigen Fahrt über die Schnellstraße. Hedwig saß rechts vorne, der kleine Asiate am Steuer. Er hatte sich als Lazer vorgestellt, und so komisch dieser Name war, er passte ganz vorzüglich: Lazer drückte ganz schön auf die Tube. Er war kaum größer als Tyrion Lannister. Hätte er meine Nippel lecken wollen, er hätte sich auf die Zehenspitzen stellen müssen. In seinen winzigen Patschhändchen wirkte das Lenkrad wie das Steuerrad eines großen Piratenschiffs. Fehlten nur noch die strahlenförmigen Holzzitzen.

»Wenn Sie mich so fragen«, sagte ich mit Blick auf die graubraunen Häusermonster, die sich vor uns auftürmten, »ich fühle mich, als wüsste ich gar nichts. Ein bisschen wie Jim Knopf oder so. Wie groß ist Taipeh? Wie groß ist Taiwan? Wie ist der Bildungsstandard? Was ist überhaupt ein Bildungsstandard? Wie ist die Mentalität? Gibt es Unterschiede zu China? Was für eine Sprache spricht man? Gibt es irgendwelche No-Gos? Und wie ist so – ganz grob – die Geschichte?«

Als hauptberuflicher Bühnenautor war ich viel unterwegs. In manchen Monaten hatte ich zwanzig Auftritte. Da war ich es gewohnt, mich erst auf der Fahrt über den Zielort zu erkundigen. Im Falle Ostasiens, dachte ich jetzt, hätte ich das vielleicht vorher machen sollen. Ich wusste nicht mal, was Danke hieß.

Aber Hedwig war zum Glück genau so, wie man sich eine Kulturreferentin, die Hedwig hieß, vorstellte. Tatsächlich ähnelte sie sogar ein bisschen der Eule in Harry Potter. Fehlte nur noch, dass sie hin und wieder »Guru! Guru!« krächzte und mit ihrer Kleidung flatterte.

»Taipeh«, sagte sie, »hat circa zweieinhalb Millionen Einwohner. Für chinesische Verhältnisse klingt das nach wenig. Aber da Taiwan nur 25 Millionen Einwohner hat, ist das ziemlich viel. Generell ist die Insel sehr dicht bevölkert. Du musst dir vorstellen: Belgien ist ähnlich groß wie Taiwan, hat aber nur elf Millionen Einwohner. Und schon Belgien ist ziemlich dicht bevölkert. Tatsächlich ist Taiwan eines der am dichtesten bevölkerten Länder der Welt, was umso erstaunlicher ist, wenn man bedenkt, dass ein Großteil der Bevölkerung im flachen Westen des Landes wohnt. Und dass es hier viele Erdbeben gibt.«

»Das heißt, der eine Teil des Landes ist praktisch wie eine Stadt«, sagte ich.

»Genau«, sagte sie.

»Was ist im Osten?«, fragte ich.

»Dschungel«, sagte sie.

»Dschungel?«, fragte ich.

»Dschungel«, sagte sie. »Dichter, gefährlicher Dschungel.«

Gut, dachte ich. Jetzt weiß ich das auch. Und wenn mir jemals jemand eine Pistole an den Kopf hält und sagt: »Sag mir, wie dicht Taiwan bevölkert ist, oder ich jage dir eine Kugel in deinen verfluchten Schädel«, kann ich antworten: »Äußerst dicht.«

»Der Bildungsstandard ist hoch«, fuhr Hedwig fort. »Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen liegt sogar knapp über dem in Deutschland. Generell sind die Taiwanesen etwas kultivierter und höflicher als die Chinesen. Die Gesellschaft ist sehr fortschrittlich.«

Mein Blick streifte eine Broschüre vor mir in der Sitztasche, auf der stand: Taiwan – Heart of Asia. Die Insel sah aus wie das Profil von jemandem mit einem sehr spitzen Kopf. Die Hauptstadt Taipeh befand sich an der nördlichsten Spitze. Es war also – wenn man so will – der verkopfteste Teil des Kopfes.

Taiwan wurde 1912 gegründet, stand da. Es war die erste Demokratie Asiens und das letzte Land, in dem traditionelles Chinesisch gesprochen wurde. Was auch immer das bedeutete.

