Goldbergs Liste - Thomas Lang - E-Book

Goldbergs Liste E-Book

Thomas Lang

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Beschreibung

Minkin, Ex-Staatsanwalt mit Hang zu Brau-Erzeugnissen, lässt sich zu seinem ersten Auftrag überreden. Er soll für Goldberg eine Liste finden. Goldbergs Liste. Dazu muss er nach Sevilla. Kein Zuckerschlecken für den spätpubertierenden Enddreißiger mit Flugangst und Panikattacken. Seine Methodik pendelt zwischen Abwarten und Nix tun. Erst als Minkin die eine oder andere falsche Frage stellt, kommt er dem Inhalt der Liste näher. Seine Affinität zum Gerstensaft ist ihm dabei genauso eine veritable Hilfe wie sein Talent, sich aufs Unwesentliche zu konzentrieren. Erst als Minkins alter Freund Caesar drauf geht, hat Minkin die Schnauze voll und nimmt die Fährte auf. "Einer muss es halt richten, Bruce Willis oder ich."

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Über dieses Buch

Minkin ist bei der Staatsanwaltschaft rausgeflogen. Seither schlägt er seine üppig vorhandene Freizeit in Pilsbars tot. Aus reiner Trägheit lässt er sich zu einem Auftrag überreden. Minkin soll für Goldberg eine Liste finden. Goldbergs Liste. Dazu muss er nach Sevilla. Kein Zuckerschlecken für den spätpubertierenden Endreißiger mit Flugangst und Panikattacken. Erst als Minkin wieder zu Hause die eine oder andere falsche Frage stellt, kommt er dem Inhalt der Liste näher. Seine Affinität zum Gerstensaft ist ihm dabei genauso eine veritable Hilfe wie sein Talent, sich aufs Unwesentliche zu konzentrieren.

Minkin klärt den Mord am Brauer Max, findet Goldbergs Liste und deckt nebenbei den größten Dopingskandal in der Geschichte der Fußballweltmeisterschaften auf. Und das 500 Jahre alte Reinheitsgebot fürs Bier will natürlich auch gerettet werden. um es mit Minkin zu sagen: »Einer muss es richten, Bruce Willis oder ich.«

Knappe Sprache, lakonischer Witz, schrullige Typen machen das Buch aus. Nebenbei wird ein neues Krimi-Genre aus der Taufe gehoben: Der Schräggastrokrimi.

Thomas Lang

wurde 1968 im Kraichgau geboren. Nach Kindheit, Schule und Lehre bei einer landwirtschaftlichen Genossenschaft im Kraichgau studierte er in Tübingen Jura. Seit 15 Jahren arbeitet er als Anwalt in Stuttgart. Daneben ist er Autor und Ensemblemitglied beim Stuttgarter Juristenkabarett. Er schreibt regelmäßig im Stuttgartmagazin LIFT die kleine und feine Kolumne »Schräggastro – wir gehen dahin, wo Sie sich nicht hintrauen.« Er ist verheiratet und hat vier Kinder.

Thomas Lang

Goldbergs Liste

Minkins erster Zufall

Oertel+Spörer

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen.Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden.Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH+Co. KG 2015Postfach 16 42 · 72706 ReutlingenAlle Rechte vorbehalten.

Titelbild: © Hoda Bogdan, FotoliaUmschlaggestaltung + Satz: Oertel + Spörer Verlag, Bettina MehmedbegovićISBN 978-3-88627-682-0

Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

»So wagts! Was ihr geerbt habt, was ihr erworben /Was euch der Väter Mund erzählt, gelehrt, /Gesetz und Brauch, der alten Götter Namen /Vergesst es kühn, und hebt, wie Neugeborene /Die Augen auf zu göttlicher Natur…«

Hölderlin

»Okay, klar. Reichts noch für ein Schnelles?«

Minkin

Prolog

Minkin hätte gerne etwas von der düsteren Klarheit eines Jack Taylor abbekommen.

Von der Entschlossenheit, der Unbeirrbarkeit, ganz gleich ob sie geradewegs ins Verderben führt. Oder von der kalten Präzision eines Jason Bourne. Stattdessen war er ein spätpubertäres, verweichlichtes Kind der Neunziger Jahre. Eines Jahrzehntes, in der Pose mit Haltung verwechselt wurde. Nirvana wurde gleichgesetzt mit Widerstand und die Revolution wurde am CD-Regal ausgetragen. Dann kamen die Nuller Jahre. Die waren, wie der Name schon sagt, gar nichts. Ein verlorenes Halbfinale gegen Italien. Klimaerwärmung. Das war’s. Dann kam Minkin und seine Zufälle. Die waren nichts von alledem.

Vom Feeling her ein gutes Gefühl

»Wenn Sie mehr über die Liste erfahren wollen, müssen Sie nach Sevilla. In die Bar Antigua Casa de la Guardia«, sagte der Kerl, der seit wenigen Augenblicken in Minkins Zimmer stand. Der Mann nannte sich Goldberg.

»Ziemlich langer Name für eine Bar«, war das Einzige, was Minkin dazu einfiel.

»Mann, ich hab Mühe mir meinen zweiten Vornamen zu merken. Wie soll ich mir den Namen einer Bar merken, der mehr als drei Silben hat?«

Goldberg erkannte das Problem.

»Aufschreiben«, entgegnete Goldberg. Er gab Minkin Papier und Bleistift.

Guter Mann, dieser Goldberg. Minkin wurde nicht klug aus dem Kerl, aber er ist schlau. Verdammt schlau! Er weiß, was zu tun ist. Minkin ahnte, dass er auf der Hut würde sein müssen, wenn er die Sache heil überstehen wollte. Das wollte er.