»In Taiwan wird nicht ganz so viel gerempelt wie in China«, fuhr Hedwig fort, während wir durch einen savannenähnlichen Abschnitt bretterten. »Das Konkurrenzdenken hält sich in Grenzen. Du kannst eigentlich machen, was du willst. Es gilt als unhöflich, in der Öffentlichkeit zu essen oder zu trinken. Und wenn man von Leuten zum Essen eingeladen wird, sollte man das nicht ablehnen. In Taiwan geht es – wie in China auch – sehr viel um Essen. Das sieht man schon an der Sprache. Im Chinesischen gibt es unglaublich viele Redewendungen, die ihren Ursprung im Oralen haben. Jemanden ausnutzen zum Beispiel heißt auf Chinesisch ›jemandes Fleisch essen‹, Schande auf sich laden heißt ›Schande essen‹, schwere Zeiten durchmachen heißt ›Bitternis essen‹ und – du wirst es nicht glauben – ›jemanden anmachen‹: Sojabohnenkäse essen.«

Sehr gut, dachte ich. Essen, das konnte ich. Zwar hatte ich noch nie Schande gegessen, aber wahrscheinlich schmeckte sie wie Hühnchen.

Alles um uns herum war braun. Braun wie ein Backenbart. Braun wie eine verschrumpelte Nabelschnur. Braun wie ein Album von AnnenMayKantereit. Oder ein Tier, das Bruno heißt.

Es war, als würden wir über eine Landkarte aus dem Wilden Westen im Maßstab 1:1 fahren. Fehlte nur noch, dass George W. Bush persönlich auf einem Büffel vorbeigeritten kam. Immer wenn ich im Ausland war, wurde mir klar, wie abwechslungsreich die deutsche Landschaft doch war mit ihren Hügeln und Laubwäldern und Badeseen und Schotterwegen und Rapsfeldern, auf denen sich Bussarde und Molche tummelten. Aber in diesem Ödland zwischen dem taiwanesischen Flughafen und der Hauptstadt Taipeh wäre ja schon ein herumrollender Heuballen oder eine zirpende Grille oder irgendetwas anderes, das man einblenden konnte, wenn ein Gag nicht zündete, eine echte Abwechslung gewesen. Na ja, dachte ich. Andere Länder, andere Staaten.

Man sagt ja immer, die Seele brauche etwas länger, um nachzureisen. Und meine Seele steckte immer noch irgendwo am Flughafen Tegel fest, vor einer Anzeigetafel mit einem Smoothie in der Hand. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass ich jetzt in Asien war. Und dort Geschichte schreiben würde.

Poetry-Slams in China. Das hatte es noch nie gegeben.

Nichts

In China gibt es angeblich über zweihundert Millionenstädte. Zum Vergleich: In Deutschland gibt es vier. Nämlich Berlin, München, Hamburg und Köln.

In Europa gibt es um die dreißig Millionenstädte, in den USA um die zehn. In China? Zweihundert.

Noch einmal: zweihundert. Zwei. Hundert. Millionenstädte.

Zwei. Hundert.

Das Papier bietet leider nicht viele Möglichkeiten, diesen Umstand adäquat zu verdeutlichen. Oder haben Sie schon einmal von Wafangdian gehört, einer frischgebackenen Millionenstadt, deren Einwohnerzahl noch Ende der Nullerjahre auf etwas über 250 000 geschätzt wurde?

Hörten Sie von Nanyang, von Hebi, von Wuzhou? Oder von den Millionenstädten Zhumadian, Jingdezhen, Dongying? Nein? Klingelt da gar nichts? Was ist mit Huizhou, Chuzhou, Qitaihe, was mit Baicheng, Tieling, Suizhou? Kennen Sie Beihai, Zhongshan, Pingxiang, Anqing, Chifeng, Putian – alles Städte, die größer sind als München und doch in der westlichen Welt so unwichtig, dass sie teils nicht einmal einen eigenen Wikipedia-Eintrag haben?

Ist das nicht verrückt, dass Sie wahrscheinlich schon zweitausend Fotos von Kim Kardashians linker Pobacke gesehen, aber kein einziges Mal von Pingxiang gehört haben?

Allein Anqing hat über sechs Millionen Einwohner – das ist fast so viel wie alle deutschen Millionenstädte zusammen. In ganz Europa gibt es nur eine einzige Stadt, deren Stadtkern größer ist als Anqing. Und das ist London.

Man kann noch so viele Fun Facts vergessen, diesen sollte man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen. Und wenn man von Günther Jauch oder irgendeinem anderen Rätselwicht je danach gefragt wird, sollte man wie von der Tarantel gestochen aufspringen und schreien: »Zweihundert Millionenstädte! Es sind zweihundert Stück! Und jetzt her mit meiner Kohle!«

Nicht einmal in der gesamten restlichen Welt zusammen gibt es so viele Millionenstädte wie in China. Je nachdem, wie man zählt, kommt man außerhalb Chinas auf eine Zahl zwischen einhundert und einhundertfünfzig. Aber in China gibt es nicht nur zweihundert Städte mit einer Million Einwohnern oder mehr, inzwischen haben allein fünfzig Städte mehr als zwei Millionen Einwohner. Unter den hundert größten Städten der Welt befinden sich vierzehn chinesische – wenn man nur die Stadtkerne mitrechnet. Rechnet man die komplette Umgebung mit, zählte man also zum Beispiel das Ruhrgebiet als eine einzige Stadt, die größte Stadt Europas, so ist das chinesische Chongqing die größte Stadt der Welt mit rund 32 Millionen Einwohnern und – jetzt halten Sie sich fest – einem Stadtgebiet, das flächenmäßig ungefähr so groß ist wie Österreich.