Der Mann, der sich Goldberg nannte, gab vor, er sei Juwelier. Das war lächerlich. An der Grenze zum Antisemitismus. Das klang so offensichtlich unwahr, dass es der Wahrheit schon wieder ziemlich nahe kommen konnte. War natürlich eine Finte. Minkin war zu lange im Geschäft. War fast sechs Monate her, seit er nach seiner Leseart den Staatsdienst quittiert hatte. Goldberg war aber vorerst nicht sein größtes Problem. Das Problem war Sevilla. Auslandstätigkeiten hatte er nicht auf dem Schirm. Nicht im Portfolio. Flugangst. Panikattacken. Übelkeit. Schweißausbrüche. All das eben. Nur in Ausnahmefällen würde er das machen. Bei freien Kapazitäten. Bei angespannter wirtschaftlicher Lage. Seit der Staat die Zahlungen eingestellt hatte, kumulierten beide Ereignisse.

Sevilla? Spanien. Der Süden. Müsste mit der Bahn gehen. Den TGV nach Paris. Dann weiter nach Madrid. Den Rest mit dem Kamel. Oder was der Andalusier als Transportmittel noch zur Verfügung hatte. Minkin hatte gelesen, dass die Polizei in Jerez kein Geld mehr hatte, um ihre Rostlauben zu betanken. So weit war es mit der Krise auf der iberischen Halbinsel. Mann oh Mann. Stolzes Spanien. Ging den Bach runter.

»Hören Sie Goldberg, ich muss mir die Sache überlegen«.

»Verzeihen Sie, Minkin. Dazu fehlt die Zeit. Die Sache duldet keinen Aufschub. Entweder Sie wollen den Auftrag, oder…«

»Oder was?« Klang harscher als es gemeint war.

Goldberg schien es nicht zu irritieren.

»Überall, wo ich gefragt habe, die gleiche Auskunft, ein Name. Ihr Name, Minkin. Es wäre Ihr Thema. Das ist es, was die Leute erzählen.«

Goldberg war gerissener als Minkin dachte. Er wusste verdammt noch mal, wie er es angehen musste. Minkin war kurz davor ja zu sagen.

»Wenn die Sache so ist...«

»Abgemacht. Hier sind die ersten Tausend. Den Rest bei Übergabe der Liste. Plus Reisekosten.«

Goldberg verschwand wie er gekommen war. Unbemerkt. Ein knapper Auftritt.

Schwierigkeiten würde der Kerl bringen. Das war amtlich. Eine Menge Schwierigkeiten. Es waren die guten Schwierigkeiten, die er im Gepäck hatte. Solche, die nicht nur wehtaten.

Goldberg war der Erste, der in seine Dienste investierte seit der Supermarktsache. Eine krankgeschriebene Arbeitnehmerin. Ging während ihrer Arbeitsunfähigkeit einer Nebentätigkeit als Putzfrau in Stuttgart-Rohr nach. Minkin war die Existenz eines Stadtteils mit der Beschreibung Rohr bis dato verborgen gewesen. Nun, da er den Stadtteil kannte, war klar, dass Unkenntnis nicht immer ein Nachteil war. In Rohr betrog das Putzluder ihren Arbeitgeber mit einer Nebenbeschäftigung während ihrer Krankheit. Kannten überhaupt keine Scham mehr diese Leute! Konnten den Hals nicht voll kriegen. Minkin hatte sie dabei erwischt. In flagranti. Beim Geschirr spülen. Durch das Küchenfenster abgelichtet. Anfängerin. Früh müsste man aufstehen, wenn man ihm entkommen wollte. Dem Jäger aller Nebenerwerbsreinigungskräfte. Den dunklen Engel der betrogenen Kleinunternehmer.

Genau genommen war Goldberg überhaupt der Erste, der investierte. Ein anständiges Honorar hatte er bis heute nicht gesehen vom Arbeitgeber der Nebenerwerbsreinigungskraft. Hatte sich einen Gutschein andrehen lassen. Minkin war einverstanden, fand das originell damals. Der Typ zahlte mit einem Hotelgutschein. Gibt Fehler, die macht man einmal im Laufe seiner Karriere. Ganz anders dieser Goldberg. Wollte nicht mal eine Quittung haben. Legte die Scheine einfach auf den Tisch. Definitiv ein gutes Zeichen war das.

»Vom Feeling her habe ich ein gutes Gefühl. Ich fühle, dass ich spiele. Das wird meine WM.«

Das war es, was der alte Metaphysiker Andi Möller 1994 vor Beginn der Fußballweltmeisterschaft in den Vereinigten Staaten an Gefühlen preisgab. Das war es auch, was Minkin in diesem Moment empfand. Man sucht immer nach einem stimmigen Bild. Häufig findet man nur undeutliches Geschmiere. Heute war es nicht so. Heute war es gut. Vom Feeling her hatte Minkin ein verdammt gutes Gefühl.

Wem so viel Gutes widerfährt

Was ist das wert? Richtig, einen Asbach Uralt. Nicht, dass dieser Weinbrand feierliche Gefühle auslöste. So ist es gar nicht. Pur untrinkbar. Mehr Brand als Wein. Mit Cola konnte man das Zeug kippen. Cola-Asbach. Asbach-Cola. Je nach Mischungsverhältnis. Das Heldengetränk der 80er Jahre im Kraichgau. Neben dem Bananenweizen die Nummer Eins in der Hühnerlausbar. Schön, dass jemand diese beiden Preziosen in die Gegenwart herübergerettet hatte. Minkin hatte neuerdings die Wahl. Christas Pub, Schillerhaus, überall gab es das. Minkin entschied sich für Christas Pub. Er nahm Platz am Tresen.

Seine Order war außer der Reihe, selbst für Minkin.

»Ein Bananenweizen.«

Nicht sein Standardgetränk.

»Ah, der Herr Gourmet,« raunzte es neben ihm.

Adi war auch wieder am Start.

»So was Feines kriegt man kaum mehr.«

Das war in der Tat das Motiv für seine Bestellung.

»Und so gesund. Die ganzen Vitamine, Isotope.«

Bei Adi konnte man nie sicher nein. Dummheit? Ironie? Beides?

»Die Isotope, sicher, Adi, die bringen es.«

Adi war die Sorte Thekenhocker, die zu allem ihren Senf gaben.

Zweimal war Minkin in Christas Pub, zweimal saß Adi am Tresen. War ungefähr in Minkins Alter. Eigentlich Adolf, aber er mochte den Namen nicht sonderlich. Kann man ihm kaum verdenken. Quatschte ungefragt drauf los. Im Regelfall ging einem das ziemlich schnell auf den Sack. Heute tat es das nicht. Heute würde es sogar für Adi schwer werden Minkins Laune zu ruinieren.

»Kommt er jetzt öfters?«, wollte Adi wissen.

Adi klang satzbaumäßig wie Gollum aus dem Herr der Ringe.

»Möglich.«

»Wäre gut.«

»Für wen auch immer.«

Minkin hatte nach Feuerbach rüber gemacht. Direkt an den Wilhelm-Geiger-Platz. Platz war ein Witz. Wer den Wilhelm-Geiger-Platz vormals mit dem Zusatz Platz versehen hatte, der hatte ordentlich Asbach-Cola intus. Die Beschreibung Platz tat anderen Plätzen krass Unrecht. Der Wilhelm-Geiger-Platz ist es ein riesiges Loch in der Erde in dem U-Bahnen ein- und ausfahren. Schöner ist es für den Reisenden in einer U-Bahn zu sitzen, die wegfährt. Der Wilhelm-Geiger-Platz ist im Grunde die Essenz Feuerbachs. Einige Stadtteilmanager werden noch bei den Versuchen scheitern, dort den Cappuccino-Faktor zu erhöhen. Stuttgart ist viel schöner als Berlin? Nicht in Feuerbach.

»Wohnt er hier?«

»Seit Kurzem.«

»Gute Wahl.«

»Schön hier.«

»Worauf er einen lassen kann.« Wie erwähnt, Adis Sprache war gewöhnungsbedürftig. Dazu vulgär. Die Wirtin brachte das Bananenweizen. Nutzte die Gelegenheit Adi eine mitzugeben.

»Glauben Sie ihm kein Wort.«

»Warum?«

»Er kommt aus Feuerbach.«

Sie machte eine kurze rhetorische Pause.

»Wer in Feuerbach geboren wurde, findet es überall schön.«

Die Pointe hatte sie schön gesetzt. Alle Achtung. Auch wenn Sie den Klassiker nicht zum ersten Mal raushaute.

Kann man so sehen, dachte Minkin. Schön ist anders. Allerdings musste man weit gehen, bis man eine solche Dichte an Geschmacksarmut und hervorragenden Eisdielen fand. Das auf engstem Raum. An einer staubigen und gern befahrenen Straße. Feuerbach ist nicht gerade die grüne Lunge Stuttgarts, eher der Schornstein Zuffenhausens. Störte es Minkin? Im Gegenteil.

Burning down the house

Minkin hatte den Auftrag, aber keine Idee was es bedeutete. Keinen Schimmer, welche Ausmaße das hier annehmen konnte. Hätte er gewarnt sein können? Möglicherweise.

Minkin hatte keinen Partner. Trotzdem hatte er das Bedürfnis mit jemanden über die Sache zu sprechen. Caesar war immer eine gute Wahl. Er war selbständig. Hatte meistens Zeit für ein Getränk. Minkin trat vor Christas Pub und wählte auf seinem antiquarischen Siemens ME45 Caesars Nummer.

»Ja.«

»Hallo Caesar, ich bin es, Minkin.«

»Ah, gut. Wollte dich eh anrufen.«

»Wie sieht es aus, Zeit für einen spontanen Umtrunk?«

»Heute?«

»Jetzt.«

»Minkin, ich arbeite.«

»Seit wann?«

»Minkin, deine Witze werden nicht besser. Heute Abend würde es gehen?«

»Bin ich auf dem Weg nach Sevilla?«

»Sevilla, ist das dein Ernst?«

Caesar war erstaunt.

»Sicher.«

»Was machst du dort?«

»Eine Liste finden.

Caesar wollte es genau wissen.

»Eine Liste, was für eine Liste?«

»Keine Ahnung, Caesar. Da war so ein Typ bei mir, nannte sich Goldberg. Hat mir eine Menge Geld auf den Tisch gelegt und mir den Namen einer Bar in Sevilla genannt. Mehr weiß ich nicht.«

»Das kann kein Zufall sein.«

»Was meinst du?«

»Das kann kein Zufall sein, mit Sevilla. Minkin, wir sollten reden.«

Caesars Tonfall veränderte sich. Ging in Richtung Besorgnis. Ungut klang das auf einmal. Schwarzseherisch.