Zudem hat China etwa dreitausend »kleine« Städte. Wobei klein zwischen 100 000 und 500 000 Einwohner bedeutet. Ein Blick auf die Liste der größten Städte unseres Nachbarlandes Schweiz lässt vermuten, wie absurd diese Zahl ist: Da haben wir Zürich mit etwas mehr als 400 000 Einwohnern, Genf mit fast 200 000 Einwohnern, Basel mit 175 000 Einwohnern, Lausanne mit 135 000 Einwohnern, Bern mit 130 000 Einwohnern, Winterthur mit 106 000 Einwohnern, Luzern mit 80 000 Einwohnern und St. Gallen mit 75 000 Einwohnern.

Das sind die acht größten Städte der Schweiz. Und jetzt kommt’s: In China wäre jede dieser Städte ein Dorf, mehr noch: Luzern und St. Gallen wären Dörfchen, zu vergleichen mit – sagen wir – Westerland auf Sylt.

Ich fasse mich kurz: China ist einfach scheißegroß.

Eine Zahl wie 1,35 Milliarden Einwohner lässt sich schnell sagen, aber zweihundert Kölns und Hamburgs sind dann doch relativ unvorstellbar. Ja, es fällt schwer, sich der Größe Chinas adäquat bewusst zu werden, ohne es mit der Angst zu bekommen. Über zwölf Prozent der Weltbevölkerung spricht Chinesisch, wobei die zweitmeistgesprochene Sprache Spanisch nur von circa sechs Prozent gesprochen wird. In China gibt es mehr Menschen, die Englisch sprechen, als in den USA. Und es gibt mehr Leute, die jeden Sonntag in eine christliche Kirche gehen, als in ganz Europa. Generell ist praktisch jede Religion und Glaubensrichtung häufiger in China vertreten als in jedem anderen Land der Welt. Es gibt zum Beispiel allein über zwanzig Millionen chinesische Muslime. Und dabei sind offiziell nicht einmal zehn Prozent der Chinesen religiös.

Und – mein Gott – die chinesische Wirtschaft! Jeder dritte VW wird nach China exportiert (nach dem Abgasskandal sind es wahrscheinlich noch mehr). Wäre Walmart ein Land, es wäre Chinas sechstgrößter Handelspartner. Das ist doch einfach nicht zu fassen! Im wahrsten Sinne des Wortes! Jeden fünften Tag wird in China ein Wolkenkratzer gebaut, wenn man diese als Hochhäuser definiert, die höher sind als 150 Meter. Zum Vergleich: In ganz Deutschland gibt es überhaupt nur fünfzehn Wolkenkratzer.

Die aktuelle – und unmittelbar bevorstehende – geopolitische Lage wird gerne skizziert als eine Art Kalter Krieg zwischen den USA, Russland, Europa, Arabien und China. Und man kann sich darüber streiten, inwiefern diese Ansicht stimmt und was das jetzt bedeutet und wer aktuell am meisten Macht hat, wer am meisten Macht haben wird und so weiter, aber Fakt ist: China hat als Einzige dieser fünf Großmächte eine Geschichte, die mehrere tausend Jahre alt ist.

Wenn die meisten Länder der Welt an ihre zivilisatorischen Wurzeln zurückdenken, denken sie an das alte Griechenland, an Ägypten oder sogar an die Maya. Die gesamte westliche Philosophie, heißt es zum Beispiel, sei nichts als eine Fußnote zu Platon. Die Maya hätten die moderne Zeitrechnung entwickelt, die Ägypter die moderne Architektur. Gutenberg hätte mit seinem Buchdruck die Zeit der Aufklärung eingeleitet. Aber was gerne vergessen wird, ist: Das alles gilt nicht für China.

China hat immer schon sein eigenes Ding gemacht. Und die westliche Welt kann da erst seit der Industrialisierung mithalten.

In China wird unglaublich viel Fleisch gegessen. Zum Beispiel lebt weltweit jedes zweite Schwein in China. Das ist bekannt. Aber auch Umweltschutz und erneuerbare Energie sind hier ein boomender Markt. Mittlerweile ist China das Land, das am meisten in den Umweltschutz investiert und Spezialisten aus aller Welt ins Land lockt, um gemeinsam an Lösungen für den Klimaschutz zu arbeiten. Auf dem Entwicklungskontinent Afrika wird mittlerweile jeder zweite Bauauftrag an eine Firma aus China vergeben. Das heißt, auch in Sachen Entwicklungshilfe sind die Chinesen ganz vorne mit dabei.

Chinesische Studenten sind sowohl in Deutschland als auch in den USA die mit Abstand am häufigsten vertretenen Ausländer an Universitäten. Und immer fleißig.

Sämtliche Vergleiche machen deutlich: Nicht nur könnte China unser aller Zukunft werden, westliche Entwicklungen sind im Vergleich zu chinesischen ein Tropfen auf den heißen Stein. Man weiß ja nicht, ob die »Gelbe Gefahr« wirklich eine Gefahr ist. Aber sagen wir so: Die Frage, ob China das 21. Jahrhundert beherrschen wird, ist sehr real. Und wird in Deutschland für meinen Geschmack zu selten diskutiert. Gleichberechtigung, Vegetarismus, Kündigungsschutz, Elternteilzeit, Terrorismus, die Flüchtlingskrise, die Eurokrise, die AfD, der Brexit, Steuersünder, Varoufakis, Böhmermann, Erdoğan, Christiano Ronaldo, die Bekämpfung ausbeuterischer Strukturen, Mr. Robot oder ob Xavier Naidoo zum Eurovision Song Contest antreten sollte, einfach alles, was uns in den letzten Jahren beschäftigt hat, könnte schon sehr bald zu einer mickrigen Randnotiz in der Weltgeschichte verkommen. Also sollte man nicht den Fehler machen, die Chinesen aus der Gleichung auszuklammern und sich angesichts dieser riesigen, modernen, stetig wachsenden Bevölkerung zu verhalten wie ein Kind, das sich die Augen zuhält und denkt, dass die Welt wirklich verschwunden ist, nur weil es diese nicht sehen kann.

Es war erschreckend, wie wenig ich vor meiner Reise im Spätsommer 2014 über China wusste. Und dass mir das bis jetzt nichts ausgemacht hatte!

Ich wusste, dass China irgendwie eine sehr alte Tradition hat. Feuerwerkskörper, hatte ich gehört, gab es in China schon vor Jesu Geburt. Und Papiergeld schon vor über einem Jahrtausend, als die Fugger bei uns noch Sterne putzten. Aber ansonsten wusste ich wirklich nicht besonders viel, und die wenigen Bekannten, die China gesehen hatten, erzählten sehr Widersprüchliches. Dass Shanghai eine der modernsten und schönsten Städte der Welt sei auf der einen Seite. Dass es auf der anderen Seite sehr dreckig sein sollte, gerade auf dem Land. Dass die Leute auf den Boden spuckten und mit ihrem Schwein auf dem Gepäckträger durch die Straßen fuhren. Und dass China deshalb so anfällig für Seuchen sei.

Ich hatte von dem Smog in Peking gehört. Dass man dort an besonders schlimmen Tagen seine Hand nicht vor dem Gesicht sehen könne. Und ich wusste von der Ein-Kind-Politik. Ich wusste, dass viele Genies aus China kamen. Vor allem aus dem Bereich der Mathematik und der klassischen Musik. Diese Leute, die schon mit neun Jahren die dreizehnte Wurzel einer hundertstelligen Zahl ziehen können und dir mit dem einen Fuß Mozart auf einem gläsernen Flügel vorspielen und mit dem anderen ein Kreuzworträtsel lösen.

Ich wusste, dass die Chinesen Messer und Gabel nicht nur erfunden, sondern sogar vor den Stäbchen verwendet hatten. Dass die Glückskekse wiederum eigentlich nicht in China erfunden wurden, sondern in den USA. Dass jede dritte Socke aus einer bestimmten Stadt in China kam. Dass diese Stadt mittlerweile als Sock City bezeichnet wurde. Dass Tischtennis der chinesische Nationalsport war. Dass man China auch als das Land des Lächelns bezeichnete. (Oder war das Japan?)

Aber genau genommen waren das mehr Popkulturzitate als ein Wissen. Hätte ich in Stichworten zusammenfassen müssen, was ich über das wahrscheinlich wichtigste Land der Welt wusste, wäre dabei etwas rausgekommen wie: Kung Fu. Plagiate. Gelbe Gefahr. Kommunismus. Winkekatzen. Dragon Ball Z. Und noch ein paar andere Dinge, bei denen ich nicht mal genau wusste, ob sie japanischen, koreanischen oder eben chinesischen Ursprungs waren wie Comics, Informatik und Schriftzeichen.