»Caesar, was ist los? Du sagst doch immer, ich soll mal raus. Und jetzt gibst du hier die Sphinx.«

»Fahr nur, Minkin. Wir reden, wenn du wieder hier bist.«

»Über was?«

»Ich bin da in so eine Sache involviert, ich weiß nicht recht, wird mir langsam unheimlich. Möglicherweise läuft da was aus dem Ruder. Du warst doch mal bei der Staatsanwaltschaft. Ich meine, du hast eventuell eine Idee. Und jetzt fährst du nach Sevilla, das ist schon außerordentlich seltsam. Umso eher sollten wir uns sehen.«

In Caesars Worten schwang Furcht mit. Eine Regung, für die Caesar nicht eben bekannt war. Caesar hatte die 50 passiert. Sah keinen Deut jünger aus. War 12 Jahre beim Bund. Fallschirmjäger, so seine Legende. Seit einigen Jahren selbständig. Lebensmittelbranche, Vertrieb. War nie klar, was er machte. Wenn er Fallschirmjäger gewesen sein sollte, sah man es ihm nicht mehr an. Hatte inzwischen eine ordentliche Wampe. Hektik war ihm fremd. Er rauchte, er soff. Sprach nicht übermäßig viel. Reduzierte sich auf das Nötigste. Gab wenig Gründe ihn nicht zu mögen.

»Wann können wir reden?«

»Sobald ich wieder da bin.«

»Wann wird das sein?«

»Anfang nächster Woche.«

»Gut, melde dich sobald du wieder hier bist, hörst du.«

Caesar wurde immer unheimlicher. Er hatte Schiss. Minkin zog in Erwägung ihn zu fragen. Andererseits, wenn er hätte am Telefon was loswerden wollen, hätte er es tun können. Minkin war keiner der insistierte.

»Mach ich. Wollte ohnehin mal wieder in den Kurort.«

»Gut, alles Weitere vor Ort.«

»Bis dann.«

Das Gespräch war zu Ende.

Minkin marschierte los. Er wollte die Strecke von Feuerbach in die Stadt zu Fuß machen. Dann den Saarländer am Olgaeck treffen. Minkin hatte den Saarländer im Anschluss an das Gespräch mit Caesar angerufen. Der Saarländer hatte Zeit. Danach würde er weiter zum Hauptbahnhof machen und dann Viva Espania.

Es war ein strammer Fußmarsch von Feuerbach in die Stadt. Man musste erst die dunkle, moosbewachsene, lebensfeindliche Nordseite des Killesbergs erklimmen, bis man sich wieder auf bewohnbarem Terrain befand.

Minkin war direkt aus Christas Pub aufgebrochen, den kleinen Rucksack geschultert. Mehr brauchte er nicht. Minkin hatte Hunger. Seine Kalorienzufuhr bestand aus einem Bananenweizen und Adis Geschwätz. Viel dran war da nicht.

Minkin suchte den Biergarten am großen Park auf. Er war der einzige Gast. Der Biergarten war nicht eben top, aber der Blick war außerordentlich. Man hört allerlei Niederträchtiges, Verächtliches über Stuttgart. Neckar-Hannover, Bielefeld des Südens waren noch die schmeichelhafteren Bezeichnungen. Wenn es etwas gab, das diese Stadt von ihren Artgenossinnen unterschied, dann war es der Blick. Hatte der Münchner Blick, der Frankfurter, der Kölner? Keiner hatte den Blick. Weil Sie sich keine Hügel leisten konnten. Flache Städte waren das. Allesamt.

Die Aussicht war das Einzige, was man bei dem Biergarten auf dem Haben-Konto verbuchen konnte. Plus die strategisch günstige Lage, wenn man von Feuerbach in die Stadt wandern wollte. Der große Park der Reichsgartenschau erinnerte daran, dass es eine Zeit gab, in der Flächen nicht dem Diktat der Investoren unterworfen waren. Es war ein anderes Diktat. Immerhin eines mit Sinn für eine eigene Ästhetik.

Die Speisekarte war biergartentypisch. Will sagen erbärmlich. Chicken Wings, Country Potatoes. Warum?

Das einzig Akzeptable auf der Speisekarte war Käsekuchen. Minkin entschied sich für den Kuchen. Er würde furchtbar schmecken. Minkin stocherte lustlos darin herum, als er den ohrenbetäubenden Knall hörte. Er spürte die Druckwelle. Gläser, Tassen, Bestecke flogen in alle Richtungen. Ein scharfer Gegenstand streifte seine Schulter. Minkin duckte sich instinktiv weg. Das Ganze dauerte nur wenige Sekunden, wenn überhaupt.

Als das Gewitter vorbei war, sah Minkin, dass der Biergartenanbau lichterloh in Flammen stand. Das ging schnell.

»Raus hier!«

Irgendeine der Angestellten schrie, »Raus hier, alle raus.«

Gut gemeint, aber unnütz. Wo anders als draußen sollte man denn sein im Biergarten?

Minkin griff seinen Rucksack und rannte den Hang hinunter. Er stand fünfzig Meter vom Feuer entfernt, starrte fasziniert wie alles in Flammen aufging. Der ganze Mist. Im Hintergrund war das Sirenengeheul der Feuerwehr zu hören. Die Cops waren bereits da. Erstaunlich! Als ob sie es gerochen hätten. Ein großer Typ ohne Haare sicherte das Gelände ab. Schnell war die Truppe. Gefühlt waren nur wenige Sekunden vergangen seit dem Knall. Der Eindruck der Zeugen täuschte meistens. Vielleicht starrte Minkin schon minutenlang auf das Feuer.

Minkin merkte erst jetzt, dass er zitterte. Er hatte nichts abbekommen. Nur seine Jacke. Traurig genug. Der Gegenstand, vermutlich ein Messer, hatte in Höhe der Schulter ein fünf Zentimeter langes Loch in die Cortina d’Ampezzo Jacke gerissen. Hatte er sich vor kaum mehr als zehn Jahren in Ravensburg gekauft. Immer noch einwandfrei. Bis auf die Bündchen. Seine Mutter hatte das Stück in den Trockner gesteckt. Eine Sünde. Die Jacke konnte man zu jeder Jahreszeit tragen. Auch modisch zeitlos in rot, blau und weiß gehalten. Mit dieser Farbkombination lag man nie daneben. Minkin sah sich den Riss genauer an. Schien nicht ganz so schlimm. Die Jacke würde man wieder hinbekommen. Gab da Spezialisten. Sogenannte Schneider, falls es den Beruf noch gab.