Wenn ich an China dachte, dachte ich nur an Klischees, Vorurteile, Ammenmärchen. Und erst recht hatte ich keine Ahnung, was mich hier als Bühnenautor erwartete. Schließlich sind bei unseren Schreibwettbewerben nur selbst geschriebene Texte erlaubt. Außerdem sind sie ja durch und durch demokratisch: Das Publikum bestimmt den Sieger, nicht irgendein Diktator. Und überhaupt: Wie sollte kreative Arbeit überhaupt möglich sein, wenn die Leute schon beim Schreibprozess um ihren Kopf fürchten müssten?

Viele Leute, so habe ich das Gefühl, wollen erst gar nicht nach China. Das Land ist ihnen unheimlich. Gerade nach den olympischen Spielen. Vielleicht meinen sie, China schon zu kennen, aber im Grunde geht es ihnen wie mir vor der Reise: Sie wissen einen Scheiß.

Ich kann nicht rappen

»Hochchinesisch ist die Landessprache«, sagte Hedwig weiter und zerfetzte die Kette meiner Assoziationen wie ein Kampfhuhn. »Taiwan war schon früh unabhängig. Die offizielle Bezeichnung ist ja Republik China, während China Volksrepublik China heißt. Das ist wie damals mit der DDR, nur als Insel: Beide sehen sich als das eigentliche China, und es ist nicht möglich, als westliches Land offizielle Beziehungen zu beiden Republiken zu führen.«

Im Radio lief Katy Perry. Und wie mein Blick so auf den Fahrer fiel, der mit seinen patschigen Griffeln im Takt schnippte, kam ich mir auf einen Schlag so unendlich deutsch vor. Mit meinen blauen Augen und den blonden Locken und den Ängsten und Neurosen.

»Früher haben die westlichen Länder gute Kontakte zu Taiwan gepflegt. Dann war es – Mitte der Siebzigerjahre – plötzlich wirtschaftlich nicht mehr so interessant. Zumindest uninteressanter als China. Frankreich legte als erstes Land den Kontakt zu Taiwan auf Eis, um einen mit China aufzubauen. Die anderen europäischen Länder kippten wie Dominosteine. Das ist eigentlich ziemlich schade: Mittlerweile pflegen auf der ganzen Welt nur circa zwanzig Staaten einen intensiven Kontakt zu Taiwan. Und die meisten davon sind sehr kleine Underdog-Staaten. Taiwan spielt im politischen Weltgeschehen eigentlich keine Rolle mehr. Globalpolitisch gesehen befindet es sich in einem Vakuum.«

Apropos Vakuum, dachte ich und stellte fest, dass ich kein Bargeld bei mir trug. Ich war völlig abgebrannt. Generell war ich denkbar schlecht ausgestattet. Ich hatte nur lange Hosen und nichts zum Baden dabei, was mir angesichts der 32 Grad, die das Thermometer vorne am Armaturenbrett anzeigte, wie ein schlechter Witz erschien.

Hedwig brachte mich zum Hotel, einem kleinen, fenster- und schnörkellosen Haus, das in etwa so gemütlich war wie die Gebäude auf den Euronoten, und verabschiedete sich. »Du kannst es bestimmt kaum erwarten, die Gegend unsicher zu machen!«, sagte sie. »Aber damit musst du dich noch ein wenig gedulden.«

Ehrlich gesagt konnte ich es kaum erwarten, endlich das Zimmer zu beziehen, einen schlechten Film zu schauen und dabei wegzudösen. Als ich die Tür zugemacht hatte, merkte ich, dass mein – ebenfalls eher wenig einladendes – Zimmer ein paar eigenartige Accessoires hatte. Normalerweise sind Hotelzimmer in der mittleren Preisklasse ja alle irgendwie gleich. Mülleimer, Kleiderhaken, Klobürste. Kennste eins, kennste alle. Aber ich hatte einen Fernseher auf der Toilette sowie eine Arschdusche, die mit ihren ganzen Funktionen und Lämpchen sehr futuristisch aussah und sich merkwürdig anfühlte. Vielleicht war das auch einfach nur das Moment der Überraschung. Jedenfalls hätte ich nicht gedacht, dass ich mir als erste Amtshandlung in Taiwan erst einmal die Rosette duschen würde. Naja. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen.

Beim Aufstehen brummte mein Schädel wie ein sehr dicker Mönch in der Kirche beim Singen. Aufgrund der Zeitverschiebung – wenn in Taiwan null Uhr ist, ist es in Deutschland erst 18 Uhr – hatte ich bis fünf wach gelegen und mir dann eine Schlaftablette eingeschmissen, um wenigstens nicht ganz unfit um sieben aufzustehen, was natürlich dazu führte, dass ich die Vivinox stark immer noch nicht abgebaut hatte, als wir um halb neun in der Soochow-Universität in Taipeh ankamen. Aber der Reihe nach.

»In Taiwan gibt es über zweihundert Universitäten«, erzählte Sebastian auf der Taxifahrt zum ersten Auftritt, während er mir etwa hundert Euro in bar nebst einer formschönen offiziellen Einladung zu den Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit in zwei Tagen zusteckte. Es war immer wieder erstaunlich, wie viel eine Handvoll bedrucktes Papier ändern konnte. Mit dem Geld in der Hand fühlte ich mich auf einen Schlag geborgen. Ein Hoch auf das Goethe-Institut!

»In Deutschland gibt es um die hundert Unis, obwohl Deutschland viermal so groß ist«, sagte er.

Immer diese Fakten, dachte ich auch. Die konnte ich mir doch sowieso nicht merken! Und wenn schon. Wen kümmerte es? Woher sollte ich wissen, ob hundert Unis nun viel oder wenig waren? Menschen sind nicht gebaut, um diese Dinge zu wissen.

Sebastian trug lange blonde Haare und einen Borstenschnitt an der Seite. Wie Marco Reus. Oder Woody Woodpecker.

Außerdem hatte er ein riesiges weißes Gebiss. Das Gebiss war so groß, man könnte eher sagen, es hatte ihn. Es strahlte wie eine Diskokugel, und die daran hängende Person ließ keine Gelegenheit aus, breit zu grinsen, was mich zugegebenermaßen einschüchterte, da meine Zähne eher normal verwittert sind und ich manchmal nach dem Essen Reste zwischen ihnen hängen habe. Zudem habe ich noch einen Milchzahn, direkt hinter einem Eckzahn. Er ist sehr klein und etwas braun. Eigentlich nur noch so eine Fassade.

Mit seinem Hemd, das zwar gewaschen war, aber mindestens drei Nummern zu groß, ungebügelt und geradezu epileptisch gefärbt, sah Sebastian aus wie eine Mischung aus VWL-Student und diesem schwulen Bestatter aus Six Feet Under. Ob wir in Deutschland wohl miteinander befreundet wären?

Jedenfalls ergab sich die Tatsache, dass ich aufgrund der Tabletteneinwirkung meine Augen geschlossen hielt und seine Informationen nicht mit einem Lächeln oder Nicken meines Schädels goutierte, vielmehr aus dem meiner Müdigkeit geschuldeten allgegenwärtigen Phlegma und weniger einer klaren persönlichen Abneigung.

»Der frühe Vogel fängt den Wurm!«, sagte Sebastian irgendwann und lachte laut. Ja, dachte ich. Aber der frühe Clown wird gefrühstückt.

An der Universität wurden wir sehr herzlich von einer kleinen Schülerin empfangen. Genauer genommen waren es drei Schülerinnen, die in Wirklichkeit keine Schülerinnen waren, sondern Studentinnen, die nur so aussahen wie Schülerinnen. In der Tat sahen sie dermaßen jung aus, es war beinahe grotesk. Man konnte nicht schätzen, wie alt sie waren, sie hätten genauso gut fünfundzwanzig wie zwölf sein können. Was wie die billige Ausrede eines Pädophilen klingt, entspricht der Wahrheit, ich schwöre es bei dem Schniepi meines Vaters!

Die Studentinnen lächelten viel und sprachen ein ziemlich resolutes Deutsch. Wenn ich daran dachte, wie wenig Französisch ich nach fast fünf Jahren Unterricht konnte, lief es mir kalt den Rücken herunter. Es reichte gerade mal aus, um zu wissen, was Ein Esel hat eine Ananas heißt, nämlich: »Un âne a un ananas«.

Draußen hing ein kleines Holzschild, auf dem Department for German Language and Culture stand.

Wir klopften und betraten das Sekretariat der deutschen Fakultät. »Können Sie noch ein bisschen warten?«, sagte der Professor, der gerade in ein forderndes Gespräch mit seiner Sekretärin vertieft zu sein schien. Auch er war von geradezu absurder Winzigkeit. Wie ein Pantoffeltierchen oder so, was optisch noch von einer bizarr großen Uhr und einer geradezu verstörend ballonartigen Hose unterstrichen wurde. Das Alter des Professors hätte ich spontan auf 31 geschätzt. Dabei war er sicher schon mindestens Mitte fünfzig.

Die Sekretärin hingegen sah genauso aus wie alle Sekretärinnen. Wenigstens etwas, dachte ich. Eine Konstante. Wahrscheinlich waren alle Sekretärinnen auf der ganzen Welt gleich. So wie die Zahl Pi. Oder die Tatsache, dass der Kaffee bei Starbucks nach Rindenmulch schmeckt. Oder Oreo-Kekse. Da weiß man auch immer, was man kriegt.

Wir sahen uns um.