Minkin dachte nach, was er tun sollte? Hierbleiben? Wenn er auf etwas keine Lust hatte, dann waren es stundenlange Befragungen, Aufnahme der Personalien und was die Cops sonst noch für ein Programm runterspulten. Könnte er irgendetwas zur Aufklärung beitragen? Kaum. Er hatte eine Reise vor sich. Reisende soll man nicht aufhalten.

Minkin drehte sich um und nahm zittrig den Fußweg Richtung Innenstadt.

Olga-Eck

Minkin traf vor der Fahrt nach Sevilla den Saarländer am Olga-Eck. Ein Wirtschaftsimmigrant. Hatte wie alle Saarländer etwas Undurchschaubares. Ging wie alle Saarländer keinem Schoppen aus dem Weg. War noch dazu Lehrer. Hatte also auch Zeit.

Er war einer der wenigen Menschen, dem er vertrauen konnte. Gab noch Caesar und den Pfarrer. Minkins sozialer Kosmos war nicht eben riesig. Kamen die Tresenkicker hinzu. Der Redakteur. Der Italiener. Der Pianist. Zwei, drei Anwälte. Das war es dann. Nicht üppig für einen der ein halbes Leben lang Zeit hatte Kontakte zu knüpfen. Minkin war nicht so. Kein Netzwerker. Mit Visitenkarte. Oder Account in sozialen Netzwerken.

Ein paar Kontakte gingen unterwegs verloren. Man hatte sich nichts mehr zu sagen oder das, was man sich zu sagen hatte, war unschön. Mit zunehmendem Alter wurde das Schließen von Bekanntschaften, Freundschaften nicht eben einfacher. Außer beim Trinken.

Da ging das. Kurzzeitig. Gibt da diese Statistik, die sich Minkin nur im Ungefähren merken konnte. Jährlich sterben circa 70.000 Menschen an den Folgen des Alkohols. Ne gute Million ist alkoholabhängig. Weitere 10 Millionen haben einen problematischen Konsum. Die restlichen 70 Millionen schienen normal zu sein. Minkin kannte nur niemanden aus der Gruppe. Abgesehen von seiner Mutter.

Er traf sich mit dem Saarländer am Olga-Eck. Der Saarländer residierte im Kurort Bad Cannstatt. Für Cannstatt war die Zeit zu knapp. Musste man über den Fluss rüber machen. Minkin hatte kindheitsbedingte Ängste vor Tunneln. Noch mehr Angst hatte er vor Brücken. Immer wenn er als Kind mit dem Bus über ein Brücke fuhr, hatte er Panik, das Ding könne einstürzen und er würde im Bus ertrinken. Cannstatt war ein zu großes Risiko für einen Nichtschwimmer. Nicht vor einer solchen Reise die Gefahr erhöhen. Nicht ohne Not.

Es war nicht so, dass Minkin was gegen Cannstatt an sich hatte. Sollte dort schöne Ecken geben. Am Kurpark hatte angeblich der erste Augustiner-Biergarten in Württemberg aufgemacht. Allein schon deshalb musste man da mal eine Tagesfahrt einplanen. Der Park an sich sollte hübsch sein. Mit Bänken. Viel Grün, Frischluft, war okay. Wobei das mit der frischen Luft überschätzt wird. Von wegen Gesundheit. Sterben mehr Menschen draußen an der frischen Luft als drinnen. Gibt wenig Indoor-Tsunamis. Eher fliegen in der Stadt Biergärten in die Luft.

Draußen war inzwischen überall der Feinstaub unterwegs. In meiner Kindheit war es der Saure Regen, dachte Minkin, jetzt ist es der Feinstaub. Gerade Stuttgart. Feinstaubweltmeister innerhalb Deutschlands. Die Stadt mit der schlechtesten Luft Deutschlands. Musste erst mal hinbringen. Haben die lange für geackert mit den achtspurigen Stadtautobahnen, dem Flottenverbrauch. Steht neuerdings ganz oben auf der Agenda. Feinstaub, Windkrafträder und Kitaplätze. Der schnell verblasste Schuster hatte darauf geachtet, dass die Feinstaubwerte oben bleiben. Wollte immer hoch hinaus, der Mann. Und? Weinte ihm einer nach? So was von niemand. Den Flughafen haben sie nach seinem charismatischen Vorgänger benannt. Wenn es gut läuft, wird nach ihm eine Mehrzweckhalle in Möhringen benannt werden. Oder er wird Namenspatron für das Parkhaus am Milaneo.

In Stuttgart war das eine einfache Formel in den Nuller Jahren. Viel Feinstaub war gleichbedeutend mit wenig Kitaplätzen, wegen erhöhter Säuglingssterblichkeit war das. Jetzt machen die den Feinstaub weg, schalten das Atom ab und schon brauchen die mehr Kitaplätze. Hatten die nicht auf dem Schirm. Plötzlich bauen sie Kitas wie die Irren. Eh du dich umdrehst, haben sie dir eine Kita in den Hof gestellt. Im Garten schnurrt ein Windrad mit 100 Dezibel. Planen die, da war sich der Minkin sicher. In Botnang. Weshalb der Minkin schlussendlich nach Feuerbach verzogen war. An den Wilhelm-Geiger-Platz. Sollte jemals einer auf die Idee kommen dort ein Kita zu bauen, dann hätte der Wahnsinn eine Stufe erreicht, bei der Flucht zwecklos war.

Sicher, das neue Regime wird irgendwann versuchen den Stadtteil zu verschönern. Wasserlauf, Bäumchen pflanzen. Gewerbeflächen umwandeln. Für die Kreativwirtschaft. Immer wollen sie alles hübscher machen. Hinterher ist das Geld verpulvert, die Parasiten haben sich die Taschen vollgestopft und es sieht genauso scheiße aus wie vorher.

Der einzige Trost dabei war, dass man bei der ganzen Politik nie wirklich erfuhr, wie sehr wir verarscht wurden.

Die konnten die Sachen einfach nicht in Ruhe lassen, dachte Minkin. Wenn etwas anfing sich zu entwickeln, ganz ohne öffentliche Hilfe, dann kam irgendein zwanghafter Kommunalpolitiker. Witterte seine Chance sich wichtig zu machen. Wird mit dem Neckar der gleiche Mist werden. Mal eben wieder schnell was aufhübschen. Paar Sträucher pflanzen. Paar Kieselsteine an den Rand werfen. Wollen die Stadt näher an den Fluss bringen. Was der Fluss wohl dazu sagt? Fuck off!

Da hat man Jahrhunderte den ganzen Schrott, die Fäkalien rein gekippt und jetzt entdeckt man plötzlich wieder den Fluss als urbanen Lebensraum.

Ging Jahrtausende ohne idyllische Strandbars am Fluss. Hatten die Römer das, als sie hier waren? Gut - die ja, der Italiener, okay, Dolce Vita. Saß vor der Gelateria, trank Espresso. Der Germane, der Schwabe, der Nazi - hatte der Strandbars am Fluss? Eben. Hübsch wollen die das aussehen lassen. In Cannstatt. Am Wasser. Mit den Schirmen, Liegen, Bänken und Tischen. Der Fluss bleibt dieselbe rotzbraune Brühe. Wer um alles in der Welt will da drauf glotzen, wenn er ein Getränk nimmt? Man kann sich Frauen schön trinken, Männer. Flüsse? Eher mal nicht. Wer unbedingt aufs Wasser glotzen will wenn er Prosecco säuft, soll nach Sylt fahren. Nach Konstanz. Zu den Bärenseen. Nicht nach Cannstatt. Minkin war sich der kompletten Irrelevanz seiner Überlegungen bewusst. Kein Grund sie zu unterlassen.

Minkin traf den Saarländer im Bier-Eck am Olga-Eck.

Das Olga-Eck war altes Stuttgart. Aus der Zeit, als man Tipp noch mit einem »p« schrieb. Die Betonschachtel am Anfang der Blumenstraße beherbergte keine Büroflächen mit angeschlossenem Fitnessstudio, veganem Edelitaliener und Starbucks-Filiale. Dort gibt es Sexshop, Spielhalle und dazwischen das Bier-Eck. Work-Life-Balance nach alter Schule.

Das Bier-Eck steckt spartanisch in einer schlauchartigen Höhle fest. Die Kommandos werden gleich am Eingang verteilt. »Legt Euer Geld in Alkohol an. Wo sonst gibt es 40 Prozent?« Sag was dagegen, dachte Minkin beim Betreten. Die Losung wird am Olga-Eck ernst genommen.

»Wollen wir mal nicht nachstehen.«

Kam vom Saarländer.

Minkin musste nicht lange nachdenken.

»Nein, wollen wir nicht. Hast du schon mal einen Biergarten abbrennen sehen?«

Minkin war immer noch beeindruckt von dem Spektakel. Auch davon, dass er ungeschoren davongekommen war.

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Mach das mal bei Gelegenheit.«

»Versuche dran zu denken.«

»Hör mal, ich hab da was vor?«

»Du?«

Minkin schaffte es immer wieder seine Mitmenschen zu überraschen.

»Ich werde nach Sevilla fahren.«

»Schön.«

»Denke ich auch. Ich soll eine Liste finden.«

»Aha.«

Das Interesse bei dem Saarländer hielt sich in Grenzen. Minkin versuchte sich kurz zu fassen. Wollte sein Gegenüber nicht mehr langweilen als nötig. Erzählte ihm von Goldberg, immerhin hatte er dann einen Namen. Für alle Fälle. Dann konzentrierten sich Minkin und der Saarländer auf das Wesentliche. Im Olga-Eck kam neben Bier auch Kölsch zum Ausschank. Bei Nummer fünf und sechs plauderte der Pächter sein Marketinggeheimnis aus. Der Kölschtarif fällt bei zehn Gläsern um 20 Prozent.

»Kann er das nicht gleich sagen!«

Der Saarländer reagierte mürrisch. Landesart.

»Wenn man beim Saufen noch Geld verdienen kann, weiß ich das gern vorher.«

Waren am Ende dann zehn Kölsch. Rabatt? Der Wirt nahm 17,00 statt 20,00 Euro. Riesen Deal. Zu spät hatte Minkin entdeckt, dass die knappe Weinkarte Korea auswies. Cola-Rotwein. Noch so ein 80er Ding aus dem Kraichgau. Ab zehn Korea gab es die Nummer elf aufs Haus.

»Sollen wir Korea angreifen?«

Das war es, was Minkin am Saarländer schätzte. Hatte immer einen Plan. Minkin hatte Sevilla erwähnt, gesagt, was er sagen wollte. Der Saarländer hatte zugehört. Mit etwas Glück hatte er sich davon etwas gemerkt. Minkin hoffte zumindest, dass er nicht alles vergessen würde.

»Lass mal, ich muss dann. Der TGV wird nicht warten wollen. Man muss mehr Zeit einplanen, seit die angefangen haben den Bahnhof tieferzulegen.«

Falsches Stichwort für den saarländischen Wutbürger.