»Ist es nicht interessant«, sagte Sebastian, »wie man Deutschland in anderen Ländern wahrnimmt?« Seine Augen glitzerten vor Neugierde, sodass man kaum zwischen Seh- und Kauwerkzeug zu unterscheiden vermochte.

»Hm, passt schon«, sagte ich und exte zwei Tassen Kaffee, um endlich wach zu werden. Mein Gesicht war zerknautscht und verquollen, mein Magen rumorte. Ich fühlte mich so, wie der Autor von Game Of Thrones aussieht. Aber natürlich hatte Sebastian recht! In den Bücherregalen stand eine wilde Auswahl deutscher Klassiker. Es waren keine fünfzig Titel, darunter Ansichten eines Clowns, Die Verwandlung, Die Vermessung der Welt als Verfilmung auf DVD, ein Bildband mit den schönsten Szenen der Aufstiegssaison des FC Augsburg, ein Taschenbuch mit einem Titel wie Wandern mit Wein und eine Hausarbeit über die Piratenpartei. Irgendwo stand auch noch eine Plüschpuppe von Janosch.

Mein Blick fiel auf eine herumliegende Broschüre, die offensichtlich ein Austauschstudent geschrieben hatte. How To Not Die In Taiwan stand vorne drauf in einer Schrift, die abenteuerlich wirken sollte, aber das einzig Abenteuerliche daran war die Einfallslosigkeit, mit der sie ausgewählt worden war.

»In Taiwan«, las ich, »ist nicht Schwarz, sondern Weiß die Farbe der Trauer. An Beerdigungen tragen alle weiße Kleidung.« Ein klassischer Fun Fact, dachte ich. Frei nach dem Motto: Not interesting, but true.

»So, jetzt«, erschreckte mich der winzige Professor in nahezu perfektem Deutsch.

Er ging vom Schreibtisch zu uns rüber und musterte mich abschätzig. »Gleich geht’s los!«

»Die Schüler haben Pause?«, fragte ich.

»Die Studenten«, erwiderte er in einem strengen Ton. Jetzt wurde er fast ein bisschen arrogant. »Und ja: Sie haben Pause. Also, wer sind Sie eigentlich?«

»Ich … äh … bin Poet!«, rief ich und versuchte dabei so enthusiastisch zu klingen wie nur irgend möglich.

»Sie, ein Poet?«, fragte der Professor und tastete mich mit seinen Äuglein ab. Vielleicht hätte ich mir eine ordentliche Hose anziehen sollen. Das Shooting-For-Success-Logo auf meiner glitzernden Basketballbuxe war schon recht zerfleddert, und an meinen Turnschuhen klebten immer noch dicke Dreckbollen vom letzten Regentag vor zwei Wochen im bayerischen Wald.

»Sie sehen gar nicht wie ein Poet aus«, monierte der Professor, während er begann, Unterlagen für den Unterricht zu sortieren.

»Was haben Sie denn erwartet?«, fragte ich. »Lockenperücke und Federkiel?«

»Sie haben ja recht«, sagte der Professor. Aber eine richtige Hose hättest du dir trotzdem anziehen können, dachte ich.

»Also: Meine Studenten«, sagte der Professor, »haben ganz unterschiedliche Deutschkenntnisse. Manche waren schon ein ganzes Jahr in Münster. Andere haben erst vor wenigen Monaten angefangen, Deutsch zu lernen. Was machst du eigentlich?«

Ich erklärte ihm, was ich in Deutschland mache.

»Ein Rap-Musikgedicht?«, fragte der Professor begeistert.

»Nein«, sagte ich. »Es ist ähnlich wie Hip-Hop. Der Unterschied ist …« Ich stockte. Ach, scheiß drauf, dachte ich. »Der Unterschied ist: Beim Hip-Hop sagt man: Ich ficke deine Mutter. Bei uns sagt man: Meine Mutter ist die Geilste! Verstehen Sie? Es ist ein anderer Ansatz, aber es kommt auf dasselbe raus. Es sind letztlich zwei Seiten einer Medaille.«

»Verstehe«, sagte der Professor nachdenklich. Es folgte eine Pause. »Also, was genau machen Sie mit meiner Mutter?«

Zehn Minuten später stand ich vor zwanzig Taiwanesen, die hauptsächlich weiblich waren, auch wenn man von dieser Weiblichkeit sehr wenig mitbekam. Sie sahen androgyn aus wie der Sänger einer Mädchenband. Ich musste daran denken, wie ich mich in meiner Kindheit einmal gefragt hatte, ob man kleine Maden auch Mädchen nennen würde. Also Mäd-Chen.