»Tieferlegen, wenn ich das schon höre.«

Jetzt war der Saarländer wach.

»Haben wir damals schon gemacht. In den 80er Jahren. Mit dem Manta, dem GTI, dem Scirocco. War Unsinn.«

Konnte man pauschal nicht sagen, dachte Minkin. Gab damals schöne Boliden.

»Das war der Style. Westdeutsch, posermäßig.«

»Macht den Bahnhof auch nicht besser. Wo ist der Unterschied zum tiefergelegten GTI?«

Der Saarländer hatte sich an dem Thema verhakt.

»Mann, keine Ahnung. Immerhin hat eine Mehrheit für das Ding votiert.«

Minkin hatte keine Lust mit dem Saarländer zu diskutieren.

»Wenn ich die Zahl schon höre, Minkin, die 21.Was glauben die denn? Die denken sie packen die 21 dahinter und schon sind sie Captain Future.«

Zukunftschiffren konnten Minkin kaum mehr beeindrucken seit die Vision »KSC 2000« abgeschmiert war. Was waren die groß damals in den Neunzigern. Euro Eddy Schmitt. 7:0 gegen Valencia. Icke Häßler, Fußballgott. Dann wollten sie beim KSC hoch hinaus. Hatten eine Vision. »KSC 2000«. Seither ist der Verein ein Fahrstuhlverein. Kämpft mehr oder weniger permanent gegen den Abstieg in die 2. oder 3. Liga. Verkackte sogar die Relegation gegen den HSV. Wie bitter war das denn?

»War mit dem KSC 2000 die gleiche Scheiße.«

Das Einzige was Minkin dazu einfiel.

»Hä?«

»Vergiss es. Ich muss los.«

»Du musst es wissen.«

Der Saarländer machte eine Pause.

»Noch was, Minkin!«

»Was?«

»Kauf dir bei Gelegenheit eine neue Jacke.«

Hörte Minkin nicht das erste Mal. Ändern würde es kaum was.

Weihnachtsbäume im Januar

Sicherheitsschleusen gab es immer noch im Bahnhof. Jeden Montagabend. Ein paar Einwohner demonstrierten unablässig gegen den Tiefbahnhof. Seltsamer Anblick. Das Loch wurde mit jedem Tag tiefer. Die verbliebenen Gegner wollten sich nicht damit abfinden. Man mochte sich darüber wundern, Respekt hatte Minkin vor den Leuten allemal. Das war der Preis der Demokratie. Jeder konnte loswerden, was er wollte. Die Bewegung hatte ordentlich Dampf reingelassen in den Kessel. Als Fanatiker wurden die Teilnehmer vom Ministerpräsidenten zwischenzeitlich diffamiert. Unschön. Sie hatten ihn ins Amt gehievt. Hatte er seinen Deckel bezahlt? Wohl kaum. Die Bahnhofssache war gelaufen, sicher. Bauen die, soviel war klar. Die Menschen mit den K21-Taschen und den laubfroschgrünen Schals erinnerten ein wenig an die Weihnachtsbäume im Januar die an den Sammelplätzen warteten. Überlebende einer verblassenden Schlacht.

Heute war wieder Montag. Demo am Hauptbahnhof. Minkin musste Gas geben. Sich sputen. Es war keine Weltreise vom Olga-Eck zum Hauptbahnhof. Drei Stationen. Die Jahrhundertbaustelle war das Problem.

Die Gleise waren in die Ferne gerückt, seit sie angefangen hatten den Trog für den unterirdischen Bahnhof auszuheben. Die Gleise waren nur noch über zwei Gangways zu erreichen. Mit Fensterluken drin. Damit jeder sehen konnte, wie langsam der Baufortschritt vorankam. Großflächige Fotos mit Weltstädten waren darauf. London, Kalkutta, Peking. In der Liga spielt man jetzt. Applaus, Applaus. Würde noch eine ganze Weile so gehen. Bis 2021 sagten die Bauherrn. Bis 2025 diejenigen, die Ahnung hatten. Es wird 2030 werden.

»Haben Sie einen Fahrschein?«

»Sicher.«

Die Jungs von der Bahn beobachteten immer noch mit Argusaugen, wer montagnachmittags im Bahnhof einging. Was erwarteten die? Jemanden der in die Baugrube pinkelte?

»Könnten wir den sehen?«

»Tut mir leid, ich hab es eilig. Ich muss den TGV kriegen. Fährt in drei Minuten. Ich will hier nichts in die Luft sprengen.«

Minkin wollte dem Ganzen die Ernsthaftigkeit nehmen. Ging daneben.

»Das müssen wir überprüfen.«

Hatte Minkin Lust darauf? Absolut nicht. Minkin tat etwas, was er noch nie getan hatte.

Er lief los, ohne den Mann vom Sicherheitsdienst zu beachten. Minkin war gespannt, was passieren würde. In den Vereinigten Staaten würde man ihn erschießen, zumindest wenn er schwarz und minderjährig wäre.

»Stehen bleiben!«, rief der Sicherheitsmann.

»Oben bleiben!«, antwortete einer der Passanten auf dem Weg zur Demo. Minkin musste schmunzeln. Die Jungs vom Sicherheitsdienst waren verwirrt. Verwirrung war mit Sicherheit das entscheidende Einstellungskriterium für den Job. Minkin hatte die Gangway erreicht. Noch zwei Minuten bis zur Abfahrt. Minkin begann zu rennen. Weniger wegen der Männer vom Sicherheitsdienst, mehr wegen des abfahrbereiten Zuges. Wenn es knapp war, waren die Züge immer pünktlich. Murphys Law.

Keuchend erreichte er den TGV und sprang hinein. Wenige Sekunden später schlossen sich die Türen.

Eins wie das andere

Während 23 Stunden Zugfahrt schmeckt ein Bier wie das andere. Bis zu achtzig Aromen filtern geübte Trinker beim Biergenuss heraus. Von Akazienhonig bis Walnuss. Je nach Fermentierung.

Minkin war vielleicht bei vierzig. Maximal. Die meisten Biertrinker kommen über die Fernsehbiergeschmacksnivellierung nie hinaus. Halten Warsteiner für ein Bier. Von einem flüssigen Maisfladen bis zu Klärschlamm reicht mein Dursthorizont immerhin, von bernsteinfarben bis strohblond die Farbpalette. Da sind die Irish Stouts gar nicht mal berücksichtigt. Rechnet man diejenigen hinzu, an die ich mich nicht mehr erinnern kann, dann sind das gar nicht so wenig für einen Laien, dachte Minkin nicht ohne Stolz. Dann wäre da noch das Gefühl einer kühlen, feuchten Flasche. Von Tau benetzt. Ein haptisches Happening. Gesteigert wird das Erlebnis, wenn es sich um eine der alten bauchigen Flaschen handelt. Die eine oder andere Kleinbrauerei füllt noch in der Euroflasche ab. Die bauchige Flasche reüssiert. Erinnert an die gute alte Zeit. Wirtschaftswunder, Wiederaufbau, Babyboom.

Die großen Brauer haben inzwischen dieses Erlebnis wieder entdeckt. Erdinger hat vor ein paar Jahren eine bauchige Flasche mit einer Urweißen auf den Markt gebracht. Gar nicht so übel für einen Bierhersteller, der überwiegend davon lebt, dass Fußballspieler seine Erzeugnisse dem Trainer am Saisonende über den Kopf schütteten. Wir brauchen einen Fußballlehrer, hatte Uli Hoeneß nach dem Rauswurf von Klinsmann verlauten lassen und Louis van Gaal engagiert. Kein wirklicher Sympath, das Feierbiest. Tod oder Gladiolen war allerdings groß. Wer solche Parolen raushaute, konnte sich ein bisschen was erlauben. Das war Punk. Tod oder Gladiolen. Das von einem Holländer. The Clash hatten es mit »Death or Glory« kaum prägnanter formuliert.

Das mit dem Fußballlehrer war trotzdem Unsinn! Ihr braucht einen, dem ihr am Saisonende das Weißbier auf den Helm kippen könnt. Sonst braucht ihr nichts. All diese sportlichen Gedanken brachten Minkin kaum weiter. Nach 23 Stunden Zugfahrt schmeckten alle Sorten gleich. Das war die Erkenntnis der Reise. Braucht immer ein bisschen, bis man zu dieser Erkenntnis gelangte. Braucht Zeit. Was braucht es noch?

Alkohol in vollen Zügen

Ein Bordbistro. Immerhin hatte der TGV-Hersteller an der schönen, altmodischen Idee mit der Bar festgehalten. Keine Selbstverständlichkeit in Zeiten der allgemeinen Servicereduktion. In der unfreundliches Personal durch defekte Automaten ersetzt wurde. Nach dem Rauchverbot würde mit Sicherheit das Alkoholverbot in Zügen kommen. Machen die. War sich Minkin sicher.

Wenn man sämtliche Sitzpositionen probiert hatte, stellte man fest, dass keine wirklich bequem war. Besser also einen Stehplatz an der Bordbar. Die Bar war weit weniger schön, als man das von einem französischen Bordbistro hätte erwarten können. Mutig in der Farbgebung. Ziemlich voll. Dauerte eine Weile, bis Minkin dran kam, um dann in radebrechendem Französisch ein Bier zu bestellen. Carlsberg. Auch kein Spitzengewächs. Der Kellner antwortete bei der Bestellung auf Deutsch, was wieder mal das gängige Klischee bestätigte, dass Franzosen ignorant sind und kein Englisch sprechen.

Minkin hatte sich einen Stehplatz am Fenster gesichert und zaghaft Blicke mit einer Blondine im mopsgrauen Businesskostüm getauscht. War kurz davor sie anzusprechen, als ihn von hinten eine fleischige Hand an die Schulter fasste.

»Minkin, das gibt es ja nicht. Was machst du denn hier?«

Das gleiche hätte er das füllige, rotwangige Gegenüber fragen können, wenn ihm der verdammte Name eingefallen wäre.

»Mir wurden die Sitze zu unbequem und da dachte ich, es sei der richtige Zeitpunkt für ein Getränk.«

»Immer noch der alte Pragmatiker, Minkin.«

Wenn Minkin etwas nicht war, dann Pragmatiker.

Aber woher glaubte der Kerl Minkin so gut zu kennen? Minkin kannte das Gesicht, wusste aber nicht woher. Zumal Gesichter; es waren halt Gesichter. Nicht mehr. Werden in der Regel überbewertet. Die Leber war wichtig, das Herz, die Nieren und so was. Gesichter waren unwichtig. Hauptsache man hatte eins. Wieder schien der Kerl genau zu wissen, was gerade unter seinem Haaransatz vorging.

»Weißt du nicht, wo mich hin stecken, Minkin?«

»Könnte man so sagen.«

»Schödlbauer.«

»Klar, Schödlbauer!« Minkin hatte keinen blassen Schimmer.

»Und? Wie?«

Das war die Langform der umfassenden Frage nach dem allgemeinen Zustand und dem körperlichen Wohlbefinden. Minkin war in einer Gegend groß geworden, in der man einen Hang zum Lakonischen pflegte ohne zu wissen, dass es dafür ein so schönes Wort wie »lakonisch« gab.

»Super. Hab gerade noch rechtzeitig die Kurve gekriegt und die Jurascheiße geknickt.«