Sebastian saß am Rand des Raumes und blätterte abwesend in einer Broschüre. Scheiß Kultur, dachte ich. Der hat’s gut. »Hallo«, sagte ich. »Mein Name ist Thomas. Ich bin 26 Jahre alt und Bühnenpoet.« Die Taiwanesen glotzten mich an, als hätte ich mich vor ihren Augen in einen sprechenden Zucchino verwandelt. Und so fühlte ich mich auch.

Dann erklärte ich die drei Regeln meines Bühnensports. »Erstens«, sagte ich, »müssen die Texte selber geschrieben sein. Zweitens gibt es ein Zeitlimit von meist fünf Minuten – manchmal mehr, manchmal weniger. Und drittens sind Requisiten verboten. Das und nur das macht einen Poesiewettbewerb aus. Stilvorgaben gibt es keine. Theoretisch könntest du auch fünf Minuten auf der Bühne liegen und gar nichts sagen. Auch das würde passen. Oder du liest einen DNA-Strang vor. Auch das habe ich schon einmal gesehen.«

»DNA?«, murmelte ein Taiwanese seinem Banknachbarn zu. »Was ist …?«

»Egal«, sagte ich. »Das führt jetzt zu weit. Jedenfalls entscheidet dann das Publikum nach den Vorträgen, welche zwei Poeten sie noch einmal in einem Finale sehen wollen. Das geschieht mal per Publikumsapplaus, mal per hoch gehaltenen Noten wie beim Skispringen. Die Finalisten tragen jeweils noch mal einen Text vor. Und dann wird ein Sieger gekürt.«

Ich trug einen Text vor, die Studierenden lauschten gespannt. An einer Stelle gab es beinahe so etwas wie einen Lacher, wobei sich später herausstellte, dass sich nur ein dicker Student, der Lion – also wie Löwe auf Englisch – hieß, an einem Zitronen-Muffin verschluckt hatte. Wieso, dachte ich kurz, haben hier alle so seltsame Namen?

Ansonsten verlief die Stunde vorwiegend normal. Hin und wieder konnte ich ein Schmunzeln erspähen. Zum Beispiel als ich erzählte, dass ich das hauptberuflich machte und damit mehr Geld verdiente als meine Schwester, eine ausgebildete Zahnärztin. Und als ich von Julia Engelmann erzählte und ihrem Video, das mit den acht Millionen Klicks auf Facebook. Eigentlich nur bei Fakten. Und auch dann nur sehr dezent, wie mit Pastellfarben gemalt.

»Gibt es irgendwelche Fragen?«, fragte ich. Vom Publikum kam nervöses Rascheln. Aber immerhin nicht nichts.

Ich schenk dir die Welt

Ein interkultureller Austausch bietet nicht nur die Möglichkeit, sich sprachlich zu entwickeln und eine andere Kultur zu entdecken, sondern ist auch die ideale Gelegenheit für einen Tapetenwechsel und um schulisch ein bisschen auszuspannen. So die Theorie. De factokann das sehr schnell sehr stark in die Hose gehen. So wie jedes noch so spannende Konzept an Glanz verlieren kann, wenn es in der Schule von Lehrern oder anderen Alkoholikern vorgetragen wird. So dachte ich zum Beispiel bis ich siebzehn war, dass Dramen Stücke wären, in denen es grundsätzlich darum geht, dass sich zwei Menschen möglichst unglücklich ineinander verlieben, möglichst kompliziert ausdrücken und am Schluss möglichst tot sind, weil wir uns – statt all den spannenden Dramen, die man hätte lesen können – nur Iphigenie auf Tauris, Kabale und Liebe und Emilia Galotti in den Hirnkasten gekurbelt hatten.

Und so scheitern auch Austauschprogramme hin und wieder grandios, wie ich kurz am Beispiel meines französischen Austauschschülers Mael illustrieren möchte, der mich besuchte, als ich zwölf war.

Mael war ein netter Kerl. Nicht zu nett – was für einen dreizehnjährigen Jungen wahrscheinlich ohnehin keine positiv herausragende Eigenschaft, sondern eher bedenklich wäre. Mael war kräftig – und damit meine ich muskulös, nicht fett – und fahlblond. Er spielte Rugby und schaute gerne Actionfilme. Er interessierte sich gar nicht für Deutschland und ein bisschen für Mädchen und stark für deutsches Bier. So weit, so normal. Aber meinen vorpubertären Brüdern und mir passte es einfach nicht, dass er sich für ein paar Wochen bei uns einnisten sollte. Wir hatten damals Besseres – oder nein, sagen wir – wir hatten damals irgendwas zu tun. Und Kinder sind halt manchmal gemein. Und schließlich waren wir immer unausgeglichen, nie allein: Den Wald vor der Haustüre hatten wir immer zu dritt benutzen müssen. Und so war das Erste, was wir dem armen Franzosen beibrachten, der Hitlergruß